Joseph Goebbels - Peter Longerich - E-Book

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Peter Longerich

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Beschreibung

Die große Goebbels-Biographie

Joseph Goebbels (1897–1945) war ein radikaler Antisemit und Gewaltfanatiker, der sich in der Rolle des Schöngeists gefiel und zugleich einen entscheidenden Part bei den beispiellosen Verbrechen des »Dritten Reichs« innehatte. Mit dieser Biographie erzählt Peter Longerich die politische wie die private Lebensgeschichte von Hitlers Chefpropagandisten und wirft zugleich ein neues Licht auf Öffentlichkeit und Herrschaft im Nationalsozialismus.

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Seitenzahl: 1721

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Peter Longerich

Joseph Goebbels

Biographie

Pantheon

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Copyright © 2010 by Peter Longerich

All rights reserved

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010

by Siedler Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Jorge Schmidt, München

Lektorat: Antje Korsmeier, Jan Schleusener, Andreas Wirthensohn

Bildredaktion und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

ISBN 978-3-641-31538-2V001

www.pantheon-verlag.de

Inhalt

Prolog

1897 – 1933Aufstieg um jeden Preis

1»Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit, klingt ein Lied mir immerdar.«

Joseph Goebbels über seine Kindheit und Jugend

2»Wer nicht geschunden wird, wird nicht erzogen.«

Goebbels’ Weg zum Nationalsozialismus

3»Die Arbeit im Geiste ist das größte Opfer.«

Positionierung in der frühen NSDAP

4»Der Glaube versetzt Berge.«

Politische Anfänge in Berlin

5»Der Kampf ist der Vater aller Dinge.«

Der Gauleiter und die Reichshauptstadt

6»Ein Leben voll Arbeit und Kampf, das ist in Wahrheit die ewige Seligkeit.«

Politik zwischen Berlin und München

7»Habe den Mut, gefährlich zu leben!«

Goebbels’ Radikalismus und Hitlers »legaler« Kurs

8»Jetzt müssen wir an die Macht … So oder so!«

Regierungsbeteiligung?

9»Ich glaube blind an den Sieg.«

Auf dem Weg an die Macht

1933 – 1939Kontrolle der »Öffentlichkeit« unter der Diktatur

10»Wir gehen nicht mehr!«

Übernahme der Macht

11»Nur wer den Sieg verdient, wird ihn behalten.«

Festigung des Regimes

12»Der Führer pflegt alles, was er tut, ganz zu machen.«

Errichtung des Führerstaats

13»… die innere Disziplin eines Volkes … fest an die Zügel nehmen.«

Propaganda und gelenkte Öffentlichkeit

14»Niemals müde werden!«

Außenpolitische Erfolge und antijüdische Politik

15»Je härter, desto besser!«

Olympiajahr 1936

16Die »wichtigsten Faktoren unseres modernen Kulturlebens«

Konsolidierung der NS-Kulturpolitik

17»Nicht umschauen, weitermarschieren!«

Der Scharfmacher als Friedensapostel

18»Nur das Leid macht uns reif!«

Kriegsvorbereitung – vom Münchner Abkommen bis zum Angriff auf Polen

1939 – 1945Krieg – totaler Krieg – totaler Untergang

19»Der Krieg ist der Vater aller Dinge.«

Die ersten Kriegsmonate

20»Es gibt nur eine Sünde: die Feigheit!«

Die Ausweitung des Krieges

21»Mit unseren Fahnen ist der Sieg!«

Zwischen West- und Ostkrieg

22»Große, wunderbare Zeit, in der ein neues Reich geboren wird.«

Der Überfall auf die Sowjetunion

23»Erziehung des Volkes zur politischen Härte«

Die Winterkrise 1941/42

24»Wir sehen dann im Geiste ein glückliches Volk vor unseren Augen.«

Offensiven und Rückschläge

25»Wollt Ihr den totalen Krieg?«

Die zweite Winterkrise

26»Der breiten Massen hat sich eine gewisse Skepsis, um nicht zu sagen Hoffnungslosigkeit bemächtigt.«

Krise als Dauerzustand

27»Ich weiß durchaus noch nicht, was der Führer einmal endgültig tun wird.«

Die Suche nach einem Ausweg

28»… praktisch eine innere Kriegsdiktatur.«

Zwischen Endzeitstimmung und totalem Kriegseinsatz

29»Aber wo bleiben die Taten?«

Der Untergang

Fazit

Dank

Anhang

Bemerkungen zu Quellen und Literatur

Anmerkungen

Abkürzungen und Sigel

Literaturverzeichnis

Personenregister

Ortsregister

Nachweise

Prolog

Am 30. April 1945 entschloß sich der amtierende Reichskanzler Dr. Joseph Goebbels, wenige Stunden nachdem ihm dieses Amt durch Hitlers Tod zugefallen war, einen Versuch zu unternehmen, seinen mehrfach angekündigten Suizid hinauszuzögern. Goebbels verfaßte ein Schreiben an den »Obersten Befehlshaber der Streitkräfte der Sowjetunion«, in dem er ihm den Selbstmord Hitlers und die in Kraft getretene Nachfolgeregelung mitteilte – der Diktator hatte gleichzeitig mit Goebbels’ Beförderung verfügt, daß Großadmiral Karl Dönitz das Amt des Reichspräsidenten übernehmen sollte. Darüber hinaus unterbreitete Goebbels in seinem Schreiben ein Angebot für einen Waffenstillstand und anschließende Friedensverhandlungen.

Generalstabschef Hans Krebs, der seit seiner Dienstzeit an der Militärmission in Moskau Russisch sprach, unternahm es, die Frontlinie, die nur noch wenige hundert Meter von der Reichskanzlei entfernt verlief, zu überqueren, und überbrachte den Brief am frühen Morgen Generaloberst Wassili Tschuikow, dem Befehlshaber der 8. Gardearmee, der sein Hauptquartier in Tempelhof aufgeschlagen hatte. Dieser setzte sich mit Marschall Georgi Schukow, dem Oberbefehlshaber der Sowjetarmee in der Schlacht um Berlin, in Verbindung, der wiederum den sowjetischen Diktator Josef Stalin informierte. Einige Stunden später traf die Antwort aus Moskau ein: Ein Waffenstillstand komme nicht in Frage, man erwarte die Kapitulation der deutschen Streitkräfte.1 Als Krebs dieses Ergebnis Goebbels am 1. Mai mitteilte, bezichtigte ihn dieser, am Nichtzustandekommen von Verhandlungen schuld zu sein. Dann entschied er, eine weitere Delegation zu Tschuikow zu entsenden. Aber auch diese erhielt keine andere Antwort.2

Goebbels entschloß sich nun, Dönitz den Tod Hitlers und die damit verbundene Nachfolgeregelung mitzuteilen; seine Vorstöße, einen Waffenstillstand zu erreichen, hatte er wohlweislich unternommen, bevor das neue Staatsoberhaupt sein Amt antreten konnte. Anschließend stellte Goebbels der Besatzung im Führerbunker in einer Lagebesprechung anheim, auf eigene Faust auszubrechen.3 Er hatte mehrfach öffentlich angekündigt, im Falle des Untergangs des »Dritten Reiches« seinem Leben und dem seiner engsten Angehörigen ein Ende zu setzen. In einer Rundfunkansprache Ende Februar hatte er bekannt, daß er dann sein Leben für »nicht mehr wert hielt, gelebt zu werden, weder für mich noch für meine Kinder«.4 In der Wochenzeitschrift Das Reich hatte er sich am 15. April unter der Überschrift »Der Einsatz des eigenen Lebens« von seinen Lesern verabschiedet, indem er die rhetorische Frage stellte, wer sich nach einem alliierten Sieg »ein persönliches Weiterleben in einem solchen Zustand überhaupt nur vorstellen wollte«.5 Gut zwei Wochen später war die letzte Stunde der Familie Goebbels gekommen.

Den lange beschlossenen Mord an den Kindern zu arrangieren überließ Goebbels seiner Frau. Die genauen Umstände des Mordes (und die Frage der persönlichen Verantwortung für den Kindermord) sind nicht vollkommen geklärt: Der Zahnarzt Helmut Kunz sagte nach dem Krieg mehrfach aus, er habe den Kindern zuerst eine Morphiumspritze verabreicht, anschließend habe Magda Goebbels ihnen die Zyankalikapseln im Mund zerdrückt. Später korrigierte er sich und schrieb diese Tat Hitlers Leibarzt Ludwig Stumpfegger zu.6

Magda und Joseph Goebbels hatten bereits am 28. April Abschiedsbriefe an Harald Quandt, Magdas Sohn aus erster Ehe, verfaßt, in denen sie ihren Selbstmord und den Mord an den Kindern ankündigten; sie hatten diese Briefe der Fliegerin Hannah Reitsch mitgegeben, der es noch am selben Tag gelang, per Flugzeug aus der Stadt herauszukommen. Goebbels schrieb, Deutschland werde »diesen furchtbaren Krieg überstehen, aber nur dann, wenn unser Volk Beispiele vor Augen hat, an denen es sich wieder aufrichten kann. Ein solches Beispiel wollen wir geben.«7 Magda behauptete in ihrem Brief an Harald, sowohl ihr Ehemann als auch Hitler hätten versucht, sie zur Flucht aus Berlin zu überreden. Sie habe dies abgelehnt. Sie verhehlte nicht, daß sie für den Entschluß zum Mord an Haralds Halbgeschwistern mitverantwortlich war: »Die Welt, die nach dem Führer und dem Nationalsozialismus kommt, ist nicht mehr wert, darin zu leben, und deshalb habe ich auch die Kinder mitgenommen, denn sie sind zu schade für das nach uns kommende Leben, und ein gnädiger Gott wird mich verstehen, wenn ich ihnen selbst die Erlösung geben werde. […] Wir haben nur noch ein Ziel: Treue bis in den Tod dem Führer.«8

