Wannseekonferenz - Peter Longerich - E-Book

Wannseekonferenz E-Book

Peter Longerich

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Beschreibung

80. Jahrestag der Wannseekonferenz: »Gekonnt und mit viel Detailwissen führt Longerich den Leser in die dunkle Welt monströser Mordabsichten mitten im Zweiten Weltkrieg.« Süddeutsche Zeitung

Am 20. Januar 1942 kamen fünfzehn hochrangige Vertreter des NS-Staates auf Einladung von Reinhard Heydrich in einer luxuriösen Villa am Wannsee zusammen, um über die »Endlösung« der »Judenfrage« zu beraten: Man entschied, so dokumentiert es das Protokoll, insgesamt elf Millionen Menschen zu deportieren, sie mörderischer Zwangsarbeit auszusetzen und die Überlebenden und Nichtarbeitsfähigen auf andere Weise ums Leben zu bringen. Peter Longerich, einer der angesehensten Historiker der NS-Geschichte, zeigt, wie die Führungsinstanz des »Dritten Reiches« aus einer vagen Absicht zur Vernichtung der Juden ein konkretes Mordprogramm entwickelte und welch hohe Bedeutung der Wannseekonferenz innerhalb des Holocaust zukommt.

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Peter Longerich

Wannseekonferenz

Der Weg zur »Endlösung«

Pantheon

Peter Longerich, einer der angesehensten Historiker der NS-Geschichte, zeigt, warum der Wannseekonferenz innerhalb der Geschichte des Holocaust eine Schlüsselrolle zukommt: Zum einen spiegelt sie ein radikales Umdenken der Führungsinstanzen des »Dritten Reichs« über das Ziel und die Methoden der »Endlösung« wider, zum anderen lässt sie deutlich werden, in welchem Umfang die Ermordung der europäischen Juden das Ergebnis einer arbeitsteiligen Kooperation von SS und NS-Verwaltungsapparat voraussetzte. In seiner historischen Verortung der Wannseekonferenz sowie der anschaulichen Interpretation des Protokolls gelingt es Longerich auf überzeugende Weise, den Entscheidungsprozess, der zur Ermordung der europäischen Juden führte, präzise zu rekonstruieren und die Motive der Täter in ein neues Licht zu stellen.

Mit dem vollständigen, vom Autor kommentierten Protokoll der Konferenz

»Peter Longerich ist einer der besten Kenner des ›Dritten Reichs‹ und des Holocaust.«

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Das Protokoll der Wannseekonferenz (S. 92 – 126) wurde abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes, Berlin (PAAA, R 100857, Bl. 166 – 180). Einsehbar ist das Dokument auf der Homepage des Hauses der Wannsee-Konferenz www.ghwk.de.
Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.
November 2016
Copyright © 2016 by Pantheon Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München, unter Verwendung einer Abbildung von picture-alliance/dpa-Report Satz: Ditta Ahmadi, BerlinReproduktionen: Aigner, Berlin

ISBN 978-3-641-19977-7V003

www.pantheon-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

Inhalt

PROLOG

Eine Besprechung mit anschließendem Frühstück

Der Ort

Die erste Einladung

KAPITEL 1

Die Vorgeschichte der Konferenz: »Entfernung der Juden«, 1933‒1941

»Territoriale Lösungen«

Massenerschießungen und Völkermord in der Sowjetunion, Sommer 1941

Deportationen

Regionale »Endlösungen«

Vernichtungsdrohungen

»Handlungsbedarf«, Ende 1941

KAPITEL 2

Die Wannseekonferenz

Der Kreis der Konferenzteilnehmer: Die »Endlösung« als arbeitsteiliges Projekt von SS und Bürokratie

DAS PROTOKOLL

KAPITEL 3

Die »Endlösung« wird Realität

»Vernichtung durch Arbeit«

Deportationen und Massenmord im Frühjahr 1942

Eskalation der »Judenpolitik«, Mai/Juni 1942

RESÜMEE

Der historische Ort der Wannseekonferenz

Dank

Anhang

Abkürzungen

Anmerkungen

Bibliographie

Personenregister

Ortsregister

PROLOG

Eine Besprechung mit anschließendem Frühstück

Am 20. Januar 1942 kamen fünfzehn Männer – fast alle hochrangige Vertreter des nationalsozialistischen Staates, der Partei und der SS, darunter vier Staatssekretäre, zwei Spitzenbeamte in gleichwertiger Stellung sowie ein Unterstaatssekretär – auf Einladung von Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamts, in einer luxuriösen Villa am Wannsee am äußersten Westrand von Berlin zusammen. Die exquisite Seelage, die beeindruckende Auffahrt zur Villa, die in einem weitgeschwungenen Rondell vor dem Gebäude mündet, der ausgedehnte, gartenarchitektonisch sorgfältig durchkomponierte Park, die großzügige und repräsentative Zimmerflucht, die sich zu Park und See öffnet, die der gesamten Gartenseite vorgelagerte, dreistufige Terrassenanlage sowie der Wintergarten samt Marmorbrunnen geben dem Besucher der heutigen Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz noch einen guten Eindruck vom Willen des Bauherrn, eines zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Vermögen gekommenen Geschäftsmanns, sich an einem markanten Ort eine mondäne, fast schlossähnliche Anlage zu errichten; sie sollte den Lebenserfolg und die Kultiviertheit ihres Besitzers zum Ausdruck bringen. Doch die Schönheit des Ortes steht in einem drastischen Kontrast zum Zweck der Veranstaltung im Jahr 1942: Man kam in der von der SS als Gästehaus übernommenen Villa zusammen, um über die »Endlösung der Judenfrage« zu beraten. Man sollte, so dokumentiert es das erhaltene Protokoll, über die präzise Festlegung des betroffenen Personenkreises sprechen sowie darüber, insgesamt elf Millionen Menschen zu deportieren, sie härtester Zwangsarbeit auszusetzen und die Überlebenden sowie die Nichtarbeitsfähigen auf andere Weise ums Leben zu bringen. Im Anschluss an die Besprechung war ein Frühstück vorgesehen.

