Armin Mueller-Stahl - Volker Skierka - E-Book

Armin Mueller-Stahl E-Book

Volker Skierka

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Beschreibung

Mit zahlreichen Darstellerpreisen ausgezeichnet und für einen Oscar nominiert, gilt Armin Mueller-Stahl als einer der beliebtesten Schauspieler Deutschlands mit hohem internationalem Ansehen. Doch seine Talente reichen viel weiter: Als gelernter Konzertgeiger ist er ein profunder Musikkenner, und als Maler und Schriftsteller wird er von Kritikern und Publikum verehrt. Volker Skierka zeichnet ein aufmerksames Porträt des Ausnahmekünstlers, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verbindet.

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Volker Skierka

Armin Mueller-Stahl

Die Biographie

Hoffmann und Campe

Engel über Tilsit

Neulich habe ich eine alte Fotografie gefunden, darauf war ein kleiner Junge zu sehen, der hatte ein Nachthemd an, das ging ihm bis zu den Knien, er stand da einfach so und guckte nach oben, wie einer, der auszog, Sterntaler zu fangen. Da fiel mir eine Geschichte ein, die man sich in Ostpreußen erzählt:

Vor grauer Zeit hatte der liebe Gott seine Engel aus der Abteilung Kunst ausgeschickt, die Menschen zu beschenken, die flogen auch über Ostpreußen.

Der erste war der Engel der Musik. Seine Flügel waren mit vielen verschlungenen goldenen Notenschlüsseln besetzt, er flog also übers Land und rief: »Wer will Musik? Wer will Musik?«, und der kleine Junge, der da im Städtchen Tilsit in seinem Nachthemd stand, schrie: »Ja, ja! Ich, ich will sie, die Musik!«

Dann kam der nächste Engel, den der Herr geschickt hatte. Der wiederum hatte ganz bunte Flügel, flog so auch über Ostpreußen und rief: »Wer will die Malerei?« Der kleine Junge in seinem Nachthemd meldete sich wieder: »Die will ich! Ja, ja, will ich!«

Dann segelte der nächste Engel vorüber, mit etwas zerrupften Flügeln flog er über Masuren und auch über Tilsit und soufflierte: »Wer will hier Schauspieler sein?« – »Ich, ich«, rief der Kleine, »ich will ein Schauspieler sein, ja, ein Hamlet!«

Schließlich flog auch noch der vierte Engel, mit großen Buchstaben auf seinen Flügeln gedruckt, über die schöne Landschaft und wollte wissen, wer denn ein Poet werden wolle. Da rief der nachthemdige Junge in Tilsit: »Ich will das auch können.«

Die Engel trafen sich nach ihren weiten Flügen wieder auf der häuslichen Wolke, der liebe Gott kam vorbei und fragte: »Was zetert ihr denn hier so rum?«

»Ja, dieser eine Knabe da unten ist ja maßlos«, riefen die vier Engel besorgt dem Herrn zu. Daraufhin trat der liebe Gott ganz an den Rand des Himmels, schaute hinunter und sagte zu dem Kleinen:

»Minchen, es ist wohlgetan, du sollst es haben. Alles. Und wachse damit!«

Und das hat er getan, der kleine Hemdenmatz aus Tilsit; ein Sonntagskind. Er ist also das einzige und richtige Gesamtkunstwerk, der Armin Mueller-Stahl!

Welchen Weg dieser kleine süße Fratz getan hat, von Tilsit bis nach Hollywood, ist schier unglaublich, das kann nur mit aufwendigem Engelschutz zugegangen sein. Und der liebe Gott hat ihm auch schönen warmen Odem zugehaucht, damit er immer genug Luft unter seinen Flügeln habe.

Und die hatte er immer, sie hat ihn bis zum heutigen Tage getragen, das Kind im Hemd.

Jürgen Flimm

Jürgen Flimm, geboren 1941, deutscher Regisseur und Theaterintendant, 1985–2000 Intendant des Thalia-Theaters Hamburg; 2001–2003 Schauspieldirektor und ab 2006–2010 Intendant der Salzburger Festspiele, 2005–2007 Intendant der RuhrTriennale; seit 2010 leitet er die Deutsche Staatsoper Unter den Linden.

Armin Mueller-Stahl im Alter von drei Jahren

© Privatarchiv Mueller-Stahl

Begegnungen – Eine Einführung

Eines Abends im Jahre 1978 traf sich im Wohnbüro des Korrespondenten der britischen Nachrichtenagentur Reuters in der Schönhauser Allee in Ostberlin ein kleiner Kreis von West-Journalisten mit sogenannten »Kulturschaffenden« aus der DDR zum Essen und vertraulichen Gespräch. Mit dabei waren der prominente Schriftsteller Stefan Heym sowie der DDR-Schauspieler und Filmstar Armin Mueller-Stahl mit seiner Frau Gabi. Der Gastgeber, mein damaliger britischer Kollege Mark Brayne, der für den Reuters-World-Service bei der DDR-Regierung akkreditiert war, hatte auch mich hinzugebeten, der ich damals als junger Journalist für den Deutschen Dienst vom Westberliner Reuters-Büro aus die DDR-Berichterstattung mit besorgte. Bis zu jenem Treffen reicht meine Beziehung zu Armin und Gabi Mueller-Stahl zurück. Sie warteten damals auf eine Ausreisegenehmigung in den Westen. Wegen seiner Unterschrift gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann im Jahr 1976 war er bei den DDR-Oberen in Ungnade gefallen.

Nachdem die beiden schließlich die Mauer hinter sich gelassen hatten, trafen wir uns in Westberlin in ihrer Wohnung am Kleinen Wannsee wieder, später in ihrem Haus an der Ostsee, bei uns zu Hause in Hamburg, und sie waren Gäste meiner Hochzeit. Als sie nach Amerika gezogen waren und Armin Mueller-Stahl auch dort längst ein namhafter »Actor« war, blickten wir in Pacific Palisades von ihrer Terrasse über Los Angeles auf den Pazifik. Auf dem Nachbarhügel lebten einst Lion und Marta Feuchtwanger als Exilanten in der prächtigen Villa Aurora und etwas oberhalb am San Remo Drive Thomas und Katia Mann. Es war ein halbes Jahrhundert später, als auch wir, Armin Mueller-Stahl und ich, unter dem kalifornischen Sternenhimmel saßen und in Gedanken in Deutschland waren. Zu später Stunde holte er plötzlich ein altes Videoband von seiner DDR-Fernsehshow Ich kauf’ dir eine Blume hervor, und ein paar Meilen von Hollywood entfernt amüsierten wir uns über seine herrlichen Sketche, die politisch zweideutigen Texte, kleinen Satiren und frechen Chansons über ein längst entschwundenes Land, und er erzählte von dem bevorstehenden Film Die Manns. Seither haben wir uns immer wieder gesehen, an der Ostsee, in Hamburg oder in Los Angeles, privat oder beruflich zu Interviews und Gesprächen, und meist war auch seine Frau Gabi dabei.

Volker Skierka und Armin Mueller-Stahl

© Volker Skierka

Stets geht von den beiden eine tiefe Herzlichkeit aus. Auch wenn man sich länger nicht gesehen hat, geben sie einem das Gefühl, als hätte man sich erst kürzlich voneinander verabschiedet. Unvergesslich meine Überraschung, als ich eines Tages in ihrem Haus an der Ostsee die neo-expressionistisch wirkenden Bilder an den Wänden bewunderte. Selten hatte ich so ausdrucksstarke zeitgenössische Porträts gesehen. Als ich Mueller-Stahl fragte, von wem sie seien, antwortete er lachend: »Von mir.« Doch er bat mich, darüber zu schweigen. Die Bilder, sagte er damals, seien nicht für die Öffentlichkeit, sondern nur für ihn und seine Familie bestimmt. Das Malen sei für ihn so etwas wie Entspannungstherapie. Nichts weiter.

