"Davon haben wir nichts gewusst!" - Peter Longerich - E-Book

"Davon haben wir nichts gewusst!" E-Book

Peter Longerich

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Beschreibung

Was wussten die Deutschen über die Ermordung der Juden?

Was wussten die Deutschen vom Holocaust? Wie wurde die nationalsozialistische »Judenpolitik« in der Propaganda des Regimes dargestellt? Wie haben die Menschen auf Informationen und Gerüchte über den systematischen Mord an den Juden Europas reagiert? Diese Fragen gehören zu den zentralen, bisher ungelösten Problemen der Holocaust-Forschung. Auf der Grundlage neuer, bisher nicht ausgewerteter Quellen gibt Peter Longerich überzeugende Antworten.

Peter Longerich gelingt es, aus der Sicht des Historikers Antworten auf die Frage nach dem Wissen der Deutschen über die »Endlösung« und ihre Einstellung zur Judenverfolgung zu geben. Er hat die antisemitische Propaganda des Regimes analysiert, sich mit alliierten Rundfunkprogrammen und Flugblättern befasst, alle noch vorhandenen geheimen NS-Stimmungsberichte zur »Judenfrage« untersucht und zusätzlich Informationen aus Tagebüchern, Gerichtsakten, Aufzeichnungen ausländischer Besucher und anderen Quellen zusammengetragen.
Longerich weist nach, dass die Judenverfolgung im Deutschen Reich nicht nur in aller Öffentlichkeit stattfand, sondern dass das NS-Regime ab Ende 1941 immer wieder gezielte Hinweise auf die »Vernichtung« der Juden gab. Die konkreten Einzelheiten des Massenmordes unterlagen zwar strikter Geheimhaltung, doch diese wurde immer wieder durchbrochen. Durch seine Propagandapolitik versuchte das Regime der Bevölkerung zu signalisieren, dass sie zu Mitwissern und Komplizen eines Verbrechens ungeheuerlichen Ausmaßes geworden und ihr Schicksal auf Gedeih und Verderb mit der Existenz des Regimes verbunden war.

Ein Thema, das nach wie vor die Gemüter erregt und bisher nie schlüssig behandelt wurde.

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Inhaltsverzeichnis
 
Einleitung
Zum Forschungsstand
 
»Öffentlichkeit« und »Volksmeinung« unter der NS-Diktatur
Die Deutschland-Berichte der Sopade: Eine authentische Quelle für die ...
Die offiziellen Stimmungs- und Lageberichte
Thesen zur Interpretation der Berichte
 
Copyright
Einleitung
»Davon haben wir nichts gewusst!« Der Satz ist allgemein bekannt: Es ist die Antwort, die man wohl am häufigsten hört, wenn man Deutsche der älteren Generation befragt, was sie denn als Zeitgenossen seinerzeit über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das NS-Regime in Erfahrung gebracht haben. Ein Satz, der viele Fragen aufwirft.
Nicht selten wird er entschieden oder sogar entrüstet vorgebracht; er dient häufig dazu, den in der Frage nach der damaligen Kenntnis mitschwingenden oder auch nur vermuteten Vorwurf der Mitwisserschaft oder gar Mitschuld zurückzuweisen. Das Subjekt des Satzes, das »wir« - häufig heißt es auch, »man« habe nichts gewusst, selten wird das »ich« gebraucht -, deutet schon darauf hin, dass hier eine kollektive, im Laufe der Zeit zur Abwehr verfestigte Haltung vorliegt.
Doch was genau hat man nicht gewusst? Das »davon« klingt zwar sehr bestimmt, so, als wisse man genau, was man damals nicht gewusst habe - allerdings bezeichnet dieses »davon« etwas, das der Sprecher offenbar nicht näher benennen oder beschreiben will. Handelt es sich um das Grauen der Vernichtungslager, um das Massensterben in Ghettos oder Arbeitslagern, um die Deportationen oder um das Gesamtausmaß der Verfolgung?
Schließlich muss das Verb des Satzes unsere Aufmerksamkeit erregen: Geleugnet wird bezeichnenderweise meist nicht, dass man nicht etwas gehört oder geahnt hätte, sondern das damalige Wissen. Die kategorische Feststellung, man habe nichts gewusst - oder, auf Nachfrage, wirklich nichts gewusst -, schließt indes nicht aus, dass Gerüchte, Hinweise und Teilinformationen über den Judenmord eben doch bekannt waren, die aber, aus den verschiedensten Gründen, flüchtig blieben und sich nicht zu einem Gesamtbild, zum Wissen, verdichteten.
Damit sind bereits einige der zentralen Probleme angesprochen, die in diesem Buch thematisiert werden sollen. Denn tatsächlich gehört die Frage, welche Kenntnis die zeitgenössische deutsche Bevölkerung von der Judenverfolgung hatte und wie sie auf die Verfolgung reagierte, zu den bisher nur unzureichend geklärten Problemen der Holocaust-Forschung. Ihre möglichst präzise Aufhellung ist aber unerlässlich, will man die nach wie vor brennende Frage beantworten, welche Basis die Verfolgung der Juden innerhalb der deutschen Bevölkerung letztlich hatte: War sie primär das Werk eines relativ kleinen und isoliert handelnden Kreises fanatischer Ideologen und konsequenter Schreibtischtäter, oder fand sie in der Bevölkerung breite Zustimmung, ja entsprach sie möglicherweise dem Willen breiter Bevölkerungskreise? Ist es möglich, solche Befunde für die einzelnen Phasen der Verfolgung - Diskriminierung, Segregation, Vertreibung, Deportation und schließlich Massenmord - weiter zu differenzieren? Und was ließe sich auf dieser Grundlage über den allgemeinen Zustand der deutschen Gesellschaft zu dieser Zeit sagen?
Dieses Buch will einen Beitrag zu diesem größeren Themenkomplex leisten, indem es, auf der Basis der heute verfügbaren Informationen, den damaligen Kenntnisstand der deutschen Bevölkerung über die Judenverfolgung möglichst vollständig rekonstruiert und versucht, die damaligen Reaktionen auf diesen Kenntnisstand systematisch zu analysieren. Kenntnis und Reaktion der Bevölkerung, das ist der Ausgangspunkt dieser Untersuchung, lassen sich aber nur dann angemessen erfassen, wenn man sich immer wieder vergegenwärtigt, dass die Judenverfolgung durch das Regime in einem erheblichen Umfang öffentlich stattfand und offen propagiert wurde, ja dass die »Judenfrage« einen zentralen Stellenwert bei den Bemühungen des Regimes besaß, die »Öffentlichkeit« unter der Diktatur immer wieder auf das Regime und seine politisch-ideologischen Ziele hin auszurichten. Diese prinzipielle Öffentlichkeit der Judenverfolgung gilt nicht nur für die Vorkriegszeit, sondern auch für die Phase der Deportationen und Massenmorde in den Jahren 1941 bis 1943, in denen zwar die präzisen Einzelheiten des Mordprogramms als Staatsgeheimnis behandelt wurden, das Regime sich zugleich aber öffentlich dazu bekannte, dass es dabei war, eine radikale, eine finale »Lösung der Judenfrage« zu betreiben.
Wir sind aber erst jetzt, mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende, in der Lage, diese Ausrichtung der von den Nationalsozialisten künstlich hergestellten Öffentlichkeit für den gesamten Zeitraum 1933 bis 1945 nachzuzeichnen - und dieser Umstand bildete eine wesentliche Motivation für die Arbeit an diesem Buch. Es konnte nämlich erstmalig eine Reihe von umfangreichen Quellen herangezogen werden, die unser Wissen über die antijüdische Propaganda des Regimes und ihre Rezeption durch die Bevölkerung erheblich erweitern: Hier sind in erster Linie die bisher durch die Forschung nicht ausgewerteten Protokolle der täglichen Propagandakonferenzen Goebbels’ aus den Jahren 1941/42 zu nennen.1 Sie schließen eine wichtige Lücke: Zusammen mit der erst seit kurzem vorliegenden vollständigen Version der Goebbels-Tagebücher2 sowie den Presseanweisungen des Propagandaministeriums3 erlauben sie eine fast nahtlose Rekonstruktion der Formulierung nationalsozialistischer Propagandarichtlinien in einem für die Judenverfolgung besonders kritischen Zeitraum.
Ergänzt wird die Auswertung dieser internen Quellen vor allem durch eine breite Analyse von Zeitungen, die erstaunliche Diskrepanzen in der allgemein als »uniform« geltenden Presseberichterstattung in Bezug auf die »Judenfrage« aufzeigen wird. Untersucht wurden mehr als zwei Dutzend Zeitungen, davon zwei - das zentrale Parteiorgan Völkischer Beobachter und der in Berlin erscheinende Angriff, die zweitwichtigste Tageszeitung der NSDAP - fast für den gesamten Zeitraum. Die übrigen Blätter wurden für bestimmte, unterschiedlich lange Zeitabschnitte (zum Teil auch nur für Stichproben) konsultiert: Es handelte sich um eine Reihe von regionalen NS-Zeitungen, wobei der in Köln erscheinende Westdeutsche Beobachter, eine der größeren Gauzeitungen der NSDAP, besonders intensiv durchgesehen wurde;4 daneben wurden eine Anzahl »bürgerlicher« Blätter5 sowie zwei katholische Zeitungen6 in die Analyse einbezogen. Für die Kriegszeit kommen noch einige in den besetzten Gebieten erschienene deutsche Zeitungen hinzu,7 ferner die vor allem von Goebbels geförderte Wochenzeitung Das Reich. Andere Propagandamedien - soweit rekonstruierbar - wie Wochenschauen, Spielfilme, Plakate und Rundfunksendungen wurden ebenso berücksichtigt wie die alliierte Propaganda der Kriegszeit, die sich in Rundfunkprogrammen und insbesondere in Flugblättern niederschlug.
Um zu ergründen, welche Wirkung die Propaganda entfaltete, konnte auf die von Otto Dov Kulka und Eberhard Jäckel besorgte Edition aller verfügbaren Stimmungs- und Lageberichte des Regimes zur »Judenfrage« zurückgegriffen werden, die die gesamte Forschung zur Einstellung der deutschen Bevölkerung zu diesem Themenkomplex auf eine neue Basis stellt und in dieser Arbeit erstmalig für den gesamten Zeitraum 1933 bis 1945 ausgewertet wurde.8 Ergänzend herangezogen wurden Berichte von im Untergrund arbeitenden Widerstandsgruppen über die Lage in Deutschland,9 eine Reihe von publizierten Tagebüchern und Briefen sowie verschiedene, recht verstreute Informationen und Beobachtungen, die außerhalb Deutschlands über die Situation unter dem NS-Regime zusammengetragen wurden. Aus grundsätzlichen methodischen Erwägungen wurden nur zeitgenössische Quellen herangezogen; Memoiren und Editionen von Erinnerungstexten wurden daher nicht berücksichtigt.10
Für die Fragestellung dieser Arbeit erwies es sich als außerordentlich fruchtbar, diese verschiedenen Quellenkategorien zur antisemitischen Propaganda und ihrem Widerhall in der Bevölkerung in eine strenge chronologische Ordnung zu bringen. Erst diese Zeitleiste ermöglichte es, das Auf und Ab der antisemitischen Propagandawellen präzise nachzuverfolgen, sie in Verbindung mit der Politik des Regimes zu bringen und zu verstehen, dass die in den offiziellen Stimmungsberichten erhaltenen Informationen über die Haltung und Einstellung der Bevölkerung auch als Bestandteil der vom Regime betriebenen Ausrichtung der Öffentlichkeit zu lesen sind.

