Aus der Welt - Barbara Vine - E-Book

Aus der Welt E-Book

Barbara Vine

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Beschreibung

Kerstin Kvist, eine junge schwedische Krankenschwester, kommt nach Lydstep Old Hall zur Pflege des kranken John Cosway. Doch nicht nur der erwachsene Sohn des Hauses verhält sich auffällig, auch der Rest der Familie wirkt eigenartig. Aus dieser Welt gibt es kaum noch ein Entkommen

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Seitenzahl: 487

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Barbara Vine

Aus der Welt

Roman

Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann

Titel der 2005 bei Viking Penguin, London,

erschienenen Originalausgabe: ›The Minotaur‹

Copyright © 2005 by Kingsmarkham Enterprises Ltd.

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2007 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Almut Heise,

›Christa doppelt‹, 1999

Für Jill Pitkeathley

in alter Verbundenheit

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23797 9 (2. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60119 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Heute

[7] Eine der Frauen, die mit den Bernsteinverkäufern verhandelte, sah Mrs. Cosway so ähnlich, daß ich erschrak. Sie wirkte nicht so groß, aber im Alter schrumpft der Mensch. Ansonsten war die Ähnlichkeit – von der weißen Löckchenfrisur bis zu den spindeldürren Beinen und schmalen Fesseln – geradezu unheimlich. Sie hielt prüfend eine Kette aus blaßgelben Bernsteinkugeln hoch und strahlte, wie es nur Frauen tun, die gern einkaufen gehen und schöne Dinge lieben.

Nach einer Theorie von Charles würde man in einem abgelegenen Ort, in dem man noch nie zuvor war, auf der Straße die vertrautesten Menschen nicht wiedererkennen. Nicht den Ehepartner, den Liebhaber, ja selbst nicht das eigene Kind. Man rechnet nicht mit ihnen, mehr noch, man weiß, daß sie dort nicht sein können, weil sie in diesem Augenblick Hunderte von Kilometern weit weg sind. Natürlich können sie dennoch dort sein, wo man in dem Augenblick selber ist, sie haben einen hinters Licht geführt, oder man wußte eben doch nicht so genau, wo sie sich aufhielten, trotzdem wird man sich im Weitergehen einreden, daß es sich nur um eine erstaunliche Ähnlichkeit handelte.

Mrs. Cosway hatte mir nicht sonderlich nahegestanden, aber ich wußte genau, wo sie jetzt war. Sie war tot. Diese [8] Frau sah aus wie Mrs. Cosway, mehr nicht. Ich wandte mich ab und ging weiter.

»Kerstin!« rief sie mir nach.

Hätte sie meinen Namen richtig ausgesprochen, so ähnlich wie »Shashtin« also, hätte ich mich vielleicht auch nach ihr umgedreht, aber es hätte mich nicht getroffen wie ein Blitz, nicht mit diesem Gänsehautgefühl. Doch sie hatte »Körstin« gesagt, wie alle Cosways bis auf John. Ich ging über den kopfsteingepflasterten Platz auf sie zu.

»Du weißt nicht, wer ich bin, was? Ich habe mich unheimlich verändert, aber das ist in dem Alter normal.«

Ihre Stimme verriet sie. »Ella!«

Sie nickte sichtlich erfreut. »Ich hab dich gleich erkannt, obwohl du dich auch verändert hast. Das ist meine Tochter Zoe und das meine Enkelin Daisy. Lauter Mädchen in der Familie.«

Zoe war eine hochgewachsene brünette Frau Anfang Dreißig, gutaussehend, braune Augen, die ein etwa sechsjähriges Kind dabeihatte. Wir gaben einander die Hand.

»Erinnert sie dich an jemanden?«

»Winifred«, sagte ich.

Zoe verzog das Gesicht. »Mutter…!«

Wie oft hatte ich dieses vorwurfsvolle »Mutter!« von Ida gehört, wenn Mrs. Cosway sich eine besonders empörende Bemerkung geleistet hatte.