Fünfzehn Männer, darunter zehn mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium, unter ihnen wiederum neun Juristen, von denen acht einen Doktortitel führten,1 diskutierten diese Fragen, so ist dem Protokoll zu entnehmen, unter angenehmen äußeren Umständen, in einer geradezu idyllischen Umgebung, in engagierter, sachlicher und sachkundiger Form; sie vertraten in Detailfragen durchaus unterschiedliche Standpunkte, ohne dass auch nur einer das Gesamtprojekt, den Mord an elf Millionen Juden, infrage stellte.

Das Protokoll der Wannseekonferenz gilt heute somit als Synonym für den kaltblütigen, bürokratisch organisierten und arbeitsteiligen Massenmord an den europäischen Juden, als ein kaum begreifbares Dokument, in dem festgehalten wurde, wie der ideologisch geprägte Vernichtungswahn des NS-Systems auf Anordnung der höchsten Autorität dieses Regimes in staatliches Handeln überführt und gnadenlos exekutiert wurde. »In keinem anderen Dokument«, so der Historiker Wolfgang Scheffler in seiner Rede zur Eröffnung des Hauses der Wannsee-Konferenz im Jahr 1992, wurde »die Gesamtvorstellung zur Vernichtung der europäischen Juden deutlicher dargestellt«.2

Dem Protokoll der Wannseekonferenz kommt aber nicht nur wegen des offen zum Ausdruck gebrachten, menschenverachtenden Zynismus hochrangiger Repräsentanten des NS-Regimes eine herausragende Bedeutung zu. Einzigartig ist es, weil es, wie kein anderes Dokument, in aller Klarheit den Entscheidungsprozess, der zur Ermordung der europäischen Juden führte, reflektiert. Dieser Entscheidungsprozess, also die Vorschläge, Besprechungen, Anordnungen und Verabredungen, an denen Hitler, Himmler, Heydrich und andere führende NS-Politiker beteiligt waren, fand im Wesentlichen mündlich statt; soweit Schriftstücke dazu entstanden, wurden sie nach Möglichkeit zerstört oder sind, insofern sie überdauerten, in einer verschleiernden Tarnsprache abgefasst, zudem nicht als einheitlicher Fundus, sondern weit zerstreut überliefert. Die Initiatoren und Organisatoren des Massenmords wollten ihre Spuren systematisch verwischen; die Rekonstruktion der entscheidenden Abläufe ist infolgedessen eine mühselige Arbeit, die sich zwar auf viele Tausend Dokumente stützen kann, aber durchaus Fragen offenlassen muss und so der Interpretation relativ breiten Spielraum eröffnet.

Das Protokoll der Wannseekonferenz stellt insofern eine Ausnahme dar, da hier in kaum verklausulierter Form über einen Gesamtplan zur Ermordung der europäischen Juden gesprochen wurde, und zwar in einer Art und Weise, die deutlich macht, dass dieses Jahrhundertverbrechen über SS, Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst hinaus aktiv durch Reichskanzlei, Justiz, Innenministerium, Auswärtiges Amt, zivile Besatzungsbehörden, Vierjahresplan (also die oberste Instanz in der Rüstung) sowie Partei mitgetragen und mitverantwortet wurde.

Der Ausnahmecharakter des Protokolls – die Tatsache, dass es nicht im Rahmen einer Serie von Schlüsseldokumenten überliefert wurde, die den Entscheidungsprozess von Anfang bis Ende widerspiegeln, sondern dass es wie eine Momentaufnahme eines im Wesentlichen im Verborgenen ablaufenden Entscheidungsganges erscheint – wirft jedoch Probleme und Fragen auf.

Obwohl es auf den ersten Blick so scheinen mag, wird nach gründlicher Lektüre des Dokuments klar, dass auf der Wannseekonferenz selbst kein »Entschluss« zur Ermordung der europäischen Juden gefasst wurde.3 Verschiedene Formulierungen des Protokolls deuten indessen darauf hin, so eine weit verbreitete Interpretation, dass es sich bei der Wannseekonferenz um die entscheidende Sitzung handelte, auf der die Spitzen der ausführenden Organe die Organisation der von Hitler befohlenen »Endlösung« besprochen haben: Es ist die Rede davon, dass die im Oktober des Vorjahres begonnenen Deportationen nach »vorheriger Genehmigung durch den Führer« erfolgt seien und Heydrich es nun darum ginge, aufgrund einer von Göring ausgestellten Ermächtigung zur Vorbereitung der kommenden »Endlösung« einen Gesamtplan zu erstellen, den er bereits auf der Sitzung skizziert habe.

