Heinrich Himmler - Peter Longerich - E-Book

Heinrich Himmler E-Book

Peter Longerich

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Beschreibung

Hitlers wichtigster Helfer

Über Heinrich Himmler (1900 –1945) existieren viele Klischees: Mal wird er als pedantischer Bürokrat, mal als verbissener Ideologe und versponnener Germanophiler dargestellt.Peter Longerich liefert eine Gesamtschau all jener Bereiche, in denen Himmler Verantwortung trug, und zeigt, in welch erstaunlichem Ausmaß dieser Mann die Strukturen und zerstörerische Dynamik der NS-Diktatur prägte. Mit dieser ersten fundierten Biographie des »Reichsführers SS« wird das Phänomen Himmler enträtselt.

Heinrich Himmler, Reichsführer SS, Chef der Deutschen Polizei, Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums, schließlich Reichsinnenminister und Befehlshaber des Ersatzheeres, verfügte im NS-Staat über eine einzigartige Machtfülle und stand wie kaum ein Zweiter für Terror, Verfolgung und Vernichtung. Er war für die Repression im Innern ebenso verantwortlich wie für die Verbrechen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern, für die Gräueltaten der SS an der Ostfront oder für die Entwurzelung und Umsiedlung von Millionen Menschen unter deutscher Herrschaft. Doch trotz ihrer zentralen Rolle für das Regime bleibt die Figur Himmler bis heute blass und über weite Strecken rätselhaft.
Der renommierte NS-Forscher Peter Longerich nimmt die Person Himmler in all ihren Funktionen und Facetten in den Blick. Er verschränkt auf einzigartige Weise private Lebensgeschichte, politische Biographie und Strukturgeschichte und eröffnet damit überraschende Einsichten in die Gesamtgeschichte der NS-Diktatur.

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Seitenzahl: 1848

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Peter Longerich

Heinrich Himmler

Biographie

Pantheon

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Copyright © 2008 by Peter Longerich

All rights reserved

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by Siedler Verlag, München

Copyright © dieser Ausgabe 2010 by Pantheon Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Jorge Schmidt, München

nach einer Vorlage von Rothfos + Gabler, Hamburg

Lektorat: Andrea Böltken, Berlin

Register: Petra Müller, Klaretto, Berlin

Satz: Peter Palm, Berlin

ISBN 978-3-641-31539-9V001

www.pantheon-verlag.de

Inhalt

Prolog

TEIL IDer junge Himmler

Kindheit und Jugend

Student der Agrarwissenschaft

Kampf und Entsagung

Neuanfang in Niederbayern

Der Parteifunktionär

Reichsführer-SS

TEIL IIIm Dritten Reich

Übernahme der Politischen Polizei

Vom Inspekteur der preußischen Gestapo zum Chef der Deutschen Polizei

Das Staatsschutzkorps

TEIL IIIDer Orden

Weltanschauung und Kult

Himmlers Führungsstil

Himmler als Erzieher

Die SS-Familie

TEIL IVIn den Krieg: Ambition und Enttäuschung

Im Zeichen von Kriegsvorbereitung und Expansion

Krieg und Siedlung in Polen

Völkische Neuordnung

Repression im Reichsgebiet

Grenzverschiebungen: Das Jahr 1940

TEIL VDas großgermanische Reich: Lebensraum und Völkermord

Weltanschaulicher Vernichtungskrieg

Vom Massenmord zur »Endlösung«

Die Ermordung der europäischen Juden

Siedlungspolitik und rassische Auslese

Das »eherne Gesetz des Volkstums«: Rekrutierungen für die Waffen-SS

Europaweite Schreckensherrschaft

TEIL VIUntergang auf Raten

Kriegswende als Chance?

Zusammenbruch

Bilanz

Dank

Anhang

Abkürzungen und Sigel

Anmerkungen

Bemerkungen zu Quellen und Literatur

Bibliographie

Orts- und Personenregister

Abbildungen

Prolog

Am Nachmittag des 23. Mai 1945, also etwas mehr als zwei Wochen nach der deutschen Kapitulation, wurde eine Gruppe von etwa zwanzig verdächtigen Personen, deutsche Zivilisten und Soldaten, die man zwei Tage zuvor aufgegriffen1 hatte, in das 31. Civilian Interrogation Camp der britischen Streitkräfte in der Nähe von Lüneburg gebracht.

Captain Selvester, der diensthabende Offizier, übernahm die routinemäßige Überprüfung der Gefangenen: Die Männer wurden einzeln in sein Büro geführt, wo er ihre Personalien feststellte und sie befragte. Er war mit dieser Arbeit schon eine ganze Weile beschäftigt, als ihm durch die Wachposten gemeldet wurde, es gebe Ärger mit drei der vor seinem Büro wartenden Gefangenen, die verlangten, sofort vorgeführt zu werden. Dies war höchst ungewöhnlich; Selvester wusste aus Erfahrung, dass die meisten Gefangenen alles daransetzten, nach Möglichkeit nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Neugierig geworden, befahl Selvester, die drei Gefangenen hereinzulassen. In sein Büro trat daraufhin ein relativ kleiner, krank wirkender und in seiner Zivilkleidung schäbig aussehender Mann, hinter dem zwei größere, ausgesprochen soldatische, halb in Uniform, halb in Zivil steckende Begleiter in den Raum drängten. Die drei wurden von den Briten verdächtigt, Angehörige der Geheimen Feldpolizei zu sein. Selvester schickte die beiden größeren Männer wieder hinaus, um sich den kleineren näher anzusehen, der offensichtlich der Anführer war. Der entfernte eine schwarze Klappe von seinem rechten Auge, setzte eine Hornbrille auf und stellte sich mit ruhiger Stimme als derjenige vor, als der er nun nach seinem Äußeren zweifelsfrei zu identifizieren war: Heinrich Himmler, ehemaliger Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei, Befehlshaber des Ersatzheeres der Deutschen Wehrmacht, Innenminister des Deutschen Reiches.

Selvester ließ unverzüglich den leitenden Vernehmungsoffizier, Captain Smith, rufen, und beide forderten Himmler auf, eine Unterschriftenprobe abzugeben – um ganz sicher zu gehen. Himmler, der offenbar befürchtete, man wolle ein Souvenir von ihm ergattern, weigerte sich zunächst, willigte aber schließlich unter der Bedingung ein, dass das Papier zerrissen werde, sobald man seine Unterschrift mit einer Kopie, über die man im Camp verfügte, verglichen habe.

Nachdem dies geschehen war, ging Selvester daran, den Gefangenen eigenhändig zu durchsuchen. Zunächst fand er Dokumente auf den Namen Heinrich Hitzinger, Feldwebel der Wehrmacht. Sodann stieß er in Himmlers Jacke auf eine kleine Dose mit einem Glasröhrchen, das eine farblose Flüssigkeit enthielt. Selvester, der erkannte, dass es sich um eine Selbstmordkapsel handelte, fragte Himmler möglichst arglos nach dem Inhalt des Röhrchens und bekam zur Antwort, dies sei Medizin gegen Magenkrämpfe. Als sich in Himmlers Kleidung eine zweite, identische, aber leere Dose fand, musste Selvester zu der Schlussfolgerung kommen, dass sein Gefangener an oder in seinem Körper ein weiteres Glasröhrchen verborgen hielt.

Also unterzog man Himmler einer peinlich genauen Untersuchung einschließlich aller Körperöffnungen; dabei ließ man allerdings wohlweislich das wahrscheinlichste und gefährlichste Versteck, die Mundhöhle, aus. Stattdessen orderte Selvester zunächst einmal Käse-Sandwiches und Tee. Beides nahm Himmler gern an, ohne jedoch einen verdächtigen Gegenstand aus seinem Mund zu entfernen. Er weigerte sich allerdings, die ihm als Ersatz für seine konfiszierte Kleidung angebotenen britischen Uniformstücke anzuziehen – er befürchtete wohl, man wolle ihn fotografieren und die Bilder für Propagandazwecke benutzen. So saß er nun in Unterwäsche, mit einer Decke behängt, den britischen Offizieren gegenüber. Seine beiden Begleiter stellten sich als der Adjutant des Reichsführers-SS Obersturmbannführer Werner Grothmann und als ein weiterer Angehöriger seines Stabes, Sturmbannführer Heinz Macher, heraus.

Gegen Abend traf ein höherer Geheimdienstoffizier ein und begann Himmler zu vernehmen. Währenddessen stellten die Briten Überlegungen an, wie sie die in Himmlers Mund vermutete Kapsel unbeschädigt an sich bringen konnten. Man befragte Militärärzte, ob es nicht möglich sei, Himmler mit Hilfe einer Droge bewusstlos zu machen, verwarf diese Variante indes als zu riskant.2

Gegen Mitternacht wurde die Vernehmung erst einmal beendet. Man brachte Himmler zum Hauptquartier der 2. Britischen Armee in Lüneburg. Während der gesamten Zeit im Camp 31 hatte Himmler sich, so fand jedenfalls Selvester, entgegenkommend verhalten, sich willig gezeigt, die Fragen der britischen Offiziere zu beantworten, und einen zeitweilig geradezu jovialen Eindruck gemacht. Anfangs kränklich wirkend, hatte er sich überdies, nachdem man ihm Gelegenheit gegeben hatte, etwas zu sich zu nehmen und sich zu waschen, sichtlich erholt.

In Lüneburg angekommen, wurde Himmler einer gründlichen medizinischen Untersuchung unterzogen. Dabei entdeckte der Arzt, Captain Wells, im nur unwillig geöffneten Mund Himmlers die blaue Spitze eines Objekts; er versuchte, den Fremdkörper zu entfernen, aber Himmler riss seinen Kopf abwehrend zur Seite, zerbiss die Giftkapsel und brach zusammen. Nach fünfzehn Minuten wurden sämtliche Versuche, den Rest des Giftes aus seinem Mund zu entfernen, eingestellt, ebenso die Bemühungen um Wiederbelebung. Eine nähere Untersuchung ergab, dass es sich bei dem Gift um Zyankali handelte.3

Drei Tage nach seinem Tod wurde Himmlers Leiche bestattet. Bei der Beerdigung waren lediglich ein britischer Offizier und die drei Sergeants anwesend, die das Grab geschaufelt hatten. Eine religiöse Zeremonie fand nicht statt, die Grabstätte blieb namenlos.4

Himmlers Verhalten in seinen letzten Tagen ist widersprüchlich: Er hatte sich nicht wie andere Nazi-Größen in den letzten Kriegstagen das Leben genommen, sondern sich versteckt – das allerdings so dilettantisch, dass man ihn und seine Begleiter irgendwann zwangsläufig zu fassen bekommen musste. Als er den Alliierten dann in die Hände fiel, ließ er sie noch wissen, wen sie vor sich hatten, entzog sich dann jedoch seiner Verantwortung durch Selbstmord. Dass er so handelte anstatt nach Maßgabe der von ihm stets gepredigten Tugenden eines SS-Führers – die das Einstehen für das eigene Handeln einschlossen, und mochte es noch so krude sein –, sollte seine Leute maßlos enttäuschen und dazu führen, dass selbst unter seinen ehemaligen Anhängern der posthume Ruf des Reichsführers-SS vorwiegend negativ blieb. Eine Himmler-Legende wollte in den Nachkriegsjahren nicht aufkommen.