»Was macht ihr in Riga?«

»Zoe wollte die Jugendstilhäuser in der Albertstraße sehen. Sie studiert Kunstgeschichte, deshalb haben wir eine Rundreise durch die baltischen Staaten gebucht.« Hätte Ella vermutet, daß es mich aus ähnlichen Gründen [9] hierherverschlagen hatte, hätte sie nicht unrecht gehabt, aber daß sie nicht danach fragte, paßte zu ihr. Die Cosways hatten noch nie großes Interesse für das Tun und Treiben anderer Menschen gehabt. »Soll ich die Kette kaufen? Du wirst sagen, daß sie unverschämt teuer ist.«

»Im Gegenteil. Billiger wird Bernstein nirgends angeboten.«

Vielleicht ging ihr meine Antwort gegen den Strich, denn sie sagte ziemlich scharf: »Das mit dem Tagebuch hat Mutter dir nie verziehen.«

Zum Streiten war nicht der richtige Moment. »Es ist lange her. Was ist… ich meine… wie ist es John ergangen?«

»Er lebt noch, wenn du das meinst. Zorah hat ihn in die Toskana mitgenommen, aber er lebt jetzt allein, das heißt, betreut von einem Ehepaar. Du wirst sagen, daß jemand, der so verrückt ist wie er, nicht allein zurechtkommt, aber offenbar schafft er es.«

Über ihre Angewohnheit, mir ständig irgendwelche Ansichten zu unterstellen, die mich früher so geärgert hatte, konnte ich jetzt lächeln.

»Kaufst du mal eben die Kette für mich, Zoe? Unser Bus muß gleich hier sein. Ja, John… Er hat ein wunderschönes Haus bei Florenz, das weiß ich allerdings nur vom Hörensagen, nicht, daß er uns jemals eingeladen hätte, stimmt’s, Zoe? Na ja, Geld genug hat er schließlich. Das Land, auf dem Lydstep Old Hall stand, ist verkauft worden, da stehen jetzt vier Häuser drauf. Du kennst ja die heutigen Bauunternehmer. Keine Ahnung, was er mit seinem Reichtum anfängt. Er geht nie weg, heißt es, und ist bald fünfundsiebzig.«

[10] Der Reisebus bog langsam um die Ecke und hielt auf dem Platz. Er war fast voll. Ich hätte sie gern gefragt, wen sie geheiratet hatte. Wer war Zoes Vater? Sie stiegen schon ein.

»Kommt ihr heute abend wieder her?« fragte ich.

»Wir sollen um fünf zurück sein, nicht?« fragte sie ihre Tochter.

»Treffen wir uns auf einen Drink?« schlug ich vor und nannte mein Hotel. »Halb sieben, ist das recht?«

Sie rief mir noch etwas zu, was ich nicht verstand. Ich winkte dem Bus nach und wandte mich dann ab. Was ich über John Cosway erfahren hatte, machte mich so froh, daß ich ganz beschwingt ins Hotel zurückging, zu Charles und Mark und Anna.

[11] Damals

[13] 1

Ich bin Karikaturistin.

Frauen sind in dieser Branche rar, sie gilt immer noch als Männerdomäne, und wenn man keine Engländerin ist und nicht einmal auf einer Kunsthochschule war, ist man erst recht eine Seltenheit. Seit nahezu dreißig Jahren liefere ich jede Woche zwei Karikaturen für eine Wochenzeitschrift, habe Harold Wilson und Willi Brandt gezeichnet, Mao Zedong und Margaret Thatcher (Hunderte von Malen), John Major, Neil Kinnock, David Beckham und Tony Blair (an die sechzigmal). Man sagt mir nach, daß ich mit ein paar Strichen und Schnörkeln eine Ähnlichkeit so einfangen kann, daß der Betrachter weiß, wer gemeint ist, noch ehe er liest, was in der Sprechblase der Figur steht. Aber ich bin kein Wunderkind. Was ich über Kunst in der Schule gelernt habe, war nicht der Rede wert, und jahrelang habe ich nie etwas anderes gezeichnet als einen Ziehharmonikahund für meine kleinen Nichten und Neffen.

Das mit dem Ziehharmonikahund erkläre ich Ihnen jetzt mal, vielleicht wollen Sie ja irgendwann einen für Ihre Kinder machen. Sie nehmen ein Blatt Papier, einen längs halbierten Bogen A4 zum Beispiel, legen ihn noch einmal zur Hälfte zusammen und schlagen das gefaltete Stück so zurück, daß ein zwei Zentimeter breiter Streifen entsteht. [14] Dann falten Sie das Blatt wieder auseinander und zeichnen über die Kniffe einen Hund, am besten einen Dackel oder Basset, wichtig ist nämlich, daß zwischen Vorder- und Hinterbeinen ein langer Körper ist. Dann legen Sie das Blatt in den Knicken wieder zusammen. Jetzt ist ein Hund mit gedrungener Figur zu sehen, aber wenn das Kind das Blatt auseinanderzieht wie eine Ziehharmonika, verwandelt er sich in einen Dackel. Mit etwas Übung kann man natürlich auch eine Ziehharmonikagiraffe machen oder einen Truthahn, der sich in einen Vogel Strauß verwandelt. Kinder finden das herrlich, sind davon begeistert, und als Teenager und während des Studiums habe ich nie etwas anderes gezeichnet.