Zum Forschungsstand

Zum Thema sind seit den siebziger Jahren eine ganze Reihe von Studien vorgelegt worden. Dieser Forschungsstand soll hier unter zwei Gesichtspunkten referiert werden: Zu welchen Ergebnissen sind die Historikerinnen und Historiker, die sich mit der Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Judenverfolgung beschäftigt haben, gekommen? Und: Auf welcher Quellenbasis und auf Grund welcher Methode sind sie zu diesen Ergebnisse gelangt?
Marlis Steinert, die als Erste die Einstellung der deutschen Bevölkerung während des Krieges umfassend untersucht hat, fällt die »Reaktionslosigkeit und Gleichgültigkeit des deutschen Staatsbürgers gegenüber seinem jüdischen Nachbarn auf«, eine Auffassung, die sich vor allem auf die geringe Zahl von Berichten stützt, die sich hinsichtlich der Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf die Judenverfolgung finden lassen.11 Diese Gleichgültigkeit zeigte sich jedoch nicht nur in Apathie angesichts des jüdischen Schicksals, sondern auch in weitgehender Ablehnung gegenüber den Versuchen der NS-Propaganda, den Judenhass hochzuspielen.12 Die ausgeprägte Indifferenz der Bevölkerungsmehrheit führt Steinert unter anderem auf die Tatsache zurück, dass nur noch wenige Deutsche direkte Kontakte zu Juden hatten; man war in erster Linie mit den eigenen Problemen angesichts des Krieges beschäftigt.13 Neben der breiten Schicht der Indifferenten, Verhetzten und Zustimmenden sieht Steinert eine kleine Gruppe, die sich aktiv an der Verfolgung beteiligte, und eine zahlenmäßig nicht allzu große Schicht von Menschen, die sich schämten, jedoch nichts unternahmen. Nur sehr wenige Menschen halfen den Verfolgten aktiv.14
Was nun das Wissen über die »Endlösung« anbelangt, so ist für Steinert klar, dass für viele Soldaten im Osten die Erschießungen nicht geheim bleiben konnten. Durch Urlauber drangen solche Informationen nach Deutschland.15 Ab Sommer 1943, so Steinert, finde man kaum noch Hinweise darauf, wie die Bevölkerung auf die Verfolgung reagierte.16 Steinert konstatiert, dass »in Deutschland selbst nur ganz wenige über das ungeheure Ausmaß der Verbrechen Bescheid wussten, dass die Propaganda viele Gemüter umnebelt hatte, dass es auch eine große Zahl Ahnungsloser gab. […] Gerüchte, Gerede, Andeutungen über Massenerschießungen waren für zahlreiche Menschen außerdem Vorstellungen, die sich rationalem Begreifen entzogen.«17
Ian Kershaw18 kommt - nach einer eingehenden Untersuchung der antisemitischen Kampagne des Jahres 1935, des Pogroms vom November 1938 und der Phase der Deportation und Massenmorde - zu der Schlussfolgerung, dass die Verfolgung der Juden ein breites Spektrum von Reaktionen hervorgerufen habe: Die Masse der Bevölkerung, geprägt durch antisemitische Vorurteile und mehr oder weniger beeinflusst von der NS-Propaganda, habe gesetzliche Beschränkungen für Juden befürwortet, Gewaltexzesse jedoch abgelehnt. Paranoide Judenhasser seien ebenso in der Minderheit gewesen wie diejenigen, die aus christlichen oder liberalhumanitären Motiven den nationalsozialistischen Rassismus abgelehnt hätten.
Das Hauptziel der NS-Propaganda, die Bevölkerung zu leidenschaftlichem Hass gegen Juden aufzustacheln, sei fehlgeschlagen. Von wenigen Phasen abgesehen, in denen die »Judenfrage« ganz im Vordergrund gestanden habe, sei die Masse der Bevölkerung an diesem Thema nicht interessiert gewesen. Aber gerade in dieser durch Desinteresse und Apathie geprägten Atmosphäre konnte nach Kershaw der radikale Antisemitismus der kleinen Minderheit gedeihen. Es sei dem Regime gelungen, die Juden im breiten Bewusstsein der Bevölkerung zu depersonalisieren.
Innerhalb der NS-Bewegung habe der Antisemitismus mit Sicherheit integrierend gewirkt, für die Beziehung zwischen Volk und Regierung gelte dies jedoch nicht. Hier sei in erster Linie die Attraktivität der vom Regime propagierten »Volksgemeinschaft« - die Vorstellung einer scheinbar sicheren sozialen, politischen und moralischen Ordnung - ausschlaggebend gewesen. Die permanente Radikalisierung der antijüdischen Politik könne daher kaum das Ergebnis populärer Forderungen gewesen sein. In der »Judenfrage« habe das Regime nicht mit einem plebiszitären Mandat, sondern zunehmend autonom gehandelt. Die Geheimhaltung der »Endlösung« sei der wichtigste Beleg dafür, dass das Regime sich darüber auch im Klaren war.
Der schrittweise Ausschluss der Juden aus der Gesellschaft, die Zustimmung weiter Kreise der Bevölkerung zu diesen Maßnahmen, die Dehumanisierung, latente antisemitische Vorurteile und weit verbreitete Indifferenz gegenüber dem Schicksal der Juden seien jedoch wichtige Voraussetzungen für die »Endlösung« gewesen: Sie hätten den radikal-antisemitischen Elementen die notwendige Autonomie verschafft, um die »Endlösung« durchzusetzen. Sarah Gordon bestätigte einige Jahre später Kershaws Befund einer in der Bevölkerung vorherrschenden Indifferenz gegenüber der »Judenfrage«.19
Otto Dov Kulka konnte bereits Anfang der achtziger Jahre auf eine weit umfassendere Sammlung von offiziellen Stimmungs- und Lageberichten zurückgreifen als Ian Kershaw; insbesondere standen ihm damals in großem Umfang Gestapo-Berichte aus dem Institut für Marxismus-Leninismus in Ost-Berlin zur Verfügung, die erst seit 1990 im Bundesarchiv allgemein zugänglich sind.
In seiner Auswertung der Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Nürnberger Gesetze entwickelte Kulka eine Typologie von vier verschiedenen Reaktionen auf die Judenverfolgung, die sich seiner Auffassung nach auf die gesamte Zeit bis 1939 anwenden lässt:20 Erstens Akzeptanz von Segregation und Diskriminierung aus rassistischen Gründen als dauerhafte Grundlage zur »Lösung der Judenfrage«; die Zustimmung zur »Judenpolitik« des Regimes war demnach an strikte Einhaltung gesetzlicher Grundlagen gebunden. Zweitens Bedenken, Kritik, ja sogar Opposition gegen die Rassengesetze sowie gegen die gesamte »Judenpolitik«, vor allem aber gegen »wilde Aktionen« aus politischen, religiösen, aber auch pragmatischen Motiven; Furcht vor ökonomischer Vergeltung gegen Deutschland mochte beispielsweise eine Rolle spielen. Drittens Kritik an der offiziellen antijüdischen Politik als zu moderat, verbunden mit dem Versuch, die antisemitische Politik durch direkte Aktionen weiter zu radikalisieren. Antijüdische Gesetze wurden aus dieser Perspektive vor allem als Ermächtigung zu einer weiteren Verschärfung der Judenverfolgung verstanden. Viertens Indifferenz und Passivität, ohne dass sich aus den Quellen eine Begründung für diese Haltung entnehmen ließe.
In einem weiteren Aufsatz, den er zusammen mit seinem Kollegen Aron Rodrigue verfasste, kritisiert Kulka denn auch Kershaws Gebrauch der Begriffe Indifferenz und Depersonalisierung. Für beide Autoren ist klar, dass die Nürnberger Gesetze keineswegs mit überwiegender Indifferenz hingenommen worden seien; vielmehr sei der in den Berichten zum Ausdruck kommende, wachsende Druck aus der Partei, der Bevölkerung und den Eliten wesentlich für die Entscheidung gewesen, die antijüdischen Gesetze zu erlassen.21 Ob die in den Berichten angegebenen pragmatischen Begründungen für die Kritik an der »Judenpolitik« des Regimes zutrafen oder nur vorgeschoben waren, um moralische Kritik zu tarnen, spielt nach Ansicht von Kulka/Rodrigue keine Rolle. Wichtig sei vielmehr, dass diese pragmatischen Argumente - die Tendenz, die »Judenfrage« zu »depersonalisieren« - in den Berichten vorherrschend waren und damit den politischen Entscheidungsprozess mit geformt hätten.22
Kulka betrachtet die Radikalisierung des politischen Entscheidungsprozesses durch die Stimmungsberichterstattung als fortlaufenden Prozess, der auch in der Phase der »Endlösung« nicht zum Stillstand gekommen sei. Die Berichte sind demnach für ihn auch ein wichtiges Zeugnis für die Mitverantwortung breiter Bevölkerungskreise für den Entschluss zum Völkermord.23 Mehr noch: Dass in der Phase der »Endlösung« in den Berichten Existenz, Verfolgung und Vernichtung der Juden so gut wie nicht vorkommen, wertet Kulka in einem weiteren Beitrag als Beleg für seine These einer »nationalen, stillschweigenden Verschwörung«. Sofern die Bevölkerung überhaupt auf die »Endlösung« reagiert habe, beschränke sich dies entweder auf eine rein passive Beobachtung der Deportationen oder auf präzise Beobachtungen und Kommentare zum Schicksal der Deportierten und der antijüdischen Politik des Regimes - dies gelte insbesondere für die ersten Monate des Jahres 1943.24 Schockierend sei vor allem, dass, abgesehen von einigen Ausnahmen, Kritik an dem Mordprozess nicht mit moralischen Argumenten vorgetragen wurde, sondern lediglich mit instrumentellen und pragmatischen Begründungen; dabei habe die Befürchtung, man könne selbst für den Massenmord zur Rechenschaft gezogen werden, im Vordergrund gestanden.
Zu dieser »pragmatischen« Einstellung passe das große Interesse der Bevölkerung an der Übernahme so genannter Judenwohnungen; dass die Menschen gleichzeitig eher desinteressiert auf die scharf-antisemitische Propaganda des Regimes reagiert hätten, zeige, dass die vom Regime geforderte »Lösung der Judenfrage« im Bewusstein der Bevölkerungsmehrheit verankert gewesen sei, noch bevor die eigentlichen Morde begonnen hätten.25
Die »Indifferenz« wird hier also als Konsens der Mehrheit mit dem Ziel der »Vernichtung« interpretiert: wie diese »Vernichtung« konkret aussah, ob damit Emigration, Segregation, Deportation oder Massenmord gemeint war, habe demnach für die Mehrheit der Deutschen keine Rolle gespielt.26 Verstünde man (wie Kershaw) demgegenüber unter Indifferenz einfach nur Desinteresse, würde man, so Kulka, dem Phänomen in seiner Komplexität nicht gerecht: Tatsächlich sei die Einstellung, dass die »Judenfrage« irgendwie gelöst werden müsse, ebenso weit verbreitet gewesen wie die Haltung, man könne es dem Regime überlassen, die Art und Weise dieser »Lösung« zu bestimmen.27
Indifferenz, so spitzen Kulka und Rodrigue schließlich das Argument entscheidend zu, sei demnach in Wahrheit »passive Komplizenschaft« gewesen. 28 Beide haben damit die Mitverantwortung der deutschen Bevölkerung für den Holocaust auf eine Weise betont, die einige Jahre später durch Daniel Goldhagen mit seiner These von den »willigen Vollstreckern« und dem »eliminatorischen Antisemitismus« der Deutschen wieder aufgegriffen und weiter ausgearbeitet wurde.29 Allerdings bleibt die These von Kulka/Rodrigue weitgehend spekulativ: Sie beruht in erster Linie auf einer sehr extensiven Interpretation des Schweigens, das in den Quellen zur Reaktion auf den Holocaust vorherrscht.