Hitlers Adjutant Günther Schwägermann sagte nach dem Krieg aus, am Abend des 1. Mai habe Goebbels ihn zu sich gerufen und darüber informiert, daß er und seine Frau sich umbringen würden; nach Schwägermanns Aussage bat Goebbels darum, »seinen Tod auf jeden Fall durch einen weiteren Schuß zu garantieren« und die Leichen zu verbrennen. Nachdem entsprechende Vorbereitungen getroffen worden waren, habe sich Goebbels von ihm verabschiedet und ihm das Führerbild von seinem Schreibtisch übergeben. Schwägermann vermittelte einen Eindruck davon, wie sehr es Goebbels darauf ankam, bis zur letzten Minute seines Lebens die äußere Form zu wahren: »Kurz darauf, etwa um 20.30 Uhr, kamen der Minister und seine Frau aus dem Zimmer. Er ging ruhig an den Garderobenständer, zog sich seinen Mantel an, setzte den Hut auf und streifte die Handschuhe über die Finger. Er reichte seiner Frau den Arm und verließ wortlos den Bunker durch den Ausgang zum Garten.« Wenig später fand Schwägermann die reglosen Körper der Goebbels – beide scheinen sich vergiftet zu haben9 – im Garten: »Wie verabredet, schoß mein Begleiter ein oder zweimal auf den Körper von Dr. Goebbels. Beide Leichen zeigten keinerlei Bewegung. Über beide wurde dann das mitgebrachte Benzin gegossen und entzündet. Die Leichen waren im Nu vom Feuer eingehüllt.«10

Fast alle führenden Funktionäre des NS-Regimes sind vor den sowjetischen Truppen aus der Hauptstadt geflohen, und selbst die Mitglieder der engsten NS-Führungsspitze trachteten danach, angesichts des Untergangs des »Dritten Reiches« wenigstens ihr Leben zu retten: Himmler versuchte, in der Millionenmasse der geschlagenen Wehrmachtssoldaten unterzutauchen, und wurde dabei gefangengenommen und erkannt, Bormann schloß sich nach Hitlers Tod einem bewaffneten Ausbruch aus dem Belagerungsring um die Reichskanzlei an und kam dabei um, Göring und Speer ergaben sich den Alliierten. Goebbels war der einzige aus dem engsten Führungskreis, der nach Hitlers Ableben im Führerbunker ausharrte und diesem schließlich in den Selbstmord folgte – und er war der einzige, der seine gesamte Familie mit in den Tod riß.

Dieser letzte Schritt war bereits eine für die Nachwelt arrangierte Inszenierung: Einfach gemeinsam mit seiner Frau aus dem Leben zu scheiden, das hätte so ausgesehen, als zöge er wie viele andere lediglich die letzte Konsequenz in einer ausweglosen Situation. Das würde, so seine Überlegung, als Eingeständnis des völligen Scheiterns seines Lebensentwurfs verstanden werden, als jämmerlicher Abgang in einem Moment, als seine politische Arbeit, die Arbeit der letzten zwanzig Jahre, in eine gigantische Katastrophe mündete. Goebbels aber wollte zusammen mit seiner Frau einen dramatischen Schlußpunkt setzen, mit der »Treue bis in den Tod«, die seine Ehefrau beschworen hatte, ein »Beispiel« für die Nachwelt geben. Konventionelle propagandistische Mittel standen ihm dafür nicht mehr zur Verfügung. Der radikale Akt, seine gesamte Familie auszurotten, schien für ihn eine Möglichkeit zu sein, vor aller Welt zu beweisen, daß er sich Hitler tatsächlich ganz und mit letzter Konsequenz verschrieben hatte, daß er als einziger aus der NS-Führungsclique bereit war, für diese unbedingte Loyalität fundamentale menschliche Verpflichtungen aufzugeben. In diesem letzten Schritt sah er eine Chance, seine vollkommen mißlungene Vita in ein Lebenswerk umzudeuten, das von äußerster Geradlinigkeit und bedingungsloser Hingabe geprägt zu sein schien. Diese letzte, auf seinen Nachruhm bedachte Propagandainszenierung des Ministers offenbarte zugleich die große psychische Abhängigkeit, die Goebbels gegenüber Hitler empfand: Mit dessen Selbstmord hatte auch sein Leben jeden Sinn verloren. Ja, für die Goebbels war tatsächlich die Weiterexistenz der eigenen Familie nach Hitlers Tod undenkbar, da sie ihre Familie auch als Hitlers Familie betrachteten. Diese absolute Gefügigkeit gegenüber Hitler sollte durch Selbstmord und Mord zur Tugend werden: Treue bis in den Tod.

Joseph Goebbels war ein Mensch, den zeitlebens ein außergewöhnlich starkes Bedürfnis nach Anerkennung durch andere antrieb, der regelrecht süchtig war nach der Bewunderung durch seine Mitmenschen. Diese Sucht war im Grunde genommen nicht wirklich zu befriedigen. Sie zeigte sich etwa darin, daß sich der Propagandaminister und Herr über die Öffentlichkeit des »Dritten Reiches« nach jahrelanger Tätigkeit immer noch enthusiastisch freute, wenn seine Reden in den von ihm kontrollierten Medien groß herausgestellt und anerkennend kommentiert wurden. Solche »Erfolge« vermerkte er regelmäßig in seinem Tagebuch.

Die Sucht nach Anerkennung und sein in jungen Jahren schon stark entwickelter Drang nach Größe und Einmaligkeit, seine megalomanen Phantasien über seine künftige Rolle in der Welt, seine Arroganz und sein Hochmut, sein Mangel an Empathie und sein Hang, persönliche Beziehungen eiskalt auszunutzen, einerseits und auf der anderen Seite die Bereitschaft, sich einer vermeintlich größeren Persönlichkeit bedingungslos unterzuordnen, und nicht zuletzt seine Depressionsschübe, die dann einsetzten, wenn die erwarteten außerordentlichen Erfolge ausblieben – damit sind alle wesentlichen Kriterien erfüllt, die nach dem heutigen Stand der Psychoanalyse eine narzißtisch gestörte Persönlichkeit charakterisieren.11 Um diese Sucht zu befriedigen, bedurfte Goebbels – im Innern zutiefst unsicher hinsichtlich seiner Wirkung auf andere – des ständigen Lobs und der Anerkennung durch ein Idol, dem er sich völlig untergeordnet hatte. Dieses Idol war seit 1924 Adolf Hitler. Indem Hitler Goebbels fortwährend bestätigte, daß er von exzeptioneller Großartigkeit sei, verlieh er ihm die zur Lebensbewältigung notwendige Stabilität, die Goebbels aufgrund seiner nicht ausbalancierten Persönlichkeit nicht hatte.

Ohne Zweifel war die narzißtische Sucht nach Anerkennung der wesentliche Antrieb für Goebbels’ Karriere. Ihre vorrangigen Merkmale – Selbstüberschätzung, rastlose Arbeitswut, bedingungslose Unterwerfung unter ein Idol, Geringschätzung anderer menschlicher Beziehungen und die Bereitschaft, sich im Interesse der eigenen Sache über allgemein anerkannte moralische Normen hinwegzusetzen – lassen sich als Konsequenz dieser Sucht ausmachen.

Goebbels’ Lebensziel war es, zu beweisen, daß er, Joseph Goebbels, das gesamte deutsche Volk hinter seinem eigenen politischen Idol und Führer Adolf Hitler vereinen könne. Um diese Saga in den Köpfen zu verankern, hat Goebbels eine unendliche Menge an Materialien produziert und hinterlassen: Da ist die Flut von Druckerzeugnissen, Filmmaterial und Audioquellen, die der von ihm gelenkte Propagandaapparat hervorgebracht hat, dann die unübersehbare Menge von zeitgenössischen Stimmungsberichten, die den Erfolg dieser Propagandaarbeit suggerieren, und da sind seine Tagebücher, die in der zwischen 1993 und 2008 von Elke Fröhlich vom Münchner Institut für Zeitgeschichte besorgten Edition immerhin 32 Bände umfassen. In diesem Tagebuch ging es ihm vor allem um eines: die Dokumentation seines Erfolges.12

Die einzelnen Kapitel der Erfolgsgeschichte hat er selbst bereits umfassend vorgezeichnet: der Aufstieg eines von den äußeren Umständen nicht verwöhnten Mannes aus dem Volke zu einem der Sprecher der »sozialistischen« NSDAP in Westdeutschland; der Eroberer des »Roten Berlins« und Schöpfer der »Führerpropaganda« in den Jahren 1926 bis 1933; der Mann, der die Massen nach 1933 zur »Volksgemeinschaft« hinter Hitler vereinte; und schließlich der engste Getreue seines Führers, der das deutsche Volk im Krieg zu äußersten Anstrengungen anstachelte. Der Kernbestand dieser autobiographischen Erzählung hat sich, wenn auch unter negativen Vorzeichen, bis auf den heutigen Tag in vielfältiger Form erhalten. Denn die multimediale Verwendung dieser von Goebbels und seinen Mitarbeitern geschaffenen Materialien ist über seinen Tod hinaus nicht wirkungslos geblieben: Kein Film, kein Fotoband, kein Schulbuch, keine populäre und keine wissenschaftliche Darstellung über das »Dritte Reich« kommt ohne diese Materialien aus. So ist die »Goebbels-Propaganda« zu einem allgemein bekannten Begriff geworden: Wer immer nach einer Erklärung des Phänomens sucht, warum die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung sich so offenkundig eng an das NS-System band, wird an Joseph Goebbels nicht vorbeikommen.

Das von Goebbels so wirkungsvoll entworfene Selbstbild in Frage zu stellen und seine historische Rolle von Grund auf neu zu bestimmen ist die besondere Herausforderung für eine Biographie des NS-Propagandaministers. Die Tatsache, daß die große Masse der Materialien über den Propagandaminister und Berliner Gauleiter entweder von ihm selbst oder aus seinem Propagandaapparat stammt, daß sie erstellt wurde, um die Grandiosität und den historisch einmaligen Erfolg von Joseph Goebbels zu beweisen, ist in der Tat das zentrale Problem, das sich dem Verfasser einer Goebbels-Biographie von Anfang an stellt. Bei näherer Analyse zeigt sich jedoch, daß die große Menge an Texten, die Goebbels über sich selbst verfaßte, und die Fülle an Materialien, mit denen sein Propagandaapparat sein Wirken zu dokumentieren suchte, überraschend viele Ansatzpunkte enthalten, um das von Goebbels entworfene Selbstbild zu dekonstruieren.

