Vertreibung aus dem Paradies - Christa Müller - E-Book

Vertreibung aus dem Paradies E-Book

Christa Müller

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Beschreibung

Vertreibung aus dem Paradies umfasst 5 Erzählungen, die den (unfreiwilligen) Abschied von der Kindheit gemein haben. Christa Müller beschreibt dieses Erleben in unterschiedlichen Altersstufen. Als Candida elf Jahre alt war, fragte sie ihre Mutter: Wenn du sieben Jahre Unglück haben müsstest und gefragt würdest, wann willst du sie haben: als Kind - oder nachher? Was würdest du antworten? Ich weiß nicht, sagte Maria. Ich würde sie als Kind nehmen, sagte Candida, dann hat man sie hinter sich.

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Christa Müller

Vertreibung aus dem Paradies

Erzählungen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Candida

Verteidigung des Katers

Die Hütte

Der Berg

Flüge

Von Christa Müller bei uns erschienen

Impressum neobooks

Candida

Als Candida elf Jahre alt war, fragte sie ihre Mutter:

Wenn du sieben Jahre Unglück haben müsstest und gefragt würdest, wann willst du sie haben: als Kind - oder nachher? Was würdest du antworten?

Ich weiß nicht, sagte Maria.

Ich würde sie als Kind nehmen, sagte Candida, dann hat man sie hinter sich.

Candida wurde geboren.

Maria quälte sich schon die zweite Nacht im Kreißsaal. Die Hebamme hatte sich auf die Pritsche an der Wand gelegt. Dieses Kind, das nicht zur Welt wollte, würde zwischen Nacht und Morgen geboren werden. Sie hörte das am Atem der Kreißenden.

Sie schlief ein und erwachte vom Schrei Marias. Nicht schreien, sagte sie. Die Kraft werden Sie brauchen. Sie fühlte ihre Glieder bleischwer und erhob sich.

Sie tat das Nötige.

Vom Licht der Lampe am Fußende des Bettes geblendet, schloss Maria die Augen. Komm endlich. Komm! dachte sie.

Die Hebamme hieß Maria flacher atmen, um das Kind nicht aus ihrem Leib zu stoßen. Sie verbog ihm die Nase, an der sie es ergriff, denn um seinen Hals verschlungen lag die Nabelschnur. Die Schultern waren noch nicht geboren.

Kaum im Leben und schon wieder hinaus. Das wäre zu einfach, dachte sie und trennte die Nabelschnur zwischen Candida und ihrer Mutter.

Hochgehalten an den Füßen, bekam Candida die ersten Schläge ihres Lebens. Sie schwieg. Maria sah sie über sich schweben, ein mit weißem Talg bedecktes dünnes Körperchen. Über der schiefen Nase schnappte endlich der winzige Mund nach Luft mit einem kläglichen Schrei.

Sie lagen nebeneinander: Candida und ihre Mutter.

Die Hebamme trug die Daten in ein Buch. Das wenige, was man weiß: Gewicht, Größe, Schulterumfang, Schädelmaße.

Was konnte man ahnen? Dass die Augen blau sein würden?

Wie wird sie denken? Wie fühlen? Worüber weinen und worüber fröhlich sein?

Die Januarnacht klirrte vor Kälte. Der Frost zerriss die Telegrafendrähte, panzerte die Erde, tötete die Fische unterm Eis und begrub Menschen im Schnee.

Candida war zur Welt gekommen.

Die Welt. Das Kind verschloss Augen und Mund vor ihr. Es hatte nicht wählen können. Es hatte kommen müssen. Es lag mit geballten Fäusten und angezogenen Knien, wie es in ihrem Leib gelegen hatte, an den Brüsten seiner Mutter und trank nicht.

Candida, meine Tochter, redete Maria mit ihr. Es nützt nichts, dass du dich sperrst. Wenn dir die Welt nicht gefällt, musst du sie ändern. Man kann darin nicht leben, da hast du recht. Also trink. Du musst kräftig werden. Und mach die Augen auf.

Maria beschloss, Candida so zu erziehen, dass sie Schmerz tragen und um Glück kämpfen konnte.

In dieser Zeit hatte Maria immer den gleichen Traum: Sie vergaß, ihr Kind zu nähren, und als sie sich seiner in panischem Schrecken erinnerte, es aus seinen Tüchern wickelte, war es vertrocknet, zerfiel es unter ihren Händen zu Staub. Sie erwachte dann starr vor Angst und lauschte auf Atemzüge. Sie waren unhörbar. Sie musste hingehen, das Kind berühren, seine Wärme fühlen.