Im Mai 1945 hatte Himmler sich einfach im Strom der Millionen Flüchtlinge und Soldaten treiben lassen. Sein Ende erscheint genauso rätselhaft wie seine Karriere im Dienste des Nationalsozialismus: Wie konnte eine so farblose Persönlichkeit eine historisch so einmalige Machtfülle erreichen, wie konnte ein Sohn einer gutsituierten bayerisch-katholischen Beamtenfamilie zum Organisator eines ganz Europa umspannenden Systems von Massenmorden werden?

Die schwer zugängliche Persönlichkeit dieses Mannes und die Motive hinter seinen ungeheuerlichen Taten sollen in dieser Biographie soweit als möglich enträtselt werden. Dies ist aber nur erfolgversprechend, wenn man über das Muster einer »politischen Biographie« hinausgeht und tatsächlich das gesamte Leben Himmlers, in seinen einzelnen Phasen und in seinen unterschiedlichen Bereichen (auch den sogenannten unpolitischen), in den Blick nimmt.

Ein solcher umfassender biographischer Zugang erlaubt es, die Entwicklung dieser Persönlichkeit, ihre wesentlichen Charakterzüge und typischen Verhaltensweisen in ihren »formativen Jahren«, die bis in die Anfänge ihrer politischen Karriere hineinreichen, zu rekonstruieren und sie für die Analyse der späteren Zeit fruchtbar zu machen. Auf diese Weise lässt sich durchaus erklären, was diesen »jungen Mann aus gutem Hause« dazu brachte, sich Mitte der zwanziger Jahre der rechtsradikalen Splitterpartei NSDAP anzuschließen, und was ihn, den eher schwächlichen und unscheinbaren Typ, dazu drängte, die ihm unterstellte »Schutzstaffel« zur martialischen SS auszubauen und sie auf einen Kurs makelloser rassischer Auslese festzulegen. Seine Persönlichkeit erlaubt außerdem Rückschlüsse darauf, was Himmler in den folgenden Jahren dazu bewog, trotz Niederlagen und Frustrationen zäh auf seinem Posten auszuharren und konsequent am Aufbau eines Machtkomplexes zu arbeiten, der den von Deutschland beherrschten Raum maßgeblich kontrollierte. Und was die von ihm organisierten beispiellosen Verbrechen anbelangt, so ist ihre Rechtfertigung durch Himmler biographisch unauflöslich mit seiner Vorstellung von »Anständigkeit« verbunden, die sich bei näherem Hinsehen als Chiffre für eine kleinbürgerliche Doppelmoral entpuppt.

Eine Biographie Himmlers kann aber noch sehr viel mehr leisten. Denn die lebensgeschichtlich verzahnte, chronologische und synoptische Nachzeichnung der diversen Aktivitäten, die Himmler als Reichsführer-SS, Chef der Deutschen Polizei, Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums, Reichsinnenminister und Befehlshaber des Ersatzheeres in Gang setzte, eröffnet die Einsicht, dass die einzelnen Politikfelder in Himmlers Verantwortungsbereich viel stärker miteinander verwoben waren, als man gemeinhin annimmt. Es ergeben sich zudem überraschende zeitliche Koinzidenzen, die in der Forschung so bisher nicht gesehen wurden.

Denn die bisherige Forschung zur Geschichte des SS- und Polizeikomplexes konzentrierte sich vor allem auf die Rekonstruktion der von der Schutzstaffel verübten Massenverbrechen – wobei der Holocaust eindeutig im Vordergrund stand – sowie auf die sachlichen Tätigkeitsbereiche der SS: Auf diese Weise wurden Repression, rassische Vernichtung, Waffen-SS, Siedlungs- und Volkstumspolitik, Spionage et cetera vorwiegend als nebeneinanderstehende Säulen des SS-Imperiums betrachtet.

Doch wenn man erklären will, was diesen äußerst heterogenen Apparat zusammenhielt, wie es dazu kam, dass er sich im Lauf der Zeit immer neue Aufgaben suchte, seine Kompetenzen erweiterte und sich mehrfach neu definierte, dann wird man sich mit der Lebensgeschichte des Mannes an seiner Spitze beschäftigen müssen. Denn Himmler sollte die Rolle der SS immer wieder, in klar voneinander abgrenzbaren Phasen, neu bestimmen.

Aus der kleinen Leibwächter-Truppe, die er 1929 übernahm, schuf er innerhalb kürzester Zeit einen sich elitär gebenden und auf die Parteispitze eingeschworenen paramilitärischen Verband. 1933/34 verstand er es, sich in relativ kurzer Zeit zum Chef der Politischen Polizei im gesamten Reich aufzuschwingen; aus dieser Position heraus entwickelte er ein umfassendes Konzept für die Führung der Gesamtpolizei, die er – nachdem Hitler ihn 1936 zum Chef der Deutschen Polizei ernannt hatte – mit der SS zu einem »Staatsschutzkorps« verschmelzen wollte.

Als das sogenannte Dritte Reich Ende der dreißiger Jahre zur Expansion überging, setzte er neue Schwerpunkte: Neben Siedlung und »rassischer Auslese« der Bevölkerung in den zu »germanisierenden« Gebieten baute er die Waffen-SS aus und schaltete sich in die Repressionspolitik in den besetzten Gebieten ein. Ab 1941 leitete er eine Politik des systematischen Massenmordes nach rassistischen Kriterien ein. Für ihn war dies der erste Schritt, um auf dem europäischen Kontinent eine qualitativ neue, rassistisch ausgerichtete Herrschaftsordnung zu errichten – das großgermanische Reich.

Doch dann geriet das Regime Ende 1942 in die Defensive, und Himmler verschob erneut die Akzente. Nun konzentrierte er sich ganz darauf, die »Sicherheit« innerhalb des noch von NS-Deutschland beherrschten Raumes zu garantieren, und vereinigte bis zum Ende des Krieges praktisch alle nach innen einsetzbaren Gewaltmittel des NS-Staates in seiner Person.

Himmlers eigentliche Stärke bestand demnach darin, alle zwei bis drei Jahre jeweils neue Gesamtkonzeptionen für seinen Machtbereich zu entwerfen, die den einzelnen Teilen dieses heterogenen Machtkonglomerats aufeinander bezogene Aufträge zuwiesen, die auf die Gesamtpolitik des Regimes abgestimmt waren und sich sowohl machtpolitisch wie ideologisch begründen ließen. Auf diese Weise reagierte er auf die zunehmende politische Radikalisierung des NS-Regimes und trieb sie gleichzeitig entscheidend voran.

Diese Fähigkeit Himmlers, Weltanschauung und Machtpolitik durch immer neue umfassende Aufgabenstellungen für seine SS auf höchst effiziente Weise miteinander zu verknüpfen, macht vor allem eines deutlich: Der biographische Zugang ist der einzig adäquate Weg, die Geschichte der SS in all ihren Facetten zu begreifen und zu erklären. Ohne den Mann an ihrer Spitze lässt sich diese heterogene, ständig expandierende und sich radikalisierende Organisation nicht umfassend erschließen.

Dazu trägt auch die Erkenntnis bei, dass Himmlers persönliche Vorlieben, Aversionen und diversen Marotten die Organisation und Führung der SS tief prägten und tatsächlich strukturbildend wirkten. Dies gilt etwa für Himmlers eigenwillige Art der Personalführung, die die Überwachung des Privatlebens seiner Männer mit einschloss und in vielerlei Hinsicht an das Verhalten einer strengen und fürsorglichen Vaterfigur erinnert; dies gilt auch für seinen Versuch, einen SS-Kult zu etablieren, der ganz den germanophilen Neigungen des katholischen Dissidenten entsprach. Das Staatsschutzkorps, zu dem Himmler die SS ausgestalten wollte, bot ihm in vielerlei Hinsicht eine Form des Selbstschutzes, ein Schild, hinter dem er seine persönlichen Neigungen ausleben und seine Schwächen verbergen konnte.

Der Reichsführer-SS Himmler war eben nicht ein politischer Funktionsträger, der ein Amt mit festgefügten Kompetenzen innehatte, sondern er schuf sich im Laufe der Zeit aus den diversen ihm zuteilgewordenen Führeraufträgen eine in dieser Form einmalige, ganz auf seine Person zugeschnittene Machtposition. Die Führung der SS, die Sicherung ihres inneren Zusammenhalts und ihrer Zukunftsfähigkeit wurden zu seinem eigentlichen Lebensinhalt.

Je mehr Himmler seine persönlichen Maximen auf die Führung der SS übertrug, je stärker er mit seinem Amt verwuchs, desto mehr verschwand denn auch die private Person hinter der Funktion als Reichsführer-SS. Während wir über den privaten Himmler bis zum Beginn der dreißiger Jahre aus unterschiedlichen Quellen (vor allem aus Tagebüchern und Briefen) relativ gut informiert sind, werden solche persönlichen Dokumente mit der zunehmenden Machtfülle und wachsenden dienstlichen Beanspruchung des Reichsführers-SS immer seltener; so etwas wie ein Privatleben hatte Himmler kaum mehr. Wir verfügen zwar über eine große Zahl offizieller Dokumente, in denen die Persönlichkeit Himmlers mit ihrem typischen Stil, ihren Ressentiments, Neigungen und Vorurteilen klar durchscheint, doch trotz solcher Zeugnisse stößt die rein biographische Methode im Falle Himmlers spätestens Mitte der dreißiger Jahre an ihre Grenzen. Es wäre ja auch vermessen – und historiographisch ein völlig falscher Weg –, wollte man das Handeln des Reichsführers-SS Heinrich Himmler primär aus seinem Lebenslauf ableiten. Die Geschichte des Nationalsozialismus lässt sich nun einmal nicht auf die sich überkreuzenden Lebensläufe einiger führender Nazis reduzieren.

