Abrechnung - Peter Longerich - E-Book

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Peter Longerich

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Beschreibung

1934, ein Jahr nach der »Machtergreifung«, gerät das NS-Regime in eine schwere Krise. Die politischen Erfolge bleiben aus, die erste Euphorie unter den Anhänger:innen ist verflogen. Ernst Röhm baut seine »Sturmabteilung« weiter aus und fordert eine Fortsetzung der »nationalsozialistischen Revolution«, gleichzeitig formieren sich ultrakonservative Kräfte. Im Juni 1934 hält Hitler blutige Abrechnung: Er lässt Röhm und die SA-Spitze kaltblütig liquidieren. Doch die Morde eskalieren. Peter Longerich rekonstruiert die komplexen Hintergründe des sogenannten »Röhm- Putschs« und zeigt zum ersten Mal anhand der umfassenden Auswertung zeitgenössischer »Stimmungsberichte«, wie die Bevölkerung auf das Morden reagierte. Sein Fazit: Die »Nacht der langen Messer« war ein Zentralereignis in der Geschichte des Dritten Reiches, das Hitlers Durchbruch zur Alleinherrschaft ebnete.

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Peter Longerich

ABRECHNUNG

Hitler, Röhm und die Morde vom 30. Juni 1934

1934, ein Jahr nach der „Machtergreifung“, gerät das NS-Regime in eine schwere Krise. Die erste Euphorie unter den Anhängern ist verflogen. SA-Chef Ernst Röhm baut seine „Sturmabteilung“ aus und fordert eine Fortsetzung der „nationalsozialistischen Revolution“, gleichzeitig formieren sich ultrakonservative Kräfte.

Im Juni 1934 hält Hitler blutige Abrechnung: Er lässt Röhm und die SA-Spitze kaltblütig liquidieren. Doch die Morde eskalieren.

Peter Longerich rekonstruiert die Hintergründe dieses Massenmordes, der fälschlicherweise noch immer als „Röhm-Putsch“ bezeichnet wird. Und er analysiert zum ersten Mal anhand einer umfassenden Auswertung zeitgenössischer „Stimmungsberichte“, wie die Bevölkerung auf das Morden reagierte.

Sein Fazit: „Die Nacht der langen Messer“ war ein Zentralereignis in der Geschichte des Dritten Reiches.

Inhalt

EINLEITUNG Was geschah am 30. Juni 1934?

1. Vorgeschichte

Der Konflikt zwischen Partei und SA

Volk und Regime: Vertrauensverlust und wachsende Unzufriedenheit

2. Abrechnung

Hitlers Entschluss

Göring wütet in Berlin

Weitere Morde in München

Tatort Schlesien

Opfer im gesamten Reichsgebiet

Die Mordserie: Planung, Improvisation, Eigeninitiative

3. Der 30. Juni und die Folgen

Putsch in Österreich

Hitlers Weg zur absoluten Macht

4. Fazit: Ein historisches Schlüsselereignis

5. Anhang

Anmerkungen

Bibliografie

Verzeichnis der Fundorte der Stimmungs- und Lageberichte

Abkürzungen, Bildnachweis

Hermann Göring, Ernst Röhm und Adolf Hitler am Flughafen Berlin-Tempelhof. Es ist der 27. Juli 1932. Die drei Männer stehen kurz vor ihrem bis dahin größten politischen Triumph.

EINLEITUNG

Was geschah am 30. Juni 1934?

DIE DREI MÄNNER, die am 27. Juli 1932 auf dem Berliner Flughafen Tempelhof zusammentreffen, stehen unmittelbar vor ihrem größten politischen Erfolg: Vier Tage später, am 31. Juli, wird die NSDAP bei den Wahlen zum Reichstag mit 37,2 Prozent der Stimmen ihren größten Wahltriumph erringen und ihre Position als mit Abstand wichtigste politische Kraft im Land festigen.

Der „Führer“ der NSDAP, Adolf Hitler, sein „politischer Beauftragter“ in Berlin, Hermann Göring, und der „Stabschef“ seiner Sturmabteilung SA, Ernst Röhm, rechnen zu diesem Zeitpunkt bereits fest mit einem durchschlagenden Erfolg: Sie scheinen im Begriff zu sein, die Macht im Lande zu übernehmen. Der äußerst entschlossene Blick, den sie für die sie umringenden Fotografen aufgesetzt haben, soll diese besondere Situation zum Ausdruck bringen.

Tatsächlich wird Hitlers Ernennung zum Reichskanzler des Deutschen Reiches noch einige Monate auf sich warten lassen, und der Weg dahin sowie der gesamte Prozess der dann folgenden „Machtergreifung“ wird von scharfen innerparteilichen Konflikten begleitet sein. Unter dem Diktator Hitler werden sich Göring als preußischer Ministerpräsident und Röhm als Reichsminister und Anführer der SA ihre jeweils eigenen Machtstellungen aufbauen, und Röhm wird offen gegen Hitler opponieren. Hitler wird diesen Machtkampf blutig entscheiden: Weniger als zwei Jahre nach der Tempelhofer Szene lässt er Röhm und einen großen Teil der SA-Führung ermorden – Göring wird dabei eine wichtige Rolle spielen.

FÜR DIE EREIGNISSE UM DEN 30. JUNI 1934 gibt es bisher keine angemessene allgemein gebräuchliche historische Begrifflichkeit. Wie bei so vielen anderen Geschehnissen der Jahre 1933 bis 1945 hat man sich in der Regel damit begnügt, die von den Nazis eingeführte Terminologie einfach weiterzuverwenden und setzt sie dann meist zwecks Distanzierung genierlich in Anführungszeichen. So ist in der historischen Literatur und in der Publizistik auch 90 Jahre nach den Ereignissen immer noch vom „Röhm-Putsch“ die Rede, obwohl hundertprozentige Übereinstimmung herrscht, dass der behauptete „Putsch“ eine außerordentlich dreiste und schlecht fabrizierte Lüge des Regimes darstellte. Auch die häufig gebrauchte Bezeichnung „Röhm-Affäre“ trifft – schon wegen des mysteriösen Untertons – nicht den Kern der Sache.

