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Antisemitismus: Eine deutsche Geschichte E-Book

Peter Longerich

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Beschreibung

80 Jahre nach dem Holocaust: Ein Buch, das uns die Augen öffnet

Der Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 hat nicht nur gezeigt, wie gefährlich die Lage für Juden in Deutschland geworden ist – die Debatte hat auch offengelegt, dass antijüdische Einstellungen schon lange in der Mitte der Gesellschaft existieren. Peter Longerich, renommierter Historiker und Mitautor des 2012 veröffentlichten ersten Antisemitismusberichts des Deutschen Bundestags, zeigt, dass wir den gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland nicht begreifen können, wenn wir ihn vor allem als Sündenbock-Phänomen verstehen, wie es hierzulande in Schule und Hochschule gelehrt wird. Denn der Blick in die Geschichte offenbart, dass das Verhältnis zum Judentum bis heute vor allem ein Spiegel des deutschen Selbstbildes und der Suche nach nationaler Identität geblieben ist. Ein brisantes Buch, das mitten in die aktuelle Debatte stößt.

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80 Jahre nach dem Holocaust: ein Buch, das uns die Augen öffnet.

Der Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 hat nicht nur gezeigt, wie gefährlich die Lage für Juden in Deutschland geworden ist – die Debatte hat auch offengelegt, dass antijüdische Einstellungen schon lange in der Mitte der Gesellschaft existieren. Peter Longerich, renommierter Historiker und Mitautor des 2012 veröffentlichten ersten Antisemitismusberichts des Deutschen Bundestags, zeigt, dass wir den gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland nicht begreifen können, wenn wir ihn vor allem als Sündenbock-Phänomen verstehen, wie es hierzulande in Schule und Hochschule gelehrt wird. Denn der Blick in die Geschichte offenbart, dass das Verhältnis zum Judentum bis heute vor allem ein Spiegel des deutschen Selbstbildes und der Suche nach nationaler Identität geblieben ist. Ein brisantes Buch, das mitten in die aktuelle Debatte stößt.

Peter Longerich, geboren 1955, lehrte als Professor für moderne Geschichte am Royal Holloway College der Universität London und war Gründer des dortigen Holocaust Research Centre. Von 2013 bis 2018 war er an der Universität der Bundeswehr in München tätig. Er war einer der beiden Sprecher des ersten unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestags und Mitautor der Konzeption des Münchner NS-Dokumentationszentrums. Seine Bücher über die »Politik der Vernichtung« (1998) und ihre Resonanz in der deutschen Bevölkerung, »Davon haben wir nichts gewusst!« (2006), sind Standardwerke. Seine zuletzt bei Siedler erschienenen Biographien über »Heinrich Himmler« (2008), »Joseph Goebbels« (2010) und »Hitler« (2015) fanden weltweit Beachtung.

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Peter Longerich

Antisemitismus: Eine deutsche Geschichte

Von der Aufklärung bis heute

Siedler

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Copyright © 2021 by Siedler Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenLektorat: Jonas Wegerer

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt

Umschlagabbildung: © picture alliance / Winfried Rothermel | Winfried Rothermel

Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen

ISBN 978-3-641-16577-2V001

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Prolog

Einleitung: Einige begriffliche und methodische Vorüberlegungen

I. 1780–1871

1. Die »bürgerliche Verbesserung« der Juden im Zeitalter der Aufklärung

2. Judenemanzipation, früher Nationalismus und Romantik (1807–15)

3. Emanzipationsdebatte und antijüdische Gewalt nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft (1815–20)

4. Restaurationszeit und Vormärz (1820–48)

5. Die Durchsetzung der Emanzipation (1848–71)

II. 1871–1918

1. Die erste antisemitische Welle (1870er und 1880er)

2. Die zweite antisemitische Welle der 1890er und die Ausbreitung des Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft

3. Antisemitismus und Rasse: Der intellektuelle Diskurs seit den 1890ern

4. Völkischer Antisemitismus

5. Die Neuformierung der antisemitischen Bewegung seit 1912

6. Erster Weltkrieg

III. 1918–1933

1. Antisemitismus in den Nachkriegsjahren (1918–23)

2. Formierung und Vormarsch der Neuen Rechten (1924–29)

3. Gesellschaftlicher Ausschluss der Juden

4. Der rassistische Diskurs: Rassenhygiene und jüdische Rasse

5. Siegeszug der Antisemiten (1930–33)

IV. 1933–1945

1. Anfänge der nationalsozialistischen »Judenpolitik« (1933–35)

2. Die »Entjudung« der deutschen Gesellschaft und ihre Folgen

3. In den gesellschaftlichen Tod (1936–39)

4. »Judenpolitik« in anderen europäischen Ländern

5. Ausbreitung und Radikalisierung der Judenverfolgung (1939–41)

6. Holocaust (1941–45)

V. NACHDEMHOLOCAUST

1. Latenter Antisemitismus nach 1945

2. Neue Erscheinungsformen und tradierte Inhalte – Die 1960er und 1970er

3. Vergangenheitspolitische Neuorientierungen der 1980er

4. Antisemitismus im wiedervereinigten Deutschland

5. Antisemitismus und deutsche Identität

Epilog: Antisemitismus heute – ein durchlöchertes Tabu

Anmerkungen

Bibliographie

Personenregister

Prolog

Das Manuskript zu diesem Buch habe ich im Herbst 2019 beendet. In diesem Herbst, am 9. Oktober, dem Tag des jüdischen Versöhnungsfestes, versuchte ein schwer bewaffneter Täter, sich gewaltsam Zugang zu dem von etwa 80 Personen besuchten Gottesdienst in der Synagoge von Halle zu verschaffen; wäre ihm dies gelungen, hätte dies ein Dreivierteljahrhundert nach dem Ende des Holocausts ein in der Bundesrepublik beispielloses Massaker unter im Lande lebenden Juden zur Folge gehabt. Der Ausgang der Ereignisse von Halle ist noch in frischer Erinnerung: Frustriert wandte sich der Täter, bekennender Antisemit und Rechtsextremist, von der Synagoge ab und ermordete eine zufällig vorbeikommende Frau und anschließend einen Gast in einem nahen Döner-Imbiss. Die Tat von Halle, die sich in eine globale Serie von ähnlichen Gewalttaten mit vielen Toten einordnen lässt, löste nicht nur weltweites Entsetzen aus, sondern führte in Deutschland zu einer aufgeregten Debatte über die Motive des Täters, über rechtsextreme Gewalt und das Fortwirken des Antisemitismus, über Repression und Prävention zur Verhinderung solcher Gewalttaten sowie über Versäumnisse auf diesem Gebiet in der Vergangenheit.

Die Debatte machte erneut deutlich, dass der Hass auf die Juden eine zentrale Rolle im rechtsextremen Weltbild einnimmt, das im Übrigen aus einem Konglomerat von Fremdenfeindlichkeit, Antiislamismus, militantem Antifeminismus, Antiisraelismus und Verschwörungstheorien besteht, letztlich aber »die Juden« für die großen Übel dieser Welt verantwortlich macht. Über den Rechtsextremismus hinaus, das wurde in dieser Debatte deutlich, ist der Antisemitismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und Abstufungen in der Gesellschaft weit verbreitet. Diese Popularität der Judenfeindschaft gibt nicht nur dem Gewalttäter von Halle das Gefühl, seine Tat werde insgeheim von vielen gebilligt, sondern hat zur Folge, dass alle bisherigen Anstrengungen zur Bekämpfung des Antisemitismus keineswegs dazu geführt haben, ihn zu einem bloßen Randphänomen zu reduzieren. Er ist vielmehr mitten unter uns und anscheinend unausrottbar.

Ohne auf alle Facetten der durchaus unterschiedlich erfolgenden Begriffsbestimmung einzugehen, soll an dieser Stelle festgehalten werden, dass in diesem Buch unter Antisemitismus alle Einstellungen und Verhaltensweisen zusammengefasst werden, die Personen, die als Juden wahrgenommen werden, aufgrund dieser Zurechnung zum jüdischen Kollektiv negative Eigenschaften unterstellen. Es geht also um das Zuordnen bekannter antijüdischer Stereotype auf eine Person oder eine Personengruppe, die als Juden eingestuft werden, sei es nun als Angehörige der jüdischen Religion, des jüdischen Volkes oder einer jüdischen »Rasse«, als Bürger Israels – oder auch auf Menschen, die tatsächlich gar keine Verbindung zum Judentum haben. Dabei geht es aber nicht nur um bloße Vorurteile gegenüber Juden; vielmehr konstruiert der Antisemitismus aus den negativen Eigenschaften, die er den Juden zuschreibt, eine Weltanschauung, in der sie als Verursacher aller möglicher Übel eine zentrale Rolle einnehmen. Dabei sind die Übergänge vom geläufigen, unreflektierten Vorurteil zur gefestigten Ideologie durchaus fließend.1

In den letzten Jahren häuften sich alarmierende Meldungen über die Zunahme des Antisemitismus. In Deutschland, so war und ist vielerorts zu lesen, nähmen Übergriffe auf Juden zu, würden jüdische Schulkinder gemobbt, würden in den Medien (insbesondere im Internet) zunehmend antisemitische Statements verbreitet, die so noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. Laut Meinungsumfragen verbinden viele Menschen ihre zunehmend negative Einstellung zu Israel mit den altbekannten antijüdischen Stereotypen. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden Josef Schuster spricht über ein Jahr nach dem Anschlag in Halle davon, »dass wir einen deutlich enthemmteren Antisemitismus in Worten erleben, wie ich ihn mir vor einigen Jahren nicht vorgestellt habe«.2 Ähnliche Trends lassen sich in vielen anderen europäischen Ländern feststellen. Die amerikanische Anti-Defamation League schätzte aufgrund der von ihr durchgeführten Umfragen im Jahre 2015 die Zahl der erwachsenen Antisemiten weltweit auf über eine Milliarde.3 Auch wenn man solche Perspektiven zumindest zum Teil als überzogen einschätzen mag, so ist nicht zu leugnen, dass mehr als sieben Jahrzehnte nach dem Ende des Holocausts das Phänomen des Antisemitismus in erheblichem Umfang existiert und einiges dafür spricht, dass es an Bedeutung zunimmt.