Andererseits: Zum Zeitpunkt der Konferenz am 20. Januar 1942 waren schon viele Hunderttausende Juden systematisch ermordet worden, in der Sowjetunion, im Distrikt Galizien des Generalgouvernements, in Serbien sowie im »Warthegau«. In diesem Gebiet, das man aus eroberten polnischen Gebieten gebildet und dem Reich einverleibt hatte, war bereits das erste Vernichtungslager errichtet worden: Ab dem 6. Dezember 1941 wurden in einem eigens hergerichteten Gebäude nahe der Ortschaft Chełmno Tausende von Menschen in die geschlossenen Kastenaufbauten von speziell präparierten Lastwagen gepfercht und auf der anschließenden Fahrt mithilfe der eingeleiteten Auspuffgase ermordet. Im Distrikt Lublin des Generalgouvernements war seit November 1941 ein ortsfestes Vernichtungslager im Bau befindlich, und an verschiedenen anderen Orten wurden Vorbereitungen getroffen, Menschen in großer Zahl mithilfe von tödlichen Gasen zu ermorden. Wenn der Massenmord also bereits in großem Umfang in Gang gekommen war, wozu bedurfte es dann überhaupt noch an »Vorbereitungen« für die »kommende Endlösung«? Worin sollte diese »kommende Endlösung« dann konkret bestehen? Deutet der tatsächlich fortgeschrittene Stand des Mordens im Januar 1942 nicht darauf hin, so die alternative Interpretation, dass die »Endlösung« gar nicht das Ergebnis einer zentralen Entscheidungsbildung und Planung war, sondern unkoordiniert und unkontrolliert, auf Initiative untergeordneter Instanzen, in Gang gekommen war? Diese Fragen machen bereits deutlich, dass sich Sinn und Zweck der Wannseekonferenz erst durch eine sorgfältige Interpretation und Kontextualisierung des Protokolls erschließen lassen – obwohl hier auf den ersten Blick eindeutig ein Generalplan zum Massenmord vorliegt, in bemerkenswerter Klarheit formuliert.

Die Schwierigkeiten bei der Analyse des Dokuments und die dadurch hervorgerufenen Forschungskontroversen beruhen nicht zuletzt darauf, dass die Wissenschaftler lange Zeit von unterschiedlichen Erklärungsmodellen ausgegangen sind, die meist so vorgetragen wurden, dass sie sich gegenseitig ausschlossen. Die wichtigsten Interpretationslinien seien kurz skizziert: Zum einen die Vorstellung, die Ermordung der europäischen Juden habe einem langfristig angelegten Plan der NS-Führung, namentlich Hitlers, entsprochen, der durch eine zentral gesteuerte Entschlussbildung in Gang gebracht und schrittweise umgesetzt wurde. Nach dieser »intentionalistischen« Auffassung habe Hitler zu einem bestimmten Zeitpunkt, im Sommer 1941 oder bereits davor, eine Grundsatzentscheidung zur Ermordung der europäischen Juden getroffen.4

Andere Historiker vertreten die Auffassung, eine solche folgenschwere Entscheidung Hitlers sei im Spätsommer5 beziehungsweise Herbst6 oder im Dezember7 erfolgt; die Ausweitung des Krieges, so die in verschiedenen Varianten vorgetragene Erklärung, habe Hitler dazu veranlasst, seine Vorstellung, die Juden unter allen Umständen zu »entfernen«, nun in die Tat umzusetzen. Gesucht wird hier also eine Erklärung, die die Absichten Hitlers mit Einsichten in Strukturen und Funktionen des NS-Staates verbindet. Die Wannseekonferenz habe somit logischerweise der Umsetzung dieses – wann auch immer gefassten – Beschlusses Hitlers und der NS-Führung gedient, darin stimmen die beiden referierten Auffassungen überein. Dem Einwand, dass aber schon vor der Konferenz massenhaft gemordet wurde, die Konferenz also, wenn sie der Durchführung des Mordbefehls dienen sollte, eigentlich zu spät einberufen wurde, wird entgegnet, die Konferenz habe eher formelle denn praktische Bedeutung gehabt: Heydrich habe sie in erster Linie veranstaltet, um seine »Bestallung« als der für die »Endlösung« verantwortliche Mann zu dokumentieren, während das von ihm gesteuerte Mordprogramm längst angelaufen war.8 Wer die These vertritt, Hitler habe eine Entscheidung zur »Endlösung« im Dezember 1941, nach dem Kriegseintritt gegen die USA, getroffen, sieht sich der Frage gegenüber, warum dann die Einladung zur Wannseekonferenz ursprünglich bereits am 29. November herausging. Die Antwort besteht in der These, der Zweck der Konferenz, die ursprünglich für den 9. Dezember angesetzt worden war, sei zunächst ein anderer gewesen.9