Erst zu seinem 70. Geburtstag im Dezember 2000 entschloss Mueller-Stahl sich, bedrängt von Freunden und Bekannten, aber weiterhin zögernd und zweifelnd, im Filmmuseum Potsdam, unweit der Studios von Babelsberg, seiner alten Wirkungsstätte zu DDR-Zeiten, erstmals eine Auswahl seiner Malerei auszustellen. Es gab – leider – nicht einmal einen Katalog. Die öffentlichen Reaktionen waren überwältigend und nahmen ihm schließlich die Scheu, dem Potsdamer Experiment schon bald eine ähnliche Ausstellung im Burgkloster Lübeck folgen zu lassen. Gleichzeitig zeigte man im Buddenbrookhaus, dem alten Wohnhaus der Familie Mann, Mueller-Stahls während der Dreharbeiten zu Die Manns entstandenen Zeichnungen und Skizzen. Aus dieser Zeit stammt auch die Idee einer Biographie über Armin Mueller-Stahl. Sie erschien erstmals 2002 im Knesebeck-Verlag – als Bild- und Textband, in dem viele seiner Kunstwerke abgedruckt waren. Inzwischen sind fast anderthalb Jahrzehnte vergangen, im Leben der Mueller-Stahls hat sich seither viel ereignet, nicht nur auf dem Gebiet der Schauspielerei, sondern vor allem hinsichtlich der Entwicklung seiner Malerei. Längst ist sie ihm genauso wichtig geworden wie die Schauspielerei. Seine Vita konnte er anreichern um zahlreiche Ausstellungen in namhaften Museen und Galerien auch in Amerika. Zeit also, mit Blick auf den 85. Geburtstag Armin Mueller-Stahls im Dezember 2015, die facettenreiche Biographie zu aktualisieren und zu ergänzen.

Die Nähe zu einer Person macht eine solche Arbeit auf der einen Seite sehr leicht, auf der anderen Seite ist es mitunter schwer, die notwendige Distanz zu wahren. So habe ich versucht, einmal mehr aus unseren vielen – und für Armin Mueller-Stahl oftmals strapaziösen, seine Geduld und Ausdauer auf die Probe stellenden – Gesprächen sowie zahlreichen anderen Quellen, Büchern, Interviews und Artikeln ein journalistisch objektives wie spannendes Porträt zu verfassen, das auch sehr von Mueller-Stahls eigenen Worten und Gedanken lebt. Das Buch soll dem Leser ein lebendiges Bild von einem deutsch-deutschen Schicksal vermitteln, das auf den ersten Blick aufgrund der langen, abwechslungsreichen und schicksalhaften Lebensgeschichte wie aus der Zeit gefallen scheint, das aber zugleich so viel an nüchterner Lebenserfahrung birgt, dass es jüngeren Lesern Mahnung, Aufklärung und Anleitung zugleich sein kann. Es soll aber keine abschließende Bewertung des filmkünstlerischen und bildkünstlerischen Schaffens abgeben. Dies mag getrost jenen überlassen bleiben, die sich berufener fühlen und sich nicht gerne bevormunden lassen von Biographen. Erzählt und dokumentiert werden soll das außer- wie ungewöhnliche Leben eines Künstlers und Weltbürgers, der wie nur wenige Zeitgenossen über ein überdurchschnittliches kreatives Talent verfügt, dessen Vielfach-Begabung und Karriereweg ziemlich einzigartig sind; ein Buch, welches die Phantasie der Leser und Betrachter anregen, sie überraschen und unterhalten soll. Dabei kommt es darauf an, die im Laufe des langen Lebens immer enger gewordene Verbindung seiner Schauspielerei mit dem Zeichnen und Malen, dem Schreiben, Dichten und Musizieren aufzuzeigen. Erst dieser Spannungsbogen von der Vielfältigkeit zur Vielschichtigkeit macht begreiflich, wie Armin Mueller-Stahl sich verstanden wissen will, wenn er immer wieder von sich sagt: »Ick bin schon gaukler über fuffzij jahr …«

Volker Skierka

Wege nach Westen

Die DDR liegt hinter ihm, Amerika noch vor ihm, als der Schauspieler Armin Mueller-Stahl in seinem Haus an der Ostsee in der Nähe von Lübeck Post aus Hollywood bekommt. »Leider hatte ich noch nicht Gelegenheit, Sie persönlich kennenzulernen«, schreibt unter dem Datum des 16. Oktober 1985 der berühmte Agent Paul Kohner, »hoffentlich können wir das in nicht allzu langer Zeit nachholen. […] Ich wüsste gerne, ob Sie irgendwelche Pläne haben, Amerika zu besuchen und nach Los Angeles zu kommen.«[1] Kohner, bekannt für seinen »guten Riecher«, glaubt, Mueller-Stahl würde gut nach Hollywood passen und wäre daher ein lohnendes Investment zu beiderseitigem Nutzen.

Schon als die Staats- und Parteioberen der DDR ihren lange gefeierten Star kaltgestellt und 1979/80 aus dem Land gedrängt hatten, träumte der am 17. Dezember 1930 im ostpreußischen Tilsit (heute: Sovetsk bei Kaliningrad/Königsberg) geborene Armin Mueller-Stahl von einer Karriere in Amerika. Er hatte im November 1976 eine Resolution von über hundert DDR-Schriftstellern, Schauspielern und bildenden Künstlern gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann unterzeichnet. Daraufhin bekam er fast nichts mehr zu tun, lebte isoliert mit seiner Frau Gabi und dem gemeinsamen Sohn Christian in seinem Haus in Berlin-Köpenick, von Stasispitzeln umzingelt. In der Not, seiner Verzweiflung und der scheinbaren Ausweglosigkeit der Situation griff er kühn nach den Sternen von Hollywood, wobei er »natürlich nicht wirklich damit gerechnet [hat], dort jemals einen Fuß ins Filmgeschäft setzen zu können«. Als es dann nur wenige Jahre später doch so kam, verblasste der neue Lebensmittelpunkt Bundesrepublik in den achtziger Jahren unversehens zu einer Zwischenstation auf dem Weg von den DEFA-Studios in Babelsberg zu den großen Studios in Kalifornien. Dabei hatte sich Mueller-Stahl nach ruhmreichen Theater- und Filmengagements in Ostdeutschland schon sehr bald in Westdeutschland die Startbedingungen für eine zweite Karriere erspielt, obschon er bereits über fünfzig Jahre alt war. Seine erste bedeutende Rolle nach der Übersiedlung von der eingemauerten DDR ins eingemauerte, aber freie Berlin bekam er in Rainer Werner Fassbinders Film Lola über die Wirtschaftswundergesellschaft im Nachkriegsdeutschland.