Goebbels ging es als Autor und Chefpropagandist des »Dritten Reiches« vor allem darum, einen Spiegel aufzustellen, in dem er sich selbst überlebensgroß sah. Vor diesem Spiegel konnte er seine narzißtische Sucht ausleben. Da ihm inneres Gleichgewicht wie äußere Sicherheit fehlten und er seiner Wirkung auf andere zutiefst mißtraute, bedurfte er der ständigen Bestätigung, daß das großartige Bild im Spiegel tatsächlich ihn selbst, Joseph Goebbels, darstellte. Diese Bestätigung lieferte ihm sein selbstgewählter Führer, ein Gottgesandter, wie er glaubte, dem er sich unterordnete. Das Urteil dieses Idols wog um so schwerer, je vollkommener die Unterordnung war.

Es zeigt sich, daß die ungeheure Anhäufung von Belegen für seine Selbstbestätigung und Selbstbeweihräucherung, die Goebbels der Nachwelt hinterlassen hat, seine Unsicherheit, seine Abhängigkeit und seine grandiose Selbstüberschätzung klar hervortreten lassen. Die Einsicht in seine Persönlichkeitsdefizite soll helfen, in dieser historischen Biographie weitergehende Perspektiven zu entwickeln, denn es geht ja vor allem um die Frage, welche Rolle Goebbels innerhalb der Führung des »Dritten Reiches« spielte. Insbesondere soll seine Biographie den Zugang zu einer Analyse des Aufbaus und der Wirkungsweise des nationalsozialistischen Propagandaapparates eröffnen.

Die Position, die Goebbels sich im Laufe der Zeit durch Anhäufung sowie die teilweise Vereinigung verschiedener Ämter aufbaute, läßt sich mit den konventionellen Methoden von Organisations- und Strukturgeschichte nur unvollständig erfassen: Sie war historisch einmalig, ganz auf seine Person zugeschnitten und von Grund auf durch seine Persönlichkeit geprägt. Sie erschließt sich daher in vollem Umfang erst durch eine Biographie. Im einzelnen geht es dabei um die Vereinigung der Ämter des Berliner Gauleiters, des Propagandachefs der Partei und des Leiters eines für ihn erfundenen Ministeriums, das die Kontrolle über die Massenmedien und die nationalsozialistische Ausrichtung des Kulturlebens miteinander verband; hinzu kamen, wiederum ganz auf seine Person zugeschnitten, bestimmte Sonder-aufträge, etwa im Bereich der Außenpolitik. Wenn es Goebbels während des Krieges gelang, seine Kompetenzen über den Propagandasektor hinaus in andere Bereiche auszudehnen und im Bereich des nichtmilitärischen »Kriegseinsatzes« schließlich eine zentrale Position einzunehmen, so war dies, wie wir sehen werden, die Konsequenz seiner Bemühungen, das Erscheinungsbild der Öffentlichkeit im »Dritten Reich« – gerade unter den Bedingungen des von ihm selbst propagierten »Totalen Krieges« – in den Griff zu bekommen. Die zum Teil subtilen Verbindungen, die zwischen seinen einzelnen Aufgabenfeldern bestanden, erschließen sich erst durch die Beschreibung seines Lebens.

Die Biographie von Joseph Goebbels gewährt nicht nur einen Blick hinter die Kulissen, indem sie durch eine Zusammenschau unterschiedlicher Quellen zeigt, wie nationalsozialistische Propaganda konzipiert und durchgeführt wurde, sie wird auch die oft behauptete Allmacht der Goebbels-Propaganda in Frage stellen. Dabei spielt die Dekonstruktion des von Goebbels der Nachwelt hinterlassenen Selbstbildes des genialen Propagandalenkers eine zentrale Rolle: Es wird deutlich werden, daß die narzißtische Selbstüberhöhung nicht nur einen wichtigen Wesenszug von Goebbels darstellte, sondern daß sie entscheidend war für das Image, das er sich im Laufe der Jahre aufbaute und so wirkungsvoll war, daß es mit seinem Tod keineswegs zerstört wurde. Es wird deutlich werden, daß Goebbels nicht der unumschränkte Herrscher des gesamten Propagandaapparates war, wie er sich selbst gerne sah, sondern daß er zumindest in Teilbereichen seine Kompetenzen mit anderen NS-Funktionären teilen mußte. Vor allem aber wird herausgearbeitet werden, daß die von den Nationalsozialisten und namentlich von Goebbels behauptete kolossale Wirkung der Propaganda selbst ein integraler Bestandteil der Goebbelsschen Propaganda war. Daß diese Wirkungsmächtigkeit der Propaganda an allererster Stelle von einem Mann behauptet wurde, der ein exemplarischer Fall von Selbstüberschätzung war und zwischen Fiktion und Realität nur schwer unterscheiden konnte, unterstreicht noch einmal die Bedeutung der biographischen Herangehensweise.

Des weiteren kann die Biographie einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Geschichte des »Dritten Reiches« leisten. Denn Goebbels ist mit seinen Tagebüchern der wichtigste interne Chronist des Nationalsozialismus und seines »Führers«, von der Wiedergründung der Partei 1924/25 bis zum Ende des Regimes. Es gibt keine andere Quelle, die vergleichbare Einblicke in das Innere des nationalsozialistischen Machtgefüges erlaubt. Goebbels war zwar vielfach nicht an den eigentlichen Entscheidungsprozessen beteiligt, aber er hatte doch die Chance, das Zustandekommen dieser Entscheidungen aus nächster Nähe zu beobachten. Seine Fixierung auf Hitler und seine damit verbundene Unfähigkeit, Hitler kritisch zu sehen, ermöglicht in vielen Fällen einen einzigartigen, in besonderer Weise unverstellten Blick auf den Diktator.

Die Tagebücher, Grundlage dieser Biographie und eine der Hauptquellen des »Dritten Reiches«, die dem Publikum seit einigen Jahren in einer unkommentierten Transkription vorliegen, erschließen sich als historische Quelle aber erst durch eine Analyse der Persönlichkeit des Propagandaministers und seiner Ambitionen. Die Auswertung der Tagebücher als historische Quelle für eine Biographie und ihre Interpretation im Lichte der Persönlichkeit ihres Autors – das ist ein doppelter Prozeß, der die Grundlage dieses Buches bildet. Gerade in den ersten Jahren war das Tagebuch für Goebbels durchaus ein Ort der Selbstreflexion und der Selbstkritik, doch sehr bald diente es ihm vor allem dazu, sich selbst in seinen Erfolgen zu bestätigen, seine Erfolgsgeschichte zu verstetigen, Niederlagen und Mißerfolge beiseite zu schieben und sich selbst immer wieder zu bestärken und anzutreiben, den einmal eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Sind die selbstkritischen Passagen die interessantesten Teile des frühesten Tagebuchs, so ist das fast vollständige Fehlen von Selbstkritik in den letzten Bänden die vielleicht größte Auffälligkeit.

Darüber hinaus waren die Tagebücher für Goebbels ein Ort, an dem er Materialien ablegte, die er in anderer Form weiterverwerten wollte: Textvergleiche zeigen die Übereinstimmung des Tagebuchs mit publizistischen und literarischen Beiträgen sowie seiner privaten Korrespondenz. Eine klare Abgrenzung ist dabei gerade nicht möglich: Vielfach ist das Tagebuch bereits die erste Stufe der literarischen Verarbeitung, die sich etwa in zugespitzten Charakterisierungen von Personen, in dramatisierten Handlungsabläufen oder in Stimmungsbildern und Aphorismen niederschlägt. Der Tagebuchschreiber war nicht nur Chronist, sondern zugleich Journalist, Autor und Dichter, der Eindrücke sammelte und unterschiedliche Formen ausprobierte. Seitdem er Ende der zwanziger Jahre in der Politik Fuß gefaßt hatte, konkretisierte er seine Absichten hinsichtlich der Zweitverwertung der Tagebucheintragungen: Sie dienten ihm nun vor allem als Grundlage für politischchronologische Publizistik, die sich etwa in seinen Büchern Kampf um Berlin (1931) und Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei (1934) niederschlug und in denen es vor allem um eines ging: die Erfolgsgeschichte von Joseph Goebbels. Schließlich verkaufte er 1936 die Rechte zur Veröffentlichung der – umzuarbeitenden – Tagebücher an den Parteiverleger Max Amann, und er verfolgte darüber hinaus die Absicht, sie als Grundlage für weitere geplante Werke über eine offizielle Geschichte des »Dritten Reiches« heranzuziehen.13 Diese unterschiedlichen Absichten zur Weiterverwertung sind bei der Lektüre der Tagebücher zu beachten.

Nicht zuletzt sind die Tagebücher aber auch als Erinnerungsstütze und Chronik zu lesen, und diese Funktion nahm zu, je mehr sich der Aufgabenbereich des Propagandaministers ausweitete. Ein wichtiger Einschnitt war der Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion: Nun wurden aus den handschriftlichen Niederschriften Diktate, was zur Folge hatte, daß der intime Gehalt der Texte weiter reduziert wurde, das Diarium aber durch eine Vermengung mit anderen Texten – militärischen Lageberichten, amtlichem Schriftverkehr des Ministers und was sonst noch auf seinem Schreibtisch herumlag – vermischt und aufgebläht wurde.

Der Vergleich mit anderen Quellen zeigt, daß die Angaben über Termine und Begegnungen mit anderen Personen im hohen Maße zuverlässig sind und seine Aufzeichnungen von Gesprächen im Kern gemeinhin als korrekt bezeichnet werden müssen – abgesehen von Übertreibungen, insbesondere was die eigene Rolle betrifft, Dramatisierungen bestimmter Situationen, Weglassungen und anderem mehr. In den Tagebüchern finden sich aber auch immer wieder gezielte, frei erfundene Behauptungen aus der Werkstatt des Propagandisten Goebbels, die er offensichtlich so in seine späteren Werke übernehmen wollte. Solche Verzerrungen und Erfindungen sind gerade im Rahmen einer Biographie durchaus von Wert: Sie geben uns Material an die Hand, die Wahrnehmung und Deutung bestimmter Situationen durch den Tagebuchautor Goebbels zu begreifen. Um sie zu durchschauen, muß man die Tagebücher aber nach Möglichkeit mit anderen historischen Quellen abgleichen – und das soll in dieser Biographie, soweit es geht, unternommen werden.