Ian Kershaw hat auf die Kritik Kulkas und Rodrigues in einem weiteren Aufsatz, der auf einer erheblich breiteren Quellenbasis als seine früheren Beiträge beruht, geantwortet.30 Mit guten Gründen stellt er hier klar, dass seiner Ansicht nach die Schlussfolgerung, die »Indifferenz« der deutschen Bevölkerung sei Ausdruck passiver Komplizenschaft, überzogen ist.31 Kershaw hält nichts davon, die von ihm als schlichtes Desinteresse an Juden charakterisierte »Depersonalisierung« nun, wie von Kulka/ Rodrigue vorgeschlagen, als Internalisierung eines durch die Propaganda abstrakt vorgebrachten Vernichtungsgedankens zu verstehen.32 Vielmehr seien der weit verbreitete latente Antisemitismus und das Fehlen einer in der Gesellschaft verankerten, organisierten Abwehr des Antisemitismus vor 1933 dafür verantwortlich, dass die antisemitische Politik des Regimes sich auf eine fast unaufhaltsame Weise radikalisieren konnte.33
David Bankiers Studie über die »öffentliche Meinung« und die »Endlösung« hat zunächst einmal den Vorzug, dass sie auf einer bis dahin nicht erreichten breiten Quellengrundlage beruht.34 Bankier konnte sich nicht nur auf die damals noch unveröffentlichte, allerdings seither weiterhin ergänzte Sammlung Kulkas stützen, sondern auch auf zahlreiche weitere Quellen unterschiedlichster Provenienz: zum großen Teil Stellungnahmen von Einzelpersonen aus (teilweise unveröffentlichten) Memoiren, Tagebüchern, Briefen, vor allem aber aus den Akten des britischen Foreign Office, das abgefangene Briefe auswertete und Interviews mit Flüchtlingen und aus Deutschland zurückkommenden Reisenden führte. Viele dieser Äußerungen, die Bankier durch seine Pionierarbeit erstmals für die Forschung erschlossen hat, werden auch in diesem Buch herangezogen werden.
Grundsätzlich steht aber auch Bankier vor dem Problem, dass namentlich die Quellen zur Informiertheit und Einstellung der deutschen Bevölkerung bezüglich der »Endlösung« spärlich und zum Teil erheblich interpretierbar sind. Er ist daher in seinen allgemeinen Schlussfolgerungen auch entsprechend vorsichtig und abwägend. Bankier betont insgesamt - trotz weit verbreiteter Unzufriedenheit - die »breite und grundsätzliche Zustimmung« der Bevölkerung zur Politik des Regimes.35 Dennoch sei »die Behandlung der Judenfrage, wenn auch nicht der Antisemitismus selbst, zu einem Reibungspunkt zwischen den dynamischvitalistischen Elementen des Nationalsozialismus und den nationalistisch-konservativen Elitegruppen« geworden. Der »Konsens, die Juden aus Deutschland loszuwerden«, sei dabei jedoch nicht in Frage gestellt worden. Die Differenzen hätten sich vielmehr an den ergriffenen Maßnahmen entzündet. »Insgesamt scheint es, als seien die kritischen Reaktionen auf die antisemitische Politik durch persönliche Verärgerungen und Verteidigung von Interessen veranlasst worden, nicht aber durch humanitäre Rücksichten.«36
Auf der Grundlage der vorliegenden Zeugnisse sei eindeutig klar, »dass weite Kreise der deutschen Bevölkerung, darunter Juden ebenso wie Nichtjuden, entweder gewusst oder geahnt haben, was in Polen und Russland vor sich ging«.37 Während die Kenntnis von Massenerschießungen weit verbreitet war, sickerten über die Vernichtungslager relativ wenig konkrete Informationen durch.38 Dass jedoch unterschiedliche Gerüchte über Morde mit Hilfe von Gas kursierten, zeige, dass es ein weit verbreitetes Bedürfnis gegeben habe, den Mangel an Informationen durch eigene Vorstellungen zu ersetzen.39 Wegen der monströsen und beispiellosen Dimension des Verbrechens hätten allerdings selbst Gegner des Regimes vorhandene Informationen kaum zu einem Gesamtbild zusammensetzen können.40
Bankiers Schlussfolgerung lautet: »Die Politik der Deportationen und der Massenmorde konnte vonstatten gehen, weil die Öffentlichkeit kein Empfinden mit dem Schicksal der Juden zeigte. Ja, es ist wahr: Während der Kriegszeit blieben die, welche eine andere Meinung vertraten, wegen der Angst vor dem Staatsterror rein passiv; die Verhärtung der Haltungen verwischte die moralischen Grenzen; die soziale Vereinzelung machte eine kollektive Reaktion von vornherein unmöglich. Aber es ist ebenso wahr, dass bei den meisten Deutschen, wegen ihrer ›traditionell‹ antisemitischen Haltung, aus der heraus sie die Judenverfolgung nicht prinzipiell ablehnten, die Widerstandskraft gegen die Maschinerie des Völkermords sehr gering gewesen ist.« Um sein Gewissen zu beschwichtigen, habe man Informationen zu verdrängen versucht, um Schuldgefühle nicht aufkommen zu lassen, habe man die »Flucht ins Private und ins Nichtwissen« ergriffen. 41
Das Paradox42 zwischen der Geheimhaltung des Vernichtungsprogramms und der Tatsache, dass unter anderem führende Nationalsozialisten durchaus öffentlich auf den im Gang befindlichen Massenmord hinwiesen, löst Bankier mit der These, das Regime habe auf diese Weise versucht, die allgemeine Bevölkerung in die Verantwortung für das Verbrechen mit einzubeziehen, um so Ängste vor Rache und Vergeltung zur Aufstachelung eines fanatischen Widerstandswillens zu nutzen.43 Aus eben diesem Grund habe sich die verstärkte antisemitische Propaganda jedoch seit Ende 1941, vor allem aber seit 1943 als kontraproduktiv erwiesen: Aus Angst, nach Kriegsende von den Siegern kollektiv zur Rechenschaft gezogen zu werden, sei die Bevölkerung mehr und mehr vom offiziell verkündeten Antisemitismus abgerückt.
Die weitgehende Indifferenz der Bevölkerung gegenüber der Verfolgung erklärt Bankier somit - im Unterschied zu Kershaw oder Kulka - nicht mit Gleichgültigkeit oder schweigender Zustimmung, sondern aus dem Unwillen der Menschen, »ihre Beteiligung am Begehen von Unrecht zuzugeben«. Man habe sich selbst eingeredet, als angeblich Unwissende gegen Vergeltung und Rache gefeit zu sein.44
Robert Gellately befasst sich ebenfalls mit der - seiner Ansicht nach überwiegend zustimmenden - Reaktion der deutschen Bevölkerung auf Repression und Terror des NS-Regimes und kommt in diesem Zusammenhang auch auf die öffentliche Darstellung und die Wahrnehmung der Judenverfolgung zu sprechen. Gellately weist dabei auf die Bedeutung einer wichtigen Quelle hin, die Historiker bisher erstaunlicherweise weitgehend vernachlässigt haben: die in NS-Deutschland erschienenen Zeitungen. 45
Eric Johnson beschäftigt sich in seinem Buch über den nationalsozialistischen Terror - einer Regionalstudie, die sehr stark auf die Kooperation zwischen Behörden und Bevölkerung abstellt - in größerem Umfang mit der Judenverfolgung;46 dabei behandelt er in einem Überblickskapitel die Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf die Judenverfolgung und lenkt darin unter anderem den Blick auf die alliierten Rundfunksendungen als Informationsquelle zu diesem Thema.
Neben weiteren Überblicken und einer Reihe von älteren Arbeiten, die durch neuere Studien als überholt gelten können,47 behandelt eine Reihe von Aufsätzen wesentliche Aspekte der Frage nach der Einstellung der deutschen Bevölkerung gegenüber der Judenverfolgung. Werner Angress hat anhand amtlicher Berichte zur »Judenfrage« aus dem Jahre 1935 die Konfliktlage zwischen NSDAP-Anhängern der »Einzelaktionen« und den Beamten herausgearbeitet; diese, obwohl antisemitisch eingestellt, seien in erster Linie an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung interessiert gewesen.48 Ursula Büttner betont in einer Arbeit, die sich hauptsächlich auf die Zeit vor Beginn der Deportationen bezieht, das Verhalten der Deutschen im Hinblick auf die Verfolgungsmaßnahmen sei vor allem durch »Gleichgültigkeit, beflissenes oder überzeugtes Mittun, selten Anteilnahme und Hilfsbereitschaft« gekennzeichnet gewesen.49 Volker Ullrich hat in einem Überblick zahlreiche Beispiele für die seinerzeit greifbaren Informationen über den Mord an den Juden zusammengetragen und mit weit verbreiteten Abwehr- und Verdrängungsmechanismen angesichts dieses Themas kontrastiert.50
Frank Bajohr weist in einem Aufsatz über die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Deportationen auf das generell große Interesse hin, das die Massenverschleppungen auf örtlicher Ebene auslösten.51 Die Tatsache, dass viele Menschen sich angesichts der Deportationen öffentlich weder positiv noch negativ äußerten, könne auf stillschweigendes Einverständnis, Gleichgültigkeit oder auch »verlegene Distanz« hindeuten, eine möglicherweise mehrdeutige Verhaltensweise, die mit dem Ausdruck »Indifferenz« nur inadäquat erfasst werde.52 Die Einstellung der Bevölkerung zu den Deportationen habe zwischen »aktiver Zustimmung, unauffälliger Zurückhaltung und kritischer Distanz« geschwankt.53 Der Konsens zwischen Regime und Bevölkerung in der »Judenfrage« sei nach 1938/39 »langsam erodiert«, die von der Propaganda aufgestellte Parole, man habe mit der »Endlösung« der »Judenfrage« alle Brücken hinter sich abgebrochen, habe nicht, wie vom Regime erwartet, zu fanatischem Widerstand bis zuletzt geführt. Sie sei jedoch auch nicht ohne Wirkung geblieben: Das »sichtbar schlechte Gewissen« in Teilen der Bevölkerung sei Ausdruck eines Gefühls, man habe »eine Grenze überschritten«, die eine »Rückkehr zum Status quo ante« nicht mehr erlaubte.54
Hans Mommsen und Dieter Obst betonen wiederum die Indifferenz der allgemeinen Bevölkerung gegenüber der »Judenfrage«.55 Zwar habe man gewalttätige Aktionen gegen die Juden, wie etwa die »Reichskristallnacht«, 56 abgelehnt, jedoch vor allem deshalb, weil man die Beschädigung »arischer« Interessen befürchtet habe. Da die Mehrheit den Antisemitismus prinzipiell nicht missbilligte, habe das Regime die Juden erfolgreich isolieren können.57 Während des Krieges habe die Bevölkerung der »Judenfrage« trotz teilweise intensiver antijüdischer Propaganda kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt.58 Die Missbilligung der Kennzeichnung im Herbst 1941 und die gemischten Reaktionen auf die Deportationen zeigten jedoch, dass das Regime die Wirkung der antisemitischen Indoktrination der Bevölkerung überschätzt habe.59