Candida blinzelte in die Sonne. Ihr Wagen stand im Garten; im schmelzenden Schnee.

Sie blickte in die freundlichen Gesichter, die sich über sie beugten. Wenn sie Maria erkannte, lächelte sie.

Candidas Augen waren von durchsichtiger Bläue, in manchen Sekunden ungewöhnlich hell. Dann erschrak Maria. Sie fühlte eine Ferne zwischen sich und dem Kind. In solchen Momenten kam es ihr vor, als kehre sich Candidas ganzes Sein von ihr ab.

Maria versorgte Candida zwischen den Vorlesungspausen. Sie atmete auf, als das Kind zehn Wochen alt war.

Das Heim lag unmittelbar am See. Ein Haus voller Kinder. Es roch nach warmer Milch und klang von ihrem Weinen und fröhlichen Geschrei.

Maria erfuhr, sie dürfe das Kind sonntags besuchen und, wenn die Heimleiterin nichts einzuwenden habe, es auch mit nach Hause nehmen. Candida gab keinen Laut von sich. Willig lag sie in dem fremden Arm und wandte, als sie hinausgetragen wurde, nicht einmal den Blick zu ihrer Mutter. Maria unterschrieb etwas, gab die Papiere des Kindes hin und fand sich wieder vor dem Haus, nicht erleichtert, eher verwirrt.

Candida erkältete sich gleich. Am Atmen gehindert, verweigerte sie alle Nahrung. Sie schrie, sträubte sich. Wenn sie den Mund aufriss, wurde er vollgestopft mit süßem Brei. Sie spuckte ihn aus, bis zur Erschöpfung mit der Pflegerin kämpfend.

Nach einer Woche wurde das Heim unter Quarantäne gestellt. Die Infekte traten auch in der Stadt auf. Über den Quarantänen im Säuglingsheim, dann im Studentenheim verging ein Vierteljahr.

Auf der Terrasse zum See standen in langer Reihe die Bettchen unter einer Markise, und Maria ging zweifelnd von einem zum andern. Sie sah in rosige Gesichter und fand nicht das Candidas.

Eine Kinderschwester zeigte sie ihr.

Candida lag auf dem Bauch, eine Hand darunter versteckt. Schlief auf der linken Wange; am rechten Daumen saugend. Ihr Haar war gewachsen und ringelte sich zu dünnen, blonden Locken. Ihre Haut war zart geblieben. Die Mutter sah das Blut darin pochen.

Maria kauerte sich nieder, ihrem Kind ins Gesicht zu sehen. Die lustige Nase, die von den langen Wimpern beschatteten schmalen Wangen. Es schlief mit dem Daumen im Mund. Als Maria ihn herauszog, blinkten hinter den Lippen zwei Zähnchen.

Candida seufzte im Schlaf und wandte den Kopf zur anderen Seite. Maria folgte ihr und sah sie Neuem an. Suchte in ihrer Vorstellung, was zwischen Abschied und Wiedersehen lag. Sie hatte ein Kind hergebracht, das auf der Seite, auf die man es bettete, liegen blieb. Sie traf es an, wie es sich umdrehen konnte.

Candida schlug die Augen auf. Groß, klar, blau sahen sie erinnerungslos die Mutter an.

Maria fuhr Candida spazieren, Candida schaute in das Blättergewirr der Bäume. Hatte es noch nie gesehen. Sie kannte den Himmel, die Zimmerdecke und die Markise.

Candida sah nur die Blätter. Wenn sie genug gesehen hatte, schlief sie.

So blieb es Monate.

Candidas Lächeln gehörte nicht Maria.

Die Ferien hatten das Internat leer werden lassen. Nun zog Candida dort ein. Ihre Stimme schallte durch das Haus, und sie nahm Stille um sich wahr.

Durch die Stäbe ihres Bettes sah sie am Morgen ihre Mutter schlafend, sah ihr Erwachen und lernte, ihr zu vertrauen. Nach der Morgenflasche lag sie bei ihr auf der Liege und zauste ihr Haar. Candidas Laufgitter stand auf den besonnten Fliesen des Balkons. Ein Radio spielte. Sie wurde im Freien gebadet, und an den lauen Abenden stand ihr Bett unter dem sich färbenden Himmel. In den Büschen schlugen Nachtigallen.

Candida lag mit offenen Augen, als brauche sie keinen Schlaf.