In der öffentlichen Wahrnehmung erscheint der Antisemitismus, gerade vor dem Hintergrund zunehmender antisemitischer Gewalt vor allem durch muslimische Jugendliche in einigen europäischen Ländern, immer mehr als ein transnationales europäisches Phänomen; mit einer wachsenden Fixierung auf den jüdischen Erzfeind Israel in der muslimischen Welt und der weltweit zunehmenden Resonanz globalisierungskritischer, tendenziell antisemitischer Verschwörungstheorien gar als ein globales Problem. Aus historischer Sicht wäre eine solche – abermalige – Wandlung des Phänomens, bei der verschiedene Formen der Judenfeindschaft miteinander verschmolzen werden, keine Überraschung. Denn wie in diesem Buch im Einzelnen zu schildern sein wird, besitzt der Antisemitismus eine chamäleonhafte Wandlungsfähigkeit, liefert immer neue Begründungen für die Judenfeindschaft, die von seinen Anhängern, so unterschiedlich, ja widersprüchlich diese Argumente auch sind, als Facetten der gleichen Grundwahrheit angenommen werden: Je heterogener Formen und Motive, je vieldeutiger die Judenfeindschaft, desto größer die Gewissheit, dass an der Sache doch irgendetwas dran sein muss. So entsteht im Laufe der Zeit ein Arsenal von Argumenten, die zu einem immer größeren Fundus an »Wissen« über Juden und ihr Verhalten aufgespeichert werden. Die gemeinsame Teilhabe an diesem Fundus macht es diversen Gruppierungen mit höchst unterschiedlichen Interessenlagen möglich, Allianzen zu schmieden: Allianzen, die negativ in der gemeinsamen Feindschaft gegenüber den Juden begründet sind. Gerade wegen seiner Wandlungen und seiner Vieldeutigkeit besitzt der Antisemitismus in seinem Kern eine scheinbar unausrottbare Kontinuität: die wie auch immer begründete Feindschaft gegen Juden.

Eine historische Analyse des Antisemitismus, wie sie in diesem Buch unternommen wird, zielt nicht, wie sozialwissenschaftliche, sozialpsychologische und psychoanalytische Ansätze, auf eine generelle Erklärung des Phänomens.4 Vielmehr gelten für Entstehung und Ausbreitung des Antisemitismus in verschiedenen Epochen, und in den einzelnen Epochen jeweils in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, jeweils unterschiedliche Erklärungen. Die Beharrlichkeit des Phänomens über die Zeit und seine zunehmende Virulenz ergeben sich aus der Kumulation der verschiedenen Formen des Antisemitismus in einem zeitlichen Kontinuum, und nicht aus einer einmaligen oder immergleichen Situation. Eine Typologie der verschiedenen Formen der Judenfeindschaft, wie sie die Antisemitismusforschung leistet, führt dann in die Irre, wenn sie nicht in der Analyse der Verschmelzung dieser verschiedenen Typen in einem historischen Prozess mündet. Die Frage »Warum die Juden?« kann nicht ohne Einsicht in diesen sich über Jahrhunderte erstreckenden Prozess beantwortet werden. Und in einer »deutschen Geschichte« des Antisemitismus, wie sie hier beabsichtigt ist, muss bei der Analyse dieses historischen Prozesses die wechselvolle Herausbildung einer Form von nationaler Identität im Vordergrund stehen, die die Juden nicht als gleichberechtige Mitbürger ertragen kann.

Einleitung: Einige begriffliche und methodische Vorüberlegungen

Es geht also in diesem Buch darum, die historischen Wurzeln des heutigen Antisemitismus zu erklären.

Zu diesem Zweck konzentriert sich die Darstellung zeitlich auf die Geschichte und Vorgeschichte des »modernen« Antisemitismus, d. h. die Geschichte der Judenfeindschaft seit dem Beginn der Emanzipation und der ihr vorausgehenden Debatte, also seit dem späten 18. Jahrhundert. Mit der »drohenden« und dann realen Gleichberechtigung der Juden erhält die Judenfeindschaft eine ganz andere Qualität als in den Jahrhunderten zuvor, in denen die Juden als abgesonderte und in ihrem religiösen Grundirrtum verharrende Minderheit angesehen wurden; jetzt, mit der Emanzipation, erscheinen sie vorwiegend als global verschworene Bedrohung der traditionellen Gesellschaftsordnung und der (im Entstehen begriffenen) Nation, ja als ihre potentiellen Zerstörer. Dabei geht es in erster Linie um die Geschichte des »radikalen« modernen Antisemitismus, also die Geschichte der politischen Bewegung, die die Emanzipation verhindern und dann rückgängig machen wollte und schließlich im Holocaust eine mörderische »Endlösung« für das von ihr selbst geschaffene Problem fand. Da der Ausgangspunkt dieses Buches aber die Fortexistenz des Antisemitismus nach dem Holocaust und bis in die Gegenwart ist, stellt sich darüber hinaus die Frage, in welchen Formen und Begründungszusammenhängen der nach wie vor »moderne« Antisemitismus in den mehr als siebzig Jahren nach Auschwitz weiterbestehen konnte.

Räumlich befasst sich diese Darstellung vorwiegend mit Deutschland, also dem Land, das sich der Emanzipation der Juden seit Ende des 18. Jahrhunderts so nachdrücklich widersetzte, in dem der Begriff in den 1870ern erfunden wurde, der schließlich weltweite Verbreitung finden sollte, und in dem 1933 eine radikalantisemitische Bewegung an die Macht kam, um ihre judenfeindlichen Vorstellungen in der denkbar brutalsten Form nicht nur im eigenen Land, sondern in ganz Europa zu realisieren. Dabei soll aber die Geschichte des deutschen Antisemitismus in einen internationalen Kontext eingebettet werden.

Methodisch gehe ich davon aus, dass die Exklusion einer Minderheit nur durch die Frage nach der Identität der sie ausgrenzenden Mehrheit befriedigend beantwortet werden kann. Damit muss sich diese Darstellung vor allem auch mit der Geschichte des deutschen Nationalismus befassen und wird (in der Form von Überblicken) auch auf die mit der »Reinheit der eigenen Nation« begründete Ausgrenzung der Juden in anderen Ländern eingehen. Um diese Position klarer zu machen, will ich sie gleich von einer vorwiegend sozialgeschichtlichen Erklärung abgrenzen. Die weit verbreitete sozialgeschichtlich bzw. funktional informierte Lesart würde den Antisemitismus in etwa folgendermaßen erklären: Offensichtlich sind die »Argumente« der Antisemiten falsch und dumm, sie haben mit der Realität des jüdischen Lebens nichts oder sehr wenig zu tun, die Anklagen der Judengegner sind nachweisbar falsch und absurd. Um zu erklären, wie sie trotzdem historisch so wirksam werden konnten, bietet sich an, den Antisemitismus zu einer nahezu beliebig einzusetzenden Strategie zu erklären, die von den wahren (politischen, wirtschaftlichen, sozialen) Problemen ablenken soll. Es handelt sich demnach in erster Linie um ein Phänomen, das in Krisenzeiten von interessierter (herrschaftsnaher) Seite eingesetzt wird, um einen Sündenbock dinghaft zu machen. Der »Gründerkrach«, die abgeschwächte Konjunktur im späten Kaiserreich, und seine gesellschaftlichen Widersprüche, der Erste Weltkrieg, die Nachkriegszeit und die Wirtschaftskrise der frühen 1930er wären dann solche Krisenzeiten, in denen der Antisemitismus mit seinen falschen Begründungen gedeihen konnte. Diese Erklärung kann natürlich einiges abdecken, sie ist insgesamt gesehen aber unzureichend: Sie erklärt nämlich nicht hinreichend, warum immer die Juden das Opfer solcher Krisen und der dann entwickelten Ablenkungsstrategien wurden, und zwar deshalb, weil sie sich zu wenig mit der »Wir«-Position der Antisemiten beschäftigt, warum diese ihre Identität und Existenz ausgerechnet von den Juden bedroht sehen.

I. 1780–1871

1. Die »bürgerliche Verbesserung« der Juden im Zeitalter der Aufklärung

Die Judenfeindschaft, jahrhundertelang mit der religiösen Differenz zum Christentum begründet, erhielt gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine neue Qualität: Von dem Moment an, als Vertreter der Aufklärung die Frage der jüdischen Gleichberechtigung zu einem Thema der öffentlichen Debatte machten, richtete sich die Polemik der Judenfeinde nicht mehr primär gegen die Juden als Religionsgemeinschaft, sondern als »Nation« bzw. als fremde ethnische Gruppierung. Je deutlicher die Forderung nach jüdischer Emanzipation erhoben wurde, desto schärfer reagierten deren Gegner; so wurde in drei Phasen (Anfang der 1780er, Anfang der 1790er sowie zwischen 1799 und 1803) in einem ständig verschärften polemischen Ton bereits ein Kernbestand von »Argumenten« gegen Juden als gleichberechtigte Mitbürger zusammengetragen, die den Antisemiten kommender Generationen als Fundament für ihre Demagogie dienen sollten.

Doch so sehr sich auch die Judenfeindschaft Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts argumentativ veränderte: Emanzipationsgegner und -befürworter waren sich einig, dass der traditionelle rechtliche und soziale Status der Juden unhaltbar geworden war. Tatsächlich bestanden die aus dem Mittelalter stammenden Beschränkungen der jüdischen Existenz im Wesentlichen auch während des 18. Jahrhunderts fort, ja sie wurden durch den bürokratischen Apparat des absolutistischen Staates ausgefeilt und verschärft. Diese Beschränkungen betrafen die wirtschaftliche Betätigung der Juden, den Erwerb von Grund- und Hausbesitz, die Niederlassungsfreiheit, die Eheschließung und vieles anderes mehr. Die Juden standen nach wie vor außerhalb der ständischen Ordnung, sie hatten für den ihnen gewährten »Schutz« in erheblichem Umfang finanzielle Gegenleistungen (»Schutzgelder«) zu entrichten, waren zahlreichen anderen Sonderabgaben unterworfen und hafteten kollektiv für die ihnen auferlegten Verpflichtungen.