Weitere gute Rollen folgten. Dennoch fühlte sich Mueller-Stahl in Westdeutschland nicht recht heimisch und blieb ein eher misstrauisch beäugter Exot. Zum einen, weil er nicht wie sein ehemaliger DDR-Kollege Manfred Krug als Liebling Kreuzberg »Mainstream machen wollte«, wie er sagte. Zum anderen, weil er sich auch nicht wie Klausjürgen Wussow (Schwarzwaldklinik) in Fernsehserien für den Massengeschmack verschleißen lassen mochte. Sein Dilemma war ein wenig, dass die deutsche Filmindustrie es in jener Zeit nicht schaffte, gutes Kino für mehr als ein Minderheitenpublikum anzubieten. Als aber die beiden, mit ausländischen Regisseuren gedrehten deutschen Produktionen Oberst Redl (1984, Regie: István Szabó) und Bittere Ernte (1984, Regie: Agnieszka Holland), in denen Mueller-Stahl in Hauptrollen mitgewirkt hatte, 1986 überraschend und auch noch gleichzeitig für den Oscar nominiert wurden, war die Gelegenheit zum Sprung über den Atlantik plötzlich zum Greifen nahe. Nach dem lange zurückliegenden DDR-Film Jakob der Lügner (1974, Regie: Frank Beyer) waren es die zweite und dritte Oscar-Nominierung eines Films, in dem Mueller-Stahl mitgespielt hatte.

Das war der richtige Zeitpunkt, sich an den Brief aus Hollywood zu erinnern. »Da sind wir kurz entschlossen einfach rübergefahren.« Er, seine Frau Gabi und ihr Sohn Christian. Es war eine Reise mit ungewissem Ausgang, aber ganz nach Mueller-Stahls Selbstverständnis, das »Leben als Abenteuer« zu sehen. Die Star-Agentur Kohner nahm sich ihrer an. Als sie nach Deutschland zurückkamen, waren die Ersparnisse zwar aufgebraucht, aber dafür hatte Mueller-Stahl ein lukratives, von Kohner vermitteltes Angebot in der Tasche. In dem Siebenteiler Amerika für das US-Fernsehen stand er schon wenig später in einer Hauptrolle vor der Kamera – als siegreicher sowjetischer General Samanov, der Washington erobert.

Das war der Start in seine dritte Karriere – mit knapp sechzig Jahren. Weitere Rollenangebote in den USA folgten. Plötzlich bekam Armin Mueller-Stahl die Chance, das zu werden, was er immer sein wollte: ein Weltbürger – mit Wohnsitz an der deutschen Ostseeküste und in Los Angeles am Pazifik. In den USA machte er schließlich, wie er bis heute findet, einige seiner besten Filme, zum Beispiel Music Box (1989, Regie: Constantin Costa-Gavras), Avalon (1990, Regie: Barry Levinson), Night on Earth (1991, Regie: Jim Jarmusch, Musik: Tom Waits) oder Local Color (2006, Regie: George Gallo). Avalon und Night on Earth erlangten in Amerika sogar Kultstatus. 1997 wurde Mueller-Stahl in der Rolle des Pianisten-Vaters Peter Helfgott in Shine (Regie: Scott Hicks) für den Oscar nominiert. Er ging schon auf die achtzig zu, als er schließlich an der Seite von Tom Hanks in dem Blockbuster Illuminati (Regie: Ron Howard) als Kardinal Strauss eine der Hauptrollen spielte und zur Höchstform auflief. Nach Shine wurde er sogar in den großen, gleichwohl illustren Kreis der Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences berufen, die alljährlich die Oscars verleiht.

Mit Mitte achtzig jedoch überrascht er im Gespräch mit einem »Geständnis«: »Um ehrlich zu sein: Ich habe in meinem ganzen Leben keinen Film gemacht, der mich so gepackt und interessiert hätte, wie der französische Film Kinder des Olymp von Marcel Carné. Den habe ich hintereinander drei-, vier-, fünfmal gesehen. Der Regisseur François Truffaut hat einmal gesagt: Ich hätte meine ganzen Filme nicht gemacht, hätte ich nur Kinder des Olymp machen können. Und ich sage: Ich hätte auch gern alle Filme nicht gemacht, hätte ich nur den machen dürfen. In der Rolle des Frédérick Lemaître oder noch mehr als Baptiste Deburau. Aber die waren so grandios gespielt von Pierre Brasseur und Jean-Louis Barrault, ob ich das so gut hingekriegt hätte … – obwohl ich eine große pantomimische Begabung hatte. Ich habe ja immer nur diese ernsten Figuren hier gespielt, wie Thomas Mann. Den Debureau hätte ich für mein Leben gerne als Pantomime gespielt, alles dafür weggeschmissen. Bloß: Der Jean-Louis Barrault war darin so grandios. Unvergessen.« Es hätte sich die Chance allerdings nie ergeben, denn dieser Film über die auf einer wahren Geschichte beruhende Liebe von drei (im Film: vier) Männern zu einer Frau in der Zeit um 1830 kam bereits 1945 heraus, die Dreharbeiten hatten noch während der deutschen Besatzung Frankreichs begonnen. Mueller-Stahl kommt auf das Thema, als er und seine Frau davon schwärmen, wie sehr sie die von ihnen gerade gelesene Biographie von Klaus Harpprecht über die berühmte französische Schauspielerin Arletty gefesselt habe.[2] Sie war in der Rolle der Garance der Star jenes Films. Sie selbst kam übrigens wegen einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung zu dem deutschen Luftwaffenoffizier (und späteren Schriftsteller und Mitinitiator der Gruppe 47) Hans-Jürgen Soehring zeitweilig als Kollaborateurin in Haft. Mueller-Stahl hat den Kindern des Olymp, einem der großen Klassiker der Filmgeschichte, mit einem 2009 realisierten Gemäldezyklus sein eigenes kleines Denkmal gesetzt.

In einem ZEIT-Interview wurde Mueller-Stahl einmal gefragt, was der Motor seines Erfolges gewesen sei, und er antwortete: »Ich hatte einfach Angst vor dem Scheitern. Aus mir hätte so leicht eine tragische Figur werden können: Im Osten früher einmal erfolgreich, aber im Westen hat er es nicht geschafft. Ich habe mich selbst unter Druck gesetzt: Wenn ich schon hier bin, muss ich ja was machen. Das hat dazu geführt, dass ich eigentlich ein sehr gehetztes Leben geführt habe.«[3]

Lange ist schon bekannt, dass der Schauspieler seit frühester Jugend Violine spielt, ursprünglich Musik studiert hat und die einzige ständige Begleiterin durchs Leben außer seiner Ehefrau Gabriele die Geige war und ist. Man weiß auch, dass er Lebenserfahrungen und Gedanken in Form von Romanen, Tagebüchern, Gedichten und Liedern einfühlsam zu Papier bringen kann. Weniger bekannt war über lange Zeit hingegen, dass Armin Mueller-Stahl malt, dass ihm Zeichenstifte, Pinsel und Farben mindestens so wichtig und vertraut sind wie der Geigenkasten: »Zeichnen ist für mich wie Schauspielern und Schauspielern ist wie Zeichnen. Mein Leben lang habe ich Haltungen beobachtet und übertragen. Auf der Bühne, vor der Kamera oder auf dem Papier. Ich spiele und zeichne sie. Oder umgekehrt.«

Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hat er eher nebenbei Begegnungen – Gesichter, Charakterstudien, Figuren, Gesten, Alltagsszenen und Gedanken – in Tusche, Acryl und Öl festgehalten. So wie er als Schauspieler in seinen Rollen agiert, hält er es in seiner Malerei. »Die guten Filme erklären Menschen über kleine unverwechselbare Haltungen. Die sind wie ein Fingerprint des Charakters, wie eine Handschrift. Wie einer eine Tasse hält oder eine Zeitung umblättert oder geht.« Mit wenigen sparsamen Gesten und Strichen verleiht er Figuren und Bildern Ausdruckskraft. Als Mal- und Zeichenunterlage nimmt er das, was greifbar ist: alte Drehbuchseiten, Briefe, Faxe, Pappe oder Leinwand. Der Umgang mit dem Zeichenstift, mit Farbe und Pinsel ist für Mueller-Stahl ähnlich wie das Schreiben und Musizieren: »Ein therapeutischer Vorgang.« Er nennt es, »sich die Knoten aus der Seele malen«.