Dass die Erörterung der Genozidfrage - die Exekutionen in Osteuropa waren weithin bekannt - nach dem Leichenfund von Katyn im Frühjahr 1943 in der Öffentlichkeit völlig zurückgetreten sei, liegt nach Ansicht der Autoren daran, dass »die Bevölkerung von der Bewältigung der immer stärker den individuellen Lebensbereich erfassenden Kriegseinwirkungen weitgehend absorbiert war«. Hinzu komme eine »fatalistische Abstumpfung«.60 Insgesamt könne man von einer »kollektiven Verdrängung des Genozids« sprechen,61 obwohl ein »dumpfes Bewusstsein des Unrechts« weit verbreitet gewesen sei. Ähnlich wie David Bankier kommen Mommsen und Obst zu dem Schluss, dass die Mehrheit durch die Hinnahme der Deportationen beziehungsweise durch Zustimmung zu schweigenden Komplizen eines - allerdings in seinen wahren Dimensionen nur ungefähr erahnten - Verbrechens geworden sei.62
Weitere Arbeiten haben speziell die Reaktionen der Bevölkerung auf die »Kristallnacht« untersucht und übereinstimmend die weitgehende Ablehnung der Gewalttaten hervorgehoben.63 Seit einigen Jahren wird zudem das Thema der antisemitischen Gewalt unter dem NS-Regime untersucht. Verschiedene Autoren haben darauf aufmerksam gemacht, dass der Gewalttaten verübende nationalsozialistische Mob einen erheblichen Teil der männlichen Bevölkerung repräsentierte und dass insbesondere Jugendliche dazu neigten, sich an solchen von Parteiaktivisten organisierten Gewalttaten zu beteiligen beziehungsweise ihnen offen zuzustimmen. 64 Daneben liegt eine große Zahl von meist regional oder thematisch ausgerichteten Editionen und Studien zur Stimmungsberichterstattung in der NS-Diktatur vor.65
Angesichts dieser zum Teil weit auseinander klaffenden Befunde und relativ großen Forschungslücken stellt sich die Frage nach den dokumentarischen, methodischen und begrifflichen Grundlagen des bis dato erreichten Forschungsstandes. Offensichtlich ist, dass die meisten der hier behandelten Arbeiten vor allem auf den Stimmungs- und Lageberichten beruhen, die durch verschiedene Dienststellen des NS-Regimes erstellt wurden. Und die meisten Autorinnen und Autoren gehen davon aus, dass diese Stimmungs- und Lageberichte ein mehr oder weniger authentisches Bild der tatsächlichen Einstellung der Bevölkerung vermitteln, wobei zum Teil eine Reihe von weiteren Quellen - in unterschiedlichem Umfang - als Kontrollmaterial herangezogen wird.
Die Ermittlung der »Stimmung« durch Partei- und Staatsdienststellen habe dabei dem Zweck gedient, der Führung ein objektives Bild der Volksmeinung zu vermitteln, das in den politischen Entscheidungsprozess eingeflossen sei. Nach dieser Auffassung - sie entspricht im Übrigen dem Bild, das der Gründer des SD-Inlandsnachrichtendienstes, Otto Ohlendorf, in seinen Nachkriegsaussagen entwarf66 - handelt es sich also bei der Berichterstattung zur Stimmung grundsätzlich um eine (wenn auch nur rudimentäre) Frühform der Demoskopie.67
Selbstverständlich sind sich die Forscher, die diese Ansicht vertreten - zu ihnen gehören neben Otto Dov Kulka etwa Heinz Boberach und David Bankier -, darüber im Klaren, dass diese frühe »Meinungsforschung« gravierende methodische Defizite aufweist, die zu erheblichen Verzerrungen in der Berichterstattung geführt haben, und sie konzidieren in unterschiedlichem Umfang, dass die Stimmungsberichterstattung auch anderen, nicht auf die Erstellung eines objektiven Meinungsbildes gerichteten Zielsetzungen unterlag. Trotzdem halten sie die Stimmungsberichterstattung für mehr oder weniger »zuverlässig«.68
Ian Kershaw betrachtet diese Frage grundsätzlich kritischer. Seiner Meinung nach bildeten die Stimmungsberichte »fast ausschließlich die ereignisbezogene Meinungsäußerung und Stimmung der Bevölkerung, nicht die Meinungsbildung aufgrund der allgemeinen und permanenten Propaganda- oder Schulungsaktivität des NS-Regimes« ab. Daher lasse sich auf Basis dieser Quellenkategorie »fast keine Feststellung treffen, wie die in Zeitungen, Versammlungen oder auf anderem Wege betriebene antisemitsche Propaganda nach 1933 von der Bevölkerung aufgenommen wurde«.69 Auch Franz Dröge weist in seiner Untersuchung über die Gerüchtebildung im Zweiten Weltkrieg auf die Kontextabhängigkeit der Stimmungsberichterstattung hin: So sei etwa die Gestapo an der »Stimmung« nur insoweit interessiert gewesen, »als sie von Gegnergruppen bestimmt oder beeinflusst zu sein erscheint oder zu werden droht«.70
Kershaw wirft außerdem die Frage auf, ob die Berichte nicht grundsätzlich ein schöngefärbtes Bild der »Stimmung« wiedergeben, da viele Bürger kritische Äußerungen aus Angst unterdrückt hätten und bei den Berichterstattern möglicherweise die Tendenz im Vordergrund gestanden habe, ihre Vorgesetzten mit »positiven« Berichten zu versorgen. Grundsätzlich seien »positive« Berichte schwieriger zu interpretieren als solche, in denen Kritik unmittelbar wiedergegeben wird.71 Auch Frank Bajohr bezweifelt die »Objektivität« der Berichte, da sie sich durchgängig »regimespezifischer Sprachregelungen und -muster« bedienten, eigene Perspektiven und politische Intentionen in die Berichterstattung einbrachten und - vor allem auf höhere Ebene - zu »Tabuisierung« und »Schönfärberei« neigten.72
Ohne objektiven Maßstab, an dem sich die subjektiv eingefärbten Berichte messen ließen, so räumt Kershaw ein, seien die interpretatorischen Probleme in einem methodisch strengen Sinne auch nicht lösbar. Weiterhelfen könnten Vergleiche unterschiedlicher Quellenkategorien, aber letzten Endes bleibe nichts anderes übrig, als sich bei der Interpretation auf die Vertrautheit des Historikers mit dem Gesamtmaterial zu verlassen sowie auf seine Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen.73
Mir scheint, dass man in dieser kritischen Sichtweise des Materials noch einen Schritt weitergehen sollte als Kershaw und andere Forscher. Alle der hier vorgestellten Autoren gehen nämlich von der Annahme aus, dass es auch unter dem NS-Regime so etwas wie eine »öffentliche Meinung«, eine »Volksmeinung«, wie Kershaw es nennt, oder eine »Publikumsmeinung« (Marlis Steinert)74 gegeben habe, dass also auch unter den Bedingungen der Diktatur umfassende, kollektive Meinungsbildungsprozesse vonstatten gingen. Tatsächlich wissen wir aber viel zu wenig darüber, wie sich überhaupt kollektive Stimmungen, Meinungen und Einstellungen unter der Diktatur bildeten, und wir haben die methodischen Schwierigkeiten, solche Vorgänge retrospektiv zu messen, bisher zu wenig diskutiert.
Unabdingbare Voraussetzung für eine Analyse des uns vorliegenden, umfangreichen Berichtsmaterials ist daher zunächst einmal eine kritische Würdigung der Ausgangsbedingungen: Wie lassen sich Prozesse kollektiver Informationsaufnahme und Meinungsbildung unter den Bedingungen der Diktatur mit erheblichem Abstand überhaupt rekonstruieren, und in welcher Terminologie lassen sie sich darstellen? Gab es eigentlich so etwas wie eine »öffentliche Meinung« oder eine »Volksstimmung« hinter der Fassade der vom Regime dirigierten Öffentlichkeit? Wenn ja: Wie sind Volksstimmung, Öffentlichkeit und öffentliche Meinung unter den Bedingungen der Diktatur zu definieren?
Und wie ist im Zuge dieser Quellenkritik das Thema zu deuten, das in der bisherigen Diskussion ganz im Zentrum stand: das auffallende Schweigen der Berichte zu wesentlichen Aspekten der Judenverfolgung, insbesondere in der Phase der »Endlösung«? Spiegelt dieses Schweigen wirklich die »Indifferenz« der Bevölkerung zur »Judenpolitik« des Regimes wider, und wie wäre diese »Indifferenz« zu interpretieren?
Auf diese wichtigen methodischen Fragen wird zunächst in einem eigenständigen Kapitel eingegangen, bevor wir uns den einzelnen Phasen der Judenverfolgung zwischen 1933 und 1945 zuwenden.
»Öffentlichkeit« und »Volksmeinung« unter der NS-Diktatur
Unter Öffentlichkeit versteht man im Allgemeinen eine im Prinzip jedermann zugängliche Sphäre, in der Individuen als Mitglieder eines »Publikums« relativ frei miteinander über allgemein interessierende Themen kommunizieren. Ungehinderter Zugang zu Informationen, freie Meinungsäußerung und gegenseitige Duldung unterschiedlicher Ansichten konstituieren Öffentlichkeit als ein »Kommunikationsforum für alle, die etwas sagen oder das, was andere sagen, hören wollen«.1
Öffentlichkeit, so hat Jürgen Habermas in seiner grundlegenden Studie zum »Strukturwandel der Öffentlichkeit« herausgearbeitet, wird seit den Anfängen bürgerlich-liberalen Denkens als Grundvoraussetzung für die Bildung »öffentlicher Meinung« begriffen, die sich wiederum als kollektiver und diskursiv voranschreitender Lernprozess darstellen lässt. Die somit auf rational nachvollziehbare Weise zustande kommende öffentliche Meinung gilt in der modernen, westlich geprägten Gesellschaft als unverzichtbare »kritische Instanz im Verhältnis zur normativ gebotenen Publizität des Vollzugs politischer und sozialer Gewalt«.2
Dieses der Vorstellungswelt des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts abgewonnene Idealmodell eines »räsonierenden Publikums« kann im Zeitalter der Massenmedien nur mit großen Einschränkungen aufrechterhalten werden. Wie Habermas gezeigt hat, gerät die öffentliche Meinung im Zuge des Strukturwandels der Öffentlichkeit immer stärker unter den Einfluss von organisierten Interessengruppen, Medienkonzernen und kommerziellen Medienstrategien und läuft daher Gefahr, als bloße »rezeptive Instanz im Verhältnis zur demonstrativ und manipulativ verbreiteten Publizität« für vielfältige Interessen in Dienst genommen zu werden.3
Wie immer man das tatsächliche Ausmaß moderner Meinungsmanipulation einschätzt: Wichtig bleibt, dass die modernen demokratischen Gesellschaften weiterhin an dem Anspruch festhalten, sie verfügten über das Regulativ einer funktionierenden Öffentlichkeit und einer öffentlich vor sich gehenden Meinungsbildung; ja, dieser Anspruch stellt eine der wesentlichen Legitimationsquellen demokratisch verfasster Gesellschaften dar.
Demgegenüber, das dürften diese kurzen Überlegungen bereits verdeutlicht haben, erscheint der Begriff der »Öffentlichkeit« in Bezug auf den Nationalsozialismus als vollkommen unangebracht. Denn wie andere moderne Diktaturen schlossen die Nationalsozialisten den unbeschränkten Zugang zu Informationen, die freie Meinungsäußerung und die konkurrierende Pluralität von Meinungen aus Prinzip aus.