Worum es stattdessen geht, ist eine sinnvolle Verbindung von Biographie und Strukturgeschichte; wenn dabei der Strukturgeschichte im Laufe der Lebensjahre unseres Protagonisten ein immer größeres Gewicht beigemessen wird, so ist diese methodische und narrative Gewichtsverlagerung die logische Konsequenz aus der geschilderten wachsenden Verschmelzung von Amt und Person. Das biographische Element behält dennoch in allen geschilderten Lebensphasen seine Bedeutung. Denn im Nationalsozialismus war die Ausgestaltung politischer Macht nun einmal auf unauflösbare Weise mit der Biographie führender NS-Funktionäre verbunden. Für den Reichsführer-SS Heinrich Himmler gilt dies in ganz besonderer Weise.

TEIL IDer junge Himmler

Kindheit und Jugend

1980, wenige Wochen vor seinem Tod, schloss der deutsche Schriftsteller Alfred Andersch eine autobiographische »Schulgeschichte« ab. Geschildert wird eine Griechischstunde am Münchner Wittelsbacher-Gymnasium, die 52 Jahre vor dem Erscheinen der Geschichte stattfand: Ihr Vorbild ist der letzte Griechischunterricht, den Andersch an dieser Anstalt im Jahr 1928 erlebte.

Das Drama beginnt, als der Direktor der Anstalt, der strenge, von allen gefürchtete »Rex«, zu einer überraschenden Visite in der Klasse erscheint. Zunächst kommt es zu einem Wortwechsel zwischen dem Rex und einem recht selbstbewussten Schüler adliger Herkunft, der schnell eskaliert und damit endet, dass der Direktor dem unbotmäßigen Schüler, der sich seiner Autorität nicht unterwerfen will, die Relegierung von der Schule ankündigt. Doch dies war erst das Vorspiel: Nun befiehlt der Rex den Helden der Geschichte, den Andersch Franz Kien genannt hat, an die Tafel und führt nicht nur geradezu genussvoll dessen miserable Griechischkenntnisse vor, sondern macht Kien-Andersch nach allen Regeln der Kunst – zynisch, hämisch, gemein – fertig. Auch er muss die Anstalt verlassen.

Der Rex, so erfährt man, hieß in Wirklichkeit Himmler, und Andersch gab der Geschichte den Titel »Der Vater eines Mörders«.

Anderschs »Schulgeschichte« ist ein möglicher Versuch, sich dem Phänomen Himmler anzunähern: Die Karriere des Massenmörders, so wird hier nahegelegt, ist das Ergebnis eines Vater-Sohn-Konflikts, in dessen Verlauf Heinrich Himmler zum rechtsradikalen Revolutionär wird, der sich gegen den überstrengen Vater auflehnt, sich mit ihm »tödlich verfeindet«. Musste nicht, so lautet Anderschs Frage, »aus einem solchen Vater mit ›Naturnotwendigkeit‹, das heißt nach sehr verständlichen psychologischen Regeln, nach den Gesetzen des Kampfes zwischen aufeinander folgenden Generationen und den paradoxen Folgen der Familien-Tradition, ein solcher Sohn hervorgehen?« Andersch räumte ein, dass er auf diese Frage keine definitive Antwort habe.

Die zahlreichen Leserbriefe, die nach dem Vorabdruck von Anderschs Novelle in der Süddeutschen Zeitung eben dort veröffentlicht wurden und von Lesern stammten, die Gebhard Himmler noch selbst erlebt hatten, zeichnen ein uneindeutiges Bild: Er wird als »einer der Typen, die nach oben katzbuckeln und nach unten treten«, beschrieben, aber auch als »sehr respektgebietende, energische Persönlichkeit von hohem geistigen Niveau«.1

Otto Gritschneder, ein bekannter Münchner Anwalt, der zahlreiche kritische Publikationen zur bayerischen Justiz im Nationalsozialismus verfasst hat, erinnerte sich an seinen ehemaligen Lehrer Gebhard Himmler »als gerechten Rex (und Gerechtigkeit ist ja für Schüler etwas sehr Wichtiges), der sich ehrlich mühte, unseren jungen Seelen den Anschluss an Kultur und Geschichte unserer Heimat und unseres Kontinents zu vermitteln«. Gritschneder hatte im Übrigen als Klassenkamerad neben Andersch gesessen; dieser sei, so seine Auskunft, einfach ein schlechter Schüler gewesen, und seine Schulkarriere am Wittelsbacher-Gymnasium sei auf ganz normale Weise beendet worden.2

Die Himmlers und ihr Sohn Heinrich

Gebhard Himmler, Heinrich Himmlers Vater, war der Sohn eines subalternen protestantischen Beamten, ein klassischer sozialer Aufsteiger. Sein 1809 geborener Vater Johann Himmler, der aus einer Familie von Bauern und Handwerkern aus Ansbach stammte und selbst gelernter Weber war, hatte sich in einer wechselvollen Karriere im königlich-bayerischen Militär- und Polizeidienst bis zum Brigadier (das entsprach dem Rang eines Polizeiwachtmeisters) hochgedient und war nach seiner Verabschiedung 1862 bis zu seinem Tod 1872 in der Bezirksverwaltung von Lindau tätig gewesen. Wenige Monate nach seiner Übersiedlung nach Lindau hatte Johann Himmler, nun 53-jährig, die 24 Jahre jüngere Agathe Rosina Kiene geheiratet, Katholikin und Tochter eines Uhrmachers aus Bregenz.3

1865 bekam das Paar einen Sohn, Gebhard. Als er sieben Jahre alt war, starb sein Vater. Die Mutter erzog ihn katholisch, und wohl vor allem ihrem Einfluss verdankte er jene Energie und Zielstrebigkeit, mit deren Hilfe es ihm gelang, aus seiner kleinbürgerlichen Herkunft den sozialen Aufstieg ins Bildungsbürgertum zu vollziehen. 1884 nahm er an der Münchner Universität ein Studium auf, in dem er sich vor allem mit Germanistik und den klassischen Sprachen beschäftigte und das er 1888 mit dem Staatsexamen beendete.4 Anschließend verbrachte er einige Zeit in St. Petersburg, wo seinerzeit eine relativ große deutsche Kolonie existierte, und war dort als Privaterzieher im Hause des Honorarkonsuls Freiherr von Lamezan tätig.5 Durch die Freundschaft Lamezans mit dem bayerischen Prinzregenten Luitpold ergaben sich Verbindungen zum bayerischen Hof. Gebhard Himmler kehrte nach Bayern zurück, wo er sich bemühte, als Gymnasiallehrer Fuß zu fassen. Zunächst unterrichtete er ab 1890 als befristet beschäftigter Lehrer an Münchner Gymnasien, genoss aber seit 1894 das seltene Privileg, von Prinz Arnulf von Wittelsbach, einem Bruder des Prinzregenten und späteren König Ludwig III. von Bayern, zum Privatlehrer von dessen Sohn Heinrich bestellt zu werden.6 Nachdem er diese Tätigkeit 1897 erfolgreich beendet hatte, erhielt Gebhard Himmler eine feste Stelle als Gymnasiallehrer am traditionsreichen Wilhelmsgymnasium in München.7

Seine neue Stellung erlaubte ihm endlich die Gründung einer Familie. 1897 heiratete er Anna Maria Heyder, die Tochter eines Münchner Kaufmanns. Sie war zum Zeitpunkt der Eheschließung mit 31 Jahren ein Jahr jünger als ihr Ehemann; auch sie hatte ihren Vater, der bei ihrer Geburt bereits 55 Jahre alt gewesen war, früh, im Alter von sechs Jahren, verloren.8 Sie soll ein nicht unbeträchtliches Vermögen in die Ehe eingebracht haben.9

Heinrich war nach dem im Juli 1898 geborenen Gebhard das zweite Kind dieser Ehe: Er kam am 7. Oktober 1900 zur Welt. Es war eine große Ehre für die Himmlers, dass sich Prinz Heinrich, damals sechzehn Jahre alt, auf Bitten Gebhard Himmlers bereit erklärte, die Patenschaft für das Kind zu übernehmen. Zwar stand der Prinz in der Erbfolge der Wittelsbacher an aussichtsloser neunter Stelle, doch über die Patenschaft war die Verbindung zum Hof gefestigt, eine für die Zukunft der aufstiegsorientierten Himmlers ein außerordentlich wichtiger Umstand.10 Der jüngste Nachwuchs der Himmlers erhielt natürlich den Namen des einflussreichen Paten; als zweiten Vornamen wählte man Luitpold, den Namen des Prinzregenten. Für den ältesten Sohn Gebhard hatte man im Übrigen als zweiten Vornamen Ludwig ausgewählt, den Namen des 1886 verstorbenen bayerischen Königs. 1905 bekam Heinrich noch einen kleinen Bruder, Ernst.

Sicher ist, dass die Himmlers erfolgreich darum bemüht waren, ein geordnetes, durch Regelmäßigkeit der Lebensführung, Fleiß und Religiosität geprägtes Leben zu führen, wie es für eine gut situierte Münchner Beamtenfamilie um die Jahrhundertwende typisch war. Während die Mutter sich ganz um den Haushalt und das Wohlergehen der Kinder kümmerte, ging Vater Himmler nicht nur in seinem Beruf als Gymnasiallehrer auf, sondern versuchte, die Früchte seiner pädagogischen Fähigkeiten außerdem so weit wie nur irgend möglich seinen Söhnen angedeihen zu lassen.11

Im Zentrum der Erziehung stand die Vermittlung eines gediegenen Bildungskanons, der insbesondere klassische Literatur, solide Geschichtskenntnisse und die Beherrschung der alten Sprachen umfasste. Das stark ausgeprägte Bemühen, die Söhne an gesellschaftliche Konventionen und Manieren zu gewöhnen, verrät vermutlich auch die Unsicherheit des aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Vaters. Erziehung zur Religiosität und die aktive Teilnahme am kirchlichen Leben waren selbstverständlich; dabei legte vor allem Anna Himmler auf die Hinführung zum Katholizismus so großen Wert, dass Vater Himmler sich veranlasst sah, vor Übertreibungen auf diesem Gebiet zu warnen.12

Die väterliche Autorität äußerte sich nicht in Unnahbarkeit oder despotischer Strenge, sondern in geduldiger Arbeit an den Söhnen; sie wurden einem System von Regeln und Verboten unterworfen, deren Einhaltung Vater Himmler genau, mitunter pedantisch überwachte. Die Strenge des Vaters war auf nachhaltige Wirkung angelegt und scheint sich durchaus mit Güte, Liebe und Zärtlichkeit vertragen zu haben.13 Einen erheblichen Teil seiner Freizeit verbrachte der Vater außerdem mit der Pflege seiner Briefmarkensammlung, und an dieses Hobby führte er auch die Söhne heran. Außerdem brachte er ihnen Stenografie bei; ein großer Teil der Familienkorrespondenz ist in Kurzschrift überliefert.14

Vater Himmler kontrollierte insbesondere die schulischen Erfolge seiner Kinder und hielt sie dazu an, die Ferienzeit zum Repetieren des Unterrichtsstoffs zu nutzen. Als sein ältester Sohn Gebhard durch verschiedene Krankheiten mehr als die Hälfte seines ersten Schuljahres verlor, verwandte der Vater große Mühe darauf, nicht nur den entgangenen Stoff aufzuholen, sondern den Sohn bis zum Ende des zweiten Schuljahres zum Klassenbesten zu machen.15 Beide Eltern achteten im Übrigen auf den »richtigen Umgang« ihrer Sprösslinge, vorzugsweise mit Kindern aus dem gehobenen Münchner Bürgertum.