»Ich besinge die Rinde …« (Armin Mueller-Stahl, 1990)

© Armin Mueller-Stahl, Zeichnungen, Grafiken und Gemälde

Entstanden ist so ein umfassendes Werk, das nach dem Urteil einer überraschten Fachwelt von hoher Ausdruckskraft und Qualität ist. Über Jahrzehnte hatte Mueller-Stahl sein bildkünstlerisches Werk jedoch versteckt. Es dauerte, bis er dem Drängen von Freunden nachgab und seine Arbeiten endlich der Öffentlichkeit zugänglich machte. So eröffnete sich für ihn, mit siebzig Jahren, eine weitere Karriere als Maler. Bis dahin hatte Mueller-Stahl nur seiner wenig bekannt gewordenen, 1998 publizierten Liebesgeschichte Gedanken an Marie Louise zwölf Gouachen in Form kräftig übermalter Liebesbriefe des Romanhelden beigefügt. Seine erwähnte erste Ausstellung Ende 2000/Anfang 2001 im Filmmuseum Potsdam war ein derart durchschlagender Erfolg, die Reaktionen auch unter Galeristen und Kunstkennern so ermutigend, dass er nicht mehr befürchten musste, von der Kritik als ein guter Schauspieler, »der nun auch malt«, abgetan zu werden. Und wenn – dann wäre es ihm auch egal gewesen. Vielleicht.

Eine wichtige Voraussetzung, um als Maler wahrgenommen und bekannt zu werden, ist, den richtigen Galeristen zu treffen. Das war anfangs nicht einfach, aber dann brachten ihn Freunde und der damalig Leiter des Buddenbrock-Hauses Hans Wißkirchen mit dem Mitinhaber des renommierten Kunsthauses Lübeck und Kunstsachverständigen Frank-Thomas Gaulin zusammen. Der »Profi« Gaulin erkannte sofort das Potenzial von Armin Mueller-Stahl. Seither kümmert er sich nicht nur professionell um das bildkünstlerische Gesamtwerk; die beiden Männer wurden auch gute Freunde. Das ging so weit, dass Gaulin seinen Ruhestand in weite Ferne verschob – aus Verantwortungsgefühl, wie er sagt, aber auch, weil ihm diese Arbeit einen enormen Spaß bereitet.

Längst ist Mueller-Stahl als Maler etabliert. Neben zahlreichen Ausstellungen, darunter eine große in der Municipal Art Gallery in Hollywood, hat es seit der ersten Ausstellung in Potsdam auch zahlreiche opulent gestaltete und aufwendig hergestellte Buchveröffentlichungen mit Texten und Bildern von Mueller-Stahl gegeben. Auch eine Reihe von Ausstellungskatalogen ist erschienen. Besonders beeindruckend unter den Buchpublikationen sind seine übermalten Drehbücher zu Utz (1991, Regie: George Sluizer), zu dem preisgekrönten deutschen Fernsehdreiteiler Die Manns (2001, Regie: Heinrich Breloer) und zu den Buddenbrooks (2008, Regie: Heinrich Breloer). Nicht zu vergessen seine im Aufbau-Verlag erschienenen Porträts und vor allem Venice – Ein Amerikanisches Tagebuch.

Eines seiner ihm stets wichtigsten Werke trägt den Titel »16. Januar 1991: The war just started«. Die Entstehungszeit des Bildes reicht zurück an den Beginn seiner Karriere als Schauspieler. Eigentlich sollte es ein lustiges Bild werden, damals, 1952, als er es zu malen begann. Öl auf Pappe. Als Motiv schwebte ihm ursprünglich vor: »Es treffen sich die Klassenbesten, und jeder erzählt die schlechteste Tat seines Lebens«, erinnert Mueller-Stahl sich. Er arbeitete vier Jahre lang sporadisch daran, bis »Die Skatrunde« daraus geworden war. Wirklich fertig wurde das Bild aber erst Jahrzehnte später. Als er im Januar 1991 mit dem amerikanischen Kultregisseur Jim Jarmusch (Down by Law) in New York Night on Earth drehte und nach dem ersten Drehtag abends ins Hotel kam, empfing ihn der Fahrstuhlführer mit den Worten: »The war just started.« Es war der 16. Januar 1991, und der erste Golfkrieg hatte begonnen. Wieder zu Hause, kramte er die »Skatrunde« hervor, übermalte das erstarrte Kartenspiel und betitelte es nach der Schrecksekunde in dem New Yorker Hotelfahrstuhl. Der Betrachter findet sich wieder in einer neo-expressionistischen, düsteren Barszene voller gesichtsloser, langnasiger Figuren. Erkennbare Züge tragen nur eine laszive Lebedame mit vollen, rot geschminkten Lippen und eine kalte, bleiche Hitler-Figur. In der Mitte ist – in Anspielung auf das Kriegshandwerk – ein blutroter Fleck zu sehen.

»Das Bild hat nichts an Aktualität eingebüßt«, sagt Mueller-Stahl heute mit Blick auf den folgenreichen Terroranschlag am 11. September 2001 in New York und auf das, was seither an Kriegen folgte. Die Adolf Hitler ähnelnde Figur, die damals für Saddam Hussein gestanden haben mag, kann heute Osama bin Laden sein, morgen ein anderer Terrorist, Despot, Diktator. »The war just started« ist von zeitloser Aktualität. Und mitten hinein in die Gemengelage aus politischem Zynismus, Betroffenheit, Mitgefühl, Solidarität und Sorge vor dem, was die Zukunft an bewaffneten Konflikten und unschuldigen Opfern noch bringen mag, fordert Mueller-Stahl dazu auf, einen Moment innezuhalten: »Man muss diese Ereignisse auch in einen Kontext bringen: Immer noch verhungern an jedem Tag Abertausende von Kindern!«

In dem an Begegnungen prallen Leben war für Armin Mueller-Stahl die wichtigste jene im Jahre 1968 mit Gabriele Scholz, einer hübschen, aufgeweckten Medizinstudentin aus Vacha bei Eisenach in Thüringen. Er war fast achtunddreißig und eben erst von seiner ersten Frau Monika Gabriel nach wenigen Wochen flüchtiger Ehe geschieden, und sie zählte gerade zwanzig, als sie sich kennenlernten: »Als ich ihn zuerst sah, hab ich mich einfach gefreut. Das war ein Mann, der Abenteuerlust versprach. Neugier auf das Leben, Humor, die Fähigkeit, sich in immer Neues reinzuwerfen. Mir hat seine Haltung gefallen, sein Lächeln, sein Blick, seine Sprache. Und bestimmt nicht bloß die stahlblauen Augen«, sagt sie heute.[4]1973 heirateten sie. Gabi ist für Mueller-Stahl die große Liebe seines Lebens. Sie ist nicht nur Ehefrau, Partnerin und Vertraute, sie ist auch seine wichtigste Ratgeberin, so etwas wie die Managerin seines Kalenders und seines Lebens. Und sie ist die personifizierte gute Laune in allen Lebenslagen. Wenn er sie lachen sieht oder hört, geht es ihm sichtlich gut. Mueller-Stahl ist überzeugt, ohne seine kleine Familie hätte er dieses Leben fortwährender Wanderschaft Richtung Westen nicht führen können.