Gegenüber den Auffassungen, die eine langfristig angelegte »Intention« beziehungsweise zentrale Entschlussbildung hervorheben, existiert die gegenläufige Vorstellung, verschiedene Instanzen des NS-Staates hätten sich, nur vage und allgemein durch Hitler autorisiert, in der zweiten Jahreshälfte 1941 in einem Konkurrenzkampf um die radikalste Lösung in der »Judenfrage« befunden und sich durch unkoordiniertes und überstürztes Vorgehen – also durch die Ausweitung der Exekutionen in der Sowjetunion zum Völkermord sowie durch den Beginn der Deportationen aus Deutschland, ohne den Sieg im Osten abzuwarten – selbst in eine Sackgasse manövriert, eine Situation, aus der sie sich nur durch noch radikalere Maßnahmen wieder hätten befreien können. Das Protokoll der Wannseekonferenz spiegle, so die häufig als »Funktionalisten« oder »Strukturalisten« bezeichneten Vertreter dieser These, exakt die Verfahrenheit der Situation und den Willen zu deren radikaler Überwindung wider. Diesen Historikern kommt es demnach vor allem auf eine Erklärung an, wonach sich die Massenmorde in einem »kumulativen Radikalisierungsprozess« (Hans Mommsen) aus den Strukturen des NS-Staates heraus entwickelt hätten und das individuelle Verhalten Hitlers oder anderer hoher Funktionäre demgegenüber zweitrangig gewesen sei.10

Dieses Modell hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten durch eine Reihe von wichtigen Studien über geographische Schlüsselräume des Holocaust in Osteuropa an Plausibilität gewonnen. Denn in diesen Studien zeigt sich übereinstimmend, dass den deutschen Spitzenfunktionären in den besetzten Gebieten erhebliche Eigenständigkeit und Initiative bei der Ingangsetzung und Durchführung des Judenmords zugeschrieben werden muss; im Ergebnis scheint sich also die These der »Funktionalisten«, dass der Radikalisierungsprozess in einem erheblichen Umfang aus dem Herrschaftsapparat (in diesem Falle den Besatzungsbehörden an der »Peripherie«) gespeist wurde, zu bestätigen. Folgt man der »strukturalistischen« Interpretation beziehungsweise den Erkenntnissen der auf bestimmte Regionen ausgerichteten Forschung, so wäre die Konferenz in erster Linie veranstaltet worden, um den längst in Gang gekommenen Mordprozess unter der Führung des Reichssicherheitshauptamts wieder unter eine einheitliche Organisation zu bringen.

In dem vorliegenden Buch soll nun eine Interpretation vorgestellt und weiterentwickelt werden, die die soeben skizzierten Erklärungsansätze aufnimmt, aber nicht als sich ausschließende Modelle, sondern als Bausteine einer komplexeren Erklärung:11 Demnach ist der Holocaust nicht aufgrund einer einzelnen zentralen Entscheidung in Gang gesetzt worden, sondern er ist – im Rahmen einer langfristig orientierten, aber immer wieder Veränderungen unterworfenen antijüdischen Politik der Nationalsozialisten – das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses, in dem Hitler, die zentrale Führungsinstanz des »Dritten Reichs«, im engen Zusammenspiel mit anderen Teilen des Machtapparates, schrittweise aus einer noch vagen Absicht zur Vernichtung der Juden ein konkretes Mordprogramm entwickelte und in Gang brachte. In diesem Entscheidungsprozess, so wird zu zeigen sein, kommt dem Treffen der fünfzehn Männer am 20. Januar 1942 eine hohe Bedeutung zu.

Die Frage nach der historischen Verortung der Konferenz führt wieder zurück zu ihrem geographischen Ort: Warum fand diese wichtige Besprechung ausgerechnet in der luxuriösen Villa am Wannsee statt?

Der Ort

Das Gebäude, in dem die Wannseekonferenz stattfand, befindet sich in einer exklusiven Villenkolonie, ursprünglich »Colonie Alsen« genannt, die seit den 1870er-Jahren am Berliner Wannsee entstand. Unweit von Potsdam – und seit 1874 mit direktem Eisenbahnanschluss an die Metropole – siedelten sich nach und nach erfolgreiche Berliner Bankiers, Unternehmer, Kaufleute, Künstler, Verleger und Professoren an, darunter so bekannte Persönlichkeiten wie Max Liebermann, Anton von Werner, Ernst Ferdinand Sauerbruch, Hugo Preuß und Carl Langenscheidt.12