Gebhard Himmlers Pedanterie, darauf hat seine Urenkelin aufmerksam gemacht, zeigte sich besonders krass im Jahr 1910, als er sich anschickte, zu einer Griechenlandreise – ohne die Familie – aufzubrechen. Gebhard traf umfassende Vorbereitungen für den Fall, dass er nicht lebend zurückkommen sollte. Für jedes Familienmitglied hatte er einen langen Abschiedsbrief verfasst, der detaillierte Ratschläge für den weiteren Lebensweg und zahlreiche praktische Hinweise für die Bewältigung des Alltags enthielt. Seinem ältesten Sohn Gebhard legte er einen regelrechten Tugendkatalog ans Herz: Er hielt ihn zu »Fleiß, Pflichttreue, Sittenreinheit« an und ermahnte ihn, ein »tüchtiger, religiöser und deutschgesinnter Mann« zu werden. Das entsprach exakt den Maximen, nach denen er seine drei Söhne erzog.16 Der Brief an Heinrich ist leider nicht erhalten. Himmler wünschte, das geht aus diesen Briefen hervor, dass seine Söhne studieren und promovieren sollten, allerdings weder in Philologie noch Theologie. Auch Offiziere sollten sie nicht werden.

Die Himmlers wohnten in jenen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in Etagenwohnungen in bevorzugter, doch keineswegs exklusiver Wohnlage,17 sie beschäftigten eine Haushaltshilfe und waren offensichtlich frei von finanziellen Sorgen. Sie unterhielten ausgiebige Kontakte zu zahlreichen Familienmitgliedern und besaßen einen verhältnismäßig großen Bekanntenkreis.18 Man pflegte weiterhin die Beziehung zum Prinzen Heinrich, der regen Anteil am Fortkommen seines Patenkindes und dem Wohlergehen der Himmlers nahm. Das Verhältnis war durchaus herzlich, wie die erhaltene Korrespondenz zwischen Gebhard und dem Prinzen zeigt; zur Weihnachtszeit erhielten die Himmlers regelmäßig Besuch des Prinzen und seiner Mutter, die nach dem Tod ihres Ehemannes, des Prinzen Arnulf, den Namen Prinzessin Arnulf führte.19

Konservativ-behäbig, monarchistisch, katholisch, wirtschaftlich saturiert und in kultureller Hinsicht traditionalistisch, lebten die Himmlers in einem Milieu, das in krassem Gegensatz zu dem weit verbreiteten Ruf stand, den das München der Jahrhundertwende als Metropole einer bewusst modernen Kultur, als kunstsinnige, tolerante und heitere Stadt genoss. Tatsächlich befanden sich kulturelle Moderne und politischer Liberalismus in München seit 1900 bereits auf dem Rückzug: Die liberale Stadtregierung und das liberale bayerische Staatsministerium gerieten seit der Jahrhundertwende zunehmend seitens des katholisch-konservativen Zentrums unter Druck, das sich vor allem gegen »Unsittlichkeit«, unkonventionelle Tendenzen im Kulturleben und speziell gegen die Schwabinger Künstlerboheme wandte. Entsprechend dieser kulturpolitischen Frontstellung blieb die Welt der Himmlers von den Werken eines Thomas oder Heinrich Mann, vom Blauen Reiter, der Schwabinger Kabarettszene oder dem Jugendstil weitgehend unberührt.20

1902 zog die Familie vorübergehend nach Passau, wo Gebhard Himmler am humanistischen Gymnasium eine Stelle erhalten hatte.21 Im Februar 1903 erkrankte der damals zweijährige Heinrich ernsthaft an der Lunge, weshalb die Mutter im Frühjahr mit den Kindern für einige Monate nach Wolfegg, ein Dorf im Allgäu, übersiedelte, damit das Leiden ausheilte. Es bestand die akute Gefahr, dass Heinrich an Tuberkulose erkrankte, der seinerzeit häufigsten Todesursache bei Kleinkindern. Als es Heinrich langsam wieder etwas besser ging, ging es nach Passau zurück; doch es ist offensichtlich, dass die Eltern die Angst vor den üblichen Kinderkrankheiten plagte, die bei dem stark geschwächten Heinrich einen schweren, vielleicht tödlichen Verlauf zu nehmen drohten.22

1904 zog die Familie wieder nach München, wo Gebhard Himmler, mittlerweile zum Gymnasialprofessor befördert, eine Stelle am Ludwigsgymnasium antrat. Wieder bezogen die Himmlers eine Etagenwohnung, diesmal in der Amalienstraße 86, direkt hinter der Universität.23 Für Heinrich brach eine schwierige Zeit an: Nicht nur erkrankte der ältere Bruder Gebhard, der im September 1904 eingeschult worden war, an einer Infektionskrankheit nach der anderen und rückte daher anstelle des kleinen Heinrich ganz ins Zentrum der mütterlichen und väterlichen Fürsorge, bei Anna Himmler zeichnete sich außerdem eine erneute Schwangerschaft ab. Im Dezember 1905 wurde Ernst geboren, und Heinrich musste die Erfahrung machen, dass die elterliche Zuwendung nun primär dem jüngeren Bruder galt.24

Heinrich befand sich nun in der komplizierten Position des mittleren Sohnes, eingekeilt zwischen dem Vorbild des überlegenen großen Bruders und der behutsamen Rücksichtnahme auf den kleinen Ernst. In dieser Situation, in der er vielleicht fürchtete, innerhalb der Familie aufs Abstellgleis zu geraten, wurden Krankheiten für ihn nicht nur Leidenszeiten, sondern boten ihm auch eine Möglichkeit, das elterliche Interesse wieder auf sich zu ziehen. Möglicherweise liegt in dieser Erfahrung die Wurzel für seine späteren psychosomatischen Beschwerden. Dem jüngeren Bruder gegenüber begann er jedenfalls eine gewisse joviale Herablassung zu entwickeln.25

1906 wurde Heinrich in die Domschule am Münchner Salvatorplatz im Zentrum der Stadt eingeschult (und nicht in die Amalienschule, die eigentlich für die Kinder seines Wohnviertels zuständig war). Doch auch hier hatte er zunächst kein Glück. Wie zuvor bereits sein Bruder versäumte er während des ersten Schuljahres durch verschiedene Infektionskrankheiten wie Husten, Masern, Mumps und vor allem eine Lungenentzündung insgesamt 150 Schultage. Mit Hilfe einer Privatlehrerin wurde der entgangene Schulstoff zwar zu Hause aufgeholt,26 doch die Tatsache, dass die Eltern, namentlich der Vater, sehr hohe Erwartungen in ihn setzten, dürfte ihn zusätzlich zu der durch den jüngeren Bruder entstandenen neuen familiären Konstellation unter Druck gesetzt haben – zumal er trotz guter Noten nicht so gut abschnitt wie sein älterer Bruder. Erst durch den Wechsel zur Amalienschule 1908 scheint sich seine Lage etwas entspannt zu haben. Hier war Heinrich ein guter Schüler und freundete sich auch mit einigen seiner Klassenkameraden an.27

Die langen Sommerferien, die die Familie meist im bayerischen Voralpenland verlebte, waren für die Himmler-Söhne sicherlich die aufregendste Zeit des Jahres. Man verbrachte die Ferien mit der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten, mit Spaziergängen, Bootsfahrten und sonstigen Freizeitvergnügungen. 1910, man war nach Lenggries gefahren, trug Vater Himmler Heinrich auf, über den Sommeraufenthalt ein Tagebuch zu führen: Den ersten Eintrag machte er gleich selbst, damit der Sohn eine Orientierungshilfe hatte. Fortan las und korrigierte er die Eintragungen des Sohnes und sorgte dafür, dass dieser in den kommenden Jahren ähnliche Ferien-Tagebücher anlegte.28

Gebhard und Anna Himmler (sitzend) mit ihren drei Kindern Heinrich (links), Ernst (Mitte) und Gebhard (rechts) in einer Aufnahme von 1906

Kein Wunder, dass diese Ferien-Tagebücher den Charakter eines schulmäßigen Übungstextes haben und sich im Wesentlichen in der banalen, aber peniblen Aufzählung der Urlaubsaktivitäten erschöpfen. 1911 etwa hielt Heinrich fortlaufend fest, wie viele Male er zum Baden gegangen war: Er kam auf insgesamt 37 Aufenthalte im Wasser.29 Die recht lapidare Wiedergabe des Tagesablaufs behielt Heinrich auch bei, als Vater Gebhard die Kontrolle des Tagebuchs aufgab. An die Stelle der väterlichen Überwachung war die Selbstkontrolle getreten.30

1910 wechselte Heinrich zum Wilhelmsgymnasium, an die Schule, an der sein Vater bis 1902 unterrichtet hatte.31 Der Junge war damals von schmaler, relativ kleiner Statur, er hatte eine schwächliche Konstitution, kränkelte viel, seine ganze Erscheinung war weichlich. Sein rundes Gesicht, das von der Brille, die er ständig tragen musste, beherrscht wurde, wirkte ausgeprägt kindlich; sein fliehendes Kinn verstärkte den Eindruck noch.