Ich wollte erst Krankenschwester und dann Englischlehrerin werden. Daß ich das Zeichnen zum Beruf machen könnte, wäre mir nie in den Sinn gekommen, von Ziehharmonikahunden kann man nicht leben. Ende der sechziger Jahre kam ich nach England, frisch von der Uni in Lund mit einem Abschluß in Englisch und einer Kurzausbildung in Krankenpflege. Ich hatte einen Job und eine Bleibe in Aussicht, aber eigentlich war ich nach England gekommen, um meine Beziehung zu Mark Douglas wiederaufleben zu lassen.

Wir hatten uns in Lund kennengelernt, aber nach seinem Abschluß mußte er nach Hause und redete mir in jedem Brief dringend zu, ich solle doch nachkommen. »Besorg dir einen Job in London«, schrieb er, »besorg dir ein Zimmer, in London wohnen alle möbliert.« Ich machte das Nächstbeste– ich besorgte mir einen Job in Essex, in der Nähe der Hauptstrecke von Liverpool Street Station nach Norwich. [15] Meine künftigen Arbeitgeber hießen Cosway, das Haus, in dem sie wohnten, hieß Lydstep Old Hall, und so etwas wie dieses Haus hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.

Es war sehr groß, wirkte aber auf den ersten Blick nicht so sehr wie ein Haus, eher wie ein Busch oder ein riesiger Baum, dem man einen Formschnitt verpaßt hat. Als ich es zum erstenmal sah, im Juni, war es über und über, von den Grundmauern bis zur Dachtraufe, mit giftgrünem wildem Wein bewachsen. Man konnte gerade noch erkennen, daß der Bau rechteckig und das Dach fast flach war, aber ob es architektonische Besonderheiten wie Balkone, Geländer, Säulen oder Steinmetzarbeit gab, war unter der Masse von glänzendem Grün nicht auszumachen. Nur Fenster spähten aus dem Laubwerk hervor. Es war ziemlich böig, und weil die hunderttausend Blätter im Wind zitterten, sah es aus, als ob sich das Haus bewegte, sich zusammenzog, ausdehnte und wieder zur Ruhe kam.

»Da muß man sich ja vorkommen, als wenn man in ’nem Baum wohnt«, sagte der Taxifahrer, als ich zahlte. »Ist doch bestimmt schädlich für die Fassade, das Zeug. Wär nichts für mich. Freunde von Ihnen?«

»Noch nicht«, sagte ich.

Wenn man die Ziehharmonikahunde nicht rechnete, war Lydstep Old Hall meine erste Zeichnung. Ich habe das Haus an jenem Abend, als ich auf meinem Zimmer war, aus der Erinnerung festgehalten, und so mache ich es beim Zeichnen bis heute.

[16] Den Job hatte mir Marks Schwägerin Isabel Croft besorgt. Sie war mit der jüngsten Cosway-Tochter zur Schule gegangen.

»Zorah wohnt sicher nicht mehr zu Hause«, sagte sie, als ich sie bat, mir etwas über die Familie zu erzählen. »Wer jetzt noch da ist, weiß ich gar nicht. Ida, ja, die bestimmt, sie führt ihnen den Haushalt. Die anderen beiden Schwestern kannte ich nicht näher. Vielleicht haben sie geheiratet oder sind weggezogen. Das Haus gehört eigentlich John.«

»Den ich betreuen soll? Er ist schizophren, nicht?«

»Also ich weiß nicht… ›Betreuen‹ ist übertrieben.«

»Mrs. Cosway hat es so formuliert.«

»Was John fehlt, habe ich nie direkt benennen hören«, sagte Isabel. »Ich find’s eigentlich komisch, daß… Aber Mrs. Cosway wird schon wissen, wovon sie redet. Der Besitz wird von einem Treuhänder verwaltet. Es ist eine merkwürdige Sache, Mr. Cosway hat es in seinem Testament irgendwie so festgelegt. Einzelheiten wirst du kaum wissen wollen. Die Ehe war kaputt, glaube ich, und in seinen letzten Lebensjahren haben er und Mrs. Cosway kaum ein Wort mehr gewechselt. Mrs. Cosway war immer nett zu mir, aber sie ist nicht einfach. Na, du wirst sie ja erleben. Ein riesiges Haus, aber einige Räume haben sie abgeschlossen.«

Ich fragte, was sie komisch fände. Sie hatte den Satz nicht zu Ende gebracht.