Ein Grundproblem jeder biographischen Annäherung an Goebbels ist die Tatsache, daß wir gerade hinsichtlich seiner frühen Jahre praktisch nur über Selbstzeugnisse verfügen und daher mit der Herausforderung konfrontiert sind, die narzißtisch bestimmte Selbstdeutung des Autors zu durchbrechen. Fast alles, was er uns über seine Kindheit und Jugend mitzuteilen hat, stammt aus einer hochgradig depressiven Phase der Jahre 1923/24, in der Goebbels offenbar von einem manischen Schreibzwang getrieben war.

Um einen Zugang zu den frühen Jahren von Goebbels zu gewinnen, müssen wir uns zunächst näher mit diesen Texten befassen und versuchen, sie zu entschlüsseln. Als Einstieg in seine Lebensgeschichte wählen wir daher den Herbst 1923, den Zeitpunkt also, zu dem Goebbels seine regelmäßigen autobiographischen Aufzeichnungen begann.

1897 – 1933Aufstieg um jeden Preis

Weder seine Behinderung noch sein schulischer Ehrgeiz scheinen ihn zum isolierten Einzelgänger gemacht zu haben: Joseph Goebbels (dritter von links) im Kreise seiner Mitschüler auf dem Gymnasium in Rheydt, um 1914.

1»Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit, klingt ein Lied mir immerdar.«

Joseph Goebbels über seine Kindheit und Jugend

»Ich halte die Qual nicht mehr aus. Ich muss mir die Bitterkeit vom Herzen schreiben. Else schenkt mir ein Buch für den täglichen Gebrauch. Am 17. Oktober beginne ich also mein Tagebuch.«1

Man schreibt das Jahr 1923, als Goebbels sich zu diesem Entschluß durchringt – einem Vorsatz, dem er bis in die letzten Wochen seines Lebens treu bleiben wird: Das Tagebuch sollte zu seinem ständigen Begleiter werden.

Qual und Bitterkeit, die Goebbels im Herbst 1923 plagten, hatten vielfältige Ursachen: Dr. Joseph Goebbels war, bei nüchterner Betrachtung, zu diesem Zeitpunkt ein fast 27 Jahre alter erfolgloser Schriftsteller, der gerade aus einem ungeliebten Job bei einer Kölner Bank entlassen worden war und nun, vollkommen mittellos, im Elternhaus im niederrheinischen Rheydt Unterschlupf gefunden hatte. Er war befreundet mit Else, einer jungen Lehrerin, doch die Beziehung war problematisch. Gerade hatte das Paar einen von Geldsorgen überschatteten Ferienaufenthalt auf der Insel Baltrum im Streit abgebrochen. Goebbels sah sich als »Wrack auf der Sandbank«: Er fühlte sich »totkrank«. »Wilde Tage des Saufens aus Verzweiflung« lagen hinter ihm.2

Zur Depression des mittellosen Schriftstellers trug die allgemeine politische und wirtschaftliche Lage nicht unerheblich bei. Seine Heimatstadt Rheydt war Teil des linksrheinischen Gebietes, das durch britische, belgische und französische Truppen seit dem Ende des Ersten Weltkrieges besetzt gehalten wurde. Der passive Widerstand gegen die französische Armee, die seit Anfang des Jahres zusätzlich zu ihrer Besatzungszone am Rhein das Ruhrgebiet okkupiert hielt, war soeben zusammengebrochen. Die Inflation hatte ihren absurden Höhepunkt erreicht: Das am Morgen verdiente Geld war am Abend wertlos. Extremistische Gruppierungen von links und rechts rüsteten sich zum Bürgerkrieg; im Rheinland bereiteten Separatisten die Abspaltung vom Reich vor. Von einer Serie schwerer innerer Krisen erschüttert, drohte die deutsche Republik auseinanderzufallen. »Die Politik ist zum Weinen und zum Lachen«, notierte Goebbels,3 der die Krise herbeisehnte wie ein reinigendes Fieber. »Der Dollar klettert wie ein Jongleur. Bei mir heimlich Freude. Ja, das Chaos muss kommen, wenn es besser werden soll.«4

In dieser persönlich und politisch äußerst angespannten Situation sollte ihm also das Tagebuch helfen. Nach einigen Monaten machte er sich daran, dem Ganzen eine kurze Biographie voranzustellen, die er »Erinnerungsblätter« nannte. Es handelt sich um eine schnell, teilweise stichwortartig hingeworfene Lebensbeichte, geschrieben im Sommer 1924. Es ist die wichtigste Quelle für seine frühen Jahre, die wir besitzen.5 Der Entschluß, ein Tagebuch zu beginnen, und die Entscheidung, in einer kurzen Autobiographie Rechenschaft über sein Leben abzulegen, entsprangen beide der depressiven Stimmung, die bei Goebbels in den Jahren 1923/24 vorherrschte. In seiner Verzweiflung stellte er sich die Frage, wer er war, wie er so geworden war und welche Lebensziele er verfolgen wollte.

Die Jahre in Rheydt

»Geboren am 29. Oktober 1897 in Rheydt, einem damals aufstrebenden Industriestädtchen am Niederrhein in der Nähe von Düsseldorf und nicht allzu weit von Cöln«, begann der Lebensbericht. Der 1862 geborene Vater Fritz Goebbels, so erfahren wir, war ein kleiner Angestellter in einer Dochtfabrik; 1892 hatte er die sieben Jahre jüngere Katharina Odenhausen geheiratet, die damals als Magd auf einem Bauernhof arbeitete. Beide kamen aus bescheidenen Verhältnissen, aus Handwerkerfamilien.6 Sie waren, wie man am Niederrhein sagt, gut katholisch und setzten sechs Kinder in die Welt: Konrad, geboren 1893, Hans (1895), Maria (die 1896 im Alter von sechs Monaten starb), Joseph (1897), Elisabeth (1901) und Maria (1910).7 1900 gelang es dem Vater, ein »kleines unscheinbares Haus« in der Dahlener Straße zu erwerben.8

Josephs Kindheit war von Krankheiten überschattet. Dem Erwachsenen war unter anderem eine langwierige Krankheit, Lungenentzündung, mit »grausigen Fieberphantasien« in Erinnerung: »Dann steht vor mir ein Sonntag, an dem wir mit der Familie einen großen Spaziergang nach Geistenbeck machten. Am anderen Tag auf dem Sofa bekam ich mein altes Fußleiden. […] Wahnsinniger Schmerz.« Es folgten eine lange Behandlung und weitere Untersuchungen an der Bonner Universitätsklinik, deren unwiderrufliches Resultat lautete: »Fuß fürs Leben gelähmt.« Die Konsequenzen waren bitter: »Jugend von da ab ziemlich freudlos. Eins der richtunggebenden Ereignisse meiner Kindheit. Ich wurde auf mich angewiesen. Konnte mich nicht mehr bei den Spielen der anderen beteiligen. Wurde einsam und eigenbrötlerisch. Vielleicht deshalb auch der ausgemachte Liebling zu Hause. Meine Kameraden liebten mich nicht.« Nur einer, sein Freund Richard Flisges, hielt zu ihm.9

Goebbels’ Bericht über seine Krankheit deutet darauf hin, daß es sich bei seinem »Fußleiden« um einen neurogenen Klumpfuß handelte, eine Verkrüppelung, die bei Kindern insbesondere infolge von Stoffwechselstörungen auftreten kann. Sein rechter Fuß war nach innen eingekehrt und im Vergleich mit dem normal entwickelten linken Fuß verdickt und verkürzt.10

Was Goebbels über die 1904 beginnende Schulzeit berichtet, ist ebenfalls wenig erfreulich. Er erinnerte sich an »Lehrer Hennes, ein Lügenfri[t]ze«. Da war aber auch Lehrer Hilgers, »ein Schubiak und Lump, der uns Kinder misshandelte und das Schulleben zum Greuel machte […]. Mutter fand einmal die Striemen von seinem Stock beim Baden auf meinem Rücken.« Daß seine Schulschwierigkeiten auch mit seiner eigenen Einstellung zu tun hatten, verschwieg Goebbels nicht: »Damals war ich eigensinnig und eigendenkend genug, ein frühreifer Knabe, den kein Lehrer leiden mochte.«11

Im letzten Volksschuljahr erfolgte eine Operation am Fuß, die weitgehend mißlang. »Als Mutter wieder heimgehen wollte, habe ich schrecklich geschrien. Sonst noch in grausamer Erinnerung die letzte halbe Stunde vor der Narkose und daß Nachts am Krankenhaus die Züge vorbeiratterten.« Der Krankenhausaufenthalt hatte aber auch erfreuliche Seiten: Seine Patin, Tante Stina, brachte ihm Märchenbücher mit, die er »geradezu verschlang. Meine ersten Märchen. Zu Hause wurde wenig erzählt. Diese Bücher weckten erst meine Freude am Lesen. Von da ab verschlang ich alles Gedruckte einschließlich Zeitungen, auch die Politik, ohne das mindeste davon zu verstehen.« Unmittelbar nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wurde er auf das Rheydter Gymnasium versetzt, wobei auf eine Intervention des Vaters hin das Übergangszeugnis kräftig geschönt wurde.12 Während er nach seiner eigenenen Einschätzung in den ersten Schuljahren »ziemlich faul und teilnahmslos« war, entwickelte er sich nun allmählich zu einem hervorragenden und äußerst ehrgeizigen Schüler mit besonderen Stärken in den Fächern Religion, Griechisch und Geschichte.13

Die Erklärung für diesen Ehrgeiz scheint auf der Hand zu liegen: Kompensation für die körperliche Mißbildung. Er selbst hat diese Interpretation angeboten in dem 1919 unter dem Titel »Michael Voormanns Jugendjahre« verfaßten autobiographischen Text, einer literarischen Dramatisierung seiner Kindheit und Jugend, die wohl ganz bewußt der Tradition des Entwicklungsromans folgte.14 Michael war »ein sonderbarer Junge. Man brauchte ihn gar nicht zu kennen und sah es doch, wenn er die großen, grauen Augen aufschlug und den, der mit ihm sprach, so groß und fragend anblickte. Es lag etwas Besonderes in diesem Schauen, so eine große Welt des Fragens, von der niemand etwas ahnte. Man sah ihn selten mit den anderen Kindern spielen.« In der Schule war Michael faul. Der Lehrer »haßte den Jungen wie die Sünde«, und die Mitschüler »liebten ihn nicht«. Denn: »Er war so hart und roh gegen sie, und wenn jemand ihn um einen Liebesdienst bat, dann lachte er nur und wandte sich ab. Eine nur liebte ihn – das war seine Mutter.« Nun lieferte Goebbels eine Beschreibung seiner Mutter, in der er sie wie den Vater als Angehörige des Lumpenproletariats stilisierte: »Sie konnte weder lesen noch schreiben, denn sie war früher eine Dienstmagd gewesen, bis sein Vater, ein armer Tagelöhner, sie heiratete. Sie hatte ihm sieben Söhne geboren und war dabei schmal und bleich geworden. Das vierte dieser Kinder war Michael. Woher seine Mutter stammte, wußte niemand – selbst ihr Vater nicht.« Über den Vater heißt es weiter, er sei ein »biederer, ehrlicher Mann mit ausgeprägtem Pflichtbewußtsein« gewesen, der zuweilen »roh und hart gegen die Mutter« war und von dem er einen gewissen »tyrannischen Zug« geerbt hatte.