Dabei waren die Verhältnisse in den mitteleuropäischen Territorien sehr verschieden; in den einzelnen Landesteilen der größeren Staaten existierten zusätzlich häufig unterschiedliche »Judenordnungen«. Zudem war der Rechtsstatus der jüdischen Bevölkerung nirgendwo einheitlich geregelt, sondern entsprechend ihrer sozialen Hierarchie sorgfältig abgestuft. Zu diesem Zweck unterschied man im Allgemeinen: eine privilegierte Oberschicht, häufig »Hofjuden« mit engen Verbindungen zu den regierenden Häusern; die »Schutzjuden«, denen eine wirtschaftliche Tätigkeit erlaubt war; dann ihre zum Teil nur geduldeten, aber nicht ausdrücklich geschützten Angehörigen; schließlich Gemeindeangestellte sowie Gesinde. Darüber hinaus existierte eine in ungesicherten rechtlichen und prekären wirtschaftlichen Verhältnissen lebende jüdische Unterschicht. Über diesem komplizierten Reglement standen das auf die Wohlfahrt des Staates gerichtete Nützlichkeitsdenken und das fiskalische Interesse der Regierenden, was zur Folge hatte, dass wohlhabende Juden durchaus Verhandlungsspielraum für Privilegierungen und Ausnahmeregelungen hatten, während die als weniger »nützlich« angesehenen Glaubensgenossen in erheblichem Umfang den Willkürmaßnahmen ausgesetzt waren.1 Neuere, detaillierte Studien zur Situation der preußischen Juden im 18. Jahrhundert zeigen etwa, dass diese mitnichten zunehmende Rechtssicherheit genossen und als Folge der gezielten und exzessiven fiskalischen Abschöpfung unter Friedrich II. weitgehend verarmten. Ein nennenswerter jüdischer Mittelstand bestand am Ende des Ancien Régime in Preußen nicht.2 Diese Befunde lassen sich auch im Hinblick auf andere deutsche Territorien bestätigen.3 Folge war das stetige Anwachsen der Zahl mittelloser »Betteljuden« sowie in ärmlichsten Verhältnissen lebenden Hausierern und Trödlern. Andererseits konzentrierte sich eine kleine Schicht emporstrebender jüdischer Kaufleute und Unternehmer, häufig gefördert durch Maßnahmen, die im staatlichen Eigeninteresse lagen, in bestimmten Handels- und Gewerbezweigen und setzte durch ihr vergleichsweise flexibles und dynamisches Wirtschaften die alteingesessene, noch im Zunftdenken verhaftete christliche Kaufmannschaft unter Konkurrenzdruck. Beides, die Armut der großen Masse und der Wohlstand der wenigen privilegierten Aufsteiger, nährte den Unmut der in ihren traditionellen Vorurteilen verhafteten christlichen Mehrheit. Zudem nahm man Anstoß an der als rückständig und störend gesehenen religiösen und kulturellen Eigenexistenz der Juden, an ihrer »Absonderung«, obwohl diese ja nicht zuletzt Folge der auf Ausgrenzung setzenden staatlichen »Judenpolitik« war. Dabei gingen die absolutistisch regierten Staaten immer mehr dazu über, die traditionelle Autonomie der jüdischen Gemeinden – sie betraf insbesondere die Rechtsprechung in zivilen und religiösen Dingen, Eheangelegenheiten, Steuereintreibung sowie das Armen- und Schulwesen – abzubauen und sie stärkerer staatlicher Kontrolle zu unterwerfen, wodurch sich wiederum die Bindung an die Gemeinden lockerte und die Abschottung zwischen christlicher und jüdischer Lebenswelt verringert wurde.4

Angesichts dieser Situation kam im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts unter einer Reihe von der Spätaufklärung zuzurechnenden Gelehrten und Beamten die Idee auf, diese verwinkelte und allgemein als unbefriedigend empfundene Sonderexistenz der Juden nicht durch immer weitere staatliche Interventionen zu perpetuieren, sondern im Gegenteil ihre Situation durch eine schrittweise Aufhebung der zahlreichen Diskriminierungen und Verbote zu verbessern und sie zu weitgehend oder gar vollständig gleichberechtigten Bürgern zu erziehen. Diese Überlegungen ergaben sich zum einen aus dem rationalen Effizienzdenken der Reformer, die zugleich im Geiste der Aufklärung Menschenrechte und religiöse Toleranz durchsetzen und im Namen der Vernunft althergebrachte Vorurteile und menschliches Elend beseitigen wollten. Vor allem aber war für die Reformer die letztendliche Gleichberechtigung der Juden unumgänglich im Rahmen eines sich abzeichnenden (und von den Aufklärern gewollten) sehr viel weiter gehenden gesellschaftspolitischen Transformationsprozesses, der die Qualität eines epochalen Wandels hatte: nämlich die Ablösung der Ständegesellschaft durch eine Gesellschaft gleichberechtigter qualifizierter Staatsbürger, in der die enge Verbindung von Kirche und Staat aufgehoben und Religion nur noch als Privatsache gelten würde. Das bedeutete aber, dass derjenige, der sich zum Anwalt der »bürgerlichen Verbesserung« der Juden mit dem Endziel der Emanzipation machte, die abgestufte ständische Gesellschaftsordnung und ihren christlichen Charakter infrage stellte und gleichzeitig die Juden in die Rolle der Vorboten einer neuen Zeit mit weitreichenden Veränderungen brachte. Die Gegner der Emanzipation wiederum mussten, wenn sie die alte Ordnung nicht aufgeben wollten, die Abgesondertheit und gänzlich andere Mentalität (und das hieß vor allem eine Minderwertigkeit) der Juden hervorheben. Ihre Polemik war nicht mehr gegen die jüdische Religion als solche gerichtet, sondern gegen ihre Rolle als Grundlage einer vollkommen anders gearteten sittlich-kulturellen Lebensweise der Juden. Ihre mentale Reservation gegen die Emanzipation beruhte nicht nur auf traditionellen Vorurteilen, sondern ergab sich aus der Befürchtung, mit der Emanzipation der relativ kleinen jüdischen Bevölkerungsgruppe Tür und Tor für einen nicht mehr überschaubaren Umwälzungsprozess zu öffnen. Aus einer Minderheitenfrage wurde eine »Prinzipienfrage der Gesellschaftsordnung«.5

Die Heftigkeit der Emanzipationsdebatte Ende des 18. Jahrhunderts wird aber nur verständlich, wenn man gleichzeitig einen zweiten Diskurs in Betracht zieht. Denn die gleichen gebildeten, bürgerlichen Kreise waren zu dieser Zeit intensiv damit befasst, ihre eigene kollektive »nationale« Identität zu suchen und zu begründen. Die Frage: Wer sind wir, und was zeichnet uns aus?, beinhaltete – ausgesprochen oder nicht – aber auch eine Positionierung gegenüber dem Judentum: Wer sind die Juden, und gehören sie zu uns?

Die Emanzipationsdebatte begann in einem Zeitraum, in dem auch die Grundlagen für die moderne deutsche Nationalbewegung geschaffen wurden. Die Idee der Zusammengehörigkeit aller Deutschen auf gemeinsamer »nationaler« Grundlage sollte die so dringend benötigte Einheit und Loyalität stiften – in einer Zeit tiefgreifender Veränderungsprozesse, in der die alte ständische Ordnung in die moderne Staatsbürgergesellschaft überführt wurde und in der sich eine neue, auf Marktbeziehungen, Leistung und Kapitaleinsatz beruhende Wirtschaftsordnung herausbildete, und das in einem großen, zunehmend nach einheitlichen Gesichtspunkten gestalteten und erschlossenen Raum, dem Territorium des künftigen Nationalstaates. Die moderne Nationalbewegung konnte dabei an kollektive Vorstellungen und Identitäten anknüpfen, die sich bis ins Spätmittelalter zurückführen lassen und sich unter anderem an Genealogie, Sprache und Territorialität orientierten.6 Zur unmittelbaren Vorgeschichte des modernen Nationalismus in Deutschland gehören jedoch auch eine Reihe von Entwicklungen, die in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts fallen, also in den Zeitraum, in dem die Emanzipationsdebatte ihren Anfang nahm. Zu dieser Vorgeschichte, die als »Frühnationalismus«, »Deutsche Bewegung« oder als »Nationalismus vor dem Nationalismus«7 bezeichnet wird, sind insbesondere folgende Faktoren zu rechnen:

Grundvoraussetzung für die Entstehung einer nationalen Bewegung war die Herausbildung einer sozialen Trägerschicht aus gebildeten Bürgern, denen es gelang, eine bürgerliche Öffentlichkeit herzustellen.8Diese im Entstehen begriffene bürgerliche Kultur schuf sich eigene Leitbilder. Dazu gehörte unter anderem der »Patriotismus«, also die im 18. Jahrhundert immer mehr um sich greifende Überzeugung, sich aktiv an der Gestaltung der Lebensverhältnisse im eigenen Landesterritorium (bzw. im eigenen Stadtstaat) zu beteiligen.9Epocheprägend war die neue Sichtweise, die die Philosophie Herders10 auf die elementaren Faktoren Volk, Sprache und Geschichte und ihr Zusammenwirken eröffnete. »Volk« war nun nicht mehr das »einfache Volk« im Gegensatz zu den höheren Schichten, sondern Volk stand von nun an als Kollektivbegriff für alle Menschen gleicher Sprache und Abstammung; Sprache wurde als grundlegend für die menschliche Weltaneignung erkannt; die durch Sprache geeinten und voneinander abgegrenzten Völker traten als die eigentlich handelnden Subjekte der Weltgeschichte auf, sie prägten im Lauf ihrer Entwicklung ihren jeweiligen »Nationalcharakter« aus.Zentrale Betätigungsfelder bildungsbürgerlicher Schichten waren konsequenterweise die Bemühungen um die Herausbildung einer einheitlichen deutschen Hochsprache, einer deutschen nationalen Literatur11 sowie eines Nationaltheaters;12 Anstrengungen, die sich gegen die französische Kultur richteten, die vor allem über die Höfe einen dominierenden Einfluss auf die deutschen Staaten ausübte.13Die Neubewertung von Volk/Sprache/Geschichte verstärkte den seit langem existierenden Mythos »Germanien«, also die relativ weit verbreitete Vorstellung, die in der Gegenwart lebenden Deutschen seien nicht nur Nachfahren der historischen Germanen, sondern besäßen in ihrem »Volkscharakter« die gleichen Eigenschaften wie diese: rau, ungehobelt und kriegerisch, offenherzig und bieder, von bescheidener Lebensweise, ritterlich gegenüber ihren Frauen, treu und stolz auf ihre »unvermischte« Abstammung.14

Die hier skizzierte deutsche Identitätssuche Ende des 18. Jahrhunderts, in der es in der Hauptsache um die Faktoren Vaterland, Volk, germanische Abstammung und Sprache ging, schloss aber tendenziell das jüdische Element aus – und das ist als Hintergrund für die Emanzipationsdebatte des 18. Jahrhunderts von nicht zu unterschätzender Bedeutung: Hier wurde nun behauptet, die Juden brächten wegen ihrer fremden Volkszugehörigkeit bzw. den Grundsätzen ihrer »theokratischen« Religion nicht die notwendige Loyalität gegenüber dem Land auf, in dem sie lebten, sie seien nicht in der deutschen Sprache verwurzelt bzw. nicht in der Lage, diese wirklich zu beherrschen (der breite Übergang von Jiddisch zu Deutsch als Standardsprache stand noch bevor), und sie waren in den Augen der Deutschen nun einmal keine Germanen.