Als einer seiner ehemaligen Mitschüler, Wolfgang Hallgarten, Jahrzehnte später – er war vor den Nazis in die USA geflohen und mittlerweile einer der führenden amerikanischen Deutschland-Historiker – erfuhr, dass es sich bei dem Klassenkameraden, der von allen »Himmler« gerufen wurde, tatsächlich um den »späteren Schreckensmann« handelte, wollte er die unwiderlegbare Tatsache zunächst einfach nicht glauben. Zu groß erschien ihm der Gegensatz zwischen dem Reichsführers-SS und jenem »kaum durchschnittlich großen, ungemein milchgesichtigen und körperlich recht plumpen Knaben mit ziemlich kurz geschorenem Haar, der schon damals auf der etwas spitzen Nase eine goldene Brille trug« und häufig »ein halb verlegenes, halb hämisches Lächeln« zur Schau stellte. Himmler, so Hallgarten, sei ein bei allen Lehrern gern gesehener Musterschüler gewesen; er habe in der Klasse als Streber gegolten und sei nur mäßig beliebt gewesen. Besonders gut in Erinnerung war Hallgarten die unglückselige Figur, die Himmler zum Gaudium seiner Mitschüler beim Turnen abgab. Judenhass, so Hallgarten im Übrigen, habe Himmler seinerzeit ferngelegen; dagegen meinte er, sich deutlich an Heinrichs radikal antifranzösische Einstellung zu erinnern.32

1913 übernahm der Gymnasialprofessor Himmler die Stellung des Konrektors am Humanistischen Gymnasium in Landshut. Man war nun in der Lage, ein Haus mit Garten zu beziehen.33 Falk Zipperer, ein Freund aus Münchner Tagen, zog glücklicherweise ebenfalls mit seiner Familie nach Landshut, wo der Stiefvater, Ferdinand von Pracher, Präsident der Bezirksregierung wurde – aus Sicht der Familie Himmler also der ideale familiäre Hintergrund für den engsten Freund ihres Sohnes. Die Freundschaft sollte lange halten: 1937 gab Himmler anlässlich der Eheschließung des Freundes eine Mittagstafel,34 1938 nahm er ihn in die SS auf, und 1940 veröffentlichte Zipperer, mittlerweile habilitierter Rechtshistoriker, einen Beitrag in einer Festschrift zu Himmlers 40. Geburtstag.35 Noch 1944 – Himmler bereitete sich auf sein letztes Weihnachtsfest vor – war Zipperers Ehefrau Lieselotte auf einer Geschenkeliste vermerkt.36

Eine andere Bekanntschaft, die bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hielt, war die zu dem drei Jahre älteren Karl Gebhardt. Die beiden Jungen lernten sich in Landshut kennen. Gebhardt wurde Arzt und leitete später ein Sanatorium in Hohenlychen im Raum Berlin, das – wie wir noch sehen werden – in Himmlers Leben eine besondere Rolle spielen sollte.37 Außerdem war Heinrich wohl noch aus seiner Münchner Zeit mit den Kindern des Generalkonservators Hager, Edi und Luisa, befreundet.38 Heinrich war demnach keineswegs ein Einzelgänger, auch wenn seine Mitschüler ihn für einen strebsamen Musterschüler und Weichling gehalten haben mögen. Seine schulischen Leistungen während seiner Landshuter Schulzeit, die bis 1919 währen sollte, waren tatsächlich überdurchschnittlich: In Religion und Geschichte hatte er stets ein »sehr gut«, in den sprachlichen Fächern stand er »sehr gut« bis »gut«; sein schwächstes Fach war Physik, das er in einem Jahr nur mit »genügend« abschloss. In einer Beurteilung aus dem Schuljahr 1913/14 heißt es: »Ein anscheinend sehr gut veranlagter Schüler, der mit unermüdlichem Fleiß, brennendem Ehrgeiz, regster Beteiligung am Unterricht die besten Leistungen der Klasse erzielte. Sein Betragen war musterhaft.«39

Kriegsjugend

In diese wohlgeordnete Welt platzten, ausgerechnet während der Sommerfrische, die man 1914 im malerischen Tittmoning an der deutsch-österreichischen Grenze verbrachte, die Nachrichten von der Krise, die durch die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo am 28. Juni ausgelöst wurde und die in den Ersten Weltkrieg mündete.

Heinrichs Tagebucheintragungen, in der sich die alarmierenden Neuigkeiten unvermittelt neben den üblichen Aufzeichnungen über seine Urlaubsaktivitäten finden, spiegeln die Atmosphäre dieser entscheidenden Tage und das überstürzte Ende der Ferienidylle wider. So heißt es am 29. Juli: »Gebhards Geburtstag. Beginn des Krieges zwischen Österreich u. Serbien. Ausflug an den Waginger See.« Die Mitteilung über den Kriegsbeginn unterstrich er rot. Die Einträge der nächsten beiden Tage, die offensichtlich wieder die Tagesaktivitäten betrafen, sind ausradiert und mit dem wiederum rot unterstrichenen Satz »Verkündigung des Kriegszustands« überschrieben. Und nun traten die politischen und militärischen Ereignisse ganz in den Vordergrund:

»1. VIII. Mobilmachung in Deutschland. 2. Armeekorps. Sogar der Landst[urm].

2. VIII. Vorm. im Garten gespielt. Nachm. ebenfalls. 7 h 30 Kriegserklärung Deutschlands an Russland.

3. VIII. Französische u. russische Grenzübergriffe. Flieger u. Spione. Wir packen schleunigst ein.«

Die Familie Himmler reiste überstürzt nach Landshut zurück. Mit den abrupt abgebrochenen Ferien sollte ein ganzes Zeitalter enden.

Heinrichs weitere Tagebucheintragungen stehen nun ganz im Zeichen der für Deutschland zunächst sehr günstig verlaufenden militärischen Ereignisse, so am 23. August:

»Sieg des deutschen Kronprinzen nördlich von Metz (Longeville). Prinz Heinrich schrieb an Vati. Er ist bei der Attacke gegen die französischen Dragoner unbedeutend verwundet worden. Würdevolle Antwort Deutschlands auf Japans Ultimatum. Die Deutschen in Gent. Klavier gespielt. […] Die Bayern sollen sich in der gestrigen Schlacht sehr tapfer benommen haben. Besonders sollen unsere 16ener mit dem langen Messer vortrefflich gerauft haben. Die ganze Stadt ist beflaggt. Dass sie so schnell gehaut werden, haben sich die Franzosen und Belgier wohl kaum gedacht. Der Landsturm I. Aufgebot ist aufgerufen. Namür wird belagert. 8000 Russen bei Gumbinnen gefangen.«

Und einen Tag später notierte er aufgeregt: »Die Verfolgung der Franzosen durch das Heer des bayerischen Kronprinzen trägt reiche Früchte (Gefangene, Feldzeichen u. 150 Geschütze). Das 21. Armeekorps zog in Lüneville ein. Die Armee des deutschen Kronprinzen hat ebenfalls die Verfolgung des Feindes fortgesetzt. (Vorwärts Longwy). Der Herzog Albrecht von Württemberg schlug eine französische Armee, die über den Semois vorging. Der Feind wird verfolgt. Beute: Gefangene, Generale, Geschütze, Feldzeichen. Vorgehen unserer Truppen westlich der Maas gegen Maubeuge. Eine dort auftretende englische Kavalleriebrigade ist gehaut, das haut! Hurra!«

Täglich begab er sich zur Geschäftsstelle der örtlichen Zeitung, wo die aktuellen Nachrichten-Telegramme aushingen:

»27. VIII. […] Nachm. zu den Telegrammen gegangen. Erbprinz Luitpold von Bayern ist in Berchtesgaden an einer Halsentzündung gestorben. Der kleine Kreuzer Magdeburg lief im Nebel im Finnischen Meerbusen Odensholm auf u. konnte nicht los gebracht werden. […] Der Kreuzer wurde in die Luft gesprengt. 85 Mann sind vermisst, ein Teil ist tot u. verwundet, ein anderer konnte sich auf ein deutsches Torpedoboot retten. Die ängstlichen Landshuter Spießbürger lassen jetzt den Kopf hängen, streuen furchtbare Gerüchte […] aus u. fürchten, von den Kosaken grausam massakriert zu werden. Heute erschien die erste größere Verlustliste der bayerischen Armee.«

»28. VIII. […] Die englische Armee geschlagen. […] Jetzt geht es großartig vorwärts. Ich freue mich über diese Siege ebenso sehr als sich wohl die Engländer u. Franzosen darüber ärgern, u. der Ärger wird nicht gerade klein sein. Falk u. ich möchten am liebsten gleich selbst mitraufen. Man sieht halt, dass der deutsche Michel u. sein treuer Bundesgenosse Österreich sich vor einer Welt von Feinden nicht fürchtet.«

Für seine Umgebung galt das, wie er kritisch festhielt, anscheinend nicht im selben Maße: »Überhaupt«, beschwert er sich am 27. August, »ist in Niederbayern bei den Zurückgebliebenen keine besonders große Begeisterung. Bei Bekanntgebung der Mobilmachung soll in der Altstadt alles geflennt haben. Ich hätte mir das von den Niederbayern am allerwenigsten gedacht, wo die Niederbayern sonst doch so rauflustig sind. Ein verwundeter Krieger sagt dasselbe. Es gehen oft ganz furchtbare u. dumme Gerüchte, die alle von den Leuten erfunden sind.«

Die Landshuter seien »so stumpfsinnig u. ängstlich wie immer, dass sie bei einem vermeintlichen Zurückgehen der Truppen bei Paris gleich alle Durchfall bekommen u. ihnen das Herz in die Hosentasche fiel. Gerüchte gehen, dass es ganz schrecklich ist«, notierte er am 6. September.