Als Michael zehn Jahre alt ist, macht er eine schwere Krankheit durch. Sein rechtes Bein ist fortan gelähmt: »Michael war meist trostlos; mit der Zeit schickte er sich darin. Er war nur noch etwas verschlossener und kam noch etwas weniger oft mit seinen Kameraden zusammen.« Er war nun »fleißig in der Schule und strebsam, denn er hatte den Ehrgeiz, einmal ein großer Mann zu werden«. Bei seinen Mitschülern war er wenig beliebt, und diese Ausgrenzung machte ihn »hart und bitter«. Es ist nicht zu übersehen, daß Goebbels sich in seinem Roman an einer selbsterdachten Variante seiner Autobiographie versuchte: Michael Voormann stammte, anders als der Kleinbürgersohn Joseph Goebbels, aus der Unterschicht, und er versuchte durch außergewöhnliche schulische Leistungen einen Ausgleich zu schaffen für seine Abkapselung von den Gleichaltrigen, eine Isolation, die ursprünglich im Bewußtsein der eigenen Besonderheit wurzelte und durch die Behinderung weiter gefördert wurde. Was Goebbels hier versuchte, war eine dramatisierende Bearbeitung seiner eigenen Geschichte: aus kleinsten Verhältnissen emporgestiegen, verkrüppelt, mißachtet, einsam, aber hochbegabt, durchsetzungsfähig und erfolgreich, doch auch verbittert, kalt und zerfressen von Ehrgeiz. Die weitere Entwicklung zum Genie dürfen wir nach dieser Exposition als selbstverständlich voraussetzen.

Die Unterschiede zu den fünf Jahre später als Vorspann zum Tagebuch verfaßten Erinnerungen liegen auf der Hand: Auch hier beschrieb er, wie wir gesehen haben, seine Behinderung als wichtigste Ursache für seine freudlose Kindheit, doch in der körperlichen Benachteiligung wollte er nicht den eigentlichen Antrieb für seinen Drang nach Höherem sehen. In späteren literarischen Auseinandersetzungen mit seinem eigenen Leben spielte die Behinderung dann ebensowenig eine Rolle wie in seinem Tagebuch, in dem sie nur selten erwähnt wird, obwohl er beim Gehen auf eine orthopädische Apparatur angewiesen war und sich immer wieder Komplikationen einstellten.15 Ist »Michael« daher als authentischer Lebensbericht anzusehen, handelt es sich also um ein seltenes und kostbares autobiographisches Dokument, in dem Goebbels sich ausnahmsweise zur ehrlichen Selbstreflexion fähig zeigt? Hat er im »Michael« den Versuch unternommen, eine zur Lebenslüge gewordene Verdrängung der Behinderung zu durchbrechen und sich ehrlich der körperlichen Mißbildung und ihren Konsequenzen zu stellen?

Die Tatsache, daß sich Joseph Goebbels schon als Heranwachsender zu Höherem berufen fühlte, daß er mittels schulischer Leistungen dem engen Milieu seiner Kinderjahre zu entfliehen suchte, sich von anderen abkapselte, dies alles mag durch seine Behinderung verstärkt worden sein, doch sein narzißtischer Wesenszug, sein stark entwickelter Drang nach Anerkennung und Bestätigung durch andere hatte andere Ursachen.

Die Psychoanalyse geht heute davon aus, daß narzißtische Persönlichkeitsstörungen ihre Wurzeln in Fehlentwicklungen haben, die zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr liegen. Man spricht von einer gestörten Autonomieentwicklung: Das Kind ist nicht in der Lage, sich von der fürsorgenden und bevormundenden Mutter zu lösen, seine eigene Persönlichkeitsentwicklung gerät ins Stocken. Die Ursachen für ein solches gestörtes Verhältnis können vielfältig sein: zeitweilige Vernachlässigung durch die Mutter zum Beispiel oder eine häusliche Erziehung, die zwischen unterschiedlichen Maximen hin und her schwankt und durch die das Kind widersprüchliche Signale empfängt, etwa übertriebene Fürsorge auf der einen und übergroße Strenge auf der anderen Seite. Es gehört nicht allzuviel Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß in einer vielköpfigen, mit materiellem Wohlstand keineswegs gesegneten Familie wie den Goebbels solche Bedingungen geherrscht haben können. Die Erziehung des kleinen Joseph kann hier natürlich nicht rekonstruiert werden; das ist auch nicht nötig, denn es genügt, daß für den ohne Zweifel vorhandenen Narzißmus plausible Erklärungen vorliegen.

Welche Folgen eine Autonomiestörung haben kann, läßt sich am Beispiel Joseph Goebbels geradezu exemplarisch beobachten. Ein Narzißt ist, um seine eigene, als unzureichend wahrgenommene Identität zu stärken, ständig auf der Suche nach Anerkennung, vor allem sucht er einen Lebenspartner, der sich ihm ganz zuwendet und von dem er sich – nach dem Vorbild der fürsorgenden Mutter – Anerkennung und Bestätigung verspricht. Narzißten fällt es schwer, sich abzugrenzen gegen diejenigen, die ihnen Anerkennung zollen, manchmal scheint in ihrer Wahrnehmung ihre eigene Persönlichkeit mit der anderer Menschen zu verschwimmen. Insofern ist Goebbels’ Versuch, mit »Michael Voormann« eine Variante seiner eigenen Ent wicklung zu liefern, ein typischer Ausdruck für die Unsicherheit bezüglich seiner Identität. Der Roman ist also ein spielerisches Experiment mit der eigenen Biographie, keine Selbstenthüllung.

Narzißten haben generell Schwierigkeiten, zwischen Tagtraum und Wirklichkeit, Schein und Realität, Erfolg und Erfolgsphantasie zu unterscheiden, denn ihr Verhältnis zur Umwelt ist unterentwickelt, ihr Selbst-Bewußtsein nicht sicher verankert: Sie leben auf sich selbst bezogen und neigen zu Selbstüberschätzung und Größenwahn. Sie werden aber auch – wegen ihrer Ich-Schwäche – häufig von Trennungs- und Verlustängsten heimgesucht, empfinden das Ausbleiben von Erfolgen leicht als Versagen und neigen aus diesem Grund zu Depressionen.16Goebbels entwickelte seinen Narzißmus also nicht, um die Behinderung zu kompensieren, sondern er war aufgrund seines im Kleinkindalter angelegten Hanges zur Selbstüberschätzung und Realitätsverzerrung tatsächlich in der Lage, seine körperliche Mißbildung weitgehend zu ignorieren. Sie war für seine Selbsteinschätzung von untergeordneter Bedeutung.

Folgt man den »Erinnerungsblättern«, so zeigt sich, daß Goebbels sich keineswegs als der wegen seiner Behinderung und seines daraus resultierenden Strebertums isolierte Oberschüler sah, im Gegenteil: Er erinnerte sich an eine Reihe von guten Schulfreunden, die in den späteren Jahren immer wieder seinen Lebensweg kreuzen sollten.17 Im Vordergrund standen aber die erwachende Erotik und Sexualität, die den Pubertierenden stark beschäftigten und immer wieder in Schwierigkeiten brachten. Gegenüber der Stiefmutter eines seiner Freunde verspürte er »erste Regung zum Weibe«. Wie er in seinen Erinnerungen formulierte: »Eros erwacht. Als Junge schon auf gemeine Weise aufgeklärt.« Nach seiner Erinnerung war er im Jahr 1912 zum ersten Mal verliebt. »Sentimentale Periode. Schwülstige Briefe. Gedichte. Daneben Liebe zu reifen Frauen.« Es kam zu einer peinlichen Affäre, weil von ihm gefälschte Liebesbriefe an eine Angebetete auf ihren wahren Urheber Joseph Goebbels zurückgeführt wurden. Dieses Vorkommnis nahm sein Lieblingslehrer Voss, dem er großen Einfluß auf seine schulische Entwicklung zuschrieb, zum Anlaß, Goebbels’ Bewerbung für ein von der Stadt ausgeschriebenes Stipendium nicht zu befürworten. Im »Michael Voormann« hat Goebbels diese Affäre zu einem kleinen Martyrium aufgebläht.18

Der Sommer 1914, Goebbels war 16 Jahre alt, brachte ein einschneidendes Erlebnis: »Kriegsausbruch. Mobilmachung. Alles zu den Fahnen. Schmerz, daß ich nicht mitkann. […] Die ersten Kameraden als Verwundete. […] Allmählich viele Kameraden weg. […] Klasse fängt an, leer zu werden.«19 Per Feldpost hielt er Kontakt zu den Schulkameraden, die an der Front kämpften.20 Im Dezember 1915 starb seine Schwester Elisabeth an Lungentuberkulose; einige Jahre später sollte ihn sein Vater daran erinnern, wie die Familie gemeinsam am Totenbett der Verstorbenen im Gebet Trost gesucht hatte.21

