Auf Erden - Christa Müller - E-Book

Auf Erden E-Book

Christa Müller

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Beschreibung

Als Gagarin die Erde umkreiste, war Helga, meine Schwester, vierzehneinhalb, ich dreizehn. Wir standen mit angehaltenem Atem vor dem flimmernden Bildschirm hinter der Schaufensterscheibe, und Gagarin war uns der nächste Mensch, geliebt wie keiner. Helga machte am Abend eine Zeichnung, an die ich mich gut erinnere: In einem tiefen Himmel durchquert ein Reiter den Raum zwischen Erde und Sonne. Mähne und Schweif des Pferdes, der Schopf des Reitenden und die Sonnenkorona lodern. An diesem Tag ließen sich unsere Eltern scheiden. Das Zusammenfallen der Daten wurde mir viel später bewusst. Vier Erzählungen von Christa Müller: Auf Erden, Die Schande, Berührung mit dem Tau, Holderstrauch

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Seitenzahl: 104

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Christa Müller

Auf Erden

Erzählungen

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Auf Erden

Die Schande

Berührung mit dem Tau

Holderstrauch

Impressum neobooks

Auf Erden

Das Meer spie zwei Engel aus.

Die Brandung klatschte über ihre bleichen Gesichter. Salz verklebte ihnen Wimpern und das gespreizte Gefieder.

Als Ebbe einsetzte, waren sie noch wie tot.

Eine erbarmungslose Sonne bleichte ihre Gewänder, in den Falten glitzerte Salz.

Als sie zu sich kamen, suchten sie zu verstehen. Fanden sich an eine wüste Küste verschlagen, liegend im Schlick zwischen Muscheln und Krabben.

Das Salz brannte in ihren Augen und knisterte an ihren Leibern.

Ihre Flügel hatten alle Kraft verloren.

Wir sind gestürzt. Als Daidalos und Ikaros sich von der Erde lösten.

Das also, Angelo, ist der Lohn, dass du Daidalos beschütztest, den Neider, der seiner Schwester Sohn von der Akropolis stürzte, weil der ein besserer Baumeister zu werden versprach, als Daidalos war. Der Engel, der so klagte, war feingliedriger, um nicht zu sagen jünger als Angelo, denn Altersunterschiede gibt es unter ihresgleichen nicht. Sein blondes Gelock stand, salzstarr, wie gedrechselt um sein Haupt. Die Sonne funkelte in den Kristallen.

Angelo blickte finster. Sein Haupt war dunkel, und sein Haar lag ihm wie ein Helm an. Angelito, hob er an, das war ein Unfall. Der Engel des Schwestersohns passte nicht auf, als der Narr prahlte: Wenn ich will, trägt die Luft mich. Mit den Armen fuchtelnd verlor er das Gleichgewicht. Daidalos versuchte ihn zu packen. Es sah so aus, als stieße er ihn hinab. Doch ich bewahrte Daidalos davor, dass der Prahlhans ihn mitriss.

Ich hoffe, du bedauerst es nun, versetzte Angelito.

Angelo stöhnte auf. Was tat ich nicht, ihn abzuhalten. Als er die Flügel baute, erschien ich ihm und prophezeite seinen Tod.

Des Todes sind wir, wenn wir bleiben, sagte er. Die Flügel hier sind meine Hoffnung.

Ich sagte: Vermessenheit dulden wir nicht. Du hast einen Mund, zu reden, eine Stirn, zu denken, zwei Arme, zu streiten für Gerechtigkeit. Das ist viel. Deine Füße lass auf der Erde!

Ich bin gefangen, und meine Freiheit liegt in diesen Schwingen, sagte er.

Da drohte ich ihm mit dem Tode seines Sohnes. Der Engel schlug sich vor die Stirn und blickte Angelito forschend an.

Der senkte die Augen.

Warum lebt er noch? fragte Angelo streng. Hast du ihn nicht in Sicherheit gewiegt, wie ich dir sagte, dass du es tun sollst um dein und mein Schicksal? Wieso gehorchte er dem Vater und blieb im Abstand zur Sonne, die ihn doch lockte?