Mit Verachtung für die örtliche Bevölkerung und Mitgefühl für die gefangenen Feinde beobachtete er am 30. August, wie ein Transport mit französischen Verwundeten am Bahnhof versorgt wurde: »Der ganze Bahnhof war mit neugierigen Landshutern gefüllt, die grob u. fast tätlich wurden, als man den schwer verwundeten Franzosen (die doch sicherlich schlechter als unsere Verwundeten dran sind, da sie Gefangene sind) Wasser und Brot gab.« Die russischen Gefangenen sieht er offenbar etwas anders, wie ein Eintrag vom 4. September verrät: »Die in Ostpreußen gefangenen Russen sind nicht 70 000 sondern 90 000. (Die vermehren sich ja wie Ungeziefer).«

Trotz des Krieges fuhren die Himmlers auch 1915 wie gewohnt in die Sommerfrische, diesmal nach Burghausen. Die Ankunft auf dem Bahnhof in Mühldorf weckte in Heinrich Erinnerungen an den Kriegsbeginn ein Jahr zuvor. Obwohl es mit dem Hurra-Patriotismus der ersten Kriegsphase nun vorbei war, musste er doch lebhaft an den vorigen Sommer denken, »wo wir ungefähr um dieselbe Zeit auf dem Bahnhof standen und exerzierten. Es war damals am 6. August, als wir von Tittmoning heimfuhren. Wenige Tage darauf sind sie fröhlich und munter in den Krieg hinaus. Wie viele mögen wohl noch leben.«40

Alles, was mit Krieg und Militär zusammenhing, faszinierte ihn. Als sein zwei Jahre älterer Bruder im September 1915 zusammen mit seinen Eltern einen Besuch bei verwundeten Soldaten machen durfte, bekannte Heinrich in seinem Tagebuch, wie sehr er ihn beneide.41 Anfang 1915 hatte die Landwehr für Übungszwecke Schützengräben und Unterstände angelegt, die von Heinrichs Schulklasse besichtigt wurden. Heinrich zeigte sich beeindruckt: In seinem Tagebuch finden sich eine Skizze und eine Beschreibung der Anlagen.42

Im Juli 1915 wurde Bruder Gebhard siebzehn Jahre alt und trat in den Landsturm ein; er konnte sich damit zur militärischen Reserve rechnen. Heinrich kommentierte sehnsüchtig: »O wäre ich nur auch schon so weit, ich wäre längst draußen.«43 Aber Himmler, bei Kriegsbeginn vierzehn Jahre alt, gehörte zur sogenannten Kriegsjugendgeneration: zu jung, um selbst als Soldat an die Front geschickt zu werden, doch alt genug, um seit Beginn des Krieges die militärischen und politischen Ereignisse aufmerksam zu verfolgen, und geprägt durch die Erfahrung, den Krieg in allen seinen Phasen als eine kollektive nationale Anstrengung miterlebt zu haben.44

Vor allem in der Anfangsphase des Krieges versuchten Heinrich und seine Freunde, sich spielerisch einen Zugang zur »Normalität« des Krieges, der über vier Jahre währen sollte, aufzubauen.45 Im Tagebuch verschwimmen denn auch manchmal die Grenzen zwischen dem gespielten und dem echten Krieg: »Mit Falk im Garten gespielt. 1000 Russen gefangen von unseren Truppen östlich der Weichsel. Vormarsch der Österreicher«, notierte er am 26. August 1914. Drei Tage später heißt es: »Mit Falk Schild u. Schwert gespielt. Diesmal mit 40 Armeekorps u. Russland, Frankreich u. Belgien gegen Deutschland u. Österreich. Das Spiel ist sehr interessant. Sieg über die Russen in Ostpreußen (50 000 Gefangene).«

Von Ostern bis Herbst 1915 war er Mitglied der Jugendwehr, wo er und seine Schulkameraden vormilitärisch ausgebildet wurden. Man bescheinigte ihm »sehr anerkennenswerten Eifer«.46 »Nach. zur Wehrkraft. Die Übung ziemlich mau. Ich lag eine Viertelstunde in einem ziemlich feuchten Acker. Es hat mir aber nichts geschadet«, vermerkt er in seinem Tagebuch.47

Heinrich begann, über Magenschmerzen zu klagen, ein Leiden, das ihn bis ans Lebensende begleiten sollte.48 Seine körperliche Schwächlichkeit versuchte er durch Sport zu überwinden: In seinem Tagebuch findet sich im September 1914 ein Hinweis auf tägliches Hanteltraining,49 im Februar 1917 trat er in den Landshuter Turnverein ein.50

Mittlerweile rückte der Krieg näher an den Alltag der Himmlers heran. Einschränkungen bei der Versorgung mit Lebensmitteln und wichtigen Bedarfsgütern machen sich zunehmend bemerkbar. Im November 1916 führte die Regierung den »vaterländischen Hilfsdienst« ein, der jeden Deutschen vom vollendeten siebzehnten bis zum vollendeten sechzigsten Lebensjahr verpflichtete, sich für kriegswichtige Arbeiten zur Verfügung zu stellen, sofern er nicht ohnehin beim Militär diente. Im gleichen Monat erreichte die Himmlers die Nachricht, dass Heinrichs Pate Prinz Heinrich in Rumänien gefallen war; der Prinz war nur 32 Jahre alt geworden. Die Himmlers betrauerten nicht nur einen wichtigen Freund der Familie, sondern auch die Tatsache, dass ihr privilegierter Zugang zum Hof, der für das Fortkommen der drei Söhne stets die schönsten Aussichten eröffnet hatte, damit unwiderruflich dahin war.51

1917 wurde der Jahrgang seines älteren Bruders von der Militärmaschinerie erfasst: Gebhard, bereits seit zwei Jahren im Landsturm, rückte im Mai 1917 beim 16. Bayerischen Infanterie-Regiment in Passau ein, wo er die erste Stufe der Offiziersausbildung durchlief.52 Auch Falk Zipperer verließ im April 1917 das Gymnasium und begann ebenfalls eine Offiziersausbildung.53

Heinrich, der sein vormilitärisches Training seit Oktober 1915 in der Jugendkompanie Landshut fortsetzte,54 wollte den gleichen Weg gehen. Wohl auf sein Drängen stellte sein Vater im Sommer 1917 umfangreiche Bemühungen an, um ihm bei einem der bayerischen Infanterieregimenter eine Stelle als Offiziersanwärter zu beschaffen. Dabei gelang es dem Vater, den Hofmarschall der Prinzessin Arnulf, der Mutter des gefallenen Prinzen Heinrich, einzuspannen, der unter anderem bei Heinrichs Bewerbung für das exklusive 1. und 2. Infanterie-Regiment unterstützend eingriff – allerdings vergeblich, die Bewerberlisten waren schon zu lang.55 Im Zuge seiner Korrespondenz mit den Militärbehörden wurde Vater Himmler aufgefordert, sich zu der Frage zu äußern, ob sein Sohn sich mit dem Gedanken trage, die Karriere des Berufsoffiziers einzuschlagen. »Mein Sohn Heinrich hat den dringenden Wunsch, Infanterieoffizier von Lebensberuf zu werden«, lautete seine bestimmte Auskunft.56

Kurz vor Beginn des neuen Schuljahres – den Sommer hatte er die gewohnte Sommerfrische noch in Bad Tölz verbracht – ging Heinrich überraschend vom Gymnasium ab. Absolviert hatte er bis dahin sieben Gymnasialklassen, sein letztes Zeugnis wies ihn als guten, wenn auch nicht exzellenten Schüler aus.57 Sein Abgang von der Schule war offensichtlich durch die Befürchtung motiviert, als Gymnasiast seines Jahrgangs eingezogen zu werden, bevor seine Bemühungen um einen Offiziersanwärterposten in einem erstklassigen Regiment Erfolg hatten. Erfolgreich bewarb er sich bei der Regensburger Stadtverwaltung für den Vaterländischen Hilfsdienst: Im Oktober 1917 wurde er im Kriegsfürsorgebüro eingestellt, einer Wohlfahrtseinrichtung, die sich um die Hinterbliebenen gefallener Soldaten kümmerte. Nach sechs Wochen beendete er dieses Zwischenspiel und ging zurück aufs Gymnasium, nachdem das Schulministerium in einer Anordnung klargestellt hatte, dass die Gymnasiasten seines Jahrganges noch nicht eingezogen werden würden.58

Miles Heinrich

Am 23. Dezember erhielt er überraschend die Nachricht, dass das 11. Infanterie-Regiment ihn als Offiziersanwärter annehmen würde. Auch hier hatte der besagte Hofmarschall seine Finger im Spiel; Vater Himmlers Beziehungen zum Hof hatten sich letztlich also doch als effizient erwiesen.59 Heinrich verließ die Schule und trat am 2. Januar seine Ausbildung beim Ersatzbataillon des 11. Regiments in einem Lager bei Regensburg an.60

Einen seiner ersten Briefe an die Eltern unterschrieb er stolz mit der lateinischen Floskel »Miles Heinrich« – Soldat Heinrich –, und der frischgebackene Krieger bekundete seine Männlichkeit unter anderem damit, dass er anfing zu rauchen.61 Im Gegensatz zu dieser männlichen Pose offenbaren seine fast täglichen Briefe an die Eltern allerdings große Schwierigkeiten, sich in der militärischen Welt einzuleben. Heinrich hatte Heimweh. Er klagte über die schlechte Unterbringung und die miserable Verpflegung, die er allerdings an den meisten Abenden durch Gasthausbesuche ergänzen konnte. Ständig verlangte er nach häufigeren Antworten auf seine Briefe, nach Lebensmitteln, frischer Wäsche und anderen Sendungen, die ihm das Leben in der Kaserne erleichtern sollten.62 Wenn seine Wünsche nicht sogleich erfüllt wurden – immerhin erhielt er in den ersten fünf Wochen seines militärischen Daseins sieben Pakete von zu Hause63 –, reagierte er beleidigt: »Liebste Eltern! Heute habe ich wieder nichts gekriegt von Euch. Das ist doch gemein.«64

Nach einigen Wochen gewöhnte er sich an das neue Leben. Die Jammerei trat nun in seinen Briefen zurück, dennoch macht die Korrespondenz deutlich, wie sehr er nach wie vor auf den engen Kontakt mit dem Elternhaus angewiesen war.65

Seit dem Februar 1918 erhielt er regelmäßig Urlaubsscheine und konnte die meisten Wochenenden zu Hause verbringen. Bruder Gebhard hingegen wurde im April 1918 an die Westfront abkommandiert und nahm hier an schweren und verlustreichen Kämpfen teil.66 Heinrich geriet allerdings schon außer sich, wenn er ein paar Tage keine Post von zu Hause bekam: »Liebe Mutter! Recht herzlich danke ich für Eure so lieben Nachrichten (die ich nicht gekriegt habe). Das ist so gemein, dass Du mir wieder nicht geschrieben hast.«67