Aus der Schulzeit sind einige Aufsätze erhalten, in denen er den gebotenen »vaterländischen« Ton anschlug, die er selbst im Rückblick als »öde« empfand.22 Neben dem Deutschlehrer Voss hat ihn offensichtlich sein Geschichtslehrer Gerhard Bartels beeindruckt, der ihn in den ersten Gymnasialjahren unterrichtete. Nach dessen frühem Tod erschien eine Gedenkschrift, die auch einen Beitrag von Goebbels enthielt: Er lobte vor allem Bartels’ engagierten Unterricht und insbesondere die Heldengeschichten, mit denen dieser den Schülern vaterländische Ideale nähergebracht hatte.23 1917 legte Goebbels das Abitur ab; als Jahrgangsbester hielt er die Rede bei der feierlichen Verleihung der »Reifeprüfung«. Selbstverständlich stand auch diese Rede ganz im Zeichen patriotischer Bekenntnisse: »Das Volk der Dichter und Denker muß jetzt beweisen, daß es mehr ist als dieses, daß es die Berechtigung in sich trägt, die politische und geistige Führerin der Welt zu sein.«24

Zunächst wollte Goebbels Medizin studieren, was ihm sein Deutschlehrer Voss aber ausredete. »Also Deutsch und Geschichte. Es ist ja gleichgültig.« Daß er studierte – welches Fach auch immer –, war nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil er als Student einer zivilen Dienstverpflichtung entging (alle Männer über 17 Jahre waren seit 1916 zum »Vaterländischen Hilfsdienst« verpflichtet).

Während der letzten Schuljahre war er mit Lene Krage aus Rheindahlen befreundet: »Erster Kuß auf der Gartenstraße. […] Wunderbare Jungenseligkeit. Natürlich heiraten. Ehrensache.« Mit dem Abitur kam der »Abschied von Lene«, zumindest vorübergehend: »Nachts im Kaiserpark eingeschlossen. Ich küsse zum ersten Male ihre Brust. Sie wird zum ersten Male zum liebenden Weib.«25

Alles in allem kann man feststellen, daß Goebbels in seiner Kindheit und Jugend die Anerkennung, um die er so eifrig warb, keineswegs versagt war: Er hatte die Schule erfolgreich, ja als Jahrgangsbester absolviert, er konnte sich, trotz der beschränkten wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Familie, ein Studium frei wählen, er hatte Freunde und sogar eine Freundin.

Ein Student ohne großen Eifer

Anfang April 1917 ging Goebbels mit zwei Schulfreunden zum Studium nach Bonn.26 Seine Verhältnisse waren nicht gerade rosig: »Geldsorgen. Viel Hunger. Stundengeben an unverschämte Jungens.« Die Universität übte, wie er in seinen »Erinnerungsblättern« bekannte, »wenig Einfluß« auf ihn aus. Mehr Zeit als an der Universität scheint er in der katholischen Studentenverbindung Unitas Sigfridia verbracht zu haben, der er sogleich nach seiner Ankunft in Bonn beigetreten war. Er wurde »Leibbursche« seines neuen Freundes Karl Heinz (»Pille«) Kölsch, den er als sein »Ideal« bezeichnete.27 In der Sigfridia nahm er den Namen Ulex (eine Romanfigur seines Lieblingsdichters Wilhelm Raabe) an. Auf dem Vereinsfest im Juni 1917 glänzte er mit einer Rede über den Dichter, den er schon zu Schulzeiten bewundert hatte. Goebbels empfahl Raabe seinen Kommilitonen als Vorbild, denn er sei »ein Kämpfer um seine Ideale, ein Kämpfer um seine Weltanschauung«.28 Die Verbindungsbrüder verbrachten so manchen feuchtfröhlichen Abend miteinander: Kneipen, Feste, Kegelrunden. An den Wochenenden machte man gemeinsame Ausflüge. Allerdings litt das Vereinsleben beträchtlich unter dem Krieg: Die Zahl der aktiven Mitglieder war auf fünf geschrumpft, in den Vereinsblättern finden sich Klagen über das immer schlechter werdende Bier. Die Kassen waren leer, doch Goebbels, der zum Schriftführer der Unitas aufgestiegen war, hatte keine Bedenken, die zum Militär eingerückten Kameraden um Spenden zu bitten.29

In den Semesterferien wurde Goebbels vorübergehend vom Vaterländischen Hilfsdienst zu Büroarbeiten herangezogen, doch er konnte sich schon bald von dieser Verpflichtung befreien.30 Aus Geldmangel ging er zurück nach Rheydt. Dort wartete Lene auf ihn: »Eine Nacht mit ihr in Rheindahlen auf dem Sofa. Rein geblieben. Ich fühle mich als Mann.« Seiner wirtschaftlichen Malaise konnte er nicht entkommen: »Unbezahlte Rechnungen von Bonn. Krach zu Hause. Vater springt ein. Geistiges Erlebnis von Bonn gleich Null.«31 Es gelang ihm schließlich, eine Finanzquelle aufzutun: Der katholische Albertus-Magnus-Verein in Köln bewilligte ihm eine Studienbeihilfe und gewährte ihm nach und nach insgesamt 960 Reichsmark als Darlehen.32

Während seines Aufenthalts in Rheydt schrieb er die Novellen »Bin ein fahrender Schüler, ein wüster Gesell …« sowie »Die die Sonne lieben«, Texte, über die er selbst 1924 urteilte: »Schwülstig sentimental. Kaum noch genießbar.« Die Kölnische Zeitung, der er die Werke anbot, wollte sie auch nicht drucken.33 Für Goebbels’ Selbsteinschätzung und seine Selbstreflexion ist »Ein fahrender Schüler«, ähnlich wie der 1919 geschriebene »Michael Voormann«, jedoch eine Arbeit von Interesse. Held ist ein Karl Heinz Ellip (der rückwärts gelesene Name seines Freundes Pille, dem er auch die Novelle widmete), der sich den Namen Ulex zugelegt hat; das Vorbild, Raabes Romanfigur, so erklärt Ellip die Namenswahl, habe ihm zugesagt, weil Ulex »ein echter deutscher Idealist« sei, »tief und träumerisch, wie wir Deutschen alle sind«. Bei Ellip/Ulex handelt es sich im übrigen um einen »großen starken Burschen«, der sich durch ein »sonniges, heiteres Gemüt« auszeichnet. Als einziges Kind eines norddeutschen Großgrundbesitzers studiert er (aus purer Liebhaberei) Deutsch und Geschichte, unter anderem in Bonn. Ellip wird auf den heimischen »Elpenhof« zu seiner sterbenden Mutter gerufen, die er über alles liebt; in ihrer Todesnacht erliegt er, aufgewühlt durch ihren Todeskampf, einem Herzschlag. Er wird gemeinsam mit ihr beerdigt.

Im Oktober 1917 begann das zweite Semester in Bonn, wo Goebbels sich ein Zimmer mit Kölsch teilte.34 Die Beziehung zu Lene erkaltete, denn er erwärmte sich für Kölschs Schwester Agnes. Im Hause der Eltern Kölsch, in das er nun häufiger eingeladen wurde, machte er die Bekanntschaft einer weiteren Schwester, Liesel. Allgemeine erotische Verwirrung: »Liesel liebt mich, ich liebe Agnes. Spielt mit mir.« Im Laufe des Semesters verkomplizierten sich diese Techtelmechtel dadurch, daß Studienfreund Hassan sich ebenfalls in Agnes verliebte. Hassan hatte das, was man eine sturmfreie Bude nennt: »Agnes in Bonn. Eine Nacht mit ihr in Hassans Zimmer. Ich küsse ihre Brust. Zum ersten Male ist sie restlos gut zu mir. Hatte die Türe aufgelassen und log nachher.« Kurz darauf die Reprise mit Liesel: »Liesel in Bonn. Eine Nacht mit ihr in Hassans Zimmer. Ich schone sie. Sie ist restlos gut zu mir. Ich bin so etwas wie zufrieden über eine gute Tat.«35

»Kaum zur Universität« vermerkte er im übrigen zu seinen akademischen Fortschritten in diesem Semester. »Qual und Unruhe. Zeit des Gärens. Ich suche und finde nichts.«36 Dennoch meldete er sich in den beiden Bonner Semestern zu einer ganzen Reihe historischer und germanistischer Lehrveranstaltungen an, unter anderem zu einer Vorlesung über Heinrich Heine, die er nachweislich auch besuchte. Daneben belegte er kunstgeschichtliche, psychologische und volkskundliche Veranstaltungen und darüber hinaus eine Vorlesung über »Die Geschlechtskrankheiten, ihre Ursachen und Verhütung«.37 Nach dem zweiten Semester beschlossen Goebbels und Kölsch, ihr Studium an einer anderen Hochschule fortzusetzen; der mehrfache Universitätswechsel war damals durchaus Usus. Schweren Herzens nahm die Unitas Abschied von den beiden, die durch ihre rege Tätigkeit dem Vereinsleben so viel Auftrieb verschafft hatten.38

Das dritte Semester verbrachte Goebbels in Freiburg, wo ihn der vorausgeeilte Pille Kölsch empfing und ihn unbedingt einer Bekannten, Anka Stalherm, vorzustellen wünschte. »Und wie tief und ganz habe ich dich kennengelernt, Anka Stalherm!«, notiert Goebbels in den »Erinnerungsblättern«.39 Goebbels verliebte sich in Anka, die drei Jahre älter war als er40 und aus bürgerlichem Hause stammte, und versuchte in den folgenden Wochen, sie dem Freund abspenstig zu machen.