Ich konnte es nicht, sprach Angelito. Ich selbst beschwor ihn, der Sonne fernzubleiben.

So ist das! sagte Angelo finster. Darum bin ich kein Engel mehr.

Ich bin auch keiner mehr. Angelito legte den starrlockigen Kopf stöhnend in seine Hände.

Dämmerung fiel übers Meer und Nebel.

Und sie hörten eine Stimme, die sprach:

Gehet hin und verbreitet die Kunde: Ikaros stürzte zu Tode. Kein Mensch versuche, sich aus dem Staub zu erheben.

Was wird mit uns? fragten sie angstvoll.

Und die Stimme sprach: Ihr seid verbannt.

Und sie schrien: Für ewig?

Und die Stimme schwieg.

Die Engel fielen auf ihre Knie und schrien laut.

Das Meer lag grau und schwer und nur die Brandung tönte.

Sie rangen in Verzweiflung ihre Hände und fielen auf ihr Antlitz.

Dann wurde ihnen Antwort: Geht und gehorcht. Der Mensch, der aufzustehen wagt gegen UNS und euch um Hilfe anfleht, gibt euren Schwingen die Kraft zurück. Bis dahin wandelt im Staub.

O Gott! schrien sie. Und ihr Schrei verhallte.

Die Flut trieb sie landein.

Ihre Füße stießen sich wund an den Steinen. Ihre Kleider zerrissen an Dornen.

Eines Abends, sie waren schon viele Tage gegangen, trafen sie Hirten. Als sie zu ihnen ans Feuer traten, flohen diese mit allen Zeichen panischen Schreckens.

So geschah es ihnen noch oft.

Und eines Abends, sie waren schon Jahre unterwegs, kamen sie zu einer Hütte, an die klopften sie. Und heraus trat ein Mann, der warf ein Netz über sie.

Sie waren gefangen.

So große Vögel sah ich nie, sagte er und glaubte ihnen nicht ihre Herkunft, und Ikaros war ihm unbekannt. Er schirrte sie vor sein Rindenboot und glaubte ihnen nicht ihr Unvermögen, es im Flug den Fluss hinaufzuziehen. Sie starben nicht, so sehr sie es sich wünschten.

So ging das über Tausende von Jahren. Gefangen oder frei, der Erde blieben sie verhaftet. Ihre Botschaft ward gehört und nicht gehört, geglaubt und nicht geglaubt.

Einmal wurden sie verbrannt. Das besserte ihr Los: Sie wurden unsichtbar den Menschen, sichtbar nur einander. Sie gerieten nicht mehr in Gefangenschaft, entgingen der Folter, irrten nun unbehelligt durch die Welt, mit unauslöschbarer Sehnsucht nach dem Paradies in der Seele.

Eines Tages streckte Angelito sich ins gelbe Laub unter eine Buche, die stand einsam auf dem kahlen Gipfel eines Berges, der sich inmitten dunkel bewaldeter Kuppen erhob. Angelito erblickte, wie oft in letzter Zeit, den unsichtbaren Griffel, der lautlos das Himmelsblau ritzte und seine Spur hinterließ, scharf und weiß, sich auflösend wie Rauch: das Mene-tekel-upharsin. Und empfand bitteren Schmerz. Wie Hohn las er am Himmel: Gewogen bist du und zu leicht befunden.

Die Menschen fliegen, sagte Angelo. Nichts hat sie davon abgehalten. Nicht unsere Botschaft und nicht ihre Todesstürze. Wofür sind wir gestraft?

Der Nachmittag war warm und still.

Von den Zweigen der Buche löste sich lautlos das Laub. Im kreisenden Fall berührten sich Blätter mit sirrendem Ton.

Angelitos Augen verließen den Himmel, und als sie den Stamm der Buche aufwärts wanderten, hinauf unter das helle Blätterdach, gewannen sie jenen Ausdruck von Liebe zurück, der aus ihnen seit dem Sturz gewichen war.