Wenn also hier der Begriff »Öffentlichkeit« in Bezug auf den Nationalsozialismus benutzt wird, dann ist damit die durch das Regime inszenierte, kontrollierte und manipulierte Öffentlichkeit gemeint, mithin der Resonanzboden für seine Propaganda. Öffentlichkeit im Nationalsozialismus ist demnach der Raum, in dem die durch das Regime propagierten Leitbilder und Deutungsmuster reproduziert wurden, eine Sphäre, in der die akklamatorische Zustimmung zur Politik des Regimes demonstriert wurde.
Trotz des manipulativen Charakters dieser mit aller Gewalt »hergestellten« Öffentlichkeit spricht einiges dafür, den Begriff selbst nicht aufzugeben. Nicht nur weil die Nationalsozialisten den Begriff Öffentlichkeit weiterhin benutzten;4 wesentlicher ist, dass die durch den Nationalsozialismus manipulativ hergestellte Öffentlichkeit - die öffentlich dokumentierte Zustimmung der Massen zur Politik des Regimes - zu den Grundpfeilern der Diktatur gehörte. In diesem Sinne fand unter dem NS-Regime tatsächlich ein weitreichender »Strukturwandel der Öffentlichkeit« statt.
Was die von den Nationalsozialisten hergestellte Öffentlichkeit anbelangt, so ist nicht nur an die Kontrolle der Massenmedien - Presse, Kino, Rundfunk, Werbung et cetera - zu denken, sondern auch daran, dass das öffentliche Erscheinungsbild des so genannten Dritten Reiches systematisch nationalsozialistischen Normen angepasst wurde. Die Nationalsozialisten verwandten zum einen große Anstrengungen darauf, den öffentlichen Raum durch ihre Rituale und Symbole zu beherrschen: sowohl temporär durch die Straßen-Dekoration anlässlich nationalsozialistischer Feiern und durch die symbolische »Ausrichtung« großer Massen bei Appellen und Aufmärschen als auch durch die Umgestaltung öffentlicher Räume vermittels einer repräsentativen Herrschaftsarchitektur, welche die Formierung der Massen permanent zum Ausdruck bringen sollte.5 Zum anderen verlangte das Regime der allgemeinen Bevölkerung im Alltag bestimmte Verhaltensweisen ab, durch die diese - öffentlich - ihre Zustimmung zum Regime dokumentierte: mittels Abzeichen und Uniformen, durch den öffentlich entbotenen »Hitler-Gruß«, das Hissen der Hakenkreuzflagge, das erzwungene Innehalten und Zuhören während öffentlicher Rundfunkübertragungen, den Besuch von Parteiveranstaltungen, durch Spendenbereitschaft bei Straßensammlungen et cetera.
Doch die Demonstration von Zustimmung war nur die eine Seite der Medaille; die Regulierung der Öffentlichkeit umfasste auch die konsequente Verfolgung abweichender Meinungsäußerungen, einschließlich der Ausschaltung alternativer Informationsquellen, also die Weitergabe unliebsamer Gerüchte und Witze, die Verbreitung nicht autorisierter Nachrichtendienste, das Einsickern von unwillkommenen Informationen aus dem Ausland. Das galt erst recht während des Krieges, als die Weitergabe von Nachrichten ausländischer Rundfunksender mit der Todesstrafe geahndet werden konnte. Vorgegangen wurde nicht nur gegen offene, verdeckte oder symbolische regimekritische Stellungnahmen, sondern das Regime demonstrierte seine Herrschaft über die Öffentlichkeit auch durch seine Bemühungen, als provokant beziehungsweise »undeutsch« empfundene Kleidung oder unkonventionelles Auftreten öffentlich zu verbannen - dies jedoch nicht immer mit Erfolg.6
Selbstverständlich wäre es naiv anzunehmen, dass solche abweichenden Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen vollkommen oder auch nur annähernd vollkommen hätten unterdrückt werden können. Aus mehr als zwei Jahrzehnten Forschung zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der NS-Diktatur, zur »Volksmeinung« jener Zeit wissen wir, dass die Bevölkerung des Deutschen Reiches zwischen 1933 und 1945 nicht im Zustand totalitärer Uniformität lebte, sondern dass es in einem erheblichen Umfang Unzufriedenheiten, abweichende Meinungen und divergierende Verhaltensweisen gab. Es war jedoch ein besonderes Charakteristikum der deutschen Gesellschaft unter dem NS-Regime, dass solche Bekundungen von Widerspruch vor allem im privaten, höchstens im halböffentlichen Bereich (also auf den Kreis von Freunden und Kollegen, den Stammtisch, die unmittelbare Nachbarschaft beschränkt) erfolgten beziehungsweise innerhalb noch bestehender Strukturen traditioneller sozialer Milieus, die sich gegenüber der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft behaupten konnten - also etwa innerhalb von Pfarrgemeinden, in dörflichen Nachbarschaften, in Zirkeln der konservativen Elite, in bürgerlichen Verkehrskreisen, in nicht zerstören Reststrukturen des sozialistischen Milieus. Hier war es möglich, die Verfolgung entweder als Verletzung christlich-humanitärer Grundsätze, als mit den hohen Standards deutscher Kultur unvereinbar oder als Ablenkung vom Klassenkampf zu kritisieren.
Diesen in der Halböffentlichkeit überdauernder Milieus nachweisbaren abweichenden Meinungen war gemeinsam, dass sie die Judenverfolgung in traditionelle, aus der Zeit vor 1933 stammende Erklärungsmuster oder moralische Referenzsysteme einordneten. Das erforderte nur ein Minimum an Kommunikation und war daher auch unter den Bedingungen der Diktatur zu bewerkstelligen. Für die Informanten der Stimmungsberichterstattung war dieser sich an tradierfähige politisch-moralische Wertsysteme anlehnende, auf gegenseitige Bestätigung abzielende Meinungsaustausch nur in gewissem Umfang zugänglich; daher berichteten sie denn auch vornehmlich über Opposition aus dem kirchlichen, bildungsbürgerlichen oder ländlichen Milieu, aber auffällig weniger aus dem ihnen eher verschlossenen, im Wesentlichen in den Untergrund abgedrängten Milieu der sozialistischen Arbeiterbewegung.
Allerdings blieb die Rezeption der Judenverfolgung dann auch an solche traditionellen Erklärungsmuster und Referenzsysteme gebunden - sie blieb statisch, konnte die qualitativ neuartige Dimension der NS-Judenverfolgung nur unzureichend erfassen und bot keine Basis zur Formierung eines gegen die Verfolgung gerichteten Diskurses. Alle Versuche, Widerspruch zur Politik des Regimes über den Rahmen solcher halböffentlichen Situationen beziehungsweise über Milieugrenzen hinaus öffentlich darzustellen, mussten am nationalsozialistischen Monopolanspruch auf Öffentlichkeit scheitern. Sie wurden in der Regel durch den Repressionsapparat erbittert verfolgt.
Die nationalsozialistische Kontrolle der Öffentlichkeit schloss aber nicht nur das Hervortreten von gegnerischen Stimmen weitgehend aus, sondern sie war darauf angelegt, eine breiter fundierte oppositionelle, alternative oder zumindest unabhängige Meinungsbildung von vornherein erheblich zu erschweren, wenn nicht gänzlich zu verhindern. Denn unter den Bedingungen der Diktatur fehlte neben dem Zugang zu Nachrichten außerhalb des offiziellen Informationsangebots auch das zur oppositionellen oder nur unabhängigen Meinungsbildung unerlässliche Element des relativ unbeschränkten Meinungsaustauschs. Es funktionierten gerade jene Mechanismen nicht, die für einen in der Öffentlichkeit vor sich gehenden Meinungsbildungsprozess typisch und wesentlich sind: die Chance, sich ungehindert gesprächsweise zu vergewissern, dass die eigenen Ansichten von anderen geteilt werden, die Möglichkeit, unterschiedliche Meinungsvarianten »auf einen Nenner« zu bringen; die Bildung von begrifflichen Abstraktionen, Schlagwörtern, Parolen, die Zuspitzung von argumentativen Gegensätzen, die Gelegenheit, die eigene Argumentation im Lichte von Gegenargumenten zu differenzieren, et cetera.
Die Lektüre von Tagebüchern und Briefen jener Zeit offenbart beispielsweise die Schwierigkeiten der weitgehend voneinander isolierten Individuen, der Flut von Informationen und autoritativen Deutungen der offiziellen Propaganda eine Gegenposition entgegenzustellen, von der man sicher sein konnte, dass sie von vielen geteilt wurde - ein Atomisierungseffekt, der auf die Monopolisierung des öffentlichen Meinungsaustauschs durch das Regime zurückzuführen ist. »Wer kann«, so Victor Klemperers bezeichnende Klage kurz vor Kriegsbeginn 1939, »Volksstimmung beurteilen, bei 80 Millionen, Unterbindung der Presse und allgemeiner Angst vor dem Mundauftun?«7
Unweigerlich stellt sich vor diesem Hintergrund die prinzipielle Frage, ob eine solche alternative Meinungsbildung - beziehungsweise die »tatsächliche« Stimmung und Einstellung der Bevölkerung hinter der Fassade der vom Regime künstlich hergestellten »Öffentlichkeit« - überhaupt erfasst werden kann. Kommt der Versuch, die Reaktion der deutschen »öffentlichen Meinung« oder der »deutschen Gesellschaft« auf die Judenverfolgung zu ermitteln, die »Volksmeinung« herauszufinden, nicht der Jagd nach einem Phantom gleich? Die »deutsche Gesellschaft«, tatsächlich atomisiert in Individuen, Familien, nachbarliche Gemeinschaften, Freundescliquen und Milieureste, verfügte gar nicht mehr über ausreichende Kommunikationskanäle und diskursive Mechanismen, um unabhängig vom Regime selbstständig ein nachweisbares Meinungsbild herzustellen, »öffentlich« und deutlich sichtbar manifestiert. Ist es also überhaupt sinnvoll, von der Existenz eines solchen alternativen, unabhängig von der Öffentlichkeitspolitik des Regimes vorhandenen Meinungsbildes, einer »Volksmeinung«, auszugehen?8
Diese Schwierigkeiten, die »wirkliche« Stimmung und Einstellung der Bevölkerung zu erfassen, stellen sich nicht nur dem rückschauenden Betrachter, sondern sie waren bereits für die zeitgenössischen Beobachter gravierend: Die Spitzel von SD und Gestapo sahen sich wie die Vertrauensleute der Exil-SPD mit demselben Problem konfrontiert. In den außerhalb Deutschlands zusammengestellten Berichten der Sopade wird dieses Dilemma bereits 1934 auf den Punkt gebracht: »Es gibt in Deutschland nicht nur keine öffentliche Meinung, es gibt auch keine Gruppenmeinung mehr. Das Individuum ist vereinzelt, denkt und urteilt für sich. Das gilt selbst für die Mitglieder der NSDAP. Die Zwangszusammenfassung in einer Organisation bedeutet in Wahrheit eine Atomisierung der politischen Beurteilung und Gesinnung.«9 Es sei daher besser, so die Sopade 1936, statt von einer öffentlichen von einer »nichtöffentlichen Meinung« zu sprechen. Welchen Wert haben Quellen wie diese dann überhaupt für unsere Fragestellung?10