Die Großmutter reiste an. Besah sich das Kind, so ein Mäuschen! Ist kaum was dran an ihr.

Sie blieb vierzehn Tage. Tage, in denen Candida sich an das Rädergeräusch ihres Wagens gewöhnte, sein Klappern auf dem Pflaster, das Knirschen der Kieswege; an denen sie das Blätterdach des Parks über sich erblickte und von einer weichen Decke in das sommerharte Gras der Wiese griff. Die Stimmen der Frauen umgaben sie oder Stille. Sie kroch herunter von der Decke und spürte das Anderssein der Welt dort und trotz des Unbehagens, das Disteln und Ameisen ihr bereiteten, schrie sie nicht.

Maria, sagte die Großmutter, gib sie mir!

Du wirst sie verziehen. Nein. Du hast ja sonst niemand.

Aber sie hat auch niemand. Wann hat sie dich denn? Sonntags zwei Stunden. Vielleicht mal ein Wochenende. Wenn die Ferien vorbei sind, seht ihr euch bis Weihnachten nicht.

In der nassen Jahreszeit bekamen die Mütter ihre Kinder ins Besuchszimmer gebracht. An den Wänden standen Stühle. Dort saßen die Mütter in weißen Kitteln, zuweilen ein Vater, und hatten die Kinder auf dem Schoß oder zwischen den Knien. Die Größeren trappelten durchs Zimmer. Es war laut und eng.

Candida mochte das Zimmer nicht, seine Stickigkeit, die vielen Stimmen. Ihre Mutter blieb ihr hier fremd. Zu ihr gehörten Wind und Sonne, der Geruch von trockenem Gras und Töne, die Candida in diesem Haus nicht vernahm.

Candida war mit sich beschäftigt. Sie versuchte, sich auf die Füße zu stellen, zog sich an allem Erreichbaren hoch.

Maria sah ihr zu, und wenn das Kind fiel, sprang sie nicht hin, es aufzuheben, und wenn es weinte, tröstete sie es nicht. Fallen gehört zum Laufenlernen.

Candida weinte nicht lange. Ließ es bald ganz. Wenn sie fiel, stand sie wieder auf. Ihre Mutter lobte sie nicht. Lächelte, aber Candida sah es nicht.

Weihnachten reisten sie in die nebelgraue Stadt der Großmutter.

Maria war betroffen, ihr Zimmer neu tapeziert, ihr Kinderbett, vom Boden geholt und frisch gestrichen, stand neben ihrem, ein Laufgitter, ein Schaukelpferd, eine Wanne, ein Töpfchen.

So viel Umstände! sagte sie rau, entschlossen, Candida nicht hier zu lassen.

Candida ergriff Besitz von den Dingen. Wälzte sich auf dem Teppich, zog die Tischdecken herab, erkletterte Stühle und Sessel und zerbrach Geschirr. In einer unbewachten Sekunde warf sie den Weihnachtsbaum um. Sie wurde gescholten. Sie weinte nicht.

Die Großmutter sagte: Woher soll sie wissen, dass eine Vase zerbricht, dass man sich an Tischtüchern nicht festhalten kann, dass die Ofentür heiß ist und die Kerzenflamme.

Candida schrie, wenn sie auf den Topf sollte. Sie ließ sich umfallen mit ihm und blieb starr und schreiend liegen. Ratlos standen die Frauen vor ihr. Die Großmutter band Candida mit einer Windel am Tischbein fest. Dann fiel sie nicht, aber schrie bis zur Erschöpfung. Der Topf blieb leer.

Was soll ich sie quälen, sagte Maria. In einer Woche ist sie wieder im Heim.

Die Großmutter sagte nichts.

Als Maria nach den Feiertagen in die Verkaufsstelle kam, in der ihre Mutter arbeitete, sagte eine Kollegin zu ihr: Sie setzt Himmel und Hölle in Bewegung, einen Platz in unserer Tageskrippe zu bekommen.

Das ist mein Kind, dachte Maria.

Die Großmutter brachte Maria und Candida zum Zug. Sieh sie dir an, sagte sie, wie viel ihr fehlt.

Auf diesem Bahnhof fuhr ein Zug ab, als Maria fünf war. Es blieb ihr ein Bild: ein Meer aus Blumen und Fahnen, in Sonne blitzendes Messing und Menschen über Menschen. Des Vaters Kopf merkwürdig gequetscht zwischen vielen Köpfen. Er hat eine Uniform an wie alle im Zug. Maria mag den Stoff nicht, er kratzt, wenn sie ihr Gesicht dagegen drückt. Der Arm des Vaters hängt aus dem Abteilfenster, und die Mutter hält seine Hand. Hält sie im Lauf neben dem Zug. Sie lacht. Die Trompeten blasen: Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus ...