Es ist an der Zeit, die Dinge endlich beim Namen zu nennen. Am 30. Juni beging das NS-Regime – genauer gesagt: Polizei, Geheime Staatspolizei (Gestapo) und die nationalsozialistische Schutzstaffel (SS) mit logistischer Unterstützung der Wehrmacht und auf Anordnung der politischen Spitze – einen Massenmord, dem nach heutigem Erkenntnisstand 90 Menschen zum Opfer fielen: SA-Führer sowie Personen, die Röhm und anderen SA-Größen irgendwie nahestanden, konservative Opponenten, einige prominente katholische Laien, Menschen, an denen man sich wegen ihrer Gegnerschaft in der „Kampfzeit“ rächen wollte, ehemals politisch Prominente, denen man zutraute, unter Umständen wieder aus der Deckung zu treten, verschiedene als lästig empfundene Existenzen, einige Juden, schließlich Bürger, mit denen SS-Angehörige in der Provinz „alte Rechnungen“ begleichen wollten.

Diese – unvollständige – Aufzählung zeigt bereits, dass es sich nicht um eine gezielte „Säuberung“ oder Ausschaltung einer bestimmten Oppositionsgruppe handelte, sondern um einen blutigen Rundumschlag, aus unterschiedlichen Motiven gegen verschiedenste Gruppen und Personen gerichtet. Das Ausufern der Morde auf ganz unterschiedliche Personengruppen, das wird im Einzelnen zu zeigen sein, ist jedoch nicht auf einen Kontrollverlust des Diktators zurückzuführen; das zeigt schon die Tatsache, dass die Aktion sich im Wesentlichen, wie intendiert, auf drei Hauptzentren, München, Berlin und Schlesien (wo zusammen 76 der 90 Morde begangen wurden), konzentrierte, und sich eben nicht zu einem mörderischen Flächenbrand auf das gesamte Reichsgebiet ausweitete. Die Entgrenzung des Mordens aus unterschiedlichen Motiven war Teil des hinter der Aktion stehenden Kalküls und kein unkontrollierter Vorgang. Spekulationen, dass Hitler in einer Reihe von Fällen die Morde nicht ausdrücklich autorisiert oder beabsichtigt hat, gehen am Kern der Sache vorbei. Der entscheidende Punkt ist der Willkürcharakter der gesamten Aktion, oder anders ausgedrückt: ihr terroristischer Charakter.

War der Terror der „Machtergreifung“ im Sommer 1933 abgeklungen und hatte das Regime im folgenden Jahr großen Wert daraufgelegt, dass es mit der Zustimmung der überwältigenden Mehrheit regiere und die gewalttätigen innenpolitischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre der Weimarer Republik jetzt unter einer starken autoritären Führung endlich überwunden seien, so zeigte es sich am 30. Juni 1934 eindeutig als ein Regime, dessen reale Machtgrundlage der Terror war. Dass nach dem 30. Juni die deutsche Bevölkerung aus Mangel an offiziellen Erklärungen mühsam versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen, wer wann und wo und vor allem aus welchen Gründen erschossen worden war, unterstrich die Willkürherrschaft der Nationalsozialisten und verstärkte den Faktor Angst als Herrschaftsmittel. Wenn Hitler sich nach dem 30. Juni per Gesetz und per Reichstagsbeschluss ausdrücklich bescheinigen ließ, dass er als des „Volkes oberster Gerichtsherr“ jedermann ohne weitere Umstände zum Tode „verurteilen“ konnte und über seine diesbezüglichen Gründe niemandem rechenschaftspflichtig war, dann stellte er damit klar, dass die willkürliche mörderische Beseitigung von Menschen, aus welchen Gründen auch immer, künftig Teil seiner Herrschaftspraxis sein werde.

Der terroristische Massenmord des Sommers 1934 veränderte den Charakter der Diktatur Hitlers. Er leitete seinen Durchbruch zur Alleinherrschaft ein, die er schon wenige Wochen später, nach dem Ableben des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, mit der Usurpation des Präsidentenamtes (einschließlich des Oberbefehls über die Reichswehr) abschließen konnte und die er sich im August durch das „Volk“ in einem Plebiszit mit scheinbar „überwältigender“ Mehrheit bestätigen ließ.

Der 30. Juni markierte also ein die gesamte Diktatur nachhaltig veränderndes Zentralereignis des „Dritten Reiches“. Umso bemerkenswerter ist der relativ dürftige Forschungsstand. Obwohl immer wieder Einzelaspekte näher erhellt werden, sind die wenigen Gesamtdarstellungen viele Jahrzehnte alt.1 Daher dieses Buch, das im Einzelnen drei Komplexe analysiert: Die Vorgeschichte des 30. Juni, die als eine Krisensituation mit vielfältigen Wurzeln zu beschreiben sein wird; eine eingehende Darstellung der Ereignisse von Ende Juni bis Anfang Juli, um die hinter den wüsten Morden stehenden Entscheidungen und Entscheidungsstrukturen transparenter zu machen; und schließlich die kurz- wie langfristigen Auswirkungen der Massenmorde.