Die Deutschland-Berichte der Sopade: Eine authentische Quelle für die »Judenpolitik« des Regimes?

Die »Deutschland-Berichte der Sopade«, des nach Prag ausgewichenen Vorstands der Exil-SPD, erschienen zwischen April 1934 und April 1940 und boten monatliche Zusammenstellungen von Berichten und Analysen über die Situation in Deutschland. Durch die 1980 erschienene Reprint-Ausgabe sind diese Berichte weit verbreitet und werden relativ häufig als Quelle zur Einstellung der Bevölkerung im nationalsozialistischen Deutschland zitiert. Als Dokumente, die vom »anderen Deutschland« erstellt wurden, scheinen sie den Berichten, die zur gleichen Zeit durch Dienststellen des NS-Regimes verfasst wurden, in mancherlei Hinsicht überlegen. Sie eröffnen vermeintlich einen vergleichsweisen unverstellten Blick auf den deutschen Alltag.11
Für den quellenkritischen Umgang mit den Deutschland-Berichten ist es jedoch unerlässlich, sich mit den Entstehungsbedingungen dieser zeitgenössischen Publikation und den Absichten ihrer Urheber näher zu beschäftigen. Dokumente hierzu sind in ausreichendem Umfang vorhanden: Sie befinden sich im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn.
Redakteur der Deutschland-Berichte der Sopade war der 1902 geborene Erich Rinner, zwischen 1925 und 1933 in verschiedenen Funktionen als Referent für die Sozialdemokratische Reichstagsfraktion tätig und seit April 1933 Mitglied des Parteivorstands der SPD.12 Ihm zur Hand ging Fritz Heine, der außerdem die Widerstandsaktivitäten im Reich koordinierte.
Die Deutschland-Berichte kamen folgendermaßen zustande: Ausgangsmaterial waren Beobachtungen von Anhängern der Sozialdemokratischen Partei, die diese - in mündlicher oder schriftlicher Form - an ein Netz von insgesamt elf Grenzsekretären und anderen Vertrauensleuten weitergaben, das die Exil-SPD im benachbarten Ausland unterhielt.13 Vor ihrer Veröffentlichung wurden diese Berichte einem zweistufigen Auswahl- und Redaktionsprozess (zunächst durch die Grenzsekretäre, dann durch Rinner und Heine) unterzogen. Wesentlich ist aber vor allem, dass ein großer Teil der in den Deutschland-Berichten nachzulesenden Texte erst jenseits der deutschen Grenze entstand: Sie wurden von den Grenzsekretären oder von Rinner und Heine selbst auf der Grundlage eingehender Befragungen der angereisten Informanten geschrieben. Dabei wurde ein standardisierter Fragebogen verwendet, und Grenzsekretäre, Vertrauensleute und Informanten wurden angehalten, ihre Berichterstattung nach Möglichkeit nach einem vorgegebenen Schema abzufassen.14
Nach welchen Kriterien wurden die Berichte redigiert beziehungsweise die mündlichen Berichte der Informanten überhaupt in schriftliche Form gebracht? Zunächst ging es um die Sicherheit der Informanten: Durch stilistische Überarbeitungen sollte den Berichten ein allzu individueller Charakter genommen werden, Ortsnamen und andere Details wurden fortgelassen oder geändert. Vor allem aber waren sich Rinner und Heine darüber im Klaren, dass die Berichterstattung ihrer Informanten notwendigerweise einseitig war, da diese aus dem sozialdemokratischen Milieu stammten; sie verkehrten hauptsächlich mit Regimegegnern oder Unzufriedenen und verfügten kaum über intime Kenntnis der Verhältnisse in anderen Sozialmilieus. Daher, so Rinner und Heine, schätzten ihre Informanten die Situation in Deutschland zu optimistisch ein; die beiden waren deshalb bemüht, die Texte in dieser Hinsicht abzumildern.
Um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie Rinner auf die Entstehung der Berichte Einfluss nahm, sei aus einer seiner zahlreichen Instruktionen an einen der Grenzsekretäre zitiert: »Die Erfahrungen der letzten Monate in allen anderen Bezirken haben gezeigt, dass man sich bei der Berichterstattung nicht allein auf schriftliche Mitteilungen verlassen kann. Es ist vielmehr wichtig, diese schriftlichen Berichte laufend dadurch zu ergänzen, dass die mündlichen Berichte, die die Freunde bei Grenzzusammentreffen machen, aufgezeichnet werden. […] Wir bemühen uns, durch zweckmäßige Fragestellung jeden Freund möglichst ausführlich zum Reden zu bringen und dann das Gesagte möglichst unverfälscht schriftlich niederzulegen. […] Man muss in Rechnung stellen, dass das Ausdrucksvermögen und die Schreibgewandtheit unserer meisten Freunde nicht groß genug ist, als dass sie alles das wirklich selbst zu Papier bringen könnten, was sie zu sagen haben.«15
Die redaktionelle Arbeit in Prag umfasste jedoch nicht nur die Auswahl und Bearbeitung der Texte, sondern auch ihre Zusammenstellung: Rinner und Heine wollten durch die schwerpunktmäßige Zusammenfassung mehrerer Berichte in einzelnen Abschnitten der »Deutschland-Berichte« bewusst Wirkung erzielen. 16
Die Authentizität der Deutschland-Berichte war parteiintern nicht unumstritten: Wilhelm Sollmann, der ehemalige Chefredakteur der Deutschen Freiheit, der sozialdemokratischen Zeitung, die bis zum Übergang des Saargebiets an Deutschland in Saarbrücken erschien, äußerte sich im April 1936 gegenüber Rinner freimütig, die »Berichterstattung aus dem Reich [sei] beinahe wertlos. […] Die tapferen Genossen, die drüben ihre bewundernswerte illegale Arbeit leisten, sind zum allergrößten Teil für eine wirklich wertvolle Berichterstattung ungeeignet. Es sind Leute, die nur in einem sehr kleinen Umkreise leben und ihrer Vorbildung und ihrer Tätigkeit nach nicht in der Lage sind, die großen entscheidenden Zusammenhänge zu erkennen. Was sie einschicken, sind fast ausnahmslos kleine und kleinliche Ereignisse, die etwa nach der Art ausgewählt werden, wie man früher für den lokalen und Provinzteil eines Parteiblattes berichtete.«17
Rinner konzidierte dies in einem Antwortschreiben und erläuterte: »Die Verfolgung der großen entscheidenden Zusammenhänge ist meiner Meinung nach unsere Aufgabe, eine Aufgabe, die nach meiner persönlichen Erfahrung selbst von qualifizierten Menschen eher draußen als drinnen erfüllt werden kann. […] Entscheidend ist, dass bei der Beschaffung solcher Einzelmeldungen dreierlei beachtet wird: 1.) Es müssen wirkliche Tatsachen sein, nicht bloß ›Eindrücke‹, Stimmungsbericht usw., 2.) es müssen möglichst viel [sic!] Mitteilungen sein, damit sich aus der Fülle der Einzelheiten ein Gesamtbild formen lässt, 3.) die Beschaffung der Nachrichten muss möglichst systematisch und planmäßig erfolgen, soweit die entgegenstehenden Schwierigkeiten es irgendwie zulassen.«18 In einem früheren Scheiben an Sollmann hatte Rinner bereits deutlich gemacht, er gehe davon aus, »dass jede Emigration, je länger sie dauert, der Gefahr ausgesetzt ist, einer Illusionspolitik zu verfallen und demgemäß nicht mehr ernst genommen zu werden. Ich setze mir mit den Berichten bewusst die Aufgabe, das Abgleiten in eine solche Illusionspolitik zu verhindern und damit gleichzeitig zu verhindern, dass uns schließlich dieselbe mitleidige Geringschätzung zuteil wird, wie sie anderen Emigrationen nicht erspart worden ist.«19
Rinner verstand seine redaktionelle Arbeit also vor allem als ein notwendiges Korrektiv an dem ihm vorliegenden Basismaterial20 - zumal, und das ist für die quellenkritische Analyse der Deutschland-Berichte entscheidend, die Berichte zur Publikation vorgesehen waren. Sie erfuhren eine relativ große Verbreitung: Neben der internen Information für den Parteivorstand und verkleinerten Sonderausgaben, die für die Genossen ins Reich geschmuggelt wurden, erschienen die vollständigen Berichte in einer Auflage von mehreren hundert Exemplaren, seit 1937 beziehungsweise 1938 auch in (gekürzten) englischen und französischen Ausgaben.21 Zu den Abonnenten gehörten vor allem Zeitungsredaktionen, Publizisten, wissenschaftliche Einrichtungen und einzelne Akademiker, sozialistische Organisationen und Multiplikatoren.22
Es handelte sich im Wesentlichen also um ein publizistisches Produkt, man versuchte, eine sich authentisch gebende, das heißt direkt aus Deutschland kommende Alternative zu den NS-Nachrichtendiensten und zur Berichterstattung der internationalen Presse aus Deutschland aufzubauen. Es ging darum, so setzte Rinner Sollmann im März 1936 auseinander, zu »einer indirekten Beeinflussung der öffentlichen Meinung in der Welt dadurch zu gelangen, dass sie [die Berichte; P. L.] an maßgebende Persönlichkeiten und Institutionen herankommen.«23 Die Deutschland-Berichte sind damit Teil des verzweifelten Kampfes der deutschen Emigration gegen die relativ starke Stellung des NS-Propagandaapparates auf den internationalen Nachrichtenmärkten und gegen die Mitte der dreißiger Jahre zunehmenden Tendenzen der nichtdeutschen Medien, auch auf die »positiven« Aspekte des NS-Systems einzugehen und die »Normalität« des »Dritten Reiches« zu betonen. Sie sind ein Stück aufklärerischer Gegenpropaganda, und es wäre vor diesem Hintergrund naiv, davon auszugehen, dass es den Herausgebern der Deutschland-Berichte nur darum gegangen wäre, einfach ein getreues Bild der Situation in Deutschland zu entwerfen.
Neben den propagandistischen Motiven spielten außerdem finanzielle Erwägungen eine Rolle. Die Berichte ließen sich nur aufrechterhalten, wenn möglichst viele Abonnenten gewonnen wurden, denn aus Eigenmitteln des Exilvorstandes waren sie nicht zu finanzieren. Dazu noch einmal Rinner in seinem Brief an Sollmann: »Wir versuchen z.B. jetzt, die Weltpresse für unsere Berichterstattung zu interessieren und sie zu veranlassen, unsere Berichte laufend als Informationsquellen zu benutzen. Das hat natürlich nur Aussicht auf Erfolg, wenn wir nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ vorbildliche Arbeit leisten. Schließlich sind die Berichte schon heute der wesentlichste Tätigkeitsnachweis für uns, und damit ist nicht ausgeschlossen, dass sie auch eine gewisse finanzielle Bedeutung für uns bekommen können.«
Das wirkte sich unter anderem auf die Berichterstattung der Deutschland-Berichte über die Judenverfolgung aus. So schrieb Rinner im Januar 1938 an den im Londoner Exil lebenden Salomon Adler-Rudel, der bis 1934 eine führende Rolle in der jüdischen Wohlfahrtsarbeit in Deutschland gespielt hatte, er glaube, »dass wir mit unserer Berichterstattung über den Terror gegen die Juden vor allem in England und Amerika an Kreise herankommen, die von der jüdischen Aufklärungsarbeit nicht unmittelbar erfasst werden. Andererseits kann ich nicht leugnen, dass die neue Form des Juden-Terrors es auch unseren Berichterstattern schwer macht, zuverlässige Tatsachenberichte beizubringen, als bisher.« Rinner bat daher Adler-Rudel, ihm seinerseits »Tatsachenberichte« zur Verfügung zu stellen, die als »wertvolle Ergänzung unseres Berichtsmaterials« dienen könnten.24
Der Brief macht weiter deutlich, dass Rinner nach Wegen suchte, durch eine thematische Schwerpunktverlagerung der Deutschland-Berichte deren Abonnentenkreis zu vergrößern. Er ist ein wesentlicher Hinweis darauf, dass eine Zunahme der Beiträge zur »Judenfrage« in den Deutschland-Berichten nicht unbedingt in erster Linie etwas über die zunehmende Relevanz dieser Frage für die NS-Politik oder für die deutsche Bevölkerung aussagt; solche Veränderungen können auch auf die Publikationsstrategie des Herausgebers Erich Rinner zurückgehen.