Die Mutter hat einen weißen Wollmantel an. Maria rennt neben ihr her. Alle Leute rennen. Dann müssen sie zurückbleiben. Die Mutter weint. Die Musik klingelt und trillert: Darum Madel, Madel wink, wink, wink ...

Maria sah ihren Vater nicht wieder, so sehr sie auch auf ihn wartete.

Sie sträubte sich gegen die Mutter die ganze Kindheit lang, denn sie dachte: Sie hat ihn wegfahren lassen!

Das Jahr der Erwachsenen ist kurz. Das Jahr der Kinder unendlich.

Candida war sicher auf ihren Beinen geworden. Deshalb bedurfte sie des Schutzes. Ihre Welt wurde von Türen und Gittern versperrt. Sie hatte unbändige Lust zu sehen, was vor den Türen und Gittern war. Sie akzeptierte kein Verbot.

Candidas Vater bat, sie sehen zu dürfen.

Eines Tages hatte der sonntägliche Spaziergang ein neues Ziel. Candida schob ihren Wagen über eine lange, stählerne Brücke. Sie blickte mit Staunen durch die Lücken des Geländers auf das kräuselige Wasser und warf, was sie gerade in der Hand hielt, hinunter. Sah die Puppe ein Weilchen auf dem Wasser schaukeln und dann versinken.

Ruhig schob sie den Wagen weiter.

Später, auf dem Rückweg erst, machte sie Halt an der Stelle und sah hinunter.

Weg? fragte sie ungläubig.

Die Mutter nickte.

Da weinte sie.

Auf der anderen Seite der Brücke wartete der Vater. Candida mochte ihn gleich. Er trug sie. Schwenkte sie herum. Tollte mit ihr. Sie durfte auf ihm klettern, reiten, ihn zotteln und zausen, auf seinen Schultern sitzend die Hände in seinen Bart vergraben.

Das bist du also! Er hielt sie über sich. Fliegengewicht!

Der Vater war Candidas große Entdeckung. Sie flog von seinen Händen in den Himmel und fiel in die Sicherheit seiner Arme.

Er lehrte sie, süßes schwarzes Bier aus einer Flasche zu trinken und den Verschluss zu öffnen; zeigte ihr Purzelbaum und Hampelmann. Sie vertraute ihm. Maria blieb schweigsam in diesen Stunden. Drückte Candida beim Abschied heftiger, ging aber am folgenden Sonntag wieder mit ihr über die Brücke.

Es war schon Sommer. Sie stiegen in des Vaters drolliges Auto und fuhren nach Wannsee. Der Vater redete mit der Mutter. Manchmal wurden sie heftig. Sie schwiegen, wenn sie Candidas erschrockenes Gesicht gewahrten.

Nächste Woche fahr ich ins Praktikum. Sechs Wochen, sagte Maria.

Bambu, sagte Candidas Vater, wenn du zurück bist, kommt zu mir. Wenigstens könnten wir zusammen wohnen.

Marias Augen wurden dunkel. Komm du! sagte sie.

Das geht nicht. Du weißt es.

Du willst nicht.

Du weißt, dass es nicht geht!

Warum bist du fortgegangen.

Ich studiere hier.

Und ich bei uns.

Bambula ...

Alles war längst gesagt.

Im August wurde die Grenze geschlossen.

Es war Sonntag, und Candida strebte auf gewohntem Wege zur Brücke. Sie protestierte nicht, als die Mutter die Richtung der Schritte änderte. Sie stieg erwartungsvoll in Busse und Straßenbahnen, aufmerksam die Gesichter musternd. Eilig und stürzend lief sie die Treppen im Internat hinauf, stand dann im Zimmer der Mutter, erstaunt, sagte den Namen des Vaters, lief hinaus, rief. Aber das Haus war leer.

Maria ging ihr nach. Da ließ Candida sich fallen. Stumm. Tränenlos. Maria hob ihre Tochter auf und trug schwer. Schlaff hingen Candidas Arme und Beine herab, das Blau ihrer Augen war ausdruckslos hell.

Sie fuhren Großmutter in einem Park spazieren. Auf seinen Teichen schwammen bunte Enten, und Brücken schwebten über ihnen. Kinder tollten. Musik spielte in einer weißen Riesenmuschel.