Eine Partnerschaft fürs Leben

© Volker Skierka

Hinter den Kulissen hat er immer ein stilles Leben geführt. Nie polterte er durch die bunten Blätter oder Werbespots wie andere. »Am zufriedensten bin ich, wenn ich nur ganz wenige Menschen um mich herum habe. Ich will weder die Egos sehen, noch will ich die Bespitzler sehen, noch will ich lauter Bewunderer um mich haben«, sagte er in einem unserer langen Gespräche. Armin Mueller-Stahl, der in der DDR, in der Bundesrepublik und in Amerika mit fast allen wichtigen Preisen geehrt wurde, ist ein stiller Star. Wo andere plappern, beobachtet er. Betrachtet Haltungen, zeigt Haltung. Er wirkt allein durch seine Rollenbilder und sie wirken durch ihn. Sein eigenes Inneres schließt er ab. Er lässt sich nicht gern durchschauen und stellt sich nicht zur Schau. Ergründen lässt er sich einzig durch seine Rollen, seine Bilder oder seine Musik.

In seinem vorletzten DDR-Film Die Flucht (1976/77, Regie: Roland Gräf), den er zu einer Zeit drehte, als er bei den Oberen schon in Ungnade gefallen war, spielte er den ehrgeizigen, schwierigen und einzelgängerischen Gynäkologen Dr. Schmith, der »nach drüben« in den Westen will, es sich aber nicht anmerken lässt. »Und so wie die anderen Ärzte nicht recht schlau werden aus dem verschlossenen Kollegen Schmith, so hat auch Mueller-Stahl Generationen von Journalisten zwar durchaus Antworten, aber immer auch Rätsel mit auf den Weg gegeben«, heißt es sehr treffend in Gabriele Michels Mueller-Stahl-Biographie.[5] Christoph Scheuring kam 1987 in einem Porträt im Stern-TV-Magazin zu dem Schluss: »Jeder, der den Charakter dieses Mannes mit einem Schlag kennzeichnen will, haut daneben. Jeder, der diesen Mann in eine Ecke drängen will, landet selbst im Abseits. Armin Mueller-Stahl erlaubt keine Einordnung. Nicht den anderen, nicht sich selbst. ›Nur politisch‹, sagt er, ›politisch bin ich eher links als rechts.‹ Aber auch dieses Raster zerstört er gleich wieder.«[6]

Filmplakat zu Die Flucht (1976/77)

© DEFA-Stiftung

Als Die Flucht in die Kinos kam, gab es dazu ein rätselhaftes Filmplakat: Es zeigt Mueller-Stahls Oberkörper von vorne mit Arztkittel und Stethoskop bis zum Hals. Aber darauf sitzt sein Hinterkopf. Das Gesicht bleibt verborgen. Man wollte dem im Volk populären Hauptdarsteller sein Gesicht nehmen. Mueller-Stahl war zur »Unperson« erklärt und gemacht worden. Allerdings machte man das Plakat auf diese Weise erst recht zu einem »Hingucker«, es erregte nun besondere Aufmerksamkeit, auch weil man ja wusste, wem da der Kopf verdreht worden war. Irgendwie hatte diese unbeholfene, versuchte Kränkung auch etwas ungewollt Tragikomisches und passte damit wieder zu Mueller-Stahl, dem bekennenden »Gaukler«. Denn seine liebsten Rollen waren ihm stets, wie er betont, die tragikomischen – im Film, auf der Bühne und im Leben. Björn Engholm, der ehemalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident, schrieb im Frühjahr 2010 anlässlich einer großen Ausstellung von Mueller-Stahls Bildern in Regensburg in einem sehr einfühlsamen Gastbeitrag für den Katalog: »Mueller-Stahl ist ein großer, mehrsprachiger Erzähler. Die Segmente seiner Erzählkunst – Darstellung, Bild, Text, Musik – sind sich nicht fremd, stehen nicht isoliert. Sie befruchten einander, bedingen sich. Aus der Vielfalt der ästhetischen Fähigkeiten wird eine Art Gesamterzählung: die Kunde vom Leben, seiner Geschichte, der Geschichten, die es schreibt, von Liebe und Hoffnung, von Angst und Not, Versagen und Erfolg, und immer wieder von Nachsicht, Verständnis und Vergebung. Kurzum, ein Gesamtwerk, das vom Geist der Humanitas getragen ist.«[7]

Das zentrale Bindeglied zwischen all seinen künstlerischen Tätigkeiten aber ist für Mueller-Stahl zeit seines Lebens die Musik gewesen. »Ich spiele immer noch Geige, um meine Seele zu reinigen. Musik, Literatur und Malen sind einige der wichtigsten Dinge in meinem Leben. Zum Malen braucht man eine Leinwand. Als Schriftsteller braucht man zum Schreiben Ideen. Musik aber hat nichts zu tun mit konkreten Dingen. Sie befreit dich. Sie gibt dir mehr Raum als jede andere Kunst. Musik ist zwischen Himmel und Erde.«[8]

Armin Mueller-Stahl hat in seinem Leben viele Leben gelebt und viele Rollen gespielt. Die größte Rolle war und ist jedoch sein eigenes gelebtes Leben. Vielfältig, vielschichtig, konstant und konsequent. Ein ungewöhnlicher Lebensweg in wechselndem Rollenspiel als Schauspieler, Musiker, Autor, Maler und als Mensch auf einer langen, abenteuerlichen Wanderung nach Westen, von Ostpreußen bis nach Amerika und zurück an die Ostsee. Aber so sehr er immer eine öffentliche Person war, sein Leben hat er nie zu einer öffentlichen Sache gemacht. Privates blieb stets privat. Intimes intim. Er hat sich einen unauffälligen Panzer aus distanzierter Freundlichkeit, Liebenswürdigkeit und – ab einem bestimmten Punkt – Unnahbarkeit zugelegt, hinter dem der andere, der sehr private Mueller-Stahl in Ruhe gelassen werden will. Kommt ihm dennoch jemand zu nahe, kann er mit Worten, Mimik, Gestik sperrig werden, in seinen Augen entschwindet die Empathie, über den Blick legt sich ein Schleier, wie um sich innerlich abzuschotten. Dann kann er distanziert und auch von oben herab spielen. Zwar bleibt er in seiner Rolle stets höflich, kontrolliert und gut erzogen, ein Gentleman, gibt sich aber kühler temperiert und wortkarg, bis hin zu schlechter Laune. Nur in sehr vertrautem Kreis teilt er schon mal sehr direkt aus gegen Leute, die ihn verletzt haben, nennt er Namen und kippt mit bitterer Ironie manchen Ärger und Frust von der Seele.

Dabei ist Mueller-Stahl, wie man in Ostpreußen sagt, »kein Kind von Traurigkeit«. Für einen guten Witz, einen guten Spaß, eine komische Anekdote ist er stets zu haben, und er gesellt sich in großer Runde am liebsten dorthin, wo es lustig zugeht. Und wenn dieser nach außen so beherrscht und fast schon britisch distinguiert wirkende Mann lacht, aus vollem Herzen laut lacht, erlebt sein Gegenüber eine erstaunliche, ja verblüffende Verwandlung. Dann gluckst und prustet es aus ihm heraus, alle Züge, die Fältchen um die zusammengekniffenen Augen und von den Ohren abwärts geraten in Bewegung, furchen plötzlich eine völlig neue Landkarte in sein errötendes Gesicht, ziehen die markante Nase breit, verengen die Augen zu Schlitzen und zerknautschen das ganze wohlsortierte und kontrollierte Gesicht.