Pfingsten unternahm er mit Kölsch und zwei anderen Freunden eine Reise an den Bodensee; Anka stieß später dazu. Man besichtigte verschiedene Orte; Goebbels empfand Eifersucht auf Kölsch, und dieses Gefühl nahm beständig zu. Zurück in Freiburg, registrierte er mehrfach freundliche Signale von Anka: »Allmählicher Bruch zwischen Anka und Kölsch. Dafür größerer Anschluß bei mir.« Die beiden trafen sich jetzt öfter allein; er kam seinem Ziel immer näher: »Ich küsse sie […] eine Erfüllung ohne Maß und Ziel.« Die Gefühle für Anka führten notwendigerweise zu einer Belastung des Verhältnisses zu Kölsch; schließlich zog Goebbels aus dem gemeinsamen Quartier aus. Als Ankas Bruder Willy zu Besuch kam, lud sie ihn nicht ein: »Das erste Zerwürfnis. Sozialer Unterschied. Ich bin ein armer Teufel. Geldsorgen. Größte Kalamität. Universität kaum noch besucht. […] Ich weiß kaum noch, daß Krieg ist.«

Anka war unsicher, ob sie sich endgültig von Kölsch trennen sollte. Schließlich kam es zu einer »großen Szene« mit Goebbels: »Sie bittet auf Knien um meine Liebe. Zum ersten Male erfahre ich, wie ein Weib leiden kann. Ich bin erschüttert.« Am folgenden Morgen setzte sich die Tragödie fort, doch sie endete schließlich auf eindeutige Weise: »Anka ist mein.«41 Er war am Ziel: »Selige Tage. Nur Liebe. Vielleicht die glücklichste Zeit meines Lebens.« Agnes bat Kölsch um eine Aussprache. Er lehnte ab, woraufhin ihm die bitter Enttäuschte einen Abschiedsbrief schrieb.42

Als das Semester zu Ende war, fuhr er zu seinen Eltern nach Rheydt.43 Die Herbstferien 1918 verbrachte er dort. Er war »mager und blaß« geworden. »Krampfhaft« arbeitete er innerhalb von drei Wochen eine Idee aus: ein Drama »Judas Ischariot« in fünf Akten. Es handelte sich um eine – nicht wirklich originelle – Umdeutung der neutestamentarischen Judas-Geschichte: Judas wird als Patriot geschildert, der, zunächst glühender Anhänger seines Messias, Jesus schließlich verrät, weil dieser nicht die revolutionäre Befreiung des jüdischen Volkes vom römischen Joch anführen will; Judas will sich nach Christus’ Tod selbst zum Führer aufschwingen, erkennt jedoch nach der Tat die Größe Jesu und begeht Selbstmord.44 Hier kamen deutlich erste religiöse Zweifel zum Ausdruck, doch Goebbels entschloß sich auf dringendes Anraten des örtlichen Kaplans, das Werk in der Schublade zu lassen. Er wolle nicht, wie er Anka schrieb, mit seiner »Kindheit Glauben und Religion« brechen Daß er sein Stipendium demselben Kaplan verdankte, mag ihn in seinem Entschluß bestärkt haben.45

Dummerweise trafen Anka und die so schroff zurückgewiesene Agnes einander mit dem Ergebnis: »Anka zweifelt an mir. Briefe kalt und zaghaft.« Sie besuchte ihn, und es kam zu einer Aussprache, bei der allerdings vieles offenblieb. Sie wollte ihr Studium in Würzburg fortsetzen, er behauptete, daß es ihn nach München zöge. In den nächsten Tagen wartete er »verzweifelt«, aber vergeblich auf eine Nachricht.46 Schließlich fuhr er nach Würzburg, fahndete nach Anka – und fand sie: »Ein Blick, wir sind die Alten. Nach langen Kämpfen um sie bleibe ich.«47

Das Wintersemester 1918/19 war das vierte Semester des Studenten Joseph Goebbels. Ernsthaft studiert hatte er bis zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht. Es ist schon erstaunlich, wie wenig der Erste Weltkrieg und die Politik das Leben des Studiosus tangierten. Der beschäftigte sich mit seiner Lektüre, seinen literarischen Ambitionen, pflegte seine Freundschaften sowie seine recht wechselhafte Liebesbeziehung zu Anka und genoß das Studentenleben in vollen Zügen. Aus Goebbels’ Selbstzeugnissen kann man nicht den Eindruck gewinnen, daß er durch den Krieg in irgendeiner Weise geprägt wurde, und man findet auch keine Anhaltspunkte dafür, daß sich durch den körperlich bedingten Ausschluß vom »Fronterlebnis« ein Minderwertigkeitskomplex oder ein Ressentiment ausgebildet hätten.

In Würzburg scheint er sich jedoch mehr den akademischen Aspekten des Studiums zugewandt zu haben. Sein Studienbuch vermerkt Veranstaltungen zur Alten Geschichte, zur deutschen Literatur, Sprachwissenschaft, Kunstgeschichte, Archäologie, Romanistik, Pädagogik und Architekturgeschichte.48 Zum burschenschaftlichen Leben fühlte er sich nicht mehr hingezogen. Seine Mitgliedschaft in der Unitas gab er auf.49 Nachts las er – zum ersten Mal – Dostojewski: »Erschüttert«, so schrieb er 1924, habe ihn damals die Lektüre von Schuld und Sühne.

Mitten in das Würzburger Semester fielen wesentliche politische Ereignisse: Der Waffenstillstand vom 11. November 1918 besiegelte die militärische Niederlage des Deutschen Reiches, die Revolution brach aus, der Kaiser dankte ab. »Die Revolution. Abscheu. Rückkehr der Truppen. Anka weint.«50 In Würzburg machten sich, so stellte er fest, »demokratische Einflüsse« breit. Seine Position war klar: »Dennoch konservativ.« Bei Wahlen entschied er sich für die Bayerische Volkspartei, die rechtsstehende Partei der bayerischen Katholiken. Im Grunde ließen die politischen Entwicklungen ihn jedoch kalt. In einem Brief an seinen Schulfreund Fritz Prang zeigte er sich gegenüber den revolutionären Ereignissen abgeklärt-gelassen: Es werde auch wieder die Stunde kommen, in der man in dem »niederen, nichtssagenden Menschentrubel« nach »Geist und Kraft« rufen werde; man müsse nur auf diese »Stunde warten und nicht ablassen, uns durch beharrliche geistige Schulung zu diesem Kampfe zu rüsten«. Zwar habe Deutschland den Krieg verloren, doch es wolle ihm scheinen, als ob er »für unser Vaterland […] doch gewonnen« sei.51

Vater Goebbels schrieb besorgte Briefe. Er hätte es lieber gesehen, wenn sein Sohn eine Universitätsstadt im heimischen Rheinland bezogen hätte. Im übrigen versuchte er, den Filius so gut es ging finanziell zu unterstützen. Der kehrte Ende Januar 1919 aus Würzburg zurück.52 Die Semesterferien 1919 verbrachte er wiederum in Rheydt, das mittlerweile besetztes Gebiet war. Die Geldsorgen drückten; seinen Lebensunterhalt verdiente er mit Nachhilfestunden. In der verbleibenden Zeit schrieb er ein zweites Drama: »Heinrich Kämpfert«. Das Thema erscheint bekannt: Der Held, ein Habenichts, ist unglücklich in eine Tochter aus reicher Familie verliebt.

Neben denVersuchen als Dramatiker standen seine eifrigen Bemühungen als Lyriker. In seinem Tagebuch und in seinem Nachlaß sind zahlreiche unveröffentlichte Gedichte aus der Kriegs- und Nachkriegszeit erhalten. Der Germanist Ralf Georg Czapla, der sich intensiv mit diesem Œuvre beschäftigt hat, konstatiert, sie seien zumeist »wenig inspirierte Konstrukte aus schwärmerischen Phrasen und Leerformeln mit zum Teil beträchtlichen Mängeln an Versbau und Reimbildung«. Inhaltlich dominieren die Beschwörung häuslicher Idylle, die Beschreibung heiler Garten- und Naturszenen sowie Liebesständchen mit, so Czapla, »Versatzstücken einer biedermeierlichen Weltsicht«.53 Auch die Form von Goebbels’ Lyrik war höchst konventionell und kam über Anlehnungen an das Volkslied nicht hinaus. Daneben versuchte sich Goebbels jedoch auch an anspruchsvolleren Themen: Er thematisierte seine Gottessuche54 und seinen Glaubensverlust (bis hin zu einer Verfluchung des christlichen Gottes55), und er schrieb über seine Todesängste: »In vielen Nächten sitze ich / Auf meinem Bett / Und lausche. / Dann rechne ich / Wie viele Stunden noch / Vom Tod mich trennen mögen.«56

In Rheydt nahm Goebbels auf der Suche nach politischer Orientierung an einer Versammlung der linksbürgerlichen Deutschen Demokratischen Partei teil, bei der sein früherer Geschichtslehrer Bartels eine Rede hielt. Der Vortragsstil gefiel ihm zwar, aber inhaltlich fühlte er sich in »meiner Gegnerschaft gegen die Demokraten« (damit meinte er wohl die Anhänger dieser Partei) bestärkt. »Meine Klassenkameraden wählen sämtlich Zentrum oder Deutschnational. Hier würde ich auch Deutschnational gewählt haben.«57 Im übrigen glaubte er, daß ein großer Teil der deutschen Bevölkerung politisch nach wie vor unreif sei: Etwa 25 Prozent der Stimmen in seinem Wahlbezirk seien ungültig gewesen, weil die Wähler das Wahlsystem einfach nicht verstanden hatten.58 Politisch empfand er sich als heimatlos.59 Am Ende der Semesterferien erfuhr er, daß Anka mittlerweile nach Freiburg aufgebrochen war, wo auch der alte Rivale Kölsch sich bereits eingefunden hatte. »Und wenn’s das Leben kostet, auf nach Freiburg.«60 In Freiburg traf er Anka an, die jedoch, wie er konsterniert feststellte, »nicht mehr dieselbe« war. Schließlich gestand sie ihm, sie habe ihn mit Kölsch betrogen. Es folgten Eifersuchtsszenen, Versöhnungsversuche, neue Eifersucht. Einmal lieh er sich von einem Freund sogar einen Revolver. »Am Tode vorbei«, hielt er dunkel fest. Die Studien kamen in diesem Semester nicht entscheidend weiter.61 Richard Flisges, sein früherer Mitschüler, der im Frühjahr 1919 als Leutnant aus dem Krieg heimgekehrt war und sein »täglicher Begleiter« wurde, verbrachte einige Zeit mit ihm in Freiburg, um dort ebenfalls das Germanistikstudium aufzunehmen. Flisges wurde nun sein engster Freund.62

Nach dem Ende des Semesters gelang es ihm nicht, ohne gültigen Paß in die besetzte Zone einzureisen.