Da die Täter Dokumente über den Massenmord – wenn sie sich überhaupt schriftlich festlegten – systematisch vernichteten, ist die wichtigste Quelle für die Ereignisse selbst eine Reihe von Gerichtsverfahren, meist aus den 1950er-Jahren, bei denen die Ermittlungsbehörden zum Teil umfangreiche Untersuchungen vornahmen und auf zahlreiche noch lebende Zeugen zugriffen. Was die Vor- und Wirkungsgeschichte des 30. Juni anbelangt, so werden in diesem Buch in einem bisher noch nicht geleisteten Umfang die periodischen2 „Stimmungsberichte“ der Regierungspräsidenten und Gestapo-Stellen ausgewertet.3 Ursprünglich waren sie wohl angelegt, um vor allem die Zustimmung der Bevölkerung zur Politik des Regimes zu dokumentieren, wobei man sich an Kriterien wie der Beflaggung privater Häuser, dem Besuch von Versammlungen und Feiern, der „Gebefreudigkeit“ bei Sammlungen und der Abwesenheit von öffentlich geäußerter Kritik orientierte – an Verhaltensweisen also, die durch das Regime erzwungen wurden und über die „wirkliche“ Stimmung und Einstellung der Menschen wenig aussagen. Doch in der im breiten Umfang (nämlich in ganz Preußen) im November 1933 einsetzenden Stimmungsberichterstattung – in Bayern gab es diese Übung bereits vor 1933 und sie wurde nun fortgesetzt – lässt sich vielfach auch ablesen, dass trotz des erheblichen Drucks Teile der Bevölkerung das von ihnen erwartete Verhalten (Beflaggung, Versammlungsbesuch etc.) nicht an den Tag legten und vor allem (hinter vorgehaltener Hand oder in verklausulierter Form) deutlich Kritik an offenkundigen Missständen und an der Politik des Regimes übten. So entwickelten sich die Berichte zwar nicht zu einem präzisen demoskopischen Messinstrument, aber doch zu wahren Katalogen von Beschwerden, die die innere Verwaltung bzw. die Gestapo an die politischen Entscheidungszentralen weiterreichten; vor allem natürlich dann, wenn die Berichterstatter für die aufgeführten Widrigkeiten nicht selbst verantwortlich zu machen waren. Im Ergebnis dokumentieren die Stimmungsberichte deutlich das Ausmaß der Unzufriedenheit und der Krisenstimmung in der Bevölkerung in der ersten Jahreshälfte 1934. Dazu zählen auch die sehr differenzierten, teilweise kritischen Reaktionen auf die Mordaktion. Und sie verweisen darauf, dass die Ursachen für die Unzufriedenheit fortbestanden.

Der „Oberste“ SA-Führer Adolf Hitler mit dem „Stabschef“ der Sturmabteilung, Ernst Röhm. Die SA war in der „Kampfzeit“ vor 1933 der wesentliche Träger nationalsozialistischer Agitation.

1.

Vorgeschichte

IM ERSTEN HALBJAHR 1933 war es den Nationalsozialisten in atemberaubend kurzer Zeit gelungen, den gesamten Staatsapparat auf allen Ebenen unter ihre Kontrolle zu bekommen, fast alle gesellschaftlichen Organisationen „gleichzuschalten“, ihre politischen Gegner und Konkurrenten auszuschalten und ihre konservativen Regierungspartner von den Deutschnationalen und der Veteranenorganisation Stahlhelm zu dominieren. Mitte 1934 waren sie die Herren im Lande.

Seit der Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat, Ende Februar nach dem Brand des Reichstages erlassen und mit der Gefahr eines kommunistischen Aufstands begründet, waren wesentliche Verfassungsrechte außer Kraft gesetzt. Jedermann konnte ohne weitere Begründung und auf unbegrenzte Zeit in „Schutzhaft“ genommen werden. Mit dem Ermächtigungsgesetz vom März wurde das Parlament aus der Gesetzgebung ausgestaltet, die nun auf die Regierung überging. Mit der Usurpation des Staatsapparates standen den Nationalsozialisten alle staatlichen Machtmittel, Polizei, Justiz, Behördenapparat zur Verfügung; hinzu kamen mit Geheimer Staatspolizei und Konzentrationslagern neue terroristische Herrschaftsinstrumente.

Hakenkreuzfahnen, nationalsozialistische Uniformen, Plakate, Parolen und Symbole beherrschten das öffentliche Leben. Rundfunk, Presse und Film standen unter der Kontrolle des NS-Apparats. Es war kaum möglich, sich den rasch aufeinanderfolgenden Großveranstaltungen und Propagandakampagnen zu entziehen, die das Regime aufzog, um die angebliche Zustimmung der Massen zu seiner Politik zu demonstrieren. Wer von der offiziellen Politik abweichende Ansichten äußerte, setzte sich erheblichen Risiken aus, eine kollektive Meinungsbildung außerhalb des vom Regime gesetzten Rahmens war kaum noch möglich.

Seinen ersten außenpolitischen „Coup“, den überraschenden Austritt aus dem Völkerbund ließ sich Hitler durch eine Volksabstimmung bestätigen, bei der die Nationalsozialisten sagenhafte 95,1 Prozent Zustimmung einfahren konnten. So gelang es dem neuen Regime, das erste Jahr seiner Herrschaft als eine beispiellose Erfolgsgeschichte, als einen wahren nationalen Aufbruch darzustellen: Das einst zutiefst gespaltene deutsche Volk, vereint unter der Fahne des Nationalsozialismus, ging nun tatkräftig daran, die wirtschaftliche Krise zu überwinden und eine wahre „Volksgemeinschaft“ heranzubilden.

Doch Ende 1933, so scheint es, ein knappes Jahr nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, war die unaufhörliche Folge von Propagandawellen und Großspektakeln, mit denen fortwährend ganz Deutschland überschwemmt wurde, um so vor aller Welt die Geschlossenheit der Nation zu demonstrieren, immer weniger in der Lage, die real existierenden Probleme zu überdecken. Ja, das Regime drohte, in eine tiefgreifende Krise abzurutschen, die vielfältige Wurzeln hatte.

Neben den wirtschafts- und sozialpolitischen Problemen, neben dem schwierigen Verhältnis zu den beiden Kirchen, neben der Unzufriedenheit über die Herrschaftspraxis der Partei und anderem mehr stand innenpolitisch ein schwerwiegender Konflikt im Vordergrund: Die Auseinandersetzung zwischen dem Regime bzw. der NSDAP und der SA, in der es um nichts weniger ging als um die Rolle und den Machtanteil der „Sturmabteilung“ im künftigen „Dritten Reich“.