Im Wipfel des Baumes zwischen zwei Ästen hockte in einem Nest aus Zweigen ein Knabe, etwa vier Jahre alt. Und obwohl der Grieche dunkelhaarig gewesen und dieses Kindes Flachshaar heller noch als das Buchenlaub war, der Ausdruck, mit dem es sein Gesicht zum Himmel gewandt hielt und den Wildgänsen nachsah, erinnerte Angelito an seinen einstmals Schutzbefohlenen.

Angelo schaute ins Tal. Ein Kirchturm überragte die Häuser des Dorfs, das zog sich die Straße entlang und die Hänge hinauf, und aus einem, das lag fünf Steinwürfe weit, trat jetzt ein Mann, legte die Hände an den Mund und rief:

Aaaaaaaaaandeeeers!

Den er meinte, schien nicht zu hören, denn der Mann wiederholte den Ruf. Dann kam er mit langen Schritten den Berg herauf zur Buche, blieb stehen und blickte streng hinauf zu dem Nest, in dem der Knabe saß und lächelte.

Komm runter! sagte der Mann.

Komm rauf! rief das Kind, gleich fällt die Sonne ins Wasser.

Immer hockst du dort oben! Als ich so alt war wie du, bin ich herumgestreunt und habe die Welt entdeckt. Beulen und Schrammen habe ich mir geholt. Fliegen willst du! Vom Sitzen in Bäumen und sei es in Nestern, sind noch niemandem Flügel gewachsen.

Die Engel horchten auf.

Hast du keinen Hunger? rief der Mann. Wenigstens zum Essen musst du nach Hause kommen. Sonst kannst du nicht wachsen, und Kraft kriegst du auch nicht.

Der Knabe schüttelte den Kopf.

Der Mann wandte sich ab und ging. Wie eine Katze kletterte Anders aus dem Nest durch die Äste und rutschte am glatten Stamm der Buche hinab. Angelito sah, dass er zerkratzte Arme und zerschundene Knie hatte, und blickte in ein paar Augen, die glichen dem Himmel in Farbe und Tiefe.

Der Junge rannte dem Mann hinterher, umfing im Lauf seine Beine, denn höher reichte er nicht, und im nächsten Moment kugelten beide im Gras, sprangen auf die Füße, und der Mann setzte das Kind auf seine Schultern, breitete die Arme aus wie ein Vogel die Schwingen und lief hangab, und der Knabe auf seinen Schultern breitete gleichfalls seine Arme, und seine helle Stimme drang herauf zu den Engeln:

Ich fliiiiiiiiiiiiege!

Angelito legte den Kopf auf die angezogenen Knie und weinte.

Der Großvater war's, der den Jungen auf seinen Schultern davontrug. Zusammen mit der Großmutter zog er ihn auf, denn Anders' Eltern waren Wagehälse und verschollen in Schnee und Eis eines fernen Landes.

Diese Sucht, fliegen zu wollen, hat Anders von dir, sagte die Großmutter, ehe sie starb. Da war Anders zehn Jahre alt und widersprach: Nein! Großvater hat sie von mir!

Großmutter seufzte: Wer passt auf euch auf, wenn ich nicht mehr bin.

Ich! sagte Anders. Ich pass auf ihn auf.

Als Angelito zu weinen aufhörte, sagte er:

Hier bleiben wir.

Und Angelo wollte es auch. Sie setzten ihre Hoffnung auf den Knaben, als wäre es ihre letzte.

Drei Jahre noch saß Anders jeden Tag im Wipfel der Buche, überzeugt, es würden ihm Flügel wachsen, wenn er es nur stark genug wünschte.

Dann kam die Schule dazwischen.

Er saß nicht mehr in der Krone des Baums in Erwartung, ein Vogel zu werden. Er überlegte, ob er sich aus dem Gras erheben könne, im Singflug wie die Lerche. Und wie dann fliegen, wenn's gelang? Gleitend wie ein Milan? Rudernd wie ein Kranich? Könnte man sich doch vom Sims des Fensters schwingen und hinüberfliegen zu der Amsel, die sang im Apfelbaum, der auf dem Schulhof stand.

Großvater las in den Augen des Jungen. Erkannte sich wieder.

Vom Vogelflug wusste er alles.

Er war Bergmann. Wie alle in dieser Gegend.