»Daß John Betreuung braucht. Du bist Krankenschwester, und als ich ihn kannte, hatte er keine Pflegerin nötig. Manchmal benahm er sich sonderbar, das stimmt schon, aber bösartig war er nie. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«

[17] Es gab vieles, was sie nicht sagte, vor allem wohl deshalb, weil sie es wirklich nicht wußte. Die Cosways verstanden sich gut darauf, Dinge zu verbergen – Außenstehenden gegenüber und auch voreinander.

In den Romanen aus dem 19. Jahrhundert, die ich während meines Englisch-Studiums gelesen hatte, werden junge Frauen, die bei Familien auf dem Land eine Stellung antreten, immer von einem alten Faktotum mit einem Ponywagen an der nächstgelegenen Bahnstation abgeholt. Mir hatte man das nicht angeboten. Die Cosways besaßen weder Faktotum noch Ponywagen, nur ein Auto, und das brauchte Ella Cosway, um zur Arbeit zu fahren. Ich nahm ein Taxi. Vor dem Bahnhof von Colchester standen immer Taxis und stehen dort, soviel ich weiß, bis heute.

Die Straße ist inzwischen zu einer dreispurigen Autobahn ausgebaut. Damals fuhren wir über gewundene, streckenweise sehr schmale Wege, folgten ein Stück dem Lauf des Colne und passierten die Tore von mehreren Herrenhäusern. Ich hatte einiges über die Architektur von Essex gelesen und wußte, daß in der Grafschaft Steine als Baumaterial rar waren. Man benutzte Holz, Ziegel, Kalk, Flint und, besonders zum Bau von Kirchen und Umfriedungen, sogenannte Puddingsteine, längliche und abgerundete Flintkiesel. Das wichtigste Material aber, hieß es in meinen Büchern, sei Holz, und ich sah vom Taxifenster aus zu meiner Genugtuung diese Information bei Herren- wie Bauernhäusern aus winzigen Tudorziegeln mit Schindeln und Fachwerk bestätigt. Natürlich steigerte das meine Erwartungen an das Haus, das mir Isabel nicht beschrieben hatte. Womöglich [18] hatte es einen Wassergraben wie einige der Herrenhäuser, die ich im Vorbeifahren sah, vielleicht aber auch ein Strohdach, Butzenscheiben und viel naturbelassenes Holz. Und dann war da ja auch noch das Labyrinth.

»Im Garten, meinst du?« fragte ich Isabel. »Ein Labyrinth aus Hecken?«

Aber sie lachte nur. »Du wirst schon sehen.«

In meiner erwartungsvollen Ungeduld fragte ich den Fahrer, wie weit es sei. Drei Kilometer, erfuhr ich und hätte ihm am liebsten gesagt, er solle schneller fahren. Das Dorf ließen wir links liegen, aber die Kirche von Windrose, All Saints, erkannte man schon von weitem. Der hohe rosenrote Turm war ein Wahrzeichen, das den Blick auf sich zog und festhielt. Den großen roten Turm von Windrose nannten ihn die Leute, und manche sagten, das Dorf habe seinen Namen von dieser Farbe. Lydstep Old Hall lag einen halben Kilometer dahinter auf dem Kamm eines langgezogenen Hügels. Wir näherten uns dem Haus auf einem Feldweg, den der Taxifahrer eine Auffahrt nannte und der da, wo er sich zum Haus hin verbreiterte, gekiest war. Von einem Labyrinth keine Spur – um mich herum nur Rasen, alte Eichen und Ilex.

Die Haustür aus verwitterter Eiche war zurückversetzt, eine rechteckige Vertiefung in dem grünen Blätterdach. Jetzt, aus der Nähe, sah ich, wie groß die glänzenden Blätter waren, und als eins mein Gesicht streifte, spürte ich es kühl auf der Haut. Manchmal kann man eine künstliche Zimmerpflanze von einer echten nur unterscheiden, wenn man die Blätter anfaßt. Das Kunstgebilde fühlt sich steif und tot an, die richtige Pflanze scheint zu atmen und unter [19] der Berührung nachzugeben. Das Blatt auf meiner Wange fühlte sich lebendig an.

Ich klingelte, und eine Frau kam zur Tür. Ihr Foto war später mehrmals in der Zeitung und im Fernsehen, aber das ist auch schon wieder lange her. Die ganze Familie war auf jenen Fotos eher schlecht getroffen. Ich will nicht prahlen, aber die Zeichnung, die ich von Ida gemacht habe, war ähnlicher. Zuerst hielt ich sie für eine Hausangestellte. Sie mochte um die Fünfzig sein und trug eine Kittelschürze.

»Guten Tag. Ich bin Ida Cosway.«

Die Hand, die sie mir hinstreckte, war hart und schwielig, rot und abgearbeitet.

»Kerstin Kvist«, sagte ich und schleppte meine beiden Koffer hinter ihr her in die Eingangshalle.