Um diese Auseinandersetzung einordnen zu können, müssen wir bis zum Beginn der Geschichte der NS-Bewegung zurückgreifen. Von Anfang an nämlich hatte es in ihr ein Spannungsverhältnis zwischen dem politischen Flügel, also der eigentlichen Partei, und ihren in der SA organisierten paramilitärischen Kräften gegeben; eine gewisse Rivalität zwischen „Politikern“ und „Soldaten“, personifiziert durch den Parteiführer Adolf Hitler und dem Ziehvater der SA, Ernst Röhm.4

Der Konflikt zwischen Partei und SA

Hervorgegangen war die SA aus einer Ordnertruppe der NSDAP, die sich seit November 1920 „Sport- und Turnabteilung“ nannte und zunächst, wie dies in den turbulenten Nachkriegsjahren üblich war, mit handgreiflichen Mitteln den „Saalschutz“ bei NSDAP-Veranstaltungen sicherstellte – und mit ebenso rabiaten Methoden solche der politischen Gegner zu sprengen suchte. Nachdem Hitler im Sommer 1921 die Führung der Partei „mit diktatorischen Machtbefugnissen“ übernommen hatte, kamen auf die Organisation neue Aufgaben zu. Ihre Mitglieder, meist junge Männer, die aufgrund ihres Alters keinen Kriegsdienst geleistet hatten, erhielten eine „militärische“ Ausbildung durch ehemalige Offiziere. Auf diese Weise fand die „Sturmabteilung“ – wie man sich nun anknüpfend an Elite-Verbände des Weltkrieges nannte – Anerkennung und Unterstützung im Kreis der rechtsgerichteten bayerischen Wehrverbände. Bei dieser Militarisierung der SA zog der Reichswehr-Hauptmann Ernst Röhm im Hintergrund die Fäden. Der Weltkriegs-Kompaniechef und ehemalige Freikorps-Offizier kontrollierte in Bayern ein Netzwerk von illegalen Waffenlagern, das er dem Zugriff der alliierten Militär-Kontrolleure entzog und aus denen die Wehrverbände einschließlich der SA nach seinem Gutdünken Waffen zur Verfügung gestellt bekamen. Röhm wurde damit eine Schlüsselfigur an der Schnittstelle von Politik, Militär und Wehrverbänden, und er sollte diese Rolle in höchst eigenständiger Weise nutzen. Als nach eigener Einschätzung durch die Kriegserfahrung zum „politischen Soldaten“ herangereift, sah er seine Aufgabe vor allem darin, die Politik in eine Richtung zu lenken, die sich aus nicht hinterfragbaren militärischen „Erfordernissen“ ergab.5

Die SA, großzügig unterstützt von Röhm, machte nun zunehmend durch Aufmärsche, manöverähnliche Geländeübungen und gewalttätige Großaktionen gegen die politische Linke von sich reden, sie war Ende 1922 bereits ein wichtiger Faktor in der bayerischen Innenpolitik. Als sich in der Krise des Jahres 1923 die bayerische Wehrverbandsszene aufspaltete, wurde die SA in eine Allianz rechtsextremer militanter Verbände einbezogen, die in Frontstellung zu den rechtskonservativen, hinter der bayerischen Regierung stehenden Kräften ging; diese Konfrontation mündete schließlich in Hitlers Putschversuch vom 9. November 1923 und endete im Gewehrfeuer der bayerischen Landespolizei an der Münchner Feldherrnhalle.

Bereits 1924 unternahm Röhm mit Hitlers Einverständnis erste Anstrengungen zur Reorganisation der SA in der Illegalität. Schon bald zeigte sich aber, dass Hitler und er bei der Neuorganisation völlig unterschiedliche Ansätze verfolgten: Während Röhm in der SA den Kern einer breiter aufgestellten, das gesamte rechtsextreme Lager umfassenden Wehrbewegung (sie firmierte unter dem Namen „Frontbann“) und sich selbst als deren Führer auf Augenhöhe mit Hitler sah, wollte dieser die SA zu einer reinen Hilfstruppe der NSDAP zur Unterstützung und Absicherung ihrer auf Provokation und Tumult angelegten Propagandaarbeit machen, und Röhm sollte ihm unterstellt sein. Hitler hatte im Unterschied zu Röhm erkannt, dass mit der Stabilisierung der Republik die Zeit der Wehrverbände und des Putschismus vorüber war. Als man sich nach Hitlers Haftentlassung Ende 1924 nicht einig wurde, gab Röhm die Leitung von Frontbann und SA bald ab und zog sich aus dem politischen Leben für einige Jahre zurück; von 1928 bis 1930 war er als Militärinstrukteur in Bolivien tätig.

IN DER ZWEITEN HÄLFTE der 1920er-Jahre entwickelte sich die SA tatsächlich zunächst nach Hitlers Vorstellungen und war primär eine Hilfsorganisation zur Unterstützung der jeweils örtlichen Parteiorganisation. Dies begann sich jedoch mit der Errichtung einer zentralen SA-Führung Ende 1926 zu ändern. Der neue „Oberste SA-Führer“ Franz Pfeffer von Salomon schuf ein hierarchisch aufgebautes System von Führungsstäben nach militärischem Vorbild, die höheren Ränge belegten zumeist ehemalige Berufssoldaten und Freikorpsführer. Sie übertrugen ohne Weiteres ihr professionelles soldatisches Selbstverständnis auf ihre neuen Aufgaben und beharrten darauf, dass die Führung der „Truppe“ in der Hand von Militärs liegen müsse und nicht Politikern überlassen werden könne. Dieses Beharren auf eine hohe Eigenständigkeit der SA, kombiniert mit einem starken Selbstbewusstsein, ja Überlegenheitsgefühl gegenüber den bloßen „Parteipolitikern“ der NSDAP, das durch das schnelle Anwachsen der SA – im Herbst 1930 auf etwa 60.000 Mann – noch vergrößert wurde, führte zu zahlreichen Konflikten mit der Partei. Kurz vor den Reichstagswahlen vom September 1930 gipfelten sie in einem regelrechten Aufstand der Berliner SA, der nur mit großer Mühe durch Hitlers persönlichen Einsatz beendet werden konnte.

Angesichts dieser schweren Führungskrise setzte Hitler nun erneut auf Röhm und ernannte ihn zum „Stabschef“ der SA, trotz der seinerzeit nicht gelösten grundsätzlich unterschiedlichen Auffassungen über die Rolle der Parteitruppe, deren Führung Hitler als „Oberster SA-Führer“ selbst in der Hand behielt. Für Röhm sprach aus Hitlers Sicht, dass er von einem Großteil der SA-Führer respektiert wurde, als fähiger Organisator galt und wegen seines Bolivien-Aufenthalts in die internen Auseinandersetzungen der NS-Bewegung nicht involviert gewesen war.