Die offiziellen Stimmungs- und Lageberichte

Den größten Quellenfundus stellen jedoch die Stimmungs- und Lageberichte dar, die von verschiedenen Dienststellen des Regimes erstellt wurden. Bevor wir ihren Wert erörtern, sollen zunächst einmal die wichtigsten Berichtsarten kurz vorgestellt werden.
Die Gestapo-Berichte: Im Zuge des Aufbaus der Geheimen Staatspolizei und ihrer Herauslösung aus der übrigen Polizei und inneren Verwaltung wurde bereits im Jahre 1933 ein umfangreiches Berichtswesen eingeführt. Im Februar 1933 verpflichtete das preußische Innenministerium die politischen Landeskriminalpolizeistellen - aus denen die Gestapostellen hervorgehen sollten -, dem Landeskriminalamt für die politische Polizei, dem späteren Geheimen Staatspolizeiamt (Gestapa), »sämtliche Beobachtungen und Feststellungen politischer Art, die nicht rein örtlicher Natur sind«, zu melden;25 kurz darauf wurde der Rhythmus auf zwei Berichte pro Monat festgelegt,26 es scheint sich aber bald eine monatliche Berichterstattung eingebürgert zu haben.27
Außerdem mussten seit August 1933 »Ereignismeldungen« über alle politischen Straftaten mit Toten oder Verletzten sowie über alle Angriffe auf die NSDAP verfasst werden.28 Das Berichtswesen wurde im Dezember 1933 neu geregelt, indem eine bereits für November 1933 versuchsweise eingeführte monatliche Lageberichterstattung für die Zukunft für verbindlich erklärt wurde.29
Nach der Übernahme des Gestapa durch Himmler im April 1934 führte dessen Stellvertreter Heydrich im folgenden Monat die Erstellung von »Tagesberichten« durch die Stapostellen ein. Diesen war jeweils am 1. jeden Monats eine allgemeine Übersicht über die Stimmung der Bevölkerung, die politische Lage und den Stand der öffentlichen Sicherheit anzufügen. Das vorgegebene Gliederungsschema enthielt auch den Punkt »Juden und Freimaurer«.30
Am 8. April 1936 ließ Heydrich die Berichterstattung der Gestapo auf Wunsch des Preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring einstellen. 31 Dieser hatte kritisiert, in der Berichterstattung würden »vielfach vereinzelte Unzuträglichkeiten oder örtliche Schwierigkeiten unnötig in den Vordergrund gestellt oder auch örtlich begrenzte Erscheinungen verallgemeinert«. Da die Berichte einem größeren Personenkreis zugänglich seien, »entsteht so die Gefahr, dass die Lageberichte selbst zur Verschlechterung der Stimmung beitragen«. Nicht nur das »grandiose Wahlergebnis« - der so genannten Reichstagswahlen vom März 1933 - beweise, »dass das deutsche Volk die Grundgedanken der Politik des Führers und Reichskanzlers durchaus erfasst hat, sie restlos bejaht und in keiner Weise geneigt ist, sich durch die großenteils unvermeidbaren Unannehmlichkeiten des täglichen Lebens in seinem Vertrauen zum Führer erschüttern zu lassen«. Hinzu komme, dass »die Partei die Stimmung im Volke weit besser kennt und beurteilen kann, als dies der Bürokratie der Behörden möglich ist«.
An einer systematischen Meinungsbefragung im Sinne der modernen Demoskopie hatte Göring kein Interesse. Ihm ging es vielmehr um die Ausrichtung des äußeren Erscheinungsbildes des »Dritten Reiches« an nationalsozialistischen Normen. Ihre primäre Aufgabe, an diesem Prozess positiv mitzuwirken und die Stimmung zu heben, hatte die Berichterstattung nur unzureichend erfüllt; stattdessen hatte sie sich zu einem Forum für Informationen und Auffassungen über bestimmte Missstände, zu einer Art Ersatz-Öffentlichkeit entwickelt.
Die Gestapo-Berichte enthalten eine Fülle von Details: nicht nur zahlreiche Informationen zur Judenverfolgung, sondern auch, als Bestandteil der umfassend angelegten »Gegnerbeobachtung«, die Reaktionen tatsächlicher oder potenzieller Gegner auf die Verfolgung der Juden. Nach dem Ende der monatlichen Lageberichte im Frühjahr 1936 wurde die Berichterstattung der Gestapo im Übrigen durch Ereignismeldungen und Tagesmeldungen ausgebaut.32
Die Berichte der Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten: Mit den Gestapo-Berichten waren Reporte der inneren Verwaltung verkoppelt. Die preußischen Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten wurden durch einen Erlass vom Mai 1933 angewiesen, periodisch an das Preußische Innenministerium und an das Geheime Staatspolizeiamt zu berichten. 33 Nachdem Göring im Juli 1934 bestimmt hatte, dass die Gestapo-Berichte in Kopie auch an die Ober- und Regierungspräsidenten zu senden waren, übernahmen die Präsidenten diese vielfach in ihre Berichte.34 Ebenfalls im Juli 1934 führte das Reichsinnenministerium die direkte Berichterstattung der preußischen Ober- und Regierungspräsidenten sowie der Innenministerien der übrigen Länder an das Ministerium ein.35
Die gesamte Berichterstattung der mittleren Verwaltungsbehörden wurde jedoch wie die Gestapo-Berichte im April 1936 auf Grund der bereits erwähnten Entscheidung Görings eingestellt. Nicht betroffen von dieser Regelung war Bayern, das traditionell über eine eigenständige periodische Berichterstattung der Mittelbehörden verfügte. Die Berichte der Bayerischen Regierungspräsidenten liegen für den gesamten Zeitraum 1933 bis 1945 fast vollständig vor. Sie wurden bis Juli 1934 halbmonatlich, dann monatlich erstellt. Monatsberichte der Bayerischen Politischen Polizei sind darüber hinaus für den Zeitraum Januar 1936 bis November 1937 überliefert.36
Lageberichte der Justiz: Auf mündliche Anordnung des Reichsjustizministers Gürtner vom 23. September 1935 und eine schriftliche Verfügung vom 9. Dezember 1935 hin erstellten die Generalstaatsanwälte und die Präsidenten der Oberlandesgerichte abwechselnd jeweils zweimonatlich Berichte, in denen insbesondere die Entwicklung der Kriminalität, das Verhältnis der Justiz zur Partei und die Lage der Justiz behandelt wurden.37 Diese Berichte dienten der politischen Orientierung des Justizministers und wurden bis zum Ende des Krieges fortgesetzt, allerdings seit 1942 nur noch in Abständen von jeweils vier Monaten. Neben Berichten aus der Vorkriegszeit, die für eine Reihe von Regionen gut dokumentiert sind,38 ist ein Großteil der Berichte für die Jahre 1940 bis 1944 erhalten.39
Die Berichterstattung der Justiz insgesamt ist als Versuch zu sehen, die Zerstörung des Rechtsstaates durch die NSDAP und die schrittweise Entmachtung der Justiz zu dokumentieren. In Bezug auf die »Judenpolitik« des Regimes wurde besonderes intensiv registriert, inwieweit die Parteiorganisation versuchte, etwa durch Aufputschen der Stimmung oder durch »Aktionen« die gegen Juden gerichteten Verfolgungsmaßnahmen der Justizbehörden zu beeinflussen oder zu konterkarieren. Je nach politischer Einstellung der Behördenchefs fielen diese Berichte daher höchst unterschiedlich aus; der subjektive Faktor ist auch deswegen besonders hoch zu veranschlagen, weil die Justizberichte nicht wie die der anderen berichterstattenden Organisationen einen mehrstufigen Redaktionsprozess durchliefen.40
SD-Berichte: 1937 begann der Sicherheitsdienst der SS (SD) mit einer systematischen Berichterstattung über die allgemeine Lage. Ab dem 15. Februar 1937 wurden Halbmonatsberichte - die ab Januar 1938 durch Monatsberichte ersetzt wurden - und Vierteljahresberichte erstellt. Die ersten Berichte waren jedoch nach Einschätzung der SD-Zentrale ungenügend. 41