Die Halle war sehr alt, Relikt eines Hauses, das noch aus der Zeit vor den Tudors stammte und, wie Ella Cosway mir später erzählte, schon 1415, zur Zeit der Schlacht von Agincourt, an dieser Stelle gestanden hatte. An den verputzten Wänden und der niedrigen Decke waren Reste schöner Holzvertäfelung, vage konnte man verwitterte Schnitzereien von Rosen und Schilden erkennen. Gegenüber der Eingangstür war ein großer offener Kamin aus roten und schwarzen Ziegeln.

Ida fragte, ob ich gegessen hätte, und bot mir, als ich das bejahte, eine Tasse Tee an. Schweden trinken eher Kaffee als Tee, aber ich nahm dankend an, weil ich nach Möglichkeit erst auf mein Zimmer gehen wollte, nachdem ich mehr über meine Stellung im Haus und über die Familie selbst in Erfahrung gebracht hatte. Sie nahm mir meine Koffer ab und stellte sie nebeneinander unten an die Treppe – für ein so [20] großes Haus mit einer so noblen Eingangshalle eine recht schäbige Treppe mit Linoleumbelag auf den Stufen und einem hölzernen Geländer, das mit Metallstreben an der nackten Wand befestigt war. Ein Korridor führte in die Küche, die sehr groß und leidlich gut ausgestattet war, aber die hohe Decke, die Töpfe und Pfannen und eine Laterne, die von einer großen schwarzen Eisenkonstruktion hing, hätten gut in einen Film gepaßt, der im 18. Jahrhundert spielte und den ich vor einiger Zeit gesehen hatte.

Im Salon gab es an Mobiliar einen Tisch und mehrere Sitzgelegenheiten, Sessel, Stühle mit gerader Lehne und ein Sofa mit blaukarierter Überdecke.

»Setzen Sie sich doch«, sagte Ida mit ausdrucksloser Stimme. »Sie sind sicher müde von der Reise.«

»Eigentlich nicht. Später würde ich gern ein bißchen spazierengehen.«

»Du lieber Himmel«, sagte sie. Die tonlose Stimme ließ offen, ob Ida damit Bewunderung über meinen Mut oder Bestürzung über meine Torheit zum Ausdruck bringen wollte. »Zucker?«

»Nein, danke. Und auch keine Milch«, setzte ich eilig hinzu.

Ich hatte sie gerade noch rechtzeitig gebremst. Daß man in einen Aufguß aus Blättern Milch geben kann, fand ich schon damals abartig. Erleichtert sah ich, daß in dem großen Becher ohne Untertasse schwarzer Tee pur war, so rein wie damals noch das Wasser des Colne.

»Sind Ihre Mutter und Ihr Bruder zu Hause?« fragte ich.

»Mutter ist mit John draußen.« Es war ein grauer Tag, [21] und der Wind frischte immer noch auf. »Er will unbedingt raus, und sie möchte nicht, daß er allein geht.« Das Lächeln, das sie sich abrang, machte sie älter, weil es die Falten um Mund und Augen vertiefte. »Das gehört von jetzt an vermutlich zu Ihren Aufgaben. Die beiden müssen jeden Augenblick zurück sein.«

»Vielleicht könnten Sie mir in etwa sagen, was ich für John zu tun habe. Aus den Briefen Ihrer Mutter ging das nicht so recht hervor.«

»Wie gut Sie Englisch sprechen. Das hätte ich nicht erwartet«, meinte Ida.

»Alle Schweden sprechen Englisch.« Das war nur leicht übertrieben. »Sie kämen sonst nicht weit. Aber Sie wollten mir von Ihrem Bruder erzählen.«

»Ja«, sagte sie. »John. Ja…«

Das Thema war ihr offensichtlich unangenehm, aber um sich davor zu drücken, war sie nicht raffiniert oder auch nicht wortgewandt genug. Einen Augenblick blieb es still. Ich trank meinen Tee und musterte sie. Ida Cosway war ungefähr so groß wie ich, also etwa eins zweiundsiebzig. Auf der Zeichnung, die ich vier oder fünf Wochen danach von ihr gemacht habe, sieht man ein fein geschnittenes Gesicht, die Haut rauh und ungepflegt wie die Hände, und graumeliertes Haar, das so stumpf ist wie der braune Tweedrock. Vielleicht habe ich als Karikaturistin ihre typischen Eigenschaften leicht übertrieben, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß Ida so gebeugte Schultern hatte wie auf meiner Skizze. Ob es mir gelungen ist, die Spannung wiederzugeben, unter der sie offenbar stand, wage ich nicht zu beurteilen. Und diese Anspannung verstärkte sich noch, als ich [22] sie – allerdings sehr behutsam – drängte, mir mehr über ihren Bruder zu erzählen.