IN DEN GUT ZWEI JAHREN bis zur Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten erwies sich Röhm als loyal gegenüber Hitler, ohne allerdings sein bewusst „soldatisches“ Selbstverständnis und seine weitreichenden „wehrpolitischen“ Ambitionen aufzugeben, und gerade deshalb genoss er zugleich innerhalb der SA große Autorität. Im Vorwort seiner 1928 erschienenen Memoiren, der „Geschichte eines Hochverräters“, hatte er noch einmal ausdrücklich den politischen Führungsanspruch des Soldaten hervorgehoben: „Die Besten sollen des Volkes Führer sein. Der Mann, der mit seinem Leibe sein Vaterland deckt, der sein Leben einsetzt für Geltung und Größe seines Volkes, hat zuvörderst Anspruch auf die Führung des Staates.“6 Dieser Satz findet sich in allen weiteren Ausgaben, auch in der letzten aus dem Jahr 1934.

Die SA war in dieser „Kampfzeit“ der wesentliche Träger der nationalsozialistischen Agitation. Sie konzentrierte sich auf die gewaltsame „Eroberung der Straße“ und verursachte damit gegen Ende der Weimarer Republik nahezu bürgerkriegsähnliche Zustände. Der Aktivismus der SA führte aber auch innerhalb der NS-Bewegung zu Spannungen und Konflikten.

Tatsächlich geriet die SA immer wieder in Auseinandersetzungen mit der Parteiführung, die einen (pseudo)legalen Kurs verfolgte und befürchtete, ein zu großes Maß an Gewalttätigkeit könne die NSDAP diskreditieren und letztlich zu einem Parteiverbot führen; hinzu kamen Kompetenzprobleme beim örtlichen „Einsatz“ der SA und die leidige Finanzierungsfrage. Ein zweiter Konflikt tat sich zwischen der SA und der 1925 zunächst als Personenschutzverband der NSDAP gegründeten „Schutzstaffel“ (SS) auf, die sich unter der Führung von Heinrich Himmler (seit 1926) zur zweiten paramilitärischen Organisation der NSDAP entwickelte. Nicht nur wirkte ihr elitäres Selbstverständnis häufig provozierend, sondern sie hob sich durch scharfe innere Disziplin und absolute Loyalität gegenüber der Parteiführung deutlich von den „Rabauken“ der SA ab und wurde daher immer wieder von dieser gegen die unbotmäßige SA eingesetzt, um „Ordnung“ zu schaffen. Abwerbungskampagnen der SS innerhalb der SA trugen außerdem wesentlich zur Verschlechterung der Stimmung bei. Drittens existierten aber auch innerhalb der SA nicht unerhebliche Spannungen zwischen der Basis auf der einen Seite, den einfachen „Braunhemden“, meist arbeitslose junge Männer, die die Hauptlast der „Kampfzeit“ trugen, und den auf der anderen Seite relativ komfortabel ausgestatteten höheren SA-Führern, denen Kastengeist und „Bonzentum“ vorgeworfen wurde.

Ein Sonderproblem ergab sich aus den Gerüchten über die Homosexualität Röhms, die im März 1932 durch die Veröffentlichung entsprechender Briefe Röhms, aber auch in verschiedenen Strafverfahren – trotz ausbleibender Verurteilung – eindeutig bestätigt wurden. Führende Parteigenossen forderten seinen Rücktritt, doch Hitler hielt an Röhm fest; wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil er auch im Falle Röhms daraufsetzte, über die persönlichen Schwächen seiner engsten Mitarbeiter hinwegzusehen und sie so enger an sich zu binden. Dessen homosexuelle Orientierung bot den NS-Gegnern zwar eine breite Angriffsfläche, doch sie war innerhalb der NS-Bewegung kein Thema mehr – bis zum 30. Juni 1934.7

Alles in allem war die SA an der Schwelle zur „Machtergreifung“ mit ihren über 400.000 Mitgliedern eine infolge ihres schnellen Wachstums sehr heterogene, labile und unkontrollierbar gewalttätige Massenorganisation. Ihre Führer und ebenso die Masse der Mitglieder hegten die feste Erwartung, nach einer nationalsozialistischen „Machtergreifung“ für die Mühen und Opfer der „Kampfzeit“ angemessen belohnt zu werden.

Diese Erwartungen wuchsen natürlich, nachdem die SA in den ersten sechs Monaten nach dem 30. Januar 1933 das gesamte Land mit ihrem Terror überzogen, die politischen Gegner niedergekämpft und so erst den Weg für die stufenweise nationalsozialistische Machtübernahme in Staat und Gesellschaft freigemacht hatte.8

Nun stellte sich umso drängender die Frage, welche Rolle die Organisation im „Dritten Reich“ eigentlich spielen sollte. Bereits im Mai 1933 brachte Röhm seine diesbezügliche Besorgnis in einem Schreiben an den Reichsschatzmeister der NSDAP zum Ausdruck: „Während die politischen Leiter die höchsten Staatsstellen erklimmen und auch die SS in der Lage ist, bis zu den Stürmen herab eine gerechte Finanzierung durchzuführen“, so beschwerte er sich, „hat die SA das Gefühl nach erkämpftem Sieg zur Seite gedrückt und benachteiligt zu werden.“9

Äußerst selbstbewusst und fordernd, leitete Röhm aus den „Verdiensten“ seiner Truppe eine Sonderstellung in dem im Entstehen begriffenen neuen Staatswesen ab. Im Juni schrieb er in den Nationalsozialistischen Monatsheften, „die nationale Erhebung ist uns nicht Sinn und Zweck unseres Kämpfens, sondern nur eine Teilstrecke der deutschen Revolution, die wir durchschreiten müssen, um zum nationalsozialistischen Staat, unserem letzten Ziel, zu gelangen“. SA und SS stellten „die Grundpfeiler des kommenden nationalsozialistischen Staates“ dar und die SA sei – neben Polizei und Reichswehr – der „dritte Machtfaktor des neuen Staats mit besonderen Aufgaben“.10