Stets hat er aber seine Familie zu schützen gewusst vor dem Voyeurismus des öffentlichen Klatsches. Er verachtet Leute, die private und intime Befindlichkeiten dem Geschnatter des Boulevards anvertrauen, um daraus Prominenz zu saugen. Und so kommen den Mueller-Stahls auch nur Freunde und Bekannte ins Haus, die dies zu respektieren wissen. Armin Mueller-Stahl will sich über seinen Beruf definiert und identifiziert sehen. Daher verwundert es nicht, dass man unter seinen der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Kunstwerken kaum ein Bildnis seiner Frau, seines Sohnes oder der Verwandtschaft findet. Auch sind nur wenige private Fotos in Umlauf, und das Leben seines Sohnes ist ebenso tabu wie das der Enkeltochter.

Als ich die Mueller-Stahls vor wenigen Jahren im Rahmen einer Zeitschriftenreportage zusammen mit dem Starfotografen Martin Schoeller in ihrem Haus in Los Angeles besuche, stimmt der Schauspieler dem Fotoshooting nur unter der Bedingung zu, dass nichts Privates aufs Bild kommt. Eine entblößende »Homestory« wäre für ihn unvorstellbar. Dabei ist es keineswegs so, als hätte er etwas zu verbergen. Das für amerikanische Verhältnisse eher bescheidene Haus in den Hügeln von Pacific Palisades entspricht dem Wesen seiner Bewohner, wie übrigens auch jenes an der Ostsee. Es strahlt eine lichte und helle Atmosphäre aus, ist stilvoll modern, zugleich aber zweckmäßig eingerichtet. Spektakulär ist einzig die bühnengroße Terrasse vor den bodentiefen Fenstern mit dem endlosen Blick auf den Pazifik und weiter nach Westen, wo hinter dem Horizont irgendwo wieder Europa und sein Haus an der Ostsee liegen.

Ostdeutschland

Der Vorhang geht auf

»Immer wenn der Vorhang aufging«, erinnert sich Armin Mueller-Stahl, »strömte so ein schöner Duft aus der Kulisse in den Zuschauerraum. Der Bühnengeruch. Jeder kennt ihn, der in den ersten Reihen des Theaters gesessen hat. Er erzählte mir etwas über die düstere Welt Shakespeares, über die Phantasie, die Gaukelei, die großen Schauspieler, über die Geheimnisse der Bühne. Es ist eine andere Welt, die neben der realen Welt existiert.« Der junge Musikstudent im Parkett des Deutschen Theaters in Ostberlin liebt diesen muffig-harzigen Geruch aus Holz und Leim, der Bühnenbilder aus Pappmaschee, der bunten Stoffe, der knisternden und raschelnden Kostüme und Ausstattungen aus dem Fundus, der sich mit dem Schweißgeruch des Lampenfiebers der Schauspieler vermischt. Dieser sehr spezielle »Theaterduft« trägt den jungen Mann fort in die Welt von Romeo und Julia oder Hamlet, den er zu spielen träumt. Er wünscht sich, selbst eines Tages auf der Bühne zu stehen und Shakespeare zu deklamieren. Aber die Wirklichkeit ist ernüchternd. Die Schauspielschule entlässt ihn nach einem Jahr wieder, wegen »Mangel an Begabung«.

Er sieht sich schon auf ein Leben als Konzertgeiger festgelegt, da stellt ihn sein fünf Jahre älterer Bruder Hagen dem Intendanten des Theaters am Schiffbauerdamm, Fritz Wisten, vor. Hagen ist dort Dramaturg, außerdem ist er mit Eva Wisten, der Tochter des Theaterleiters, verheiratet. Begleitet von Selbstzweifeln gibt Armin Mueller-Stahl in der Märchenvorstellung als singender Prinz in Aschenbrödel sein Debüt. Es ist nicht gerade die Rolle, die er sich erträumt hat. Mit eher gemischten Gefühlen liest er daher einen Brief, den er unmittelbar nach seinem 22. Geburtstag von seinem Intendanten erhält. »Lieber Mueller-Stahl!«, schreibt Wisten unter dem Datum des 18. Dezember 1952, »Ihr erster Schritt auf den Brettern, die uns die Welt bedeuten […], steht zwar unter dem ungünstigen Stern, dass Sie sich nicht wohlfühlen, hat uns aber schon auf der Probe gezeigt, dass unser Entschluss, Sie mit der Rolle des Prinzen zu betrauen, der richtige war. Ich freue mich, dass ein solches Experiment, entgegen der Meinung des Kollegiums der Staatlichen Schauspielschule, auf Anhieb gelungen ist.« Auch für die Zukunft gibt Wisten sich zuversichtlich und stellt »mit Freude fest, dass Sie in so kurzer Zeit in Ihrer Entwicklung ein gutes Stück vorwärtsgekommen sind. Machen Sie weiter so!«[9]

Also versucht Mueller-Stahl gleich beim ersten Einsatz im Abendprogramm, weit mehr aus seiner Rolle herauszuholen, als sie hergibt. Den kurzen Auftritt in Friedrich Wolfs Der Arme Konrad, in dem er leider nur den einen Satz: »Der Herzog rückt an!« zu sprechen hat, verwandelt er zur Verblüffung seines Intendanten und des Kollegiums eigenmächtig in eine hingebungsvolle, Aufmerksamkeit erregende, wenn auch völlig unpassende Sterbeszene. »Der Anfang meiner Schauspielerkarriere war nicht leicht. Ich stellte mich sehr schwierig an«, gesteht er rückblickend. Dass es gut geht, verdankt er Wisten, der an ihn glaubt, zusätzlichem Schauspielunterricht und zu einem maßgeblichen Teil seinem Bruder Hagen: »Er war anfangs die führende Hand.« Mueller-Stahl beweist aber auch Talent und enttäuscht so seine Förderer nicht. Er beendet sein Musikstudium und wird 1953 fest in das Ensemble aufgenommen, das 1954 in die Volksbühne umzieht. Das Haus am Schiffbauerdamm wird nun von Bertolt Brecht übernommen.

Fast fünfundzwanzig Jahre gehört Armin Mueller-Stahl schließlich – unabhängig von seiner parallel entwickelten Kino- und Fernsehkarriere in der DDR – der Volksbühne in Ostberlin an. Schon bald steht sogar Shakespeare auf seinem Spielplan: 1954 tritt er im Sommernachtstraum als Elfenkönig Oberon auf. Schon als Jugendlicher hat er in einer Schulaufführung darin mitgewirkt. »Für meine Begriffe ist es eines der schönsten Stücke der Weltliteratur und eines der beiden, die mich besonders geprägt haben. Mein anderes Lieblingsstück ist ebenfalls von Shakespeare: Hamlet. Irgendwann konnte ich sie beide fast komplett rezitieren.« Nie wieder habe ihn Hamlet losgelassen. »Am Deutschen Theater zeigte Horst Caspar im Hamlet die beiden Grundcharakterzüge des Menschen – gut und böse – in einer Figur. Später erinnerte mich das sehr an die Phönix-Figuren, die über die DDR herrschten. Goethe meinte ja, Hamlet fehlte es an Tatkraft und innerem Heldentum. Aber ich habe immer gedacht, es fehle ihm lediglich die Fähigkeit zum Hassen. Hamlet kann nicht hassen und ist deshalb der Zögerlich, der sich nicht entschließen kann. Das habe ich sofort verstanden, weil ich auch nicht hassen kann. Dieses Wort ›Ich hasse‹ ist mir fremd, und ich habe Hass in meinem Leben weder selbst erlebt noch gespürt«, verrät Mueller-Stahl in seinen Memoiren Dreimal Deutschland und zurück.[10]