Sie redete schneller, als wollte sie das, was zu sagen war, so rasch wie möglich hinter sich bringen und auf Erfreulicheres zu sprechen kommen. »Als kleiner Junge war er völlig normal. Später wurde er – wunderlich. Meine Mutter hat, was den Auslöser betrifft, ihre eigene Theorie, und unser Arzt, Dr. Lombard, bei dem John in Behandlung ist, ebenfalls. John braucht ständige Pflege – das heißt Beobachtung.«

»Das tut mir sehr leid. Ihre Mutter betreut ihn?«

»Mit mir zusammen. Und nun mit Ihnen. Jetzt, im Alter, kann sie das nicht mehr allein. Auch meine Schwestern helfen mit, aber sie arbeiten beide. John selbst wollte Sie haben – das heißt, nicht Sie speziell, sondern jemanden zur Betreuung –, und was John haben will, das bekommt er natürlich.« Ihr trockenes Lachen hatte einen unangenehmen Klang, war eine Mischung aus Husten und Ächzen. Später merkte ich, daß Mrs. Cosway und ihre anderen beiden Töchter genauso lachten, als sei das Lachen ein diskreter Ersatz für eine bittere Bemerkung. »Allerdings nicht mehr in gleichem Maße wie früher«, setzte sie hinzu.

Was sie damit wohl meinte?

»Sie wollen ein Jahr bleiben, haben Sie geschrieben, nicht wahr? Viel haben Sie nicht zu tun. Und Sie brauchen gar nicht so zu gucken…« – ich hatte mich lediglich um einen leidlich interessierten Gesichtsausdruck bemüht – »…an Ihrer Arbeit ist nichts Abstoßendes. Außerdem sind Sie ja Krankenschwester. Er kann selber essen und… und das andere auch.« Sie meinte den Stuhlgang und das, was [23] Krankenschwestern gern Pipimachen nennen, und wurde rot, als sie diese ungeschickte Umschreibung herausbrachte. »Anstrengend ist es nicht. Es ist mehr wie Babysitten, nur bei einem erwachsenen Mann.«

Sie zögerte einen Augenblick, dann platzte sie heraus: »Der Irrsinn liegt in der Familie.« Schon damals war der Begriff veraltet, wenn auch noch nicht politisch inkorrekt, aber sie wiederholte ihn: »Ja, der Irrsinn liegt in der Familie.« Erstaunlicherweise schwingt bei so einem Erbe immer etwas wie Stolz mit, während man von Krebs oder Arthritis »in der Familie« in einem ganz anderen Ton zu sprechen pflegt. »Mein Urgroßvater war wunderlich«, erläuterte sie. »Er ist komplett wahnsinnig geworden. Sein Sohn war exzentrisch, und das ist noch milde ausgedrückt.« Sie machte schmale Lippen. Ganz offensichtlich fürchtete sie, zuviel gesagt zu haben.

»Könnte ich jetzt wohl mein Zimmer sehen?« fragte ich.

»Natürlich.«

Wir gingen nach oben. Der Gang war breit und wurde wie eine Galerie von gerahmten Kupferstichen gesäumt. Ida führte mich in ein Zimmer, das nach vorn hinausging, und legte den Koffer, den sie mir getragen hatte, aufs Bett. »Eigentlich war es für meinen Bruder gedacht«, erklärte sie. »Es hat nämlich ein eigenes Bad. Damals lebte mein Vater noch, er hat es einbauen lassen. John konnte sich nicht dafür begeistern. Zweimal hat er die Badewanne überlaufen lassen, und das Wasser ist durch die Decke gekommen. Duschen mag er auch nicht besonders – überhaupt ist er nicht gern oben, deshalb schläft er jetzt in dem Zimmer neben der [24] Eingangshalle. Wie gesagt, er kriegt immer, was er will. Aber verrückt zu sein ist schon schlimm, nicht?«

»Wie traurig. Es tut mir sehr leid für die Familie«, sagte ich aufrichtig.

»Ach wirklich? Lieb von Ihnen« sagte sie so wehmütig, als hätte sie von Dritten bisher wenig Mitgefühl für ihr Geschick erfahren.

Weil ich in allem sehr für klare Verhältnisse bin, fragte ich vorsichtshalber, ob ich mich vor meinem Spaziergang unten kurz umsehen dürfte.