Als sich der Regensburger Kurs seinem Ende näherte, hoffte er, ebenfalls an die Front versetzt zu werden, musste aber zu seiner Enttäuschung erfahren, dass man ihn auf einen weiteren Ausbildungskurs schicken wollte. »Da hättest Du Dir Deine Tränen sparen können«, schrieb er seiner Mutter, die dem Fronteinsatz ihres zweiten Sohnes angstvoll entgegensah. »Freut Euch aber nicht zu früh, es kann sich ebenso schnell ändern.«68 Am 15. Juni setzte er seine Ausbildung im knapp vierzig Kilometer von Landshut entfernten Freising fort. Auch jetzt verbrachte er die meisten Wochenenden zu Hause.69

In seinen Briefen schilderte er wie bisher den Alltag beim Militär, mit dem er nun erheblich besser zurechtkam, wie seine lapidaren Schilderungen zeigen: »Der Dienst ist zwar sehr reichlich, aber immerhin sehr interessant.« »Die Behandlung ist hervorragend. Heute Nachmittag haben wir gebadet […] Das Essen ist sehr gut.«70 Großen Raum nahmen nach wie vor die Verpflegungsprobleme und Berichte über seine schwankende Gesundheit ein;71 sein Hunger nach den vielen »feinen Packerln«72 aus Landshut, für die er sich stets artig bedankte (»der Kuchen war großartig«73), schien nie abzureißen. Das offensichtliche Bedürfnis nach der Zuneigung und Liebe seiner Eltern war jedoch, so zeigt die Korrespondenz, nicht wirklich zu stillen. Obwohl er sich nach Anfangsschwierigkeiten den Eltern gegenüber männlicher, erwachsener und soldatischer zu präsentieren versuchte (sicherlich auch beeindruckt durch das Vorbild des großen Bruders, der sich immerhin zum gleichen Zeitpunkt unter unmittelbarer Lebensgefahr an der Front befand), forderte er in seinen Briefen unverändert lebhafte Anteilnahme an seinen Alltagssorgen und permanente Unterstützung bei deren Bewältigung ein.

Im August begann er, das Ende des Freisinger Kurses herbeizusehnen: »Der Kurs wird immer mader und strenger. Nun ja, wir werden die Kiste schon schmeißen, wenn auch nicht weit«, schrieb er nach Hause.74 Auch nach Abschluss dieses Kurses75 wurde er nicht, wie von ihm erwartet, an die Front geschickt, sondern musste einen weiteren Lehrgang absolvieren: Er hatte sich am 15. September zu einer vierzehntägigen Spezialausbildung am schweren Maschinengewehr in Bamberg einzufinden.76 Obwohl sich an der Westfront nach dem Scheitern der deutschen Frühjahrsoffensive eine äußerst kritische militärische Lage abzeichnete, bildete die deutsche Armee ihre Offiziere immer noch äußerst gründlich aus. Oder hielten seine Vorgesetzten Heinrich einfach noch nicht für reif genug, um als Offiziersanwärter an der Front eingesetzt zu werden?

Anfang Oktober war der Bamberger Kurs zu Ende, und nach einer Woche Urlaub musste er wieder in Regensburg antreten, wo er unter anderem bei der Ausbildung von Rekruten eingesetzt wurde.77 Heinrich schätzte die allgemeine Lage pessimistisch ein: »Politisch sehe ich jetzt furchtbar schwarz, ganz schwarz«, schrieb er am 16. Oktober an seine Eltern. Wie viele andere hielt er nun die Revolution für unvermeidlich.78

Doch Heinrich wollte sich unbedingt noch im Kampfeinsatz bewähren und schrieb begeistert nach Hause, er sei mit einem Leutnant ins Gespräch gekommen, der ihm angeboten habe, ihn an die Front zu versetzen.79 Aber dazu kam es nicht mehr, denn angesichts der Anfang November ausbrechenden politischen Wirren wurde die für die Front bestimmte Marschkompanie aufgelöst. Heinrich schickte man erst einmal nach Hause. In Landshut erlebte er den politischen Umsturz und das Kriegsende: Am 7. November brach die Revolution in München aus, der bayerische König dankte ab. Am 9. November etablierte sich in Berlin der revolutionäre Rat der Volksbeauftragten, und Kaiser Wilhelm II. floh in die Niederlande. Am 11. November unterzeichnete die neue Regierung den Waffenstillstand und gestand damit die Niederlage des Deutschen Reiches ein.

Ende November kehrte Heinrich in der Hoffnung zu seiner Truppe nach Regensburg zurück, dass die Armee die Ausbildung des Fahnenjunkerjahrgangs 1900 noch beenden werde. Zunächst arbeitete er jedoch zusammen mit seinem Vetter, dem mittlerweile zum Leutnant beförderten Ludwig Zahler, in der Abrüstungserfassung des Regiments; beide mieteten sich Zimmer in Regensburg.80 Außerdem begann Himmler, sich auf sein Abitur vorzubereiten.81

In Regensburg sympathisierte er mit der Bayerischen Volkspartei (BVP), die im November 1918 von führenden Politikern des bayerischen Zentrums gegründet worden war. Heinrich setzte sich mit einem von Gebhards früheren Schulkameraden in Verbindung, der nun aktiv in der Regensburger Parteiorganisation der BVP tätig war, und forderte auch seinen Vater auf, sich für die neue Partei zu engagieren.82

Sein Bruder Gebhard war, inzwischen zum Fähnrich befördert und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, Anfang Dezember unbeschadet von der Front zurückgekehrt. Heinrich hingegen musste kurze Zeit später zur Kenntnis nehmen, dass er selbst keine Chance mehr auf eine Fortsetzung seiner militärischen Karriere bekam: Noch im Dezember 1918 erfuhr er, dass alle Fahnenjunker des Jahrgangs 1900 aus dem Heer entlassen werden sollten.83 Am 18. Dezember wurde er aus der Armee verabschiedet und kehrte nach Landshut zurück.84 Die Tatsache, dass er weder die Front sah noch Offizier wurde, hat er als schweren Makel empfunden. Zeit seines Lebens sollte er die Sichtweise beibehalten, er sei an seiner wahren Berufung als Offizier gehindert worden.

Student der Agrarwissenschaft

Zurück in Landshut, stand für Himmler zunächst der Abschluss seiner Gymnasialausbildung im Vordergrund. Absolviert hatte er bis dahin sieben Gymnasialklassen; die verbleibende Schulzeit bis zur Erlangung des Reifezeugnisses konnte er dank einer Sonderregelung in einer sechsmonatigen Sonderklasse für Kriegsteilnehmer nachholen. Klassenlehrer des Lehrgangs war ausgerechnet Vater Gebhard, der die Gruppe mit gewohnter Strenge und Pedanterie leitete und seinem Sohn sicher keinerlei Vergünstigungen gestattete.1

Befreundet war Heinrich in dieser Zeit vor allem mit dem aus dem Krieg heimgekehrten Falk Zipperer, der ebenfalls die Sonderklasse besuchte. Die beiden Freunde verbrachten viel Zeit mit dem Schreiben von Gedichten, wobei Himmler im Gegensatz zu dem durchaus begabten Zipperer, der sogar eine ganze Reihe von Reimen veröffentlichte, eher holprige Verse zu Papier brachte.2

Mittlerweile spitzten sich die politischen Verhältnisse in Bayern zu. Am 21. Februar wurde der Kopf der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) in Bayern, der durch die Revolution in das Amt des Ministerpräsidenten gelangte Kurt Eisner, von einem rechtsradikalen Offizier erschossen. In den folgenden Wochen kam es zu einer immer schärferen Polarisierung zwischen der vom Landtag gewählten Koalitionsregierung unter dem neuen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann und der besonders in München starken, linksradikalen Rätebewegung. Schließlich proklamierte die Linke am 7. April in München die Räterepublik, die Regierung Hoffmann floh aus der Stadt und zog sich nach Bamberg zurück. Die USPD verließ die bayerische Regierung. Im Norden Bayerns bereiteten sich Reichswehreinheiten und Freikorps – bewaffnete, aus Kriegsheimkehrern zusammengesetzte antirevolutionäre und antidemokratische Freiwilligenverbände – darauf vor, die Hauptstadt der jungen Republik zu erobern.3

Heinrich betätigte sich wieder für die Bayerische Volkspartei, wenn auch nur für kurze Zeit, wie seine Korrespondenz mit dem Regensburger Sekretariat der Partei zeigt.4 Ende April trat er dem Freikorps Landshut sowie der Reservekompanie des Freikorps Oberland bei. Das gerade erst von Rudolf von Sebottendorf, dem Vorsitzenden der rechtsextremen Thulegesellschaft, gegründete Freikorps war mit Unterstützung der Regierung Hoffmann zustande gekommen, um die Münchner Räterepublik niederzuschlagen. An den Anfang Mai stattfindenden blutigen Kämpfen scheint Heinrich jedoch nicht teilgenommen zu haben.5 Dennoch blieb er noch mindestens zwei Monate lang im Freikorps Oberland, wo er einen Posten in der Ergänzungskompanie einnahm6 und darauf hoffte, doch noch die Offizierslaufbahn einschlagen zu können. Immerhin hatte die Regierung den Freikorps die Übernahme in die Reichswehr in Aussicht gestellt. Aber als im August tatsächlich Freikorpsverbände in die Reichswehr aufgenommen wurden, war Oberland nicht darunter.

Anfangsschwierigkeiten

Am Juli 1919 erhielt Heinrich Himmler, entsprechend einer weiteren Sonderregelung für Kriegsteilnehmer, das Zeugnis der Hochschulreife, ohne sich je der eigentlichen Abiturprüfung unterziehen zu müssen. Die Noten lauteten in den meisten Fächern »sehr gut«, nur in Mathematik und Physik musste er sich mit einem »gut« begnügen.7 Da eine Militärlaufbahn in der Reichswehr immer unwahrscheinlicher wurde, traf er die überraschende Entscheidung, an der Technischen Hochschule München Landwirtschaft zu studieren. Auf den ersten Blick lässt sich diese Berufswahl nur schwer mit dem bildungsbürgerlichen Horizont der statusbewussten und aufstiegsorientierten Himmlers in Einklang bringen, zumal die städtische Familie keinerlei Querverbindungen zum Landbesitz besaß, die dem Sohn eine Stelle etwa als Gutsverwalter hätten ermöglichen können. Im Gegenteil: Die bevorstehende weitgehende Auflösung des alten Offizierskorps ließ erwarten, dass sich zahlreiche verabschiedete Offiziere ebenso wie die heranwachsenden Söhne des Adels, die ansonsten zum Militär gegangen wären, in der Landwirtschaft betätigen würden.