Der Beginn der Debatte Anfang der 1780er

Vor diesem Hintergrund begann im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in den deutschen Territorien eine Debatte über eine verstärkte Integration der Juden in die bestehende Gesellschaftsordnung.15 Den Anstoß bildete die Schrift des hohen preußischen Beamten Wilhelm Dohm Über die bürgerliche Verbesserung der Juden aus dem Jahre 1781.16 Dohms programmatischer Beitrag spiegelte die Vorstellungen wider, die zu jener Zeit innerhalb der aufgeklärten Beamtenschaft und in gebildeten Kreisen der preußischen Hauptstadt, die in diesen Jahren zu einem kulturellen Zentrum von europäischem Rang heranwuchs, debattiert wurden. 1779 hatte Lessing mit der Veröffentlichung seines Dramas Nathan der Weise den Gedanken der religiösen Toleranz auf ansprechende Weise zum Ausdruck gebracht. In Berlin, wo das Stück 1783 offiziell uraufgeführt wurde, existierte in den 1780ern ein wohlhabendes und gebildetes jüdisches Bürgertum, das den kulturellen Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft suchte, ohne sein Judentum aufzugeben: Durch die Aneignung von aufgeklärter Bildung, durch den gelehrten Dialog mit nichtjüdischen Intellektuellen und durch eine Erneuerung des Judentums – beispielhaft war hier Mendelssohns Bibelübersetzung ins Deutsche – sollten Isolierung und Diskriminierung der Juden aufgehoben werden. Die berühmten Berliner Salons, ins Leben gerufen von jüdischen Gastgeberinnen, wurden in diesem Zusammenhang zu wichtigen Begegnungsräumen.17 So entstand Dohms Schrift auf Anregung von (und im engen Kontakt mit) dem Philosophen Moses Mendelssohn, dem intellektuellen Kopf der eigenständigen jüdischen Aufklärungsbewegung jener Jahre in Berlin und Vorbild für Lessings Nathan.18

Auch für Dohm war die sittliche »Verdorbenheit der Juden« eine Tatsache, doch führte er sie auf ihre jahrhundertelange Unterdrückung zurück. Um diese Verhältnisse zu ändern, plädierte er für eine weitreichende rechtliche Gleichstellung der Juden, die sodann mit staatlicher Förderung sowie durch Aufklärung und Erziehung (auch der Nichtjuden) in einem langfristigen Prozess in die Gesellschaft integriert werden sollten, beginnend mit der Hinführung zu Handwerk und Landwirtschaft, der Verbreitung säkularer Bildung und später (nach mehreren Generationen) auch durch die Öffnung des Staatsdiensts.19 Zwar hatte es auch in den Jahrzehnten zuvor Vorschläge für eine punktuelle »Verbesserung« der Juden gegeben, doch Dohm legte erstmalig ein Gesamtkonzept vor, abgeleitet von philosophischen und politischen Prinzipien der Aufklärung.20 Seine Vorschläge lösten eine über ein Jahrzehnt währende Debatte aus,21 und wurden zum wichtigen Bezugspunkt für verschiedene, in diesem Zeitraum unternommene Reformversuche. Neben viel Zustimmung stieß Dohm vor allem auf massiven Widerspruch.22 Die Juden, so argumentierten die Kritiker, besäßen mit ihren eigenständigen Gemeindeeinrichtungen, mit ihren religiösen Vorschriften und ihrer besonderen Gottesvorstellung in Wirklichkeit ihre eigene politische Verfassung, sie sonderten sich nicht nur als Religionsgemeinschaft, sondern als jüdische »Nation« bewusst von der übrigen Gesellschaft ab, und diese sei durch ihre moralische Korruption nicht gesellschaftsfähig und verhalte sich als »Staat im Staate«23 nicht loyal gegenüber der Obrigkeit. Im Gegensatz zum Dohm’schen Verbesserungskonzept hielten die Kritiker den Grundcharakter der Juden für nicht veränderbar, ja zum Teil glaubten sie an die Vererbbarkeit der den Juden zugeschriebenen negativen Eigenschaften. Es könne, so das Kernargument, keine »Gleichheit der Rechte« geben, da die Juden »keine Gleichheit der Pflichten« akzeptierten;24 so fielen sie aufgrund des Sabbatgebots und ihrer angeblich schlechten körperlichen und mentalen Beschaffenheit für den Militärdienst aus (die aktive Teilnahme von jüdischen Freiwilligen an den Befreiungskriegen sollte die Haltlosigkeit dieser Argumentation beweisen). »Welches Volk nicht mit uns essen und trinken kann«, so schrieb der Göttinger Orientalist und Theologe Johann David Michaelis, »bleibt immer ein in seinen und unsern Augen sehr abgesondertes Volk«.25 In dieser »Absonderung« im Alltag, nicht in der religiösen Differenz, lag für ihn und die anderen Kritikern das eigentliche Emanzipationshindernis. Michaelis’ Argumentation lief bezeichnenderweise auf die Gegenüberstellung »die Juden« und »wir Deutschen« hinaus,26 eine Frontstellung, die bereits über die übliche Kontrastierung Christen – Juden hinausführte. Die Debatte zeigt, dass das aufklärerische Motiv, auch gegenüber den Juden Toleranz walten zu lassen und sie gesellschaftlich zu integrieren, tatsächlich darauf hinauslief, das Judentum als religiöse und kulturelle Einheit aufzulösen. Die Aufklärung lieferte nicht nur die Argumente zur Aufhebung der diskriminierenden Sonderstellung der Juden, sondern auch die scheinbar rationale Begründung für eine nicht mehr religiös, sondern säkular begründete Judenfeindschaft, wobei man sich aber aus dem Fundus an jahrhundertealten, religiös geprägten Feindbildern unreflektiert bediente. So ignorierte man insbesondere, dass nach herrschender rabbinischer Lehre einheimisches Recht bindend sei, auch wenn es dem jüdischen Gesetz widerspreche,27 oder stufte die religiöse Observanz der Juden in Unkenntnis ihrer Religiosität zur rein mechanischen »Gesetzesfrömmigkeit«, zur toten »Buchstabenreligon« herab.28 Die Geschichte des modernen Antisemitismus hat in dieser vorurteilsbeladenen Argumentation ihre Wurzeln.

Dohm reagierte 1783 mit einer um einen zweiten Band ergänzten Neuauflage seiner Schrift. Konkret forderte er hier von den Juden die Aufgabe der Speisegesetze, des Talmuds sowie der rabbinischen mündlichen Überlieferung, also die Rückkehr zur rein mosaischen Lehre.29 Doch die Frage, ob diese »Reformen« nicht letztlich auf eine Aufgabe einer eigenständigen jüdischen Religiosität hinausliefen, ließ Dohm offen. Damit aber hatte er es versäumt, der Forderung nach einer Anpassung der Juden an die christlich geprägte Gesellschaft eine klare Grenze zu setzen. Sein Konzept beinhaltete von vornherein das Risiko, dass unerfüllbare Assimilationserwartungen zum Misslingen der »bürgerlichen Verbesserung« führen und letztlich die Ablehnung der real existierenden Juden weiter verstärken würden. In jedem Fall liefen seine Vorstellungen nicht auf die Integration der Juden als religiös-kulturelle Minderheit hinaus, sondern auf eine möglichst spurenlose »Verschmelzung«. Auch von jüdischer Seite wurde daher die grundsätzlich begrüßte Emanzipation nicht nur aus orthodox-konservativer Sicht skeptisch betrachtet, da sie in der Art und Weise, wie von Dohm und seinen Anhängern eingefordert, auf eine Auflösung jüdischer Religiosität und Lebensweise hinauszulaufen schien.30 Andererseits veröffentlichte Mendelssohn, enttäuscht über die zu Tage getretene Unkenntnis und Vorurteile, 1783 mit Jerusalem eine Programmschrift für eine vollständige Emanzipation der Juden als Juden, ohne sich auf den von Dohm propagierten weitreichenden Erziehungs- und Anpassungsprozess einzulassen; Punkt für Punkt wies er hier die leichtfertigen und feindseligen Behauptungen der Judengegner zurück.31

Im Ergebnis muss man zu der Schlussfolgerung kommen, dass die publizistische Debatte die tatsächliche bürgerliche Verbesserung der Juden nicht beflügelte, sondern selbst kleine Schritte zur Verbesserung der jüdischen Situation wütende öffentliche Reaktionen auslösten, die, so schien es, einen breiten Unwillen in der Bevölkerung gegenüber dem Emanzipationsprojekt zum Ausdruck brachten und schließlich eine auf Gleichstellung zielende »Judenpolitik« verhinderten.