Im Jahr 1914 erwarb der 1875 in Coburg geborene und seit 1903 in Berlin ansässige Kaufmann Ernst Marlier ein über 30 000 Quadratmeter großes Grundstück, auf dem er im folgenden Jahr vom Architekten Paul O. A. Baumgarten, der bereits das nahe gelegene Haus Liebermann errichtet hatte, eine Villa mit 1500 Quadratmetern Wohnfläche bauen ließ. Marlier, eine durchaus schillernde Figur, hatte sein Vermögen durch die Produktion und den Handel mit dubiosen medizinischen Präparaten gemacht; wegen – offenbar auf sein aufbrausendes Temperament zurückzuführenden – Gewalttätigkeiten wurde er mehrfach verurteilt. 1921 verkaufte er die Villa an den nicht weniger illustren, damals 44-jährigen Friedrich Minoux. Der ehemalige Kaufmännische Direktor der Essener Gas- und Wasserwerke war 1912 in die Dienste des Unternehmers Hugo Stinnes eingetreten und hatte, seit 1919 in der Stellung eines Generaldirektors, maßgeblichen Anteil daran, dass der Stinnes-Konzern in den Inflationsjahren mit zum Teil hochspekulativen Geschäften gewaltig expandieren konnte. Als bestens bezahlter Spitzenmanager, der auch Geschäfte auf eigene Rechnung betrieb, konnte sich Minoux den Erwerb der Villa leisten, die bald zum Ort großer Gesellschaften und wichtiger geschäftlicher und politischer Besprechungen wurde. Auf dem Höhepunkt der Inflation trat Minoux mit Vorschlägen für eine Währungsreform und für eine künftige, in hohem Maße staatsinterventionistisch ausgerichtete Wirtschaftspolitik hervor, ein Engagement, das zur geschäftlichen Trennung von Stinnes führte. Sein Name wurde im Herbst 1923 immer wieder im Zusammenhang mit einem von rechtskonservativen Kreisen geplanten »Direktorium« genannt, das, mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet, die höchste Regierungsgewalt ausüben sollte. In den folgenden Jahren betätigte sich Minoux unternehmerisch vor allem im Kohlegeschäft, während er auf wirtschaftspolitischem Gebiet in den Krisenjahren mit eigenwilligen Vorschlägen zum Abbau der Arbeitslosigkeit von sich reden machte.13 Minoux war gezwungen, das Anwesen zu verkaufen, nachdem er im Mai 1940 wegen des Verdachts auf langjährige Betrügereien zulasten des Berliner Versorgungsbetriebes Gasag, in dessen Aufsichtsrat er saß, verhaftet worden war. Im August 1941 wurde er zu einer Haftstrafe von fünf Jahren sowie einer erheblichen Geldstrafe verurteilt; die Strafe verbüßte er bis zur Befreiung des Zuchthauses Brandenburg im April 1945, ehe er im Oktober 1945 in Berlin starb.

Käufer des Anwesens wurde Ende 1940 die Nordhav-Stiftung, die von Heydrich am 30. Juli 1939 zur »Schaffung und Unterhaltung von Erholungsheimen für die Angehörigen des Sicherheitsdienstes der SS sowie für deren Familienangehörige« ins Leben gerufen worden war. Mit der Gründung der Stiftung hatte Heydrich zunächst die Absicht verfolgt, das Gut Katharinenhof auf der Insel Fehmarn, unweit seines dortigen Ferienhauses, zu kaufen, was denn auch im August 1939 geschah; der Name »Nordhav« bezog sich auf einen Bauernhof, der im 18. Jahrhundert der Errichtung des Gutshofs hatte weichen müssen, und signalisierte das Interesse der SS, die germanisch-nordische Vorgeschichte der Insel zu erforschen. Vermutlich aber hatte Heydrich mit der Stiftung von Anfang an das Ziel verfolgt, sich den Katharinenhof als späteres Feriendomizil zu sichern; die Wannseevilla scheint er im kommenden Jahr ebenso durch die Stiftung erworben zu haben, um das Anwesen als künftige Dienstvilla nutzen zu können.

Die Konstruktion der Nordhav-Stiftung wäre demnach nur eine Übergangslösung gewesen.14 Im Befehlsblatt des Chefs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) vom 18. Oktober 1941 hieß es jedenfalls, das Gästehaus stünde »den Leitern der auswärtigen Dienststellen von Sicherheitspolizei u. SD sowie deren Vertretern bei Übernachtungen in Berlin zur Verfügung«, es würden aber auch andere Führer der Sicherheitspolizei und des SD aufgenommen; pro Übernachtung und Frühstück waren 5 RM zu entrichten.15 Vier Wochen später war im Befehlsblatt zu lesen, man halte für die Gäste umfangreiche »Geselligkeitsräume« wie ein Musikzimmer, einen Billardraum, eine große Halle sowie einen Wintergarten und eine Terrasse zum Wannsee bereit.16

In dieser Funktion wurde das Gebäude durchaus auch genutzt. So befindet sich in den heute im britischen Nationalarchiv zugänglichen Akten des britischen Geheimdienstes über die Lage in Deutschland ein Bericht eines hohen schwedischen Polizeibeamten, der der britischen Vertretung in Stockholm Mitte April 1942 vertraulich mitteilte, er sei vor Kurzem in offiziellem Auftrag in Berlin gewesen und habe dort seine guten Kontakte zu alten Bekannten in der deutschen Polizei erneuert; diese hätten ihm ihre Empörung über die brutalen Gestapo-Methoden gegenüber den Juden versichert. Ansonsten sei er hervorragend untergebracht worden: in einem Gästehaus der SS am Wannsee. Dass ausgerechnet hier wenige Monate zuvor über den Mord an Millionen europäischer Juden verhandelt worden war, ahnten weder der schwedische Polizist noch seine britischen Kontaktleute.17

Gleichzeitig wurde das Gästehaus jedoch, wie dem Mitteilungsblatt des Amts VI des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) vom 7. August 1942 zu entnehmen ist, »in letzter Zeit außerordentlich rege für dienstliche Besprechungen und außerordentliche Zusammenkünfte in Anspruch genommen«; dabei sei es zu alkoholischen Exzessen gekommen, wodurch »das Gästehaus seiner ursprünglichen Bestimmung für Repräsentationszwecke der Sicherheitspolizei zu dienen entfremdet worden« sei.18

In der Tat waren die luxuriöse Anmutung des Gebäudes und seine exquisite Lage dazu geeignet, im immer grauer werdenden Berliner Kriegsalltag der Zusammenkunft vom 20. Januar 1942 einen besonderen Glanz zu verleihen und die Teilnehmer in gehobene Laune zu versetzen. Das Ambiente übte sicher eine Art Verfremdungseffekt auf die Gäste Heydrichs aus und trug mit dazu bei, dass die Konferenz nahezu reibungslos verlief.