Er fuhr daraufhin nach Münster, wo er ein billiges Zimmer bezog. Täglich telefonierte er mit Anka, die in Recklinghausen bei ihren Eltern wohnte. In Münster versuchte sich Goebbels weiter als Autor. Während seines Freiburger Aufenthalts war sein Versuch, eine Gedichtsammlung herauszugeben, an einer vom Verlag zur Bedingung gemachten erheblichen finanziellen Vorleistung gescheitert.63 Nun versuchte er sich an einer anderen Gattung: In Münster verfaßte er den autobiographischen Roman »Michael Voormann«, von dem bereits die Rede war. »Ich schreibe aus dem Herzblut meine eigene Geschichte.«64

Erhalten sind von dem dreiteiligen Werk nur die Teile I und III. Im Teil I beschäftigt sich der Autor mit der Stilisierung seiner Kindheit und Schulzeit, im Teil III mit der Freiburger Zeit und der Beziehung zu Anka, die hier als Herta Holk erscheint und sich ihm nach langem Kampf unterordnet: »Sie wurde ein Stück von ihm.« Daraufhin zieht er sich nach Hause zurück, um ein Christus-Drama zu schreiben. Als er das Werk vollendet hat, sieht er Herta wieder, die ihm ihre Untreue gesteht. Er verläßt sie und verbrennt sein Drama, das er ihr zugeeignet hatte.65 Das Ganze war offensichtlich geschrieben, um Anka zu beeindrucken: Wie glücklich konnte sie sich schätzen, nicht in der Rolle von Herta zu sein, die eindeutig die Schuld am Ende der Beziehung zu Michael und am Abbruch der vielversprechenden Schriftstellerkarriere trägt.

Nach dem Abschluß der Arbeit am »Michael« entschloß sich Goebbels – Paßprobleme hin oder her –, nach Hause zu fahren. Es gelang ihm tatsächlich, einen Posten zu bestechen und durch die Grenzsperren hindurchzuschlüpfen. Er fühlte sich »todkrank« und suchte sich in Rheydt bis zum Semesterbeginn ein wenig zu erholen.66 Goebbels entschloß sich, Anka zu folgen, die plante, im kommenden Semester nach München zu gehen. Für dieses Unternehmen lieh er sich bei Bekannten der Familie 1200 Mark.67 Die beiden fuhren mit dem Zug in Richtung Süden. Bei einem Zwischenaufenthalt in Frankfurt erlebte Goebbels zufällig die Messeeröffnung durch Reichspräsident Friedrich Ebert. »Schmählicher Eindruck«, hielt er 1924 rückblickend fest.

Von München zeigte Goebbels sich beeindruckt: »Stachus. Marienplatz. Odeons-Platz. Pinakotheken. Schackgalerie. Dürer (Apostel), Böcklin, Spitzweg und Feuerbach.«68 Ein halbes Jahr zuvor war die Münchner Räterepublik durch Freikorps blutig niedergeschlagen worden. Seitdem entwickelte die Stadt sich zum Zentrum der Gegenrevolution. Paramilitärische Verbände, rechtsradikale Geheimorganisationen und völkische Gruppierungen entfalteten hier vielfältige Aktivitäten. Ein gewisser Adolf Hitler, als Gefreiter noch in den Diensten der Reichswehr stehend, machte erstmals im Februar 1920 von sich reden, als er auf der ersten Massenversammlung der Deutschen Arbeiterpartei (DAP), einer kleinen Splittergruppe, vor etwa 2000 Menschen sprach. In den nächsten Monaten wurde er so etwas wie eine lokale Attraktion.69

Über die aufgewühlte politische Situation findet sich wenig in Goebbels’ »Erinnerungsblättern«; von Hitler oder der DAP ist überhaupt nicht die Rede. Goebbels erwähnt allerdings die Empörung, die in der Studentenschaft im Januar 1920 herrschte, nachdem Arco-Valley – der Mörder Kurt Eisners, des Führers der Münchner Revolution vom November 1918 – zum Tode verurteilt worden war (die Regierung sollte das Urteil bereits am Tag darauf in lebenslange Festungshaft umwandeln). An der Universität München kam es zu Tumulten.70

Da der Münchner Stadtrat für nichtbayerische Studenten ein Zuzugsverbot erlassen hatte, meldete Goebbels sich polizeilich nicht an und schrieb sich auch nicht an der Universität ein. Freund Richard belegte für ihn statt dessen Vorlesungen in Freiburg. Mit Anka kam es zu einem ersten »Zerwürfnis«, nachdem sie mit Freunden eine mehrtägige Bergtour unternommen hatte, an der er aus naheliegenden Gründen nicht hatte teilnehmen können.71 In seinen Erinnerungen hielt er Eindrücke von Theater- und Opernbesuchen fest. Er sah unter anderem Carmen, Der fliegende Holländer, Siegfried, Elektra und den Freischütz, erlebte den Dirigenten Bruno Walter und die Erstaufführung der Strauss-Oper Die Frau ohne Schatten. In den Münchner Theatern sah er neben Klassikern wie Amphitryon, Antigone und Don Carlos überwiegend moderne Stücke, so Hasenclevers Der Sohn, Werke von Strindberg, Ibsen und Gustav Meyrink, Das Gelübde von Heinrich Lautensack, Hermann Bahrs Der Unmensch und Gas von Georg Kaiser. Das alles überwältigte ihn beinahe: »Chaos in mir. Gärung. Unbewußte Klärung.« Eine Aufführung des letzten Tolstoi-Dramas Das Licht leuchtet in der Finsternis beeindruckte ihn besonders. Rückblickend notierte er über diese Zeit: »Sozialismus. Nur erst langsam breitend. Soziales Mitleid. Expressionismus. Noch nicht rein und geklärt.«72

Mit dem Münchner Literaturwissenschaftler Artur Kutscher besprach er ein mögliches Promotionsprojekt über die Pantomime, doch die Erfolgsaussichten dieses Vorhabens, über das er mit Kutscher noch einige Wochen später korrespondierte, schätzte er bald als »trostlos« ein.73 Wieder geriet er in Geldnot. Er mußte seine Anzüge und seine Uhr verkaufen. Anka unterstützte ihn, indem sie ihre goldene Uhr im Pfandhaus abgab. Überhaupt lebte er jetzt praktisch von ihr.74 Erneut zweifelte er an seiner katholischen Religion und wandte sich hilfesuchend an seinen Vater. In einem langen Brief vom November 1919 versuchte dieser ihm Rat und Trost zu geben und den verstörten Joseph zu beruhigen: Glaubenszweifel seien in jungen Jahren ganz normal, durch Gebet und Teilnahme an den Sakramenten werde er schon darüber hinwegkommen. Er erinnerte an den Tod der Schwester Elisabeth im Jahre 1915, als das gemeinsame Gebet der Familie Halt gegeben habe. Er werde ihn nicht verstoßen, auch wenn er sich von der Kirche abwende (was der Sohn befürchtet hatte), aber er müsse ihm doch zwei Fragen vorlegen: Beabsichtige er, Werke zu verfassen, die mit der katholischen Religion nicht zu vereinbaren seien, oder habe er vor, in ähnlicher Weise beruflich tätig zu werden? Wenn dies nicht der Fall sei, würde schon alles wieder ins Lot kommen. Goebbels war dankbar für die verständnisvolle Antwort, aus der aber auch deutlich wird, wie weit er sich mittlerweile von der katholisch-kleinbürgerlichen Welt des Elternhauses entfernt hatte.75

Die Beziehung zu Anka ging durch manche Krise, doch die beiden versöhnten sich immer wieder und fühlten sich dann »fester aneinandergeschlossen«. Sie entwickelten Heiratspläne, die aber, wie Goebbels verächtlich schrieb, an »Bürgerlichkeiten« scheiterten.76 In einem Brief an Anka fragte er anklagend: »Haben andere Leute ein Recht, mich zu verachten und mit Schmach und Schande zu behandeln, weil ich Dich liebe, daß ich wahnsinnig darüber werde?«77 Er schrieb jetzt an einem Sozialdrama: »Kampf der Arbeiterklasse«. In München fand er aber zu wenig Ruhe, um das Manuskript abzuschließen.78

Ende des Semesters fuhr er nach Hause, wohin auch Bruder Hans mittlerweile aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war. Der brachte »Haß mit und Kampfgedanken«. Im übrigen: »Eifrige Lektüre. Tolstoi, Dostojewski, Revolution in mir […] Russland.«79 In einem Brief an Anka kommentierte er die »sensationellen Neuigkeiten aus Berlin«: Teile der extremen Rechten unter Wolfgang Kapp hatten einen Putschversuch unternommen. Das Unternehmen scheiterte nach wenigen Tagen, aber noch war das Ende nicht abzusehen. Er war skeptisch und meinte, es sei fraglich, ob »eine rechtsstehende Regierung im jetzigen Augenblicke für uns etwas Gutes ist«. Er wolle die Entwicklung der Dinge zunächst abwarten.80 Anka wurde bei einer Reise im Ruhrgebiet vom Kapp-Putsch und seinen Folgen, einem Arbeiteraufstand, überrascht: »Rote Revolution im Ruhrgebiet. Sie lernt dort den Terror kennen. Ich bin aus der Ferne begeistert.« Es scheint, daß seine Begeisterung dem Terror der Revolutionäre galt und nicht den ebenfalls terroristischen Unterdrückungsmaßnahmen der gegen sie eingesetzten Freikorps.

In dieser unruhigen Zeit bewarb sich Goebbels als Erzieher auf ein Gut in Holland sowie »nach Ostpreußen«, aber ohne Erfolg.81 Im übrigen war er literarisch produktiv. Sein neues Stück war eine allgemeine Anklage der »angefaulten« und »morschen« Welt, in der ein Aufstand der Arbeiter »die Saat«, so der Titel des Opus, legen würde für das »Geschlecht, das heranreift, dem starken, schönen des neuen Menschen«.82