Candida tanzte vor der Muschel, spuckte von den Brücken ins Wasser, rief die Enten und ruhte aus auf Großmutters Schoß, die es gut hatte, in ihrem leichten, glänzenden Stuhl auf Rädern. Wie groß du bist, sagte die Großmutter zärtlich, und Candida rutschte von ihren Knien, einem Falter nachzulaufen. Später kamen sie in eine ruhigere Gegend. Ein breiter, schnurgerader Kanal mit schwarzem Wasser und schmutzigem Schaum lag träge neben ihrem Weg. Die Bäume standen dichter. Die Hitze ließ nach, und es roch nach wildem Lauch.

Ich habe diesen Geruch nie gemocht, sagte Großmutter, riech mal!

Candida blies die Luft durch die Nasenlöcher.

Nein! Anders herum! Die Großmutter machte es vor. Riecht es gut - ja?

Gut! sagte Candida. Umhalste sie.

So sah sie ihrer Mutter ins Gesicht, die den Rollstuhl schob, und sah Tränen.

Die Großmutter lachte Candida an. Schön so zu fahren - was?

Wenn du wieder gesund bist, sagte Maria, kommt Candida zu dir. Du hattest recht.

Ich wusste es ja, sagte die Großmutter zu Candida, deine Mutter ist eine kluge Frau.

Zwei Monate später wurde ein mit Samt bedeckter und mit Blumen geschmückter Sarg durch raschelndes Laub getragen und in eine Grube gesenkt. Candida sah zu, und die Geschicklichkeit der Männer mit den glänzenden steifen Hüten machte ihr Spaß. An der Hand der' Mutter ging sie furchtlos auf das Brett an der Grube und warf Blumen hinunter. Sie hörte erstaunt die Erdschollen auf den Sarg poltern und wurde ungeduldig, als das Händedrücken für die Mutter kein Ende nahm. Sie zog sie zur Halle, wo hinter Glas inmitten frischen Grüns, verwunderlich jung und schön, die Großmutter schlafend gelegen hatte. Man musste sie wecken, um nach Hause zu gehen.

Candida schrie und weinte, als Maria sie fest bei der Hand nahm und fortzog.

Candida verließ das Heim.

Maria hatte ihr neuen Schuhe, Handschuhe, Schal und Mütze, einen leuchtend roten Anorak und wolligzottlige Gamaschenhosen mitgebracht. So ausstaffiert lief Candida durchs Haus, unbändig stolz; und wehrte allen Versuchen der Kinder, sie anzufassen, bis sie in Tränen ausbrach und zur Mutter lief, Maria lachte, und sie gingen fort.

Es war Candidas dritter Geburtstag.

Sie feierten ihn in der Milchbar mit Kuchen und Musik aus der Box. Die Box interessierte Candida. Sie gingen erst, als alle Groschen verbraucht waren. Die Luft roch nach Schnee.

Riech mal!

Candida schnupperte und lachte. Die Kälte hatte ihre Wangen gerötet, der Spaß ihre Augen blank gemacht. Unter der Kapuze schauten helle Haarsträhnen hervor. Maria konnte sich nicht sattsehen an ihrem Kind.

Sie rannten ein Stück, hüpften dann. Auf einem Bein. Auf zweien.

Candida wusste den Weg nach Hause. Sie zog die Mutter zur Haltestelle. Maria führte sie zu einer anderen. Candida war ahnungslos. Sie stürmte in den großen, warmen Bus, suchte sich den besten Platz: am Fenster, hoch überm Hinterrad. Die Mutter hatte viele Fragen an den Fahrer, und Candida wurde ungeduldig. Aber dann fuhren sie. Lange. Durch die ganze Stadt, über den Fluss, durch den Wald, an einem See entlang, wieder durch den Wald, durch ein Dorf, hielten vor einer Bahnschranke, bis eine Lok vorbeifauchte, fuhren vorbei an grüner Wintersaat und stiegen endlich aus.

Ein Windstoß empfing sie. Er blies Candida um.

Maria sprang hinzu, denn sie glaubte, der Wind werde Candida wegpusten, die Böschung hinunter zur Autobahn.

Candida staunte über den Wind. Sie konnte nicht gegen ihn an. Sie brachte ihre Beine nicht nach vorn. Sie wollte vorwärts und ging rückwärts.

Der Himmel war dunkel von Schneewolken. Maria nahm Candida auf die Arme, trug sie vor sich, Candidas Rücken nun gegen den Wind. Das Kind hatte die Arme um ihren Hals gelegt und den Kopf auf ihre Schulter.