Sie stutzte ein wenig, fing sich aber gleich wieder. »Ja, natürlich. Wenn Sie von Ihrem Zimmer aus nach rechts gehen, kommen Sie zur Hintertreppe. Die ist näher.«

Ich überlegte, ob sie mir auf diese verquere Art beibringen wollte, daß ich als Bedienstete die Hintertreppe und vielleicht auch die Hintertür zu benutzen hätte. Als ich sie näher kannte, begriff ich, daß Ida einfach nur linkisch war. In ihrem zurückgezogenen Leben hatte sie es nie gelernt, Konversation zu machen.

Ich leerte einen Koffer und hängte meine Sachen auf die Drahtbügel, die ich im Schrank vorfand. Ich erwähne diese Drahtbügel, die man bei der Chemischen Reinigung bekommt, weil sie vielleicht mehr als alles andere verdeutlichen, wie karg und komfortlos die Cosways lebten. Doch die erste Schublade, die ich aufzog, war voller Bleistifte, mindestens zwanzig klapperten darin herum. Wer hatte sie wohl da liegenlassen – der schizophrene Bruder? Manchmal denke ich, daß es diese Bleistifte waren – Härte HB, B und BB, ziemlich hart, weich und sehr weich –, die mich zum Zeichnen brachten, und daß ich ohne sie jetzt vielleicht, den [25] Ruhestand in Sichtweite, als Lehrerin in Stockholm leben würde.

Den zweiten Koffer ließ ich erst einmal stehen. Zwischen den dünnen, ungefütterten Vorhängen aus einem Stoff, der sich Cretonne nennt, glaube ich, sah ich durch das Fenster eine hochgewachsene, sehr magere alte Dame mit einem jungen Mann langsam über die Wiese hinter dem Garten kommen. Natürlich war John Cosway eigentlich kein junger Mann mehr, er war neununddreißig, aber alle – eine Weile auch ich – behandelten ihn, als wäre er ein Kind.

Die Hintertreppe war schnell gefunden. Auch sie hatte einen Linoleumbelag, er war stumpfbraun wie fade Bratensoße. Die Treppe mündete in einen Gang, wo eine offenstehende Tür mir den Weg in den blumenlosen, aber gepflegt-en Garten wies und eine zweite in einen Gang mit vielen Türen führte, die damals wohl alle abgeschlossen waren, an jenem Tag habe ich allerdings, wenn ich mich recht erinnere, nur zwei versucht aufzumachen. In diesem Gang brannte kein Licht, aber an der Decke hingen Glühbirnen mit Lampenschirmen aus Pergament. In der anderen Richtung führte der Gang zu einem düsteren Eßzimmer. Die Wände zierten Stahlstiche von Ruinen aus dem Italien des 18. Jahrhunderts. Inzwischen habe ich solche Stiche vielerorts in Hotels gesehen, doch frage ich mich immer noch, wem wohl bröckelnde Mauern, zerfallene Türme, morsche Treppen und überwucherte Schuttberge in Schwarzweiß gefallen oder gefallen sollen. Auf einem der Stiche im Eßzimmer der Cosways konnte man einen verzagt wirkenden Schäfer und eine füllige Maid bewundern, die nebeneinander auf der obersten Stufe eines zerfallenen Amphitheaters ruhten.

[26] Johns Zimmer mußte hinter einer der Türen sein, die von der Halle abgingen, und dort hatte ich mit Sicherheit nichts zu suchen. Statt dessen betrat ich den Salon, an dessen Proportionen irgend etwas nicht stimmte – ein typisches Merkmal großer spätviktorianischer Räume. Von dem ursprünglichen Haus war, wie gesagt, nur die Halle geblieben. Eingerichtet war der Salon wie die anderen Zimmer, in die ich kurz hineingesehen hatte, angemessen, aber freudlos – ohne Kissen, Tischlampen oder Bücher. Der Kleinkram, der herumstand, sah mir nicht so aus, als hätten die derzeitigen Bewohner ihn ausgesucht, es waren Sachen, wie sie einem Freunde und Verwandte zu Weihnachten und zum Geburtstag schenken, weil sie eben irgend etwas schenken müssen: ein verchromter Briefbeschwerer in Form einer Katze, ein Pflanzenständer in Grün und Khaki ohne Pflanze, zwei oder drei – vermutlich venezianische – Glastierchen und eine Briefablage in Laubsägearbeit, eigentlich für die Wand bestimmt, die niemand aufgehängt hatte.

Die rühmliche Ausnahme unter diesem Kitsch war eine wunderschöne, ungewöhnlich große Druse. Ich fragte mich sofort, woher dieser ovale Stein in stumpfem Granitgrau mit der glitzernden Amethystfüllung wohl kam und was er hier zu suchen hatte. Ich hätte gern darübergestrichen, aber an meinem ersten Tag hier ließ ich es dann doch lieber sein. Ein andermal, dachte ich und machte kehrt, weil ich in den Garten wollte. Das Haus selbst hatte mich enttäuscht, aber ich hoffte auf das Labyrinth, das ich nun sicher gleich finden würde.