Herr Mueller, viel adlige Verwandtschaft und ein stahl(blauer) Zuname

Die schauspielerische Begabung haben die beiden Brüder, so glaubt Armin Mueller-Stahl, von ihrem Vater geerbt. »Er war Bankangestellter und stand tagsüber an der Kasse. Zu besonderen Anlässen spielte er Theater für die Familie.« Er improvisierte Sketche, spielte Szenen vor, sang Balladen von Carl Loewe oder las lustige Geschichten des Kabarettisten Marcell Salzer vor. »Das hat auf uns Kinder prägenden Eindruck hinterlassen. Er war ein positiver Mensch, und sein Traum war die Schauspielerei.« Weiter als zu einem Auftritt in einem Film brachte er es jedoch nicht, weil er eine Familie mit fünf Kindern ernähren musste. Über die Herkunft des 1898 geborenen Vaters ist nichts Genaues bekannt. Es gibt zwei Geschichten. Nach der einen Geschichte kenterte eines Tages auf der Memel ein Boot mit einer Wandertheater-Truppe. Nur ein Kind überlebte, das dann bei einer Familie Müller großgezogen worden sein soll. Aus dem Alfred Müller genannten Kind wurde Armin Mueller-Stahls Vater. Nach der anderen Geschichte ist Alfred Müller der leibliche Sohn von »Omsi« Müller, der von einem Großbauern abstammenden Großmutter Armin Mueller-Stahls, und einem Opernsänger, dessen Spur sich nach der Geburt von Alfred verlor.

Ende der achtziger Jahre schrieb ein entfernter Onkel, ein Ministerialrat a.D., in einem Brief an Armin Mueller-Stahl: »Dein Vater wollte sich 1938 Müller-Burghausen nennen, wie er auf den Zunamen ›Stahl‹ gekommen ist, weiß ich nicht.«[11] Sollte es ein Künstlernamenszusatz sein? Der Sohn selbst weiß es auch nicht, kann nur spekulieren. In seinen Erinnerungen Unterwegs nach Hause vermutet er, dass der Vater vielleicht »nach einer Aufwertung seines Namens gesucht haben mag« gegenüber den adligen Zweigen der Verwandtschaft. Die Schwester der Mutter war verheiratet mit dem ostpreußischen Rittergutsbesitzer Wittig Freiherr von der Goltz, der bürgerliche Großvater mütterlicherseits und Dorfpfarrer im ostpreußischen Jucha, Eduard Maass, mit einer Adligen aus der Familie von Haken. In Unterwegs nach Hause schreibt Mueller-Stahl: »Ich denke daran, wie mein Vater gelitten haben mag, als Bankbeamter, seine fünf Kinder nach Mertensdorf, dem Rittergut des Wittig Freiherrn von der Goltz in Ostpreußen, gebracht zu haben, Sommerferien, […] als Herr Mueller, und wie er nach einer Aufwertung seines Namens gesucht haben mag, bis er fündig wurde und es ihm gelang, ein Stahl an das Mueller zu hängen, was ihn befreite, sich so armselig als Herr Mueller gegenüber der adligen Verwandtschaft zu fühlen. Mueller-Stahl! So stand er, von da an aufrecht und selbstbewusst, den Radeckis und den von Hakens und den von Goltzens gegenüber, kann ich mir vorstellen.«[12]

Aber wieso Stahl? Hatte der Vater, der sich zwar klein gefühlt haben mag, aber wohl auch reichlich mit Humor gesegnet schien, vielleicht auch stahlblaue Augen wie der kleine Armin, den sie »Minchen« nannten? Hat er vielleicht einfach, einem launigen Einfall folgend, das »Stahl« als Merkmal der Augen vom »Blau« abgetrennt, damit die Leute gleich wussten, wen sie vor sich hatten, wenn sie ihn ansahen? So, wie manche Leute mit Allerweltsnamen auch heute bisweilen gern Namenszusätze »adoptieren«.

Immerhin: Eine Ahnentafel, die gerahmt im Haus der Mueller-Stahls hängt, reicht zurück bis 1536 zu einem angeblichen Ratsherrn und Bürgermeister Hermann von Hueck, der offenbar hundertsieben Jahre alt wurde. Durch die Jahrhunderte mischen sich Bürgerliche und Adlige mit Namen Mueller-Stahl, Frey, Esser, Freiherren von der Goltz, Baron von der Osten-Sacken, von Schlippe, von Kummer, von Radecki, Baron von Koskull und von Schnakenburg. Den »ganzen Kladderadatsch von Familie«, wie er das Gewirr und Knäuel verwandtschaftlicher Beziehungen nennt, verbindet eine Gemeinsamkeit: Über die Jahrhunderte hat sich »der ganze lange Familienwurm um die Ostsee gelegt«, zwischen St. Petersburg, wo die Mutter aufwuchs, Memel, wo der Vater herkommt, und ein Dorf nahe Lübeck, wo Armin Mueller-Stahl seit 1983 lebt. Damit schlösse sich ein Kreis, denn aus Lübeck soll der Ratsherr Hermann von Hueck stammen. Doch im Stadtarchiv taucht erst 1594 ein Brauer Evert Huck auf, anlässlich seiner Hochzeit, die als »Grote Kost« für hundertacht Personen verzeichnet ist, womit gesagt wird, dass der Bräutigam ein reicher Mann war. Seine Herkunft liegt jedoch im Dunkeln.

Das Familienerbe: Musizieren, Schreiben, Malen, Schauspielern

Auf die im Familienerbgut eingebetteten künstlerischen Anlagen eingehend, meinte der entfernte Onkel aus Bonn in seinem Brief, dass Armin Mueller-Stahl nicht nur väterlicherseits, sondern mütterlicherseits »ebensoviel, wenn nicht mehr Talent zum Schauspielern« mit auf den Weg bekommen habe. »Sowohl Deine pastörliche Großmutter Edith Maass geb. von Haken, als alle ihre Kinder – einschließlich Deiner Mutter, meiner sehr geliebten Kusine ›Dittchen Maass‹ –, waren«, so schrieb er, »ebenso wie die Kinder Deines Großonkels Otto Maass (in Königsberg) schauspielerisch hochbegabt und konnten das leider nur im engsten Kreise ausleben. In unserer Sommerfrische Elwa bei Dorpat wurden in den Jahren vor dem Ersten Weltkriege sowohl von deiner Mutter als auch allen ihren Geschwistern öfters Aufführungen veranstaltet. […] Auch in Jucha und vorher in Tilsit wurde Theater gespielt – die Maass’ waren eben in jeder Beziehung musisch begabt.«[13]

Seine Mutter war in der Erinnerung von Armin Mueller-Stahl zeit ihres Lebens eine positive, von scheinbar unerschütterlichem Optimismus geprägte Person, obwohl sie nach einer glücklichen Kindheit ein von Entbehrungen, Entwurzelungen, wiederholten Neuanfängen und Überlebenskämpfen für sich und ihre Familie geprägtes Leben hatte. Sie war 1903 in Estland auf der Halbinsel Nuckö als Tochter des örtlichen evangelischen Pfarrers Eduard Maass und der Adligen Editha Nelissen von Haken aus Riga geboren worden. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges war für sie die schöne Kindheit jedoch vorbei. Nach einer dreijährigen Zeit in einem kleinen Ort in Estland, wo ihr Vater Schuldirektor war, war man 1913 nach St. Petersburg gezogen. Dort machte ihr Vater Karriere. Er übernahm die Pfarrei der Sankt-Annen-Kirche und wurde Rektor des deutschen Diakonissenhauses. Ab Sommer 1914 wandelte sich dort die traditionelle Deutschenfreundlichkeit ins Gegenteil. So sehr, dass der Vater seine Frau mit den vier jüngsten Kindern auf die Halbinsel Nuckö in Sicherheit brachte. Nur Tochter Editha blieb bei ihm wohnen, um ihre Ausbildung zu beenden.