Die erste Einladung

Das Einladungsschreiben Heydrichs vom 29. November 1941 wurde an 13 Adressaten versandt; zwei Exemplare sind erhalten, nämlich diejenigen, die sich an den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, Martin Luther, sowie an den Leiter des SS-Rasse- und Siedlungshauptamts, SS-Gruppenführer Otto Hofmann, richteten. Neben Luther und Hofmann wurden eingeladen: Generalgouverneur Hans Frank; der »ständige Vertreter« des Ostministers Alfred Rosenberg, Alfred Meyer, sowie der Leiter der Hauptabteilung I (Politik) dieses Ministeriums, Georg Leibbrandt; die Staatssekretäre Wilhelm Stuckart (Innen), Erich Neumann (Vierjahresplan), Franz Schlegelberger (Justiz) und Leopold Gutterer (Propaganda); Ministerialdirektor Friedrich Kritzinger (Reichskanzlei); der für staatliche Angelegenheiten in der Partei-Kanzlei zuständige Gerhard Klopfer, der mit seinem SS-Rang (Oberführer) tituliert wurde; der Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF) im Generalgouvernement, Friedrich-Wilhelm Krüger, sowie SS-Gruppenführer Ulrich Greifelt, der Leiter desjenigen SS-Hauptamts, das Himmler für die Durchführung seines Auftrags zur »Festigung des deutschen Volkstums« eingerichtet hatte.19

In seiner Einladung verwies Heydrich auf einen Auftrag, den ihm Hermann Göring am 31. Juli 1941 übertragen habe, nämlich »unter Beteiligung der infrage kommenden anderen Zentralinstanzen alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht für die Gesamtlösung der Judenfrage in Europa zu treffen und ihm in Bälde einen Gesamtentwurf hierüber vorzulegen«; eine Fotokopie dieses Auftrags fügte er als Anhang zur Einladung bei. In Anbetracht »der außerordentlichen Bedeutung«, die dieser Frage beizumessen sei, so Heydrich weiter, sowie »im Interesse der Erreichung einer gleichen Auffassung der in Betracht kommenden Zentralinstanzen an den übrigen mit dieser Endlösung zusammenhängenden Arbeiten« empfehle sich eine Besprechung, zumal ja »seit dem 15.10.1941 bereits in laufenden Transporten Juden aus dem Reichsgebiet einschließlich Protektorat Böhmen und Mähren nach dem Osten evakuiert« werden würden. Diese Besprechung war für den 9. Dezember um 12 Uhr in der Dienstelle der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (Interpol), Am Kleinen Wannsee Nr. 16, vorgesehen; Heydrich fungierte seit August 1940 als deren Vorsitzender.20 Einige Tage später korrigierte Heydrichs Büro die Einladung: Die Besprechung werde Am Großen Wannsee 56 – 58, der Adresse des Gästehauses, stattfinden.21

Heydrichs Einladung verweist auf zwei Gesichtspunkte: Zum einen hatte er die »Gesamtlösung der Judenfrage in Europa« im Auge, die er im Auftrag Görings vorbereiten und mit den anderen Zentralinstanzen abstimmen wollte – federführend versteht sich. Zum anderen aber bestand offensichtlich Klärungsbedarf, wie sich die bereits seit Mitte Oktober begonnenen Massendeportationen aus dem Reichsgebiet in den noch im Entstehen begriffenen »Gesamtentwurf« einfügen würden. Das Einladungsschreiben enthält also deutlich zwei Ebenen: die in der Zukunft liegende europäische »Gesamtlösung« sowie die Schritte, die hierzu bereits im Rahmen des sogenannten »Großdeutschen Reichs« eingeleitet worden waren.

Nur zwei Tage später, am 1. Dezember, wurde die ursprüngliche Einladungsliste korrigiert. Denn am 28. November hatte eine Besprechung zwischen Heydrich und dem HSSPF im Generalgouvernement, Krüger, stattgefunden, in der sich beide einig waren, gemeinsam gegen die Ambitionen Franks vorzugehen, im Generalgouvernement die »Behandlung des Judenproblems völlig an sich zu ziehen«.22 Nach dieser Klarstellung konnte Heydrich es Krüger überlassen, durch zweckentsprechendes Vorgehen in Krakau Frank in die Schranken zu weisen und so zu vermeiden, den sich abzeichnenden Kompetenzkonflikt mit Frank auf einer interministeriellen Sitzung in Berlin austragen zu müssen. Statt Frank, der für eine »Staatssekretärsbesprechung« ohnehin eine zu hohe Stellung besaß, wurde nun dessen Staatssekretär Josef Bühler eingeladen.23 Krüger erhielt eine neue Einladung, die so formuliert war, dass sein persönliches Erscheinen nicht erwartet wurde.24