Doch nachdem Hitler im Juli das Ende der nationalsozialistischen „Revolution“ ausgerufen hatte und führende nationalsozialistische Politiker ihn darin mit Erklärungen ostentativ unterstützten,11 stellte sich die Frage, welche Rolle die SA im „Dritten Reich“ tatsächlich spielen sollte, nachdem sie ihren Auftrag, die Gegner des Nationalsozialismus niederzukämpfen, erfüllt hatte. Tatsächlich musste die SA nun, im Gegensatz zu Röhms großsprecherischer Ankündigung vom Juni, erhebliche Einbußen der Stellung im Machtgefüge des neuen Staates hinnehmen, die sie sich in den vergangenen Monaten erkämpft hatte.

Seit März 1933 hatte Röhm in mehreren Ländern, insbesondere in Preußen und Bayern, auf den verschiedenen Ebenen der Innenverwaltung Sonderkommissare eingesetzt, um so die Interessen der SA gegenüber der staatlichen Bürokratie zur Geltung zu bringen und die Durchführung der durch die Landesregierungen angeordneten politischen Maßnahmen zu überwachen.12 In Bayern hatten die Kommissare darüber hinaus willkürlich in das Verwaltungsgeschehen eingegriffen, Anweisungen an die Polizei erteilt oder eigenmächtig Schutzhaftbefehle erlassen.13 Doch nun wendete sich das Blatt. Im Juli 1933 kündigte Reichsinnenminister Wilhelm Frick einen Abbau des Kommissarwesens an, und Anfang Oktober wandte er sich in einem Schreiben an die Reichsstatthalter gegen „unzulässige Eingriffe der SA“ in die Verwaltung und drohte bei Gesetzesverstößen konsequente Strafverfolgung an.14 Im September bzw. Oktober wurden die Sonderkommissare in „Sonderbevollmächtigte“ und „Sonderbeauftragte“ umbenannt, ihre Tätigkeit sollte nun lediglich noch beratender Natur sein.15 Angesichts wachsender Widerstände war es Röhm somit weder in Preußen, in Bayern noch in einem anderen deutschen Land gelungen, mit Hilfe der Kommissare eine effektive Kontrolle der Verwaltung auszuüben.16 Nachdem bereits im August 1933 die Hilfspolizei aufgelöst worden war, ließ der als preußischer Innenminister amtierende Hermann Göring im Oktober auch die nichtstaatlichen Konzentrationslager, also vor allem die Haftstätten der SA, schließen.17

Außerdem bemühte sich die Regierung, die Gewalttätigkeit der SA einzuschränken. Denn die Führung der SA sah keine Notwendigkeit, dagegen einzuschreiten; brutale Gewaltanwendung war ja gerade das Markenzeichen der Sturmabteilung. So hatte SA-Chef Röhm in einer Anordnung vom 31. Juli 1933 – also nach dem von Hitler verkündeten Ende der NS-Revolution – ausdrücklich „jede Handlung“ von SA-Männern, „die zwar den geltenden gesetzlichen Bestimmungen nicht entspricht, aber dem ausschließlichen Interesse der SA dient“ gedeckt. Die Truppe wurde aufgefordert, gegen „Schänder des SA-Ehrenkleides“ rücksichtslos vorzugehen; gleichzeitig gab er seiner Erwartung Ausdruck, dass „als Sühne für den Mord an einem SA-Mann durch den zuständigen SA-Führer bis zu 12 Angehörige der feindlichen Organisation, von der der Mord vorbereitet wurde, gerichtet werden.“18

Doch die Staatsorgane machten nun Front. Im Juli wurde im preußischen Justizministerium eine Zentralstaatsanwaltschaft eingerichtet, die Ermittlungen in politisch „heiklen“ Fällen aufnehmen sollte, insbesondere auch im Hinblick auf Verbrechen, die von Nationalsozialisten im Zuge der Machtergreifung begangen worden waren.19 Auch Reichsinnenminister Frick wandte sich in dem bereits zitierten Schreiben vom Oktober 1933 wegen immer wieder vorkommender „Übergriffe unterer Führer und Mitglieder der SA“ an die Länderbehörden und ermahnte sie, gegen „Übergriffe und Ausschreitungen“ mit aller Energie vorzugehen.

Worum es dabei konkret ging, lässt sich etwa am Beispiel Hamburg aufzeigen. Dort verbot eine SA-Brigade in ihrem Bereich im gleichen Monat „aus gegebener Veranlassung“, dass „aus marschierenden Kolonnen heraus Passanten, die die Fahnen und Hoheitszeichen der Bewegung nicht grüßen, geschlagen oder sonst wie zur Rechenschaft gezogen werden“.20 Eine Woche später beschwerte sich die Polizeibehörde in Hamburg bei den dortigen SA-Stäben über die „Anmaßung polizeilicher Rechte“ und kündigte an, künftig gegen jeden, der sich solche Rechte anmaße und „Hausdurchsuchungen vornimmt, Verhaftung anordnet, Schußwaffen benutzt“ oder mit ihnen drohe, „rücksichtslos“ im Rahmen der Strafgesetze vorzugehen.21

Auch die von Röhm im Juli 1933 angekündigte Einführung einer besonderen SA-Strafgerichtsbarkeit, um so – nach dem Vorbild der wieder eingeführten Militärgerichte – Verfehlungen seiner Männer nicht durch die ordentliche Justiz verfolgen lassen zu müssen und generell die Gleichrangigkeit der SA mit der Reichswehr herauszustellen, scheiterte am Widerstand des Justiz- und Innenministeriums, aber vor allem an Hitler. Röhms Vorstellungen, ein umfassendes SA-Sonderrecht zu entwickeln, blieben unerfüllt.22

Röhm verfolgte nun vor allem die Strategie, die SA um jeden Preis zu vergrößern und organisatorisch zu verselbstständigen, staatliche Funktionen zu usurpieren und so die innenpolitische Machtstellung der SA als ein „Grundpfeiler“ des NS-Staates weiter ausbauen.