Verschärfung des Tons

Tatsächlich mehrten sich dennoch in den folgenden Jahren Anzeichen für Fortschritte auf dem Gebiet der Rechtsstellung der Juden: 1782 erließ Kaiser Joseph II. das – allerdings ganz einem rigiden Erziehungsgedanken verpflichtete – Toleranzpatent für die Juden Wiens und Niederösterreichs, der 1786 auf den Thron gelangte preußische König Friedrich Wilhelm II. gewährte den Juden gewisse kleinere Erleichterungen und ließ weitere Vorschläge erarbeiten,32 und in einer Reihe von Territorien löste Dohms Buch immerhin regierungsinterne Debatten über Maßnahmen zur bürgerlichen Verbesserung der Juden aus.33 Diese – dann in den 1790ern nicht konsequent fortgeführten – Reformansätze veranlassten die Emanzipationsgegner sogleich, sich von dem bisher überwiegend gelehrten und höflichen Ton der Debatte zu verabschieden und zu antijüdischer Polemik bzw. offener Beschimpfung überzugehen: Der bisher durch aufklärerisches Denken geprägte Diskurs ging zu Ende. Eine Vorreiterrolle spielte dabei die 1791 erschienene anonyme Publikation Ueber die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden, die dem Jurastudenten und späteren hohen Justizbeamten Carl Wilhelm Friedrich Grattenauer zugeordnet wird. Dort hieß es etwa, »kein Volk, und selbst das uncultivirteste nicht, hat solche abscheuliche Grundsätze der Moralität, als die Juden«, wobei davon auszugehen sei, dass ihre negativen Eigenschaften erblich seien. Auf über 130 Seiten reiht sich Beschimpfung an Beschimpfung, die Forderung, den Angehörigen der jüdischen »Nazion« Bürgerrechte zu verleihen, sei an sich schon eine Zumutung, am besten sei es, »sie mit guter Manier los zu werden«, nämlich »wieder nach Kanaan zu transportieren« oder, da man über keine eigene Strafkolonie verfüge, sie von der übrigen Bevölkerung abzusondern.34 Die Debatte erhielt durch die Entscheidung der französischen Nationalversammlung vom September 1791, den Juden volle Bürgerrechte zu gewähren, ohne sie einem langwierigen Erziehungsprogramm zu unterwerfen, aber bei gleichzeitiger Aufgabe ihrer Gemeindeautonomie, einen neuen Akzent. In den USA genossen die Juden bereits seit der Staatsgründung 1776 volle Rechtsgleichheit, doch dies war in den deutschen Staaten vergleichsweise unbeachtet geblieben.

Die französische Revolution trug aber gerade nicht dazu bei, die Emanzipationsdebatte in Deutschland zu beflügeln. Ganz im Gegenteil, eine Reihe deutscher Geistesgrößen äußerte sich in dieser Frage eindeutig negativ, und zwar durchaus in polemischer Form. So griff etwa der noch am Beginn seiner Karriere stehende Philosoph Johann Gottlieb Fichte 1793 in die Diskussion ein, um sich entschieden gegen die jüdische Emanzipation zu stellen. Zur Begründung benutzte er in seiner viel beachteten Schrift zur französischen Revolution das einige Jahre zuvor zur Charakterisierung der jüdischen Absonderung in Umlauf gebrachte Wort vom »Staat im Staat«: »Fast durch alle Länder von Europa verbreitet sich ein mächtiger, feindselig gesinnter Staat, der mit allen übrigen im beständigen Kriege steht, und der in manchen fürchterlich schwer auf die Bürger drückt; es ist das Judenthum.« Obwohl Fichte zu dieser Zeit noch Anhänger der französischen Revolution war, empfahl er gerade nicht, nach dem Vorbild der zwei Jahre zuvor eingeführten Emanzipation der französischen Juden den jüdischen »Staat im Staat« nun auch im Deutschen Reich aufzulösen – ganz im Gegenteil. Zwar war er bereit, den Juden Menschenrechte zuzugestehen: »Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen nicht eine jüdische Idee sey. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein ander Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken.«35 Bei dem Bild der in einer Nacht sämtlich zu enthauptenden Juden handelt es sich sicher nicht um eine Aufforderung zum Mord (tatsächlich hatte Fichte ihnen ja die Menschenrechte zugestanden), sondern um eine Metapher, mit der im Gegensatz zum Verbesserungskonzept die Unveränderbarkeit des jüdischen Wesens auf drastische, ja menschenverachtende und Gewaltphantasien bloßlegende Weise betont werden sollte.

Immanuel Kant, der zur Emanzipationsdebatte nicht ausführlich Stellung nahm, hat jedoch mit einigen Bemerkungen in seinem Werk den Emanzipationsgegnern wichtigen moralischen Rückhalt geboten. 1793 schrieb er, man müsse den jüdischen Glauben von seinem Ursprung her als »Inbegriff bloß statuarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war«, sehen und dem Judentum daher den Charakter einer Religion eigentlich absprechen.36 Einige Jahre später, 1798, bezeichnete er die Emanzipation als den »vergeblichen Plane, dieses Volk in Rücksicht auf den Punkt des Betrugs und der Ehrlichkeit zu moralisieren«.37 Im gleichen Jahr legte Kant an anderer Stelle dar, wie er sich die Umwandlung der Juden in ein »gelehrtes, wohlgesittetes und aller Recht des bürgerlichen Zustands fähiges Volk« vorstellte: Sie sollten die Ritualgesetze ablegen und sich zu einer eigenen »Religion Jesu« bekennen, die eine »rein moralische Religion mit Verlassung aller Satzungslehren« sein müsse, die Unterschiede zum Christentum seien dann nur noch »Sectenunterschiede«. Für dieses Ende der herkömmlichen jüdischen Religiosität verwendete Kant den Begriff »Euthanasie des Judentums«. Auch wenn Kant diese Formulierung im Sinne von »sanfter Tod« gemeint haben dürfte, so ist doch festzuhalten, dass er für das angestrebte Ende der bisherigen jüdischen Existenz eine Todesmetapher wählte.38

Zu den großen Philosophen, die sich zu jener Zeit gegenüber den Juden positionierten, gehörte auch Herder. Seine Einstellung zum Judentum war ambivalent, wie bereits sein Versuch deutlich macht, die Existenz der Juden im Kontext seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (erschienen 1784–1791) zu verorten.39 Einerseits bewunderte Herder, der in seiner Zeit als einer der besten Kenner des Alten Testaments galt, die Geschichte und Kultur der biblischen »Hebräer«, grenzte hiervon aber die spätere Geschichte der Juden scharf und voller Geringschätzung, ja Verachtung ab. Ausgangspunkt war dabei sein geschichtsphilosophischer Volksbegriff: Die Weltgeschichte entfalte sich durch die kulturelle Entwicklung von Völkern; die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n. Chr. und die Vertreibung der Juden aus ihrer Heimat hätten aber zwangsläufig eine kulturelle Höherentwicklung des jüdischen Volkes verhindert. Herders Verdikt mündete sodann in dem vielzitierten Urteil: »Das Volk Gottes« sei lediglich »eine parasitische Pflanze auf den Stämmen anderer Nationen; ein Geschlecht schlauer Unterhändler beinah auf der gesamten Erde, das Trotz aller Unterdrückung nirgend sich nach eigner Ehre und Wohnung nirgend nach einem Vaterlande sehnet«.

Zuspitzung der Emanzipationsdebatte zur Zeit der Jahrhundertwende

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Bemühungen zur »bürgerlichen Verbesserung« der Juden in Preußen schon seit mehreren Jahren weitgehend zum Stillstand gekommen. Eine Ausnahme bildete lediglich das General Juden Reglement für Süd und Neu Ostpreußen von 1797, das den Juden in diesen annektierten polnischen Gebieten gewisse Erleichterungen bot, jedoch wegen der Abtretung dieser Gebiete 1807 für den Gesamtstaat folgenlos blieb.40 Eine Petition der Ältesten der Berliner Juden von 1795 wurde durch die Behörden nach dreijähriger Beratungszeit abschlägig beschieden.41 Diese starre Haltung Preußens stand im krassen Gegensatz zu der Entwicklung im Westen des Reiches: In den von Frankreich 1797 annektierten linksrheinischen Gebieten wurde die vollständige rechtliche Gleichstellung der Juden wie im übrigen Lande eingeführt.42 Das französische Modell löste auch auf der anderen Seite des Rheins in einer Reihe von Staaten, die nun immer stärker unter den Einfluss Napoleons gerieten, erste Reformbestrebungen aus.43

Angesichts dieser Lage entschloss sich der Seidenfabrikant David Friedländer, nach dem Tod Mendelssohns 1786 Wortführer der jüdischen Aufklärungsbewegung in Berlin, kämpferischer und pragmatischer gesinnt als sein Vorgänger, im Jahre 1799 zu einem spektakulären Schritt. Friedländer, der sich vor allem für eine Reform des jüdischen Erziehungswesens sowie des Gottesdienstes einsetzte, um so – im Sinne der Dohm’schen »Verbesserungs«-Vorstellungen – die Juden enger an die christliche Mehrheitsgesellschaft heranzuführen, stellte in einem (anonymen) Brief an den aufgeklärten Theologen Wilhelm Abraham Teller im Namen einiger jüdischer »Hausväter« die Frage, ob man nicht zum – allerdings von Dogmen wie der Christologie befreiten – Protestantismus übertreten könne, wobei man zu gewissen religiösen Reformen bereit wäre, ohne den eigenen Glauben völlig aufzugeben; beide Religionen beruhten doch im Kern auf den gleichen »Wahrheiten«. Friedländer dürfte vorausgesehen haben, dass sein Vorstoß zur »christlich-jüdischen Glaubensvereinigung unter dem Dach einer formalen Christlichkeit«44 bei Teller sowie bei der Mehrheit der sich hierzu äußernden protestantischen Theologen auf entschiedene Ablehnung stieß. Man könnte seine Initiative daher als ein Gedankenspiel interpretieren, den Vorstellungen der Gegenseite zur »bürgerlichen Verbesserung« der Juden auf den Grund zu gehen: Gäben die Juden, wie erwartet, wesentliche Bestandteile ihrer religiösen Praxis auf – wäre die christliche Seite dann wirklich bereit, im Sinne der von Aufklärern gepredigten »Vernunftreligion« ihrerseits religiöse Konventionen hinter sich zu lassen?45 Besondere Bedeutung in dieser durch Friedländer ausgelösten Debatte kam der ausführlichen, anonym publizierten Stellungnahme Friedrich Schleiermachers zu, als Theologe Wegbereiter eines romantischen anstelle eines aufgeklärten Religionsverständnisses und damit eine zentrale Figur des damaligen Zeitgeistes. Schleiermacher – der an anderer Stelle geschrieben hatte, das Judentum sei »schon lange eine todte Religion«46 – forderte hier als Voraussetzung der Emanzipation, die Juden sollten die »Zeremonialgesetze«, also ihre rituellen Vorschriften, staatlichen Gesetzen unterordnen und den Messiasglauben ablegen (beides hatte Friedländer bereits konzediert), mithin eine jüdische »Reformsekte« bilden. Die Konversion lehnte er indessen wegen der unüberbrückbaren Gegensätze beider Religionen ab, ja er sprach sich entschieden gegen die bürgerliche Gleichstellung der Konvertiten aus – und das war wohl das Hauptanliegen der in einem ironisch-spöttischen Ton gehaltenen Schrift und nicht etwa eine ernstgemeinte Wegweisung zur Emanzipation: Das dafür vorgeschlagene Szenario war von jüdischer Seite ebenso wenig erfüllbar, wie die Protestanten sich wirklich auf Friedländers Anliegen hätten einlassen können. Insofern erscheint die gesamte Debatte als intellektuelles Spiegelgefecht.