Armin Mueller-Stahl als Säugling mit seiner Mutter

© Privatarchiv Mueller-Stahl

Gegen Kriegsende musste er jedoch fast mittellos Petersburg verlassen. Er holte den inzwischen in Finnland ausharrenden Teil der Familie zurück, verließ mit ihnen im Pferdewagen die alte Heimat und zog nach Tilsit, der ersten deutschen Stadt hinter der Grenze im Nordosten des Reiches. Dort übernahm er die Pfarrstelle an der Stadtkirche. Hier in Tilsit lebte inzwischen auch Alfred Müller, der glücklich sein Soldatenleben im Ersten Weltkrieg als Meldereiter überlebt und nun gegen eine Stelle im Zivilleben als Bankkassierer getauscht hatte. 1921 lernten sich der durch seine ansteckende Fröhlichkeit und seine komödiantische Begabung die Menschen leicht für sich einehmende Laienschauspieler und die dem Leben stets das Positive abgewinnende, dem Gesang und Klavier hingegebene Musikstudentin und Laienschauspielerin Editha Maass bei einer gemeinsamen Laienaufführung am Stadttheater kennen – und lieben. Sie verlobten sich heimlich und heirateten, als das alsbald aufflog, obwohl Edithas Familie sie lieber in den Armen eines Gutsbesitzers oder zumindest wohlhabenden Mannes gesehen hätte, bei dem sie ohne finanzielle Sorgen ihren musikalischen Neigungen hätte nachgehen können.

Armin Mueller-Stahl hat offenkundig von nahezu allen in der Familie liegenden Begabungen etwas mit auf seinen Lebensweg bekommen. Seine musikalischen Anlagen schreibt er der Mutter zu. Die sorgte dafür, dass er schon früh, mit sechs Jahren, seine erste eigene Geige und auch Unterricht erhielt. Als sie nach dem Krieg eine Notunterkunft beziehen müssen, schreibt die Mutter in ihr Tagebuch: »Lieber Gott, schenk uns ein Klavier, wir verzichten gerne auf alles, auch auf Betten, wenn wir nur ein Klavier hätten. Und richtig, in dem Zimmer, das uns angewiesen wurde, gab es keine Betten, aber in der Ecke, in Lumpen gehüllt, ein Klavier.«[14]

Die Lektüre des Tagebuches der Mutter nach deren Tod, in dem sie einfühlsam ihre alltäglichen Beobachtungen und Gedanken zu Papier gebracht hat, macht Mueller-Stahl deutlich, dass er noch etwas von ihr ererbt zu haben scheint: das Talent zum Schreiben. Er wird diese Gabe jedoch nicht gleich zu Beginn seiner Karriere entdecken, sondern erst später, als die Schauspielerei allein sein wachsendes politisches und persönliches Unbehagen nicht mehr zu kompensieren vermag. In eigenen verborgen-politischen Gedichten und Liedtexten und später, in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, in seinem Abschieds- und Abrechnungsroman von der DDR mit dem Titel Verordneter Sonntag, entwickelt er das Schreiben zu einem zusätzlichen, ihm in den späteren Jahren immer wichtiger werdenden Ausdrucksmittel.

Die Sommer in Ostpreußen, so erinnert sich Mueller-Stahl, »waren das Schönste in meiner Kindheit«. Der Großvater hatte mittlerweile eine Pfarrstelle in Jucha bei Lyck. »Das Pfarrhaus in Jucha habe ich geliebt. Wenn wir im Sommer nicht bei Tante Ellen von der Goltz auf deren Gut Mertensdorf waren, dann waren wir in Jucha.«[15] Der Großvater brachte ihm das Orgelspielen bei, und er durfte die Kirchenglocken läuten. Dort entwickelte sich auch, so ist er überzeugt, seine vierte Begabung nach der Musik, dem Schauspielern und dem Schreiben – das Malen und Zeichnen. Das hat Mueller-Stahl sich von der Großmutter abgeguckt: »Ich sehe sie noch vor mir, wie sie immer am Herd saß. Die eine Hand hatte sie am Kochlöffel, mit der anderen zeichnete sie – sogar Auftragsarbeiten.« Es fiel ihr leicht, erinnert er sich, mit schnellen Strichen eine Situation, einen Ausdruck zu erfassen und darzustellen. Das hat ihn so sehr fasziniert, dass er es ihr später gleichtat: »Das hier ist alles in den letzten drei Wochen entstanden«, sagt er beiläufig, als er schon die siebzig überschritten hat, und holt siebzig, achtzig Tuschezeichnungen hervor. Porträts, Figuren, Karikaturen von bekannten Menschen, Kollegen und Zeitgenossen. »Ich sehe etwas in der Zeitung, in einer Zeitschrift, einem Buch, das mich interessiert oder bewegt, etwas Erlebtes, das aus der Erinnerung auftaucht, und schon läuft’s mir aus der Feder.« Dann zeichnet er sich den Kopf frei, indem er während der Drehpausen, abends im Hotel oder unterwegs Bilder hinwirft. Mit wenigen Strichen erfasst er komplexe Situationen, Haltungen, eigene Gedankenspiele und die anderer Menschen. Und manchmal gibt es Tagebuchnotizen dazu oder Verse und Texte; manchmal wird ein Buch daraus.

Familienerbe Musik

© Privatarchiv Mueller-Stahl

Ein verlorenes Paradies

Von seinen frühen Bildern aus der DDR-Zeit sind die meisten verloren gegangen. Viele hat er verschenkt an Kollegen, die er gezeichnet hat, und an Freunde. Dass ausgerechnet die »Skatrunde« überlebte und ihn seit über einem halben Jahrhundert auf seinen künstlerischen Wanderungen durch die politischen Systeme begleitet, hat geradezu etwas Symbolträchtiges. Der fröhliche Ansatz ist nicht nur mit den gewachsenen Lebenserfahrungen auf der Strecke geblieben. »The war just started« ist überdies von fortdauernder Aktualität.

Die terroristischen Anschläge in den zurückliegenden Jahren rücken auf beklemmende Weise etwas ins Zentrum des Bewusstseins, das über ein halbes Jahrhundert lang für die westlichen Zivilisationen kaum mehr ein Thema war: die Gefährdung des Friedens. Mueller-Stahl empfindet daher »eine große Dankbarkeit« gegenüber all jenen, die dazu beigetragen haben, den Frieden über so lange Zeit zu bewahren. Einer, der wie die meisten seiner Generation durch den Zweiten Weltkrieg um seine Kindheit und Jugend betrogen wurde und danach wenigstens sein privates Familienglück gefunden hat, weiß, wovon er spricht. Er hat gelernt, das Glück, das einem widerfährt, zu schätzen. Den 11. September 2001 erlebt er in seinem Haus an der beschaulichen deutschen Ostseeküste, gar nicht so weit von all den Orten entfernt, wo seine Familie den Schrecken des Zweiten Krieges begegnete. Er hat gerade Besucher verabschiedet, als ein Telefonanruf ihn den Fernseher einschalten lässt. Und erlebt eine apokalyptische Szenerie: Während auf dem Bildschirm das World Trade Center in