Gerade dieser Umstand dürfte Himmlers Entscheidung jedoch erklären: An der landwirtschaftlichen Fakultät hoffte er auf die Gesellschaft ehemaliger Offiziere, die sich zwar notgedrungen auf einen neuen »Brotberuf« vorbereiteten, das Studium aber in erster Linie als Möglichkeit betrachteten, ihre Zeit bis zum Ausbruch eines neuen Krieges oder Bürgerkrieges mit Gleichgesinnten zu verbringen. Hier konnte Heinrich vollends in das Milieu der Reserveoffiziere und paramilitärischen Aktivitäten eintauchen, um sein eigentliches Berufsziel einer Militärlaufbahn womöglich doch noch zu verwirklichen. Die in der unmittelbaren Nachkriegszeit allgemein herrschende Unsicherheit mag überdies die Eltern Himmler bewogen haben, Heinrichs Entschluss pragmatisch zu beurteilen. Schließlich akzeptierten sie auch, dass Gebhard und Ernst Ingenieurwissenschaften studierten.

Im Sommer 1919 wurde Vater Himmler zum Direktor des Gymnasiums in Ingolstadt ernannt, und es gelang der Familie, in der Nähe des neuen Wohnorts ein Gut zu finden, auf dem Himmler das zur Aufnahme des Studiums notwendige einjährige Praktikum absolvieren sollte. Am 1. August 1919 trat er das Jahrespraktikum auf dem Gut des Ökonomierats Winter in Oberhaunstadt an. Auf dem Hof wurde sechs Tage in der Woche zwölf Stunden täglich gearbeitet; am Sonntag hatte Himmler frei, musste sich aber in der Früh noch im Stall betätigen. Den Briefen an die Eltern8 und dem »Arbeitstagebuch«, das er sogleich anlegte, ist zu entnehmen, dass die ungewohnte, harte körperliche Arbeit ihm zwar schwerfiel, »Heinrich agricola«, wie er einen seiner Briefe unterzeichnete, aber auch stolz auf seine Leistungen war. So notierte er etwa am 26. August: »Vormittags Kornboden gekehrt. 3 ½ Fuhren Gerste abgeladen allein.« Und am 29. August vermerkte er: »Nachmittags Roggensäcke auf einen Waggon verladen. 105 Stück à 2 Zentner. 3 Fuhren Gerste abgeladen.« Wie aus seiner Militärzeit gewohnt, wurde er weiterhin von zu Hause mit zusätzlicher Verpflegung, frischer Wäsche und anderem versorgt.

Seine Hoffnung, durch die Anstrengungen seine schwächliche Konstitution zu verbessern,9 wurde jedoch schnell enttäuscht: Bereits am zweiten Wochenende lag er malade im Bett, und nach weniger als fünf Wochen Praktikum erkrankte er ernsthaft. Im Ingolstädter Krankenhaus diagnostizierte man Verdacht auf Paratyphus und behielt ihn für drei Wochen da. Seine Familie übersiedelte inzwischen nach Ingolstadt.10 Am 25. September fuhr er nach München zum alten Hausarzt der Familie, Dr. Quenstedt. Der kam, laut Heinrich, zu folgendem Ergebnis: »Herzerweiterung. Nicht bedeutend, aber 1 Jahr aussetzen und studieren.«11

Während der durch die Krankheit erzwungenen Ruhepause las Heinrich eifrig. Noch im Krankenhaus begann er, eine Leseliste anzulegen, auf der er für die Monate September und Oktober (nach dem Krankenhausaufenthalt lebte er wieder bei den Eltern) insgesamt 28 Werke verzeichnete.12

Er verschlang ein halbes Dutzend Bände Jules Verne, daneben vorwiegend historische Erzählungen, beispielsweise drei Bücher des bayerischen Volkserzählers Maximilian Schmidt. Goethes »Faust« gehörte ebenso zu seiner Lektüre wie Thomas Manns Roman »Königliche Hoheit«, der in diesem Zeitraum das einzige Stück moderner deutscher Literatur auf seiner Liste bleiben sollte und sogleich sein Missfallen erregte.13 »Interessant« fand er hingegen die beiden Bände des »Ossian«, einer von dem Lehrer und Schriftsteller James Macpherson 1762/63 herausgegebenen Sammlung von Bardengesängen aus keltischer Vorzeit. Die angeblich im schottischen Hochland zusammengetragenen Stücke waren tatsächlich eine Fälschung, eine Dichtung des Herausgebers. Ob Himmler dies bei der Lektüre bewusst war, muss dahingestellt bleiben; in jedem Fall entsprach diese Art von romantischer Heldensage ganz seinem Geschmack.14

Gegen Ende seiner Krankheitspause wandte er sich der politischen Lektüre zu. Er las eine seinerzeit weit verbreitete Kampfschrift gegen die Freimaurer des österreichischen Nationalratsabgeordneten Friedrich Wichtl, der daranging, das während des Ersten Weltkrieges vor allem in katholischen Kreisen populäre Freimaurer-Feindbild zu einem völkischen Stereotyp auszubauen.15 Wichtl behauptete unter anderem, die Freimaurerei stehe stark unter jüdischem Einfluss, strebe zur Weltrevolution und sei maßgeblich schuld am Weltkrieg. Himmler kommentierte zustimmend: »Ein Buch, das über alles aufklärt u. uns sagt, gegen wen wir zunächst zu kämpfen haben«, wobei offenbleiben muss, ob sich diese Kampfansage nun an die Freimaurer oder an deren angeblich jüdische Hintermänner richtete. Kurz zuvor hatte er die vom Deutschen Komitee zur Förderung der jüdischen Palästinasiedlung herausgegebenen ersten acht Bände der Pro-Palästina-Schriften gelesen, sich also mit zionistischer Literatur auseinandergesetzt, diese Lektüre jedoch nicht kommentiert.16

Erstes Semester in München

Am 14. Oktober reiste er nach München zu einer neuerlichen Untersuchung durch Dr. Quenstedt. Hinsichtlich seines Herzens wurde »nichts besonderes« festgestellt.17 Dem geplanten Studium stand nun nichts mehr im Wege: Am 18. Oktober 1919 schrieb er sich an der Technischen Universität ein.18

Heinrich Himmler studierte regelmäßig und fleißig, und alsbald festigte sich sein Gesundheitszustand.19 Zunächst teilte er sich für einige Wochen ein Zimmer mit seinem Bruder Gebhard, dann nahm er sich in der Amalienstraße 28, ganz in der Nähe der Technischen Universität, ein möbliertes Zimmer.20 Schnell unterwarf er sein Alltagsleben einem gewissen Rhythmus. Seine Mahlzeiten nahm er ganz in der Nähe seiner Unterkunft in der Wohnung von Frau Loritz ein, der Witwe eines Kammersängers, die zusammen mit ihren beiden Töchtern Studenten verköstigte.21 Die Abende verbrachte er meist dort, seine übrige Freizeit vielfach im Kreis von Freunden, von denen noch die Rede sein wird. Häufig machte er auch Bekannten der Eltern seine »Aufwartung« – offensichtlich nicht nur aus Höflichkeit oder um seiner Eltern willen, sondern weil er Gefallen an dieser Art von gesellschaftlichem Umgang fand.

Mehrfach suchte er Geheimrat von Lossow auf, einen Freund der Familie, der sich, wie er befriedigt notierte, als »kollossal liebenswürdig« erwies.22 Verschiedentlich ließ er sich zudem bei der Familie von Professor Rauschmayer sehen, zu dessen Tochter Mariele sich später eine freundschaftliche Beziehung entwickeln sollte.23 Besonders häufig war er bei den Hagers zu Gast, wobei sein Hauptinteresse der Tochter Luisa galt, die er seit Jahren kannte. Visiten bei erkrankten Freunden und Bekannten waren für ihn selbstverständlich.24

Im November trat er der Verbindung Apollo bei, in der sein Vater zu den »Alten Herren« zählte. Apollo war eine »schlagende« Verbindung, das heißt, hier wurde das traditionelle Fechten kultiviert. »Um 2 Uhr 30 Minuten in die Kneipe, wo 5 Schlägermensuren stiegen. […] Auf jeden Fall stärkt es die Nerven und man lernt dabei eine Wunde ruhig empfangen.«25 Die »Kneipe«, wie man im Verbindungsjargon die Treffen der »Bundesbrüder« nennt,26 war natürlich mit erhöhtem Alkoholkonsum verbunden: »Es war sehr fidel. Ich trank 8 Gläser Wein. Um 12 Uhr 30 Minuten fuhren wir mit dem Zug heim. Die meisten trugen Affen heim, dass es eine Freude war. Ich brachte auch ein paar Bundesbrüder in ihre Bude. Um 2 Uhr ins Bett.«27

Der gesellige Himmler war nach wie vor aktiver Katholik, ging zur Messe, nahm an der Kommunion teil und beichtete.28 In seinem Tagebuch finden sich Einträge wie: »Gott wird mir weiterhelfen.«29 Die Christmette, die er Weihnachten 1919 gemeinsam mit seiner Familie in Ingolstadt besuchte, beeindruckte ihn zutiefst: »Wir standen vorne im Chor, die feierliche Mette ergriff mich mächtig. Da wirkt die Kirche durch ihren prunkvollen Ritus und Gott durch das schlichte liebe Kind auf den Menschen.«30

Wie viele Studenten der Technischen Hochschule gehörte Himmler dem Kriegsteilnehmer-Verband31 an und engagierte sich darüber hinaus als Freizeitsoldat: Er wurde Mitglied der 14. Alarmkompanie der 21. Schützenbrigade,32 einer Reserveformation der Reichswehr, und beteiligte sich an Alarm- und Schießübungen. München hatte sich nach der Niederschlagung der Räterepublik im Mai zum Zentrum der gegenrevolutionären Aktivitäten entwickelt. Die Freikorps und paramilitärischen Verbände der politischen Rechten, die zur Abwehr der Revolution entstanden waren, existierten weiter; man verfügte über umfangreiche Waffenlager und arbeitete eng mit der Reichswehr zusammen.

Nicht ohne Grund rechnete Himmler mehrfach mit »Aktionen« und brannte darauf, mitmachen zu dürfen. So erwartete er unmittelbar vor dem 9. November 1919, dem ersten Jahrestag der Revolution, einen militärischen Einsatz, doch dann blieb alles ruhig.33