Der Leiter der Zentralabteilung II 1 kritisierte im Juni 1937, die Oberabschnitte hätten »einzelne Fälle als symptomatisch für die gesamte Lage gedeutet, bisweilen sogar aus vermuteten Einzelfällen die Lage konstruiert«. 42 In einer weiteren Stellungnahme der Zentrale wurde zum einen kritisiert, die Lageberichte enthielten »vielfach allgemeine Behauptungen und Werturteile, persönliche Meinungen des Referenten, Verallgemeinerungen, Bezugnahmen, Fehlanzeigen, SD-interne Vorgänge, ungenaue Zeitangaben, Flüchtigkeit in der Bearbeitung, Versuch, Politik zu treiben, oder sie bestehen aus einer willkürlichen Aneinanderreihung von Einzelfällen, ohne dass dabei bemerkt wird, ob es sich um symptomatische oder Ausnahmefälle handelt, auch Mitteilungen aus Ministerialblättern und Fachzeitschriften über Dinge, die längst bekannt und überholt sind«. Hinzu kam aber ein weiterer Punkt: Die Berichte waren in ihrer Gesamttendenz zu negativ. »Da fernerhin die Oberabschnitte in der Hauptsache negative Dinge melden, insbesondere die Stimmung nur von dieser Seite her beurteilen, erhält die tatsächliche Lage eine falsche, zumindest aber schiefe Würdigung. Denn auf diese Weise wird lediglich die Wirkung gegnerischer Tätigkeit oder die negative Auswirkung von Maßnahmen des Staates oder der Partei dargestellt, nicht aber die tatsächliche Lage in ihrer Totalität, wozu unbedingt das positive Geschehen gehört.«43
Ab Oktober 1938 erstellte die Zentrale dann aus den täglich bei ihr einlaufenden Meldungen der SD-Abschnitte und Oberabschnitte regelmäßig - meist im Abstand von zwei oder drei Tagen erscheinende - Berichte zur innenpolitischen Lage, die im Dezember 1939 in Meldungen aus dem Reich umbenannt wurden. Sie wurden im Juni 1943 auf Intervention Goebbels’ durch die auf einen erheblich kleineren Bezieherkreis zugeschnittenen SD-Berichte zur Inlandsfrage abgelöst; im Juli 1944 wurde die regelmäßige Berichterstattung des SD ganz eingestellt.44
Wir verfügen über eine Reihe von Unterlagen, die Einblicke in die Arbeitsweise des SD erlauben. So hieß es in einer Arbeitsanweisung des SD-Leitabschnitts Stuttgart vom 12. Oktober 1940 an die V-Männer, jeder müsse »überall, in seiner Familie, seinem Freundes- und Bekanntenkreis und vor allem an seiner Arbeitsstätte jede Gelegenheit wahrnehmen, um durch Gespräche in unauffälliger Form die tatsächliche, stimmungsmäßige Auswirkung aller wichtigen außen- und innenpolitischen Vorgänge und Maßnahmen zu erfahren«. Darüber hinaus böten die »Unterhaltungen der Volksgenossen in den Zügen (Arbeiterzügen), Straßenbahnen, in Geschäften, bei Friseuren, an Zeitungsständen, auf behördlichen Dienststellen (Lebensmittel- und Bezugsscheinstellen, Arbeitsämtern, Rathäusern usw.), auf Wochenmärkten, in den Lokalen, in Betrieben und Kantinen aufschlussreiche Anhaltspunkte in reicher Fülle, die vielfach noch zu wenig beachtet werden«.45 Der SD unterhielt neben seinen etwa 3000 hauptamtlichen Mitarbeitern ein Netzwerk von circa 30 000 nebenamtlichen Informanten, die speziell auf die Beobachtung der »Volksmeinung« angesetzt waren.46 Dabei wurde im Einzelnen - je nach Funktion und Einschätzung der Zuverlässigkeit - zwischen Zubringern, Agenten, V-Leuten, (nebenamtlichen) Mitarbeitern und Beobachtern unterschieden. 47 In so genannten SD-Arbeitskreisen wurden offensichtlich Richtlinien für die Berichterstattung ausgegeben und besprochen.48
Das Berichtswesen der NSDAP: Am 21. Dezember 1934 gab der Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß, Richtlinien für die Erstellung monatlicher »Tätigkeits- und Stimmungsberichte« durch die Gauleiter heraus.49 Im Oktober 1938 ordnete Heß die Erstellung von monatlichen »politischen Lageberichten der Hoheitsträger« an, für die er ein umfangreiches, verbindliches Gliederungsschema einführte.50 Die Berichte, so Heß, sollten sich durch eine »ausführliche, ungeschminkte Schilderung der allgemeinen Stimmung in der Bevölkerung« auszeichnen.
Parteiberichte sind bis hinunter zur Ebene der Ortsgruppen nachweisbar. 51 Innerhalb der Kreisleitungen erstellten, entsprechend der Heß-Anordnung vom Oktober 1938, auch die jeweiligen Fachämter52 ihre Reporte, die wiederum in das allgemeine Berichtswesen der Partei eingingen, aber auch als Grundlage für die eigenständigen Berichtssysteme der Gliederungen und Verbände beziehungsweise der jeweiligen Gau- und Reichsämter der Partei genutzt wurden. So gab es etwa ein umfangreiches Berichtswesen des Hauptamtes für Kommunalpolitik; auch Berichtssysteme der Hauptämter für Schulung, für Rassenpolitik und für Volksgesundheit lassen sich bis hinunter zur Kreisebene rekonstruieren.53
In unserem Zusammenhang von besonderem Interesse ist das Berichtssystem der Reichspropagandaleitung. Den Goebbels-Tagebüchern ist zu entnehmen, dass der Propagandaminister den jeweils vierzehntägigen Berichten der insgesamt 42 Gaupropagandaämter (Stand 1941) größte Aufmerksamkeit widmete; er maß diesen Stimmungsberichten weitaus größere Bedeutung zu als beispielsweise den Übersichten des SD, und wir werden sehen, wie diese Lektüre Goebbels insbesondere während der Kriegszeit veranlasste, die Gestaltung der antisemitischen Propaganda zu ändern. Aber auch für diese Berichte gilt, dass sie von der Zentrale zurückgewiesen wurden, wenn ihre Tendenz zu negativ schien. So beschwerte sich das Propagandaministerium am 27. Februar 1943 in einem Rundschreiben bei den Gaupropagandaämtern, es seien in letzter Zeit verstärkt Berichte eingereicht worden, »in denen aus nichtigen Anlässen oder belanglosen Vorfällen auf die schlechte Stimmung gewisser Kreise geschlossen wurde. Diese keineswegs typischen Stimmungserscheinungen sollten besser im eigenen Bereich mit den Mitteln der Kampfzeit beseitigt werden, anstatt sie hierher zu berichten …«54 Im Übrigen - und das ist durchaus charakterisch für die vielfach nur bruchstückhafte Überlieferung - scheint kein einziger dieser Berichte der Gaupropagandaleitungen erhalten zu sein; es finden sich lediglich einige Berichte von Kreispropagandaämtern.55
Unter den der NSDAP angeschlossenen Verbänden war vor allem das Berichtswesen der DAF von Bedeutung. Die DAF unterhielt ein eigenes, mehrstufiges System, das bis hinunter zu den »Blockobmännern« der Organisation reichte und insbesondere die Situation in den Betrieben erfassen sollte. Geführt wurden diese Berichterstatter durch ein Amt »Information« im Zentralbüro der DAF, das in den Gauwaltungen der DAF mit eigenen Referaten vertreten war. Dieses Zentralbüro und seine Gau-Vertreter hielten engen Kontakt mit der Gestapo und dem SD, bis die gesamte Organisation Anfang 1938 dem Spitzelapparat des SD einverleibt wurde.56
Die Partei-Kanzlei erstellte aus diesem Material »Auszüge aus den Berichten der Gauleitungen u.a. Dienststellen«; sie sind für das Jahr 1943 im Wochenrhythmus nachweisbar.57 Die bei der Partei-Kanzlei gesammelten Berichte bildeten häufig die Grundlage für Interventionen bei staatlichen Stellen. Man wird davon ausgehen müssen, dass das gesamte Berichtswesen der NSDAP vor allem die Funktion hatte, Material zu sammeln, um den Machtanspruch der Partei gegenüber staatlichen Stellen zu untermauern. Gerade die Partei-Berichterstattung wird man vorwiegend als linientreu und schönfärberisch bezeichnen müssen. Die meist geringe Qualität stand jedoch in bemerkenswertem Gegensatz zur Quantität: Die Gesamtproduktion des bis auf die Ortsebene reichenden und im Monatsrhythmus arbeitenden, weit gefächerten Berichtswesens der NSDAP dürfte für den Gesamtzeitraum von 1933 bis 1945 in der Größenordnung von mehreren Millionen Berichten liegen. Erhalten sind davon einige hundert.

Thesen zur Interpretation der Berichte

Wie lassen sich diese von den verschiedenen Dienststellen »Dritten Reiches« erstellten Berichte deuten? Kann man sie tatsächlich als quasi demoskopisches Material vor der Erfindung der modernen Meinungsbefragung lesen, wie ein großer Teil der zu unserem Themenbereich arbeitenden Forscher es, wie wir gesehen haben, angenommen hat?
Meiner Ansicht nach: nein. Meine wesentlichen Einwände fasse ich in vier Thesen zusammen:
Erstens: Die zeitgenössischen Berichte konnten die tatsächliche »Stimmung« oder die »Meinungsbildung« nicht erfassen, da sie - verglichen mit modernen Formen der Demoskopie - methodisch völlig unterentwickelt waren. Obwohl durchaus Anstrengungen zur objektiven Berichterstattung unternommen wurden, gaben die Berichte, die aus der Perspektive der »teilnehmenden Beobachtung« erstellt wurden, in erster Linie subjektive Eindrücke der Beobachter wieder; repräsentativ konnten sie jedoch in keiner Weise sein.