So gingen sie die Autobahn entlang. Maria musste sich mit ganzer Kraft gegen den Wind stemmen. Die Autos kamen ihnen mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegen. Der Schnee peitschte in ihr Gesicht, schmolz und lief zum Hals herab. Ihre Arme wurden lahm. Sie fürchtete, Candida werde zu weinen anfangen. Aber Candida begann zu singen, leise und vergnügt. Sie fühlte sich geborgen. Sie fragte nicht, was sie hier sollte, im Schneesturm auf der Autobahn, rechts und links dunkler Wald. Die Mutter trug sie.

Endlich sah Maria die Autobahnbrücke. Sie sahen einen Schornstein rauchen, dann ein Licht blinken, dann das Haus, hell und freundlich vor nassen, glänzenden Kiefern. Sie flüchteten unters Vordach. Der Sturm trieb ihnen Schnee hinterher. Sie waren klamm vom Kopf bis zu den Füßen.

Erwartungsvoll blickte Candida auf die Tür, an der die Mutter geläutet hatte. Eine Frau kam, in einer knisternden weißen Schürze. Sie sahen einander an, Frau Wiese und Candida, und es sprang etwas über zwischen ihnen. Candida lief zu ihr, drückte ihr Gesicht in die frische Schürze, die nasse Stellen bekam, und lachte.

Wärme umgab sie und wieder Kinderstimmen.

Candida sah die Mutter sich ihren Mantel ausziehen und den Bügel nehmen, den Frau Wiese ihr reichte. Da zog sie sich aus. Das Büro hatte eine große Glastür. Und während die Frauen mit Candida scherzten, ihr Hausschuhe und trockene Strümpfe anzogen, wurde draußen die Gardine zur Seite gerückt, und Näschen drückten sich an der Scheibe platt.

Candida war wie elektrisiert. Sie wartete gespannt auf jedes neue Gesicht hinter der Glastür. Jedes schaute sie freundlich und neugierig an.

Maria durfte mit in die Spielzimmer. Candida nahm ein Paradies in Besitz. Und wurde darin aufgenommen.

Candida löste sich von der Mutter.

Maria ging ohne Abschied.

Das Haus war geräumig. Dreißig Kinder bewohnten es. Candida als die Jüngste. Sie bekam die gleichen Kleidchen und Schürzen wie alle Mädchen. In der Schneiderstube wurden sie passend gemacht und ihr Name hineingestickt. Sie wollte gern Hosen haben wie die Jungen.

Candida lernte, dass das Terrassenzimmer ihr Gruppenzimmer war. Dort wurde gebastelt, gemalt und ausgestellt, erzählt und vorgelesen. Dort hatte sie ihr Regalfach, ihren Schürzenhaken, ihren Essplatz.

Sie stand an der großen Glastür zur Terrasse, sah die Flocken den Garten und den Wald zudecken, Meisen in den Futterringen schaukeln und morgens im Schnee die Spuren von Hasen und Vögeln. Das Fenster an der Stirnseite schimmerte hell, eingeschliffen in das matte Glas Schneewittchen mit den Zwergen. Stand die Abendsonne dahinter, strahlte und funkelte es.

Schön war es im Vogelzimmer, dem Zimmer der Großen. Sie passten auf, dass die Kleinen keinen Unfug darin trieben. Es hatte eine lange Veranda mit zwei Aquarien. Entzückt stand Candida vor den roten, grünen und samtschwarzen Fischen. Redete mit ihnen und stupste Mund und Nase ans Glas. Stand so auch vor der Voliere, in der es schwirrte und piepste, wo man gezwickt wurde von roten oder gelben Schnäbeln, wenn man einen Finger durch die Maschen des Drahtes schob. Candida wusste bald die Namen aller Vögel.

Es war ein langer kalter Winter.

Die Frau, die am Morgen die Milch aus dem Dorf heraufbrachte, blieb im frischen Schnee mit dem Schlitten stecken. Dann saß sie mit rot gefrorenen Wangen in der Küche und wartete, dass der Heizer seinen Pelz nahm und den Schlitten holte. Sie sah den Kindern zu, die in die Küche kamen und die Geschirrkörbe holten. Sagte dann: Nur euch zuliebe tu ich es!

Die Milch in den Kannen gefror unterwegs. Neugierig fuhr Candidas Finger über die Milchkristalle.

Schnee?

Nein, lachte die Köchin, Milch! Pass mal auf!