Im Winter sah er durch Wochen das Himmelsblau nicht, wenn er einfuhr und es noch Nacht war und bei Ausfahrt schon wieder. Dann hingen an seinem unterirdischen Himmel Fledermäuse, Winterschläfer in Stollen, die er im Sommer in den Berg getrieben hatte.

Sie hingen wie pelzige Früchte, kopfunter, gekrallt mit den Füßen ins abgeteufte Gestein, winzige Drachen, in die glänzenden Häute ihrer Flügel gewickelt, mit Muskeln und Sehnen zum Ruderflug ausgelegt wie der Kranich.

Er war ein Junge, als die Menschheit fliegen lernte. Und ein ganzes Leben Zeuge - wie sie dieses Können in den Kriegen, die sie führte, zur Vollendung brachte. Die Spanne Zeit vom ersten Gleitflug bis zum Raketenstart ins All war so kurz wie ein Menschenleben.

Alles war erfunden.

Und geblieben war der Traum: es selbst zu tun. Zu liegen auf der Luft, das Gesicht im Wind, zwischen Erde und Himmel.

Als er aus dem Schacht ausfuhr und endlich Zeit hatte, baute er mit Anders den Drachen, mit dem sie fliegen wollten.

Da konnten sie fremde Erfahrungen nutzen, soweit sie es konnten. Immer bleibt noch genug, was man selber erfahren muss.

Großmutter war gestorben. Ihre Küchenschürze hing am Haken neben dem Herd. Ihre Holzpantinen standen darunter. Großvater sprach mit ihr noch. In ihrem Bett neben ihm schlief Anders, wie der Junge oft bei ihr geschlafen hatte, als er tags noch im Nest saß und nachts behauptete, sich allein in seiner Kammer zu fürchten.

Als ihr Flugdrachen fertig war, nahmen sie die Matratzen aus den Betten und legten sich bei ihm im Schuppen nieder. Jeder unter einen Flügel.

Angelo fragte an diesem Abend Angelito: Spürst du was?

Was? fragte der Engel.

In den Schwingen? forschte Angelo. Nichts?

Angelito schüttelte die blonden Locken.

Sie hofften auf den nächsten Tag.

Heftiger, böiger Wind riss an den Verstrebungen, als der Alte und Anders ihren Drachengleiter den Berg hinaufschleppten.

Die Engel hatten Mühe, ihnen zu folgen. Der Sturm klatschte ihnen ihr Gefieder um die Ohren und zerraufte es.

Angelito war bleich. Unverwandt blickte er auf den Knaben. Der stritt mit dem Alten um den ersten Flug und errang ihn.

Anders gurtete sich an, packte mit beiden Händen die Lenkung und sprach zum Wind:

Bist du bereit?

Und sprach zum Drachen: Beim zehnten Schritt lösen wir uns von der Erde.

Und lief hangab und löste sich mit einem Sprung und schwebte.

Angelito sah des Knaben Lächeln.

Dann zerriss die Verspannung. Die Konstruktion klappte zusammen, und Angelito lief, den Stürzenden zu fangen.

Der Knabe fiel durch seine Arme wie durch Luft.

Angelos glattdunkles Haar sträubte sich wie ein Strahlenkranz. Mit finsterem Antlitz, die Nüstern gebläht, schaute er auf diese Szene.

Wir können nichts für ihn tun, sprach er, solange er uns nicht ruft. Wir brauchen ihn, um zu sein. Er braucht uns nicht.

Angelito verzweifelte, glaubte, der Knabe sei tot.

Der Alte jammerte: Anders! Mein Einziger!

Der Junge schlug die Augen auf und sah über sich im Himmel einen Bussard kreisen. Wie schön er ist, dachte Anders. Sein Bewusstsein schwand.

Großvaters Rufe holten ihn zurück: Beweg mal den Kopf! Mach doch die Augen auf! Anders!

Er bewegte den Kopf, dann die Hände, die Beine. Er lebte.

Der Drachen war hin.

Angelito genügte, dass Anders am Leben war.

Angelo sagte: Sie werden es wieder versuchen.

Und knüpfte Hoffnung daran.