Die Debatte, die Friedländer anstieß, verließ bald den engeren Kreis des theologischen Streitgesprächs. Den meisten Autoren ging es darum, die Unmöglichkeit zu beweisen, die Angehörigen dieser sich absondernden und verkommenen »Nation« durch Erziehung bzw. Taufe in die Gesellschaft zu integrieren; als Alternativen blieben die dauerhafte Absonderung oder die völlige Auflösung der jüdischen Gemeinschaft.47 In diesem Schriftenkampf erreichten die publizistischen Angriffe gegen die Juden ein solches Ausmaß, dass die preußischen Behörden weitere Publikationen (auch die pro-jüdischen Gegenschriften) kurzerhand verboten. Nicht nur in Form von wüsten Satiren (wie bei Grattenauer), sondern auch mit Hilfe literarischer Texte wurde jedoch die Tendenz fortgeführt, die kulturellen Assimilationsbemühungen der Juden ad absurdum zu führen.48 Gravierender scheint, dass sich auch in den Akten der Behörden in diesen Jahren eine Reihe von schriftlichen Äußerungen hoher Beamter finden, die vom »Ausrotten«, von der »Vertilgung« der Juden sprechen, von der Möglichkeit, sie »umzubringen«, um solche Gedankenspiele dann aber sogleich als unrealistisch oder nicht konkret weiterzuverfolgen zu verwerfen. Bemerkenswert erscheint trotzdem, dass solche radikalen »Lösungen« des Judenproblems nicht nur in den Köpfen einiger Verantwortlicher existierten, sondern sich diese nicht scheuten, solche Gedankenexperimente schriftlich zu formulieren.49

Seit dem Beginn der Diskussion über die bürgerliche Verbesserung der Juden Anfang der 1780er hatten sich die gegen die Judenemanzipation ins Feld geführten Argumente, gestützt durch die Beiträge gelehrter Köpfe, zu einem Kanon verdichtet und sich der Ton verschärft: Im Vordergrund stand die Kritik an der »Absonderung« der Juden; sie sei zwar durch die religiösen Vorschriften bedingt, doch eigentlich handele es sich beim Judentum um keine Religion, sondern um eine Art Verfassung, so dass die Juden eine Sonderexistenz als »Nation«, als »Staat im Staate« führten. Sie könnten daher gegenüber dem christlich geprägten Staatswesen nicht loyal sein und nicht die gleichen Rechte wie die übrigen Bürger verlangen; hinzu komme ihre Sitten- und Skrupellosigkeit, die sie als wirtschaftliche Konkurrenten gefährlich erscheinen ließen. Deutlich werden schon in diesem Zeitraum die zunehmende »Zuschreibung national-kultureller Eigenheiten«,50 die den Juden wie anderen Völkern eigen seien und die entsprechende Abgrenzung von der eigenen, noch im Entstehen begriffenen Nationalkultur.

2. Judenemanzipation, früher Nationalismus und Romantik (1807–15)

Infolge der Revolutionskriege und der Ausdehnung der napoleonischen Herrschaft auf Deutschland machte die Emanzipation der Juden erste Fortschritte. 1798 war in den von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebieten des Reiches die vollständige rechtliche Gleichstellung der Juden – wie im übrigen französischen Staatsgebiet seit 1791 – eingeführt worden. Die Entwicklung der folgenden Jahre, die die Landkarte Mitteleuropas radikal veränderte und neue politische Rahmenbedingungen schuf,1 sollte den Emanzipationsprozess weiter vorantreiben: Die französische Gesetzgebung (die allerdings 1808 durch das »Décret infâme« für den Zeitraum von zehn Jahren wieder empfindlich eingeschränkt wurde),2 galt schließlich auch in den von Napoleon geschaffenen »Modellstaaten« Berg, Westphalen und Frankfurt sowie im nach 1810 annektierten Nordwestdeutschland.3 Diese Veränderungen provozierten jedoch auch eine Gegenbewegung von erheblicher Durchschlagskraft: Nach der Niederlage Preußens 1807 konstituierte sich eine Nationalbewegung, die in vielerlei Weise an die frühen Formen des Nationalismus bzw. an den Patriotismus des 18. Jahrhunderts anknüpfen konnte, in ihren politischen Zielvorstellungen aber noch diffus blieb. Im Zuge der durch die napoleonische Herausforderung in den meisten deutschen Staaten ausgelösten Reformanstrengungen stand nun aber auch die Frage der Rechtsstellung der Juden auf der Tagesordnung. Sie wurde insbesondere4 in den beiden erheblich vergrößerten Staaten Baden und Bayern durch Edikte von 1809 und 1813 teilweise verbessert, wobei allerdings die Freizügigkeit beschränkt blieb, ja Bayern durch die Einführung von lokalen »Matrikeln« eine Obergrenze für die Zahl der Juden festlegte und damit einen erheblichen Auswanderungsdruck ausübte.5 Preußen erklärte in seinem Judenedikt von 1812 die sich legal im Lande aufhaltenden Juden unter bestimmten Bedingungen prinzipiell zu Staatsbürgern, stellte allerdings durch wesentliche Vorbehalte und Einschränkungen – sie betrafen insbesondere die Ausübung ständischer Rechte, die Anstellung im Staatsdienst und die Wehrpflicht – klar, dass an eine völlige Gleichberechtigung nicht gedacht war.6

Gegenbewegung gegen die Emanzipation: Facetten der Romantik

Der Beginn der Nationalbewegung stand unter dem Vorzeichen der »Politischen Romantik« und war zunächst auf eine relativ kleine Zahl von intellektuellen Vordenkern und Multiplikatoren begrenzt.7 In Wien versammelte sich ab 1808 eine Gruppe von Gelehrten und Publizisten um Friedrich Schlegel und Friedrich Gentz8 – 1811 kam Adam Müller hinzu – und entwickelte unter der Schirmherrschaft der österreichischen Regierung die Grundlagen für eine katholisch-konservativ geprägte Propaganda aus einer Kombination von Reichspatriotismus und einem neuen deutschen Nationalismus (wobei Gentz und Müller solche Visionen mit einer heftigen Judenfeindschaft verbinden sollten).9 Zwar blieben diese Vorarbeiten politisch weitgehend wirkungslos, doch boten sie eine Reihe von Anknüpfungspunkten, an denen ein sich in den nächsten Jahren entwickelndes deutsches Identitätsgefühl anschließen konnte.

Zum Zentrum einer frühen Nationalbewegung wurde indessen Berlin. Die dortigen Protagonisten waren in erster Linie Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Ludwig Jahn. Diesen Vordenkern des deutschen Nationalismus ging es darum, eine Nation (die im Bewusstsein der ihr zugeschriebenen Angehörigen überhaupt nicht bestand) ins Leben zu rufen, indem man Geschichte, Abstammung, Kultur und Sprache als wichtige, Gemeinschaft stiftende Faktoren herausarbeitete. Hierbei konnte man an den Kulturnationalismus des späten 18. Jahrhunderts, namentlich an Herders Volksbegriff, anknüpfen. Die Konstituierung der Nation mit Hilfe der genannten Faktoren war durch und durch als Gegenprogramm gegen den Rationalismus der französischen Aufklärung und dem aus ihm abgeleiteten Wertekanon der französischen Revolution angelegt, ja im Vordergrund stand die Überzeugung (und hier wich man entscheidend von Herder ab) von der Überlegenheit der eigenen Nation, die »natürliche« Wurzeln hatte und nicht als Ergebnis eines überzogenen künstlich-rationalen Denkens dargestellt wurde.

Bei diesen frühen Vordenkern war die Begründung der Nation nicht nur gegen den Hauptfeind Frankreich gerichtet, sondern erfolgte auch in Abgrenzung gegenüber der im Lande ansässigen Minderheit der Juden, deren vollständige rechtliche Gleichstellung unmittelbar bevorzustehen schien. Die Ablehnung des Jüdischen wurde zu einer tragenden Säule des deutschen romantischen Nationalismus in seiner Geburtsstunde. Damit erhielt die Ablehnungsfront der konservativen Reformgegner, denen es um die Wahrung des gesellschaftlichen Status quo ging, Verbündete ganz neuer Art. So wollte beispielsweise Arndt die »wohltätige Scheidewand« aus »Vaterlandsliebe« und »Volkshaß«, die die Völker voneinander trennen sollte, auch zwischen Deutschen und Juden aufrechterhalten sehen.10 Die Juden hätten einen völlig anderen Volkscharakter als die Deutschen und stünden den slawischen und südeuropäischen Völkern, namentlich den Franzosen, weitaus näher – so bezeichnete er bei anderer Gelegenheit denn auch die verhassten Franzosen als »Judenvolk«.11 Die durch jahrhundertelange Verfolgung hervorgerufenen Untugenden der Juden, so Arndt, seien mittlerweile aber »etwas Angebohrnes«, und es bedürfe »wenigstens drei Menschenalter«, um sie wieder auszutreiben.12 In den Briefen von Friedrich Ludwig Jahn, der die mentale und körperliche Fitness der deutschen Jugend für den Entscheidungskampf mit der französischen Besatzungsmacht durch die Gründung der Turnerbewegung (seit 1810) sicherstellen wollte, finden sich zahlreiche abfällige Bemerkungen über Juden, die auf der Gegensatzbildung Deutsche–Juden beruhen.13 Seine Einstellung gegenüber dem Judentum erschließt sich näher in seinem Hauptwerk Deutsches Volksthum von 1810. Hier entwarf Jahn einen umfassenden Plan für einen großdeutschen Einheitsstaat mit einem durchstrukturierten Verwaltungs-, Justiz-, Militär- und Bildungssystem auf der Grundlage gemeinsamer Abstammung und (ur-)christlicher Religion. Stärken wollte Jahn das »deutsche Volksthum« durch feste Regeln für Sitten und Volkskultur, durch Reinigung der deutschen Sprache und eine einheitliche Volkstracht; die »Ausländerei« sollte verbannt, die Ehe mit einer »Undeutschen« den Verlust der Bürgerrechte zur Folge haben. Dass Jahn über die Stellung der Juden in diesem Staat – trotz anschwellender einschlägiger Diskussion – kein Wort verlor, erscheint bezeichnend: In dem neuen ganz und gar »volksthümlichen« Staatsgebilde war für sie offenbar kein Platz vorgesehen.