Heydrichs Einladung von Ende November kam zu einem Zeitpunkt, als die »Judenpolitik« des NS-Regimes in ein kritisches Stadium gekommen war: Der ursprünglich verfolgte Plan, die Juden Europas nach einem schnellen Sieg über die Sowjetunion in die neu besetzten Ostgebiete zu deportieren, rückte wegen der militärischen Lage in weite Ferne; gleichzeitig hatten die Erschießungen von jüdischen Zivilisten in der Sowjetunion, aber auch in Serbien ein Ausmaß angenommen, das den Verantwortlichen die Möglichkeit eröffnete, die »Endlösung der Judenfrage« in diesen Gebieten noch vor Ende des Krieges zu erzielen, während die im Herbst begonnenen Deportationen aus dem Deutschen Reich in osteuropäische Ghettos neue Probleme aufwarfen, auf die die vor Ort Verantwortlichen zum Teil mit mörderischen Lösungsvorschlägen zu reagieren begonnen hatten. Klärungsbedarf über das weitere Vorgehen in der »Judenpolitik« bestand also in ausreichendem Maße.

KAPITEL 1

Die Vorgeschichte der Konferenz: »Entfernung der Juden«, 1933‒1941

Die »Entfernung der Juden« aus Deutschland gehörte zu den zentralen Zielen Hitlers und der NS-Bewegung seit den Anfängen des Nationalsozialismus. Mit der Machtübernahme 1933 eröffnete sich für die Nationalsozialisten die Möglichkeit, dieses bisher nur vage formulierte Ziel in die Wirklichkeit umzusetzen, und tatsächlich sollte die Diskriminierung der Juden, ihre Verdrängung aus dem öffentlichen Leben, ihre permanente Belästigung und Einschüchterung, ihre wirtschaftliche Ausbeutung und nicht zuletzt ihre Vertreibung aus Deutschland zu den zentralen Aktionsfeldern nationalsozialistischer Politik in den 1930er-Jahren gehören; erinnert sei an die wichtigsten Stationen, der Boykott jüdischer Geschäfte vom April 1933, die Nürnberger Gesetze vom September 1935 sowie die Pogrome vom November 1938.25

Vorangetrieben wurde diese »Judenpolitik« einerseits durch die staatlichen Behörden – federführend war das Innenministerium, wichtigste Ausführungsorgane die Gestapo und die Polizei –, andererseits durch die Parteiorganisation, nicht zuletzt mithilfe der SA, die seit 1934 anderen Funktionen weitgehend beraubt war. Seit 1937 hatte sich jedoch der Sicherheitsdienst, der Nachrichtendienst der Partei unter Reinhard Heydrich, zunehmend in die Konzeption der »Judenpolitik« eingeschaltet; den selbsterklärten »Intellektuellen« des SD ging es darum, ein umfassendes Konzept der jüdischen »Auswanderung« (sprich Vertreibung) zu entwickeln, das verhindern sollte, dass sich ein deutlich erkennbarer Trend fortsetzte und nur den vermögenden Juden die Flucht aus Deutschland gelang, während diejenigen, die über kein nennenswertes Vermögen verfügten (beziehungsweise dessen Reste durch die nationalsozialistische Ausplünderungspolitik verloren hatten), als verarmte Unterschicht im Lande zu bleiben drohten.26

1938, nach dem »Anschluss« Österreichs, gelang es dem SD, sich erstmals wirksam in die »Judenpolitik« einzuschalten. Adolf Eichmann, der im April einen Referentenposten in dem neu eingerichteten SD-Oberabschnitt Wien übernommen hatte, konnte den für die Durchführung des »Anschlusses« verantwortlichen Reichskommissar Josef Bürckel dazu überreden, im August 1938 in Wien eine »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« ins Leben zu rufen, die formal dem SD unterstand.27 Damit war es dem SD erstmalig gelungen, selbst, im Auftrag einer staatlichen Instanz (dem Reichskommissar), exekutive Funktionen auszuüben. Eichmann und seine »Judenexperten« entwickelten sodann im Rahmen der Zentralstelle eine Art Fließbandverfahren für die beschleunigte »Auswanderung« der Wiener Juden, die durch einen besonderen Fonds, gebildet aus den beschlagnahmten jüdischen Restvermögen, finanziert wurde.