Die um die Jahreswende 1932/33 etwa 430.000 Mann starke SA erhöhte die Zahl ihrer Angehörigen bis Mitte 1934 auf 4 bis 4,5 Millionen,23 insbesondere durch die Eingliederung des Stahlhelms und anderer Wehr- und Veteranenorganisationen sowie durch zahlreiche Neueintritte junger Männer, die sich für ihr individuelles Fortkommen Vorteile erhofften. Durch die massenhafte Aufnahme neuer Mitglieder erhöhte sich der Erwartungsdruck, der auf Röhm lastete, nun alle diese Menschen irgendwie „unterzubringen“, ganz enorm.

Infolgedessen war die SA in ihrer personellen Zusammensetzung heterogen, in ihrer Grundstimmung fordernd und unruhig und in ihrer Struktur fragil, hatte doch die rasche, kolossale Vergrößerung ein ständiges Umorganisieren zur Folge. Die Frage nach Orientierung und Verlässlichkeit der SA stellte sich auch angesichts der Tatsache, dass 1933/34 schätzungsweise weniger als 30 Prozent ihrer Angehörigen Parteimitglieder waren.24

Röhms Politik, den Einflussbereich der SA zu vergrößern, konzentrierte sich, neben dem letztlich missglückten Versuch, über die Kommissare in der staatlichen Verwaltung Fuß zu fassen, vor allem auf den Komplex des Militärs. Seit Frühjahr 1933 kooperierte die SA mit der Reichswehr. Beide Organisationen bauten gemeinsam ein Netzwerk von Schulen zur vormilitärischen Ausbildung auf, in denen Reserven für die Reichswehr herangezogen werden sollten. Außerdem erkannte die Reichswehr die alleinige Zuständigkeit der SA bei allen paramilitärischen Aktivitäten an, was den Prozess der Eingliederung anderer „Wehrverbände“ (die nur auf diesem Weg an der „Landesverteidigung“ teilnehmen konnten) erleichterte.25

Während die Reichswehrführung in der SA ein Hilfsorgan sah, gingen die militärpolitischen Ambitionen Röhms erheblich weiter: Die SA als der „dritte Machtfaktor“ im nationalsozialistischen Staat neben Polizei und Reichswehr sollte ein Millionen Männer umfassendes Miliz-Heer bilden, das die innere und äußere Sicherheit des Staatswesens garantierte; die Reichwehr sollte in erster Linie Kader für die Ausbildung und militärische Spezialisten stellen. Das zeitgenössische Wort von dem „braunen Fels der Reichswehr“, der in der „braunen Flut der SA untergehen“ solle, macht diese Arbeitsund Gewichtsverteilung deutlich.26

Die Ernennung Röhms zum Mitglied des Reichskabinetts Anfang Dezember 1933 (zusammen mit dem Partei-Stellvertreter Hitlers Rudolf Heß) war aus Sicht der NS-Führung ein eher symbolischer Akt, um die „Einheit von Staat und Partei“ zum Ausdruck zu bringen. Röhm jedoch verkündete, gleich nach seiner Ernennung, die „Oberste SA-Führung wird in meiner Person in den Staatsapparat eingebaut“27, und tatsächlich dachte er daran, seinen Kabinettsposten zu einem „SA-Ministerium“ auszubauen. Ein einige Monate später geschaffenes „Ministeramt“ innerhalb der SA-Führung sollte diesen Anspruch unterstreichen.28 Die SA-Führung baute einen eigenen Presseapparat auf und unterhielt mit der Wochenschrift „Der SA-Mann“ ein eigenes Organ.29 Seit Ende 1933 entwickelte Röhm auch eigenständige außenpolitische Aktivitäten. Sie zielten in erster Linie darauf, Befürchtungen im Ausland, die SA gefährde als Miliz die im Versailler Vertrag niedergelegte weitgehende Entmilitarisierung Deutschlands, zu zerstreuen. Ausgangspunkt war eine groß angelegte Rede Röhms vor der Auslandspresse und dem diplomatischen Korps am 7. Dezember 1933.30 Auch ließ er sich zum Präsidenten der Akademischen Austauschstelle an der Universität München ernennen und versuchte darüber hinaus, mit Hilfe der SA-Hochschulämter, die den nun obligatorischen „Wehrsport“ an den Universitäten organisieren und die Studenten für die SA gewinnen sollten, in den akademischen Betrieb einzugreifen.31

Die SA kam seit der Machtübernahme nicht nur in den Genuss beständiger staatlicher Zuschüsse,32 um ihren Apparat zu finanzieren, aber auch um Ausrüstung und Uniformen zu beschaffen. Auch die von der Industrie organisierte „Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft“, die das unkontrollierte Einsammeln von „Spenden“ durch eine Pauschalzahlung ablöste, kam größtenteils der SA zugute. Zusätzliche Mittel stellten etwa der IG-Farben-Konzern, aber auch lokale Firmen bereit.33

Demnach zeichneten sich Ende 1933 Röhms Ambitionen ab, Haupt eines möglichst autonomen „SA-Staates“ zu werden, der über eigene Finanzierungsquellen verfügte, seine eigene Gerichtsbarkeit besaß, bereitstand, die Führungsrolle in der Landesverteidigung zu übernehmen, selbstständig außenpolitische Kontakte pflegte etc.