Ähnlich lagen die Dinge bei Fichtes nationaler Vision, die er wenige Jahre zuvor vor allem in den Reden an die Nation (1807/08) entwickelt hatte.14 Im Zentrum der Überlegungen Fichtes stand dabei das Projekt einer umfassenden »Nationalerziehung« der deutschen Jugend auf der Grundlage einer überkonfessionellen christlichen Religion sowie gemeinsamer Herkunft und Sprache – seien die Deutschen doch ein »Urvolk«, das über eine Ausländern verschlossene bleibende »Ursprache« verfüge.15 Mit diesen Kriterien hatte Fichte aber – ohne dass er das explizit herausstellen musste – die Juden aus der künftigen deutschen Nation ausgeschlossen, für sie gäbe es nur die Alternative »entweder verschmolzen oder ausgewandert«; nur »Deutsche« könnten Bürgerrechte erwerben und zur »reinen Sittlichkeit«, zur »wahren Religion« und zur »Vaterlandsliebe« erzogen werden.16

Fichte, jetzt Rektor der Berliner Universität, befand sich auch unter den Mitgliedern einer illustren Tafelrunde, die sich seit 1811 in Berlin regelmäßig zusammenfand: Die »Deutsche Tischgesellschaft«, gegründet auf Initiative von Achim von Arnim, einem der führenden Vertreter der deutschen literarischen Romantik (und engagiertem Judenfeind), sowie von dem Staats- und Wirtschaftstheoretiker Adam Müller. Letzterer vermengte seine gegen die Moderne gerichteten Vorstellungen nationaler Zusammengehörigkeit mit antijüdischen Positionen: Konkurrenz, Steuerung durch den Markt, internationaler Handel und Geldwirtschaft waren für ihn Faktoren, die Wirtschaft und Volk destabilisierten und deswegen zurückgedrängt werden müssten. Mit diesen Grundübeln der wirtschaftlichen Entwicklung assoziierte Müller das moderne Judentum, das die feudal geordnete Landwirtschaft kapitalisieren, also, wie Müller das ausdrückte, der »Oberlehnsherrschaft der Juden und Wucherer unterwerfen« wolle, und dies mit verheerenden Folgen. Dem »rechtschaffenen christlichen Hausvater wird kein Ausweg bleiben, als sie zu vernichten oder ihr Sklave zu werden«.17

In der von Müller mitgegründeten Tischgesellschaft konnten laut Statuten nur Männer Mitglied werden, die »in christlicher Religion geboren« waren, was den Ausschluss auch getaufter Juden bedeutete. Die Runde hatte einen höchst exklusiven Charakter: Unter den 86 Mitgliedern, die sich für den Zeitraum 1811–1813 nachweisen lassen, befanden sich Professoren der Berliner Universität (u. a. Fichte, Schleiermacher, Savigny), Spitzenbeamte der Reform-Regierung (wie Hardenberg), Offiziere (u. a. Clausewitz) und angesehene Künstler (wie der Dichter Clemens Brentano oder der Architekt Schinkel). Der Ausschluss von Frauen und Juden, die wichtige Rolle des gemeinsamen Essens und Trinkens und nicht zuletzt der Name der Runde (die auch als Deutsche christliche Gesellschaft bezeichnet wurde) verwiesen darauf, dass man der aufgeklärten deutsch-jüdischen Berliner Salonkultur bewusst eine Alternative entgegenstellen wollte.

Der Kreis wurde zusammengeführt durch die radikale Ablehnung und den Hass auf die französische Besatzungsherrschaft, durch einen propreußischen Nationalismus (der sich seit 1813 in Richtung auf einen gesamtdeutschen Nationalismus öffnete) und nicht zuletzt auch durch die Gegnerschaft gegen die unmittelbar bevorstehende Reform der preußischen Judengesetzgebung. Die Verspottung und Karikierung der Juden bildete denn auch in den häufig launigen Tischreden und sonstigen, zum Teil ausgelassenen Darbietungen ein wichtiges Element. So knüpfte man an die scharfe und öffentlich geäußerte Kritik an, mit denen der Eintritt gebildeter Berliner Juden in die Kulturwelt seit Jahren begleitet wurde. Brentano und sein Freund Achim von Arnim lieferten mit deftigen Zoten gespickte antijüdische Grotesken ab, während der erste Sprecher der Tischgesellschaft, Ludolph von Beckedorff, im Juni 1811 seine Auffassung kundgab, man führe »Krieg«, und zwar einen »gründlichen, ernsthaften und aufrichtigen gegen die Juden, gegen ein Gezücht, welches mit wunderbarer Frechheit, ohne Beruf, ohne Talent, mit wenig Muth und noch weniger Ehre, mit bebendem Herzen und unruhigen Fußsohlen, wie Moses ihnen prophezeit hat, sich in den Staat, in die Wissenschaft, in die Kunst, in die Gesellschaft und letztlich sogar in die ritterlichen Schranken des Zweikampfes einzuschleichen, einzudrängen und einzuzwängen bemüht sind«. Man war unter sich; die Exklusion und Ablehnung der Juden bildete ein wesentliches Element für den Zusammenhalt und das Selbstbewusstsein des Kreises, der in seiner Mehrheit aus Männern bestand, die aktiv in die preußische Reformpolitik involviert waren. Die Existenz der Tischgesellschaft und die hier zum Vergnügen der Gäste zum Besten gegebenen antijüdischen Pöbeleien verdeutlichen, dass der Erlass des preußischen Judenedikts im Jahre 1812 auch im Kreise der Reformer auf erhebliche innere Reserven stieß.18

Judenfeindschaft in der Literatur der Romantik

Auch in der romantischen Literatur der ersten Jahrhunderthälfte wurde ein Arsenal von stereotypen Judenfiguren entwickelt – unabhängig davon, ob man die Werke selbst bzw. ihre Urheber als antisemitisch einstuft (was in der germanistischen Literatur in diversen Fällen durchaus umstritten ist). So beschränkte sich Arnims und Brentanos polemisches Engagement gegen die Juden selbstverständlich nicht nur auf die Tischgesellschaft; auch in den literarischen Werken dieser beiden herausragenden Autoren der Romantik lassen sich eine Reihe von negativ gezeichneten jüdischen Figuren nachweisen.19 In der von ihnen gemeinsam unter dem Titel Des Knaben Wunderhorn (1805–1807) herausgegebenen Sammlung alter deutscher Lieder – die zum Literaturkanon des 19. Jahrhunderts gehören sollten – findet sich eine Reihe von Texten mit antijüdischer Tendenz, die zum Teil von den Herausgebern in diesem Sinne bearbeitet wurden.20 Klischeehafte Darstellungen von Juden lassen sich unter anderem auch bei E. T. A. Hoffmann nachweisen,21 und Joseph von Eichendorff führte diese Traditionslinie der deutschen Romantik fort, indem er in seinen Werken der 1840er negativ konnotierte jüdische Aufsteiger auftreten ließ.22

Wie der Germanist Marco Puschner herausgearbeitet hat, ist die Darstellung von jüdischen Figuren in der Literatur der Romantik durch sich beständig wiederholende Zuschreibungen unveränderbar negativer Eigenschaften bestimmt: charakterlich und körperlich degeneriert, angetrieben von einer unerschöpflichen Gier nach Geld, Einfluss und Macht, egoistisch und illoyal gegenüber der nationalen Gemeinschaft und – durch ihre Wühlarbeit – für diese letztlich schädlich, ja verhängnisvoll.23 Typisch für die Darstellung des stereotypen Juden in der romantischen Literatur ist denn auch die schematische Gegenüberstellung »aufrechter Deutscher/korrupter Jude«, wie die Literaturwissenschaftlerin Ruth Angress (Ruth Klüger) festgestellt hat. Der Typ des lauteren Deutschen funktioniert eben besonders gut, wenn man ihn mit dem fiesen jüdischen Gegenüber konfrontiert – eine Erkenntnis, die sich nicht nur auf die Literaturwissenschaft beschränkt.24 Unschwer ist die literarische Häufung dieser negativ gezeichneten Figuren in den Jahren 1811 bis 1820 als negativer Kommentar zur Emanzipationsdiskussion dieser Jahre zu lesen.25 So entstand vor den Augen des bürgerlichen Lese- und Theaterpublikums ein Repertoire von Figuren mit abrufbaren, »typischen« Eigenschaften. Neben dem »braven, rechtschaffenden Juden«26 handelte es sich vor allem um negativ gezeichnete Typen: Der raffgierige jüdische Geschäftemacher, der zu Wohlstand gekommene alte »Schacherjude«, dessen Herkunft ebenso zweifelhaft war wie das Zustandekommen seines Reichtums;27 der parvenühafte, in seinen Assimilationsbemühungen allzu leicht zu erkennende Aufsteiger;28 die exotisch-verführerische, gleichzeitig gefährlich-zerstörerische »schöne Jüdin«,29 die »ästhetische« Jüdin (deren Bemühungen, die christlich-deutsche Kultur zu verinnerlichen, als leicht durchschaubare und zum Scheitern verurteilte Anbiederung »entlarvt« wird).30 In der Regel werden diese Figuren einem deutschen »Gegentypus«, ehrbar und bieder, gegenübergestellt, und der besondere Reiz besteht darin, den Helden zuzuschauen, wie sie ihre jüdischen Widersacher erkennen und unschädlich machen.31