Die Wiener Einrichtung diente als Vorbild für die »Reichszentrale für jüdische Auswanderung«, die Göring, entsprechend den Vorschlägen, die Heydrich bereits unmittelbar nach dem Novemberpogrom gemacht hatte,28 am 24. Januar 1939 ins Leben rief. Ihr Leiter wurde Heydrich, Geschäftsführer der Chef der Gestapo, Heinrich Müller;29 der Reichszentrale gehörten aber auch Vertreter des Auswärtigen Amtes, des Wirtschafts-, Finanz- und Innenministeriums an.30 Göring kam ins Spiel, weil er, als Hitlers Bevollmächtigter für den Vierjahresplan der »starke Mann« in der Wirtschaftspolitik des »Dritten Reichs«, nach dem Novemberpogrom mit der Abwicklung der endgültigen Ausschaltung der Juden aus der deutschen Wirtschaft und mit der Führung der weiteren »Judenpolitik« beauftragt worden war.31

Es handelte sich im Übrigen nicht um den ersten Auftrag, den Göring Heydrich auf dem Gebiet der »Judenpolitik« übertragen hatte. Bereits im Juli 1936, auf dem Höhepunkt der schweren Devisenkrise des Reichs, hatte er Heydrich zum Leiter eines ihm direkt unterstehenden »Devisenfahndungsamtes« ernannt, damit dieses mithilfe der Devisenprüfungsstellen und der Steuerfahndung Vermögen »auswanderungsverdächtiger« Juden ausplündern konnte.32 Wenn Heydrich in seinem Einladungsschreiben zur Wannseekonferenz vom 29. November 1941 auf Görings Ermächtigung vom 31. Juli 1941 verwies, dann hatte diese »Bestallung« also bereits eine längere Vorgeschichte.

»Territoriale Lösungen«

Insgesamt war es dem NS-Regime gelungen, bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs etwa 250 000 Juden aus Deutschland zu vertreiben.33 Mit dem Kriegsausbruch aber begann eine völlig neue, radikalere Phase der »Judenpolitik«. Zwar wurde die forcierte »Auswanderung« nicht aufgegeben, angesichts der Kriegsumstände gab es jedoch keine Möglichkeit mehr, die noch etwa 190 000 im »Altreich« lebenden Juden (hinzu kamen die Juden in den 1938/39 annektierten Gebieten) auf diese Weise zu »entfernen«.34 Vor allem aber befanden sich nach dem siegreichen Krieg gegen Polen weitere 1,7 Millionen polnische Juden im vergrößerten deutschen Herrschaftsgebiet, ein Problem, das im antisemitisch bestimmten Denkhorizont der Nationalsozialisten einer »Lösung« harrte. Neben einschneidenden Sonderbestimmungen für die polnischen Juden (insbesondere Kennzeichnung, Zwangsarbeit, Enteignung)35 sowie einer weiteren Verschärfung des Sonderrechts für die deutschen Juden (was unter anderem ein generelles Ausgehverbot nach 20 Uhr und die Ausdehnung der Zwangsbeschäftigung beinhaltete)36 rückte nun eine neue Überlegung in den Blickpunkt: die organisierte Deportation aller Juden unter deutscher Kontrolle in ein »Reservat« an der Peripherie des deutschen Herrschaftsgebiets.

Im Überblick betrachtet nahm diese sogenannte »territoriale Lösung« der »Judenfrage« folgenden Verlauf: Zunächst versuchte das NS-Regime bereits im Herbst 1939, ein »Judenreservat« im Distrikt Lublin im Osten des Generalgouvernements für alle Juden in seinem Herrschaftsbereich zu errichten.37 Noch im Oktober unternahm man im Zuge der sogenannten Nisko-Aktion Anstrengung, über 70 000 Juden aus Oberschlesien sowie weitere Tausende aus Mährisch-Ostrau (Protektorat), aber auch aus Wien über ein provisorisches Durchgangslager bei Nisko am San, direkt an der Grenze zum Distrikt Lublin gelegen, in dieses Gebiet abzuschieben.38 Nach damaligen Äußerungen des für die Nisko-Aktion verantwortlichen Eichmanns handelte es sich um ein Pilotprojekt für die Abschiebung aller Juden unter deutscher Kontrolle in diesen Raum, für die die Zustimmung Hitlers vorlag. Da überhaupt keine Vorbereitungen für die Aufnahme einer größeren Zahl von Menschen getroffen worden waren, muss man davon ausgehen, dass Eichmann und seine Mitarbeiter entweder vorhatten, die über Nisko deportierten Menschen dazu zu bringen, über die Demarkationslinie in die von der Sowjetunion besetzten polnischen Gebiete überzuwechseln, oder sie einfach sich selbst zu überlassen – was dazu geführt hätte, dass die meisten im folgenden Winter auf elende Weise zugrunde gegangen wären.

Die Nisko-Aktion musste allerdings bereits nach nur wenigen Tagen, nach der Deportation von insgesamt 4700 Menschen, wieder abgebrochen werden, weil sie in logistischen Konflikt mit der gleichzeitig begonnenen Massenumsiedlung von Volksdeutschen aus dem Baltikum in die annektierten polnischen Gebiete geriet. Die deutsche Seite verfiel nun auf die Idee, die Juden in ihrem Herrschaftsbereich mit Zustimmung der sowjetischen Regierung über die Demarkationslinie abzuschieben; eine entsprechende Anfrage richteten die Berliner und die Wiener Auswanderungszentrale, deren Leitung zu diesem Zeitpunkt Eichmann beziehungsweise Franz Josef Huber (als Wiener Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD) innehatten, um die Jahreswende 1939/40 an das sowjetische Außenministerium. Die sowjetische Seite reagierte jedoch negativ.39

Die zweite Variante einer »territorialen Lösung« im eigenen Machtbereich wurde nach dem deutschen Sieg über Frankreich im Sommer 1940 durch RSHA und Auswärtiges Amt mit dem sogenannten Madagaskar-Plan entwickelt.40