Im Vergleich dazu hatte sich die Situation der meisten einfachen SA-Mitglieder im Laufe des Jahres 1933 kaum verbessert.34

Innerhalb der SA, sowohl bei „alten Kämpfern“ wie bei den hoffnungsfroh eingetretenen Neu-Mitgliedern, machten sich nun Enttäuschung und Frustration breit, hatte die „Machtergreifung“ doch in den meisten Fällen nicht dazu geführt, dass man rasch einen begehrten Versorgungsposten erhielt. Hinzu kamen starke Spannungen innerhalb der SA-Mitgliedschaft. Die altgedienten Angehörigen sahen in den neuen Mitgliedern häufig Opportunisten und Trittbrettfahrer und reagierten verärgert, wenn Neulingen bei Beförderungen oder der Arbeitsplatzvermittlung der Vorzug gegeben wurde.35

In einem Rundschreiben vom 1. Januar 1934 über die „Stimmung in der SA“ zeigte Röhm Verständnis für die Sorgen der „Alten Kämpfer“: „Der alte SA-Mann, der alle Jahre treu und brav und mit unerhörter Begeisterung seine oft schweren Pflichten erfüllt und ohne zu klagen die Opfer jahrelangen Kampfes willig ertragen hat, fühlt sich mancherorts durch den seit dem denkwürdigen Jahr 1933 erfolgten Zugang von Millionen junger Kämpfer zur SA in den Hintergrund gedrängt.“ Er müsse nun dabei zusehen, „daß andere, die während des Kampfes durch vornehme Zurückhaltung glänzten, in Posten einrückten, die der Kämpfer für sich in Anspruch nimmt“. Hinzu kämen „unfähige Unterführer“, häufig noch nicht lange in der Truppe, die „im rüdestem Kasernenhofton unseligen Angedenkens“ die ihnen unterstellten Männer „verärgern und verletzen“. Zur Abstellung solcher Missstände befahl Röhm, in Zukunft die „alten Kämpfer … bei gleicher Eignung vor den jungen SA-Männern in jedem Falle zu bevorzugen“.36

Auch erwies sich die Integration der aus dem Stahlhelm übergetretenen Männer als schwierig. Es handelte sich um 18- bis 35-jährige ehemalige Stahlhelmer, deren Übernahme in die SA bis zum Oktober 1933 erfolgte, sodann um die „mittlere“ Altersgruppe der 36- bis 45-Jährigen aus dem Stahlhelm, die ab November 1933 eine organisatorisch eigenständige SA-Reserve I bildete, im Januar 1934 aber den SA-Gruppen unterstellt wurde und damit an Eigenständigkeit verlor.

Mit dem massenhaften Eintritt von Stahlhelmern in die SA wurden viele der Spannungen, die bisher zwischen den beiden Organisationen bestanden hatten, nun innerhalb der Sturmabteilung selbst ausgetragen. Denn viele der mittleren Altersgruppe, die nun die SA-Reserve I bildete, waren mit ihrer Eingliederung unzufrieden. Zahlreiche ehemalige Stahlhelm-Führer führten in der SA, so heißt es in einem Bericht der Gestapo, „stellenweise noch ein Sonderleben“, vor allem, „da sie dort zum Teil unter Führer kommen, die ihrem Alter und ihrer militärischen Vorbildung nicht entsprechen“.37 Auch aus der Hamburger SA kamen zahlreiche Berichte über Spannungen im Verhältnis zu den ehemaligen Stahlhelm-Mitgliedern, zum Beispiel wegen Verweigerung des Hitler-Grußes.38 Ein Rundschreiben der SA-Führung vom Juni 1934 stellte beim Stahlhelm „Dünkelhaftigkeit“ und „überhebliches Auftreten“ fest und nannte als Stichwort: „Reaktionäres Sammelbecken“.39

IN DIE SA, die vor 1933 insbesondere arbeitslosen Männern eine Zuflucht geboten hatte, traten auch nach der „Machtergreifung“ überdurchschnittlich viele Erwerblose ein, die sich von der Organisation eine rasche Wiedereingliederung in das Berufsleben erhofften. Eine „Sonderaktion“ für die Angehörigen der „nationalen Wehrverbände“ (SA, SS, Stahlhelm), gemeinsam getragen von Arbeitsämtern, Arbeitgeberverbänden und SA-Führung, sollte dies bewerkstelligen. Doch die Anstrengungen blieben weit hinter den hoch gesteckten Erwartungen zurück, nicht zuletzt deshalb, weil viele SA-Angehörige unterqualifiziert und durch langjährige „Kampfzeit“ in der raubeinigen und halbkriminellen Subkultur der SA-Welt regelmäßiger Beschäftigung im Erwerbsleben schlicht entwöhnt waren.40 So hieß es sichtlich enttäuscht in einem Rundschreiben der SA-Führung, „Alte Kämpfer klagen über schlechte Entlohnung und wenig nationalsozialistisches Verständnis der Arbeitgeber. Bei diesen mitunter wenig Neigung zur Einstellung alter SA-Männer.“41

Seit November 1933 stellte die SA, unterstützt durch Mittel der Arbeitsverwaltung, sogenannte „Technische Lehrstürme“ auf, um arbeitslose SA-Männer wieder auf das Berufsleben vorzubereiten. Anfang 1934 wurden zusätzlich sogenannte „Hilfswerklager“ eingerichtet, in denen Unterstützungsempfänger zusammengefasst wurden.42 Systematisch wurden Gewerbetreibende, Firmen und Kommunalbetriebe um Sachspenden angegangen.43

Gleichzeitig ergriff die SA-Führung verschiedenste Maßnahmen, um die Disziplin in der „Braunen Armee“ zu stärken und die heterogene Mammutorganisation einheitlich auszurichten. Im April verfügte Röhm, alle nach der „Machtergreifung“ in die SA eingetretenen erheblich Vorbestraften wieder zu entfernen, während eine große Zahl der vor 1933 verurteilten SA-Männer ebenfalls ausgeschlossen wurde.44

Außerdem überzog die SA-Führung die Truppe in der ersten Jahreshälfte 1934 mit einer Flut von Anordnungen. Korrigiert werden sollten so unterschiedliche Dinge wie „schlechte Körperhaltung“, „Rücksichtslosigkeiten“ im Straßenverkehr, „Frechheiten in der Kritik“ oder „Einmischung in kirchenpolitische Dinge“.45 Doch ein Befehl Röhms vom 1. Januar 1934, in dem er sich darüber beschwerte, „daß manche meiner letzten Anordnungen teilweise reichlich spät, teilweise überhaupt noch nicht vollzogen wurden“ und er säumige SA-Führer „rücksichtslos zur Rechenschaft ziehen werde“, verdeutlichen, dass seiner Autorität Grenzen gesetzt waren.46