Der Widerstand gegen die Reformbestrebungen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts ist auch in einer anderen, im Niveau niedriger anzusiedelnden Literaturgattung nachweisbar: Gemeint ist die karikaturhafte Darstellung von Juden in populären Bühnenstücken, die antijüdische »Posse«. Dieses Genre stammt ebenfalls aus dem Zeitraum zu Beginn des Jahrhunderts (Vorbilder finden sich bereits im Zeitraum vor der Emanzipationsdebatte)32 und resultierte aus dem Unwillen, mit dem man in bürgerlichen Kreisen die durch die napoleonische Epoche erzwungenen Teilfortschritte betrachtete. So erwies sich insbesondere das Stück Unser Verkehr des Breslauer Arztes Karl Borromäus Alexander Sessa aus dem Jahre 1813 nicht nur als äußerst wirkungsvoll, sondern es prägte ein weit in das 19. Jahrhundert hineinreichendes Genre.33 Das Stück karikierte die Assimilation der Juden als bloße äußere Maskerade und führte ihren Aufstieg in der deutschen Gesellschaft auf nackte Geldgier zurück. Der vom Publikum goutierte besondere »Witz« des Stückes bestand in der Sprechweise der Charaktere, die bei all ihren angestrengten Bemühungen um Anpassung an die deutsche Kultur doch durch das Jiddische bestimmt war: vom starken Akzent bis hin zum fast perfekten Deutsch, das jedoch durch kleine Nuancen den jüdischen Sprecher verriet. Verstärkt wurde diese Karikierung durch Gestik und Mimik. Die Botschaft – man kann sie doch immer erkennen! – löste, verstärkt durch die derb-burleske Darstellungsweise, einen johlenden Lacherfolg beim Publikum aus. Das Stück wurde 1813 in Breslau uraufgeführt, jedoch von der Zensur alsbald wegen seines judenfeindlichen Inhalts abgesetzt. Nach erheblichen öffentlichen Protesten (die sich zu einer Kampagne gegen eine angebliche Dominanz der Juden im kulturellen Leben der Hauptstadt ausweiteten) kam eine überarbeitete Version noch im gleichen Jahr in Berlin auf die Bühne und wurde zu einem beispiellosen Publikumserfolg. Weitere Aufführungen in zahlreichen weiteren Städten folgten, das Stück gehörte bald zum bevorzugten deutschen Lustspiel-Repertoire, es gab Nachahmungen, Fortsetzungen und Gegenstücke. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden über 100 Stücke veröffentlicht, in denen Juden vorkamen, meist handelte es sich um ähnliche »Possen« und unterhaltende Lustspiele. Die Bühne eignete sich besonders dazu, durch jiddischen Akzent und Ausdrucksweise das so karikierte jüdische Personal gezielt dem Spott des Publikums auszuliefern.34 Schon zu Beginn des Jahrhunderts hatten sich also in Theater und Literatur leicht abrufbare stereotype Darstellungen der sich zu emanzipieren beginnenden Juden etabliert, die einen festen Bestandteil der vom Bürgertum rezipierten Kultur bildeten.

3. Emanzipationsdebatte und antijüdische Gewalt nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft (1815–20)

Nach dem Scheitern des napoleonischen Russlandfeldzugs 1812/13, den »Befreiungskriegen« der Jahre 1813–1815, dem Zusammenbruch des französischen Okkupations- und Bündnissystems und der Neuregelung der staatlichen Verhältnisse in Mitteleuropa auf dem Wiener Kongress 1815 standen die politischen Vorzeichen auf Restauration der politischen Verhältnisse, auf möglichst weitgehende Wiederherstellung der monarchischen Autorität und der ständestaatlichen Ordnung. Unter diesen Vorzeichen gingen nun die meisten Staaten im neu gebildeten Deutschen Bund daran, die den Juden unter dem Eindruck der napoleonischen Expansion und dem offenkundigen Modernisierungsvorsprung Frankreichs gewährten Rechte wieder rückgängig zu machen (während einige Staaten noch mit dem Ausbau der Gleichstellung beschäftigt waren).

Diese Revision betraf zunächst vor allem die Gebiete, die von Frankreich annektiert (bzw. den napoleonischen »Modellstaaten« einverleibt) worden waren und wo »fremdes« französisches Recht gegolten hatte, aber auch die Staaten, die unter dem Druck der Verhältnisse von sich aus eine Reformpolitik eingeleitet hatten. So kehrten etwa die Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck wieder zu den vornapoleonischen Verhältnissen zurück,1 ebenso die Reichsstadt Frankfurt, in der die Juden erst nach zähen Verhandlungen 1824 zumindest eine zivilrechtliche Besserstellung erreichten.2 In Württemberg machte die Verfassung von 1819 die Ausübung voller (staats-)bürgerlicher Rechte von der christlichen Religionszugehörigkeit abhängig.3 Baden hielt in der Verfassung von 1818 grundsätzlich an der Anerkennung der Juden als Staatsbürger fest, betonte jedoch ihre mindere Rechtsstellung gegenüber christlichen Einwohnern.4 In Bayern blieben Bemühungen, das Edikt von 1813 zu revidieren, ohne konkrete Resultate. In Sachsen wurden nach 1816 Reformansätze angesichts starker Proteste aus der Bürgerschaft nicht weiter verfolgt.5 Preußen behielt zwar das relativ großzügige Judenedikt von 1812 bei, dehnte seine Anwendung jedoch letztlich nicht auf die 1815 neu erworbenen Gebiete aus, wo bei weitem die meisten im Lande ansässigen Juden lebten.6 Und so entwickelten sich die Rechtsverhältnisse der Juden von Staat zu Staat, ja sogar innerhalb einzelner Staaten höchst unterschiedlich, was hier aber nicht im Einzelnen dargestellt werden kann.

Die Denkschrift Verhältnisse der Juden zu den christlichen Unterthanen in deutschen Staaten von Anfang 1818, durch die das Königreich Hannover seine Gesandten bei der Frankfurter Bundesversammlung instruierte, zeigt beispielhaft, welchen immensen Gefahrenherd aus konservativer Regierungssicht die Forderung nach »bürgerlicher Verbesserung« darstellte.7 Denn nach der Auffassung der hannoverschen Regierung war es der besondere Charakter des Judentums als einer »National-Religion«, die einer Eingliederung ihrer Angehörigen in die christliche Gesellschafts- und Staatsordnung entgegenstand. Die religiöse Neutralität des Staates – bei den aufgeklärten Reformern Grundvoraussetzung für die Statusangleichung der Juden – erschien nun, nach der Erfahrung der französischen Revolution, undenkbar, »wenn nicht das ganze Gebäude der christlichen religiösen Unterrichts- und Bildungs-Anstalten, und deren Verbindung mit dem Staate, auf die Art zuerst zerstört würde, als am Anfang der französischen Revolution versucht worden«. Erschwerend komme hinzu, dass die Juden andererseits in den verschiedenen deutschen und europäischen Ländern untereinander »eine politische Verbindung zu einer abgesonderten Nation« unterhielten. Außerdem, so ein weiteres Kernargument der Schrift, würde eine Gleichberechtigung der Juden die bestehende ständisch-korporative Gesellschaftsverfassung sprengen: Würde man sie vollkommen mit den christlichen Bürgern gleichstellen, so müsste »die allgemeine Gewerbefreyheit im Gegensatze mit der Zunft- und Gildeverfassung und die Aufhebung aller Unterschiede unter verschiedenen Ständen … vorangehen«. Dies würde aber das Ende des ständisch-korporativen Systems bedeuten. »Bürgerliche Verbesserung« war also nur im Rahmen einer christlich ständisch-korporativen Verfassungsstruktur erwünscht – und diese in jedem Fall zu erhalten war das Primärziel der nun anbrechenden Restaurationsperiode. Die Denkschrift macht demnach sehr deutlich, worin aus konservativer Perspektive gesehen die außerordentliche Gefahr einer vollen Emanzipation der kleinen Randgruppe der Juden bestand: Die vollständige Gleichberechtigung hätte Tür und Tor für eine Auflösung der mit der christlichen Religion verklammerten traditionellen Gesellschaftsordnung geöffnet.

Im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung war man jedoch durchaus zu gewissen Konzessionen bereit, insbesondere was ihre wirtschaftliche Tätigkeit betraf. Idealerweise sollten aber die Juden zum Christentum übertreten, »Wildfänge«, also konfessionslos lebende ehemalige Angehörige der jüdische Religion, wollte man auf keinen Fall dulden.

Die Debatte in der nationalen und liberalen Bewegung

Neben den alten konservativen Eliten, die mit der «bürgerlichen Verbesserung« das gesamte Gefüge der christlich-ständischen Gesellschaftsordnung untergehen sahen, äußerte sich nun aber zunehmend auch in der frühen Nationalbewegung Unbehagen an der Vorstellung einer jüdischen Gleichberechtigung. Ihre Vordenker, das haben wir im letzten Kapitel dargestellt, schlossen in ihrer romantischen Vorstellung Juden in der Regel als Teilhaber an der zu bildenden Nation aus. Doch auch in der Zeit nach 1815 waren in der intellektuellen Debatte und publizistischen Auseinandersetzung um die Judenemanzipation Autoren tonangebend, die einen aus der Romantik gespeisten, »teutschen«, Patriotismus auf christlicher Grundlage einforderten.

Die Geburtsstunde der politischen Nationalbewegung in den Jahren 1807 bis 1813 wurde durch den Befreiungskampf gegen Napoleon geprägt. Die nationale Aufbruchstimmung und die Hoffnung auf politische Mitsprache, die schließlich in den gebildeten Schichten entstanden war, wurden jedoch durch die restaurative und partikularistische Politik nach 1815, den Abbruch der Reformpolitik, die Blockierung der Verfassungsbestrebungen (außer in den süddeutschen Staaten) und die Bildung eines nur schwachen Deutschen Bundes, der lediglich der Austarierung der Interessengegensätze der einzelnen Staaten diente und kaum Ansatzpunkte für nationale Ambitionen bot, erheblich gedämpft und enttäuscht. Als organisierte Träger einer freiheitlich-nationalen Bewegung traten die durch Jahn gegründeten Turner, die seit 1815 neu gebildeten studentischen Burschenschaften und die vor allem im Rhein-Main-Gebiet maßgeblich durch Arndt 1814 inspirierten »Deutschen Gesellschaften« auf.8 Angesichts der politisch blockierten Situation, die die Entwicklung einer in absehbarer Zukunft zu verwirklichenden politischen Einheit Deutschlands gar nicht zuließ, verlagerte sich der Schwerpunkt der nationalen Bewegung auf die Belebung eines kulturell und historisch fundierten Nationalbewusstseins im Geiste der Romantik.9

Dieses romantische, auf Sprache, Volkstum, Kultur und Geschichte beruhende Nationalbewusstsein prägte den Liberalismus, die zweite große, in dieser Zeit entstehende politische Bewegung.10