[27] 2

Ich hatte damals natürlich noch keine Vorstellung davon, was von den Rasenflächen, über die ich lief, den Nutzgärten, den Koppeln und dem Parkland zum Besitz von Lydstep gehörte. Die Anlagen waren hübsch, sie gefielen mir, aber das Labyrinth, nach dem ich suchte, fand ich nicht. Sehr verwunderlich, dachte ich, daß ein Labyrinth, ein seiner ganzen Art nach rätselhaftes Gebilde, einem schon Rätsel aufgeben konnte, wenn man nur danach suchte.

Als ich zum Haus zurückkam, ging das Küchenfenster auf, und Ida rief mir zu, ich solle hereinkommen, der Tee sei fertig. Da ich ja schon Tee getrunken hatte, wäre aus meiner Sicht die nächste Mahlzeit eigentlich das englische Supper oder Dinner gewesen, aber auf dem Küchentisch standen Schüsseln mit Obst aus Dosen bereit, Teller mit Zunge und Schinken, ein Kuchen, Kekse und viele schon gebutterte Brotscheiben. Mrs. Cosway legte größten Wert auf eine frugale Lebensführung, aber am Essen hat die Familie nie gespart.

»Das ist meine Mutter«, sagte Ida sehr förmlich, »und das ist mein Bruder John. Mutter, darf ich dir Miss Kvist vorstellen?«

»Kerstin Kvist«, ergänzte ich, wobei ich den Namen schwedisch aussprach.

[28] Mrs. Cosway streckte mir die Hand hin, ohne aufzustehen. »Guten Tag«, sagte sie mit einer dieser Oberschichtstimmen, die manche Ausländer als bedrohlich oder auch als lächerlich empfinden. Sie schien die Silben meines Namens in Gedanken hin und her zu wenden. »Laut Ihrem Schreiben heißen Sie Kerstin«, bemerkte sie wie eine gestrenge Lehrerin, »und nicht Shashtin. Haben Sie inzwischen Ihren Vornamen geändert?«

»Kerstin wird Shashtin ausgesprochen, Mrs. Cosway.«

»Merkwürdige Sitten«, sagte sie und gab mir nicht nur mit diesen Worten, sondern auch mit der entsprechenden Miene zu verstehen, daß unter zivilisierten Menschen nur die englische Aussprache akzeptabel sei und ich womöglich selbst nicht wüßte, wie sich mein Name aussprach. »Macht alles unnötig kompliziert. Sag Miss Kvist guten Tag, John.«

Auf meiner Zeichnung von Julia Cosway sieht man ein verwittertes Gesicht, grobe Haut mit tiefen Falten, ebenso ungepflegt wie die ihrer Tochter, und einen Mund mit heruntergezogenen Mundwinkeln. Ich glaube, daß es mir ganz gut gelungen ist zu zeigen, wie sich auf diesen verwüsteten Zügen der Abscheu spiegelte, den sie beim Anblick ihres Sohnes empfand. Ich spürte Mrs. Cosways eiserne Selbstbeherrschung und daß sie etwas unterdrückte, was sie gern gesagt hätte. Damals war ich noch so jung, daß der Gedanke, es könnte Frauen geben, die ihre Kinder ablehnen, jenseits meines Vorstellungsvermögens lag.

Wie alle Cosways wirkte John Cosway mit seinen ebenmäßigen Zügen und den dunklen Augen durchaus ansehnlich. Auf der Wiese war er mir kleiner vorgekommen als Mrs. Cosway – aber daß ein Mann immer größer sein muß [29] als seine Mutter, ist ja sowieso Altweibergewäsch. Ich habe die ganze Familie und viele der Dorfbewohner gezeichnet, nur nicht John. Es wäre mir unrecht, ja geradezu unfair vorgekommen, das Bild eines geistig gestörten und wehrlosen Mannes mit dem Zeichenstift festzuhalten.

»Hallo, Miss Kvist«, sagte er wie ein auf Oberschichtenglisch dressierter Roboter.

Mein Eindruck war, daß er mich auch ohne die Nachhilfe seiner Mutter begrüßt hätte, aber die Hand, die ich ihm hinstreckte, wurde nicht so sehr ignoriert als deutlich abgelehnt. Die Bewegung, mit der er sich meiner Hand verweigerte, war kein Zurückschrecken, sondern ein kontrollierter Rückzug.

Um meine Betroffenheit zu verbergen, bat ich: »Sagen Sie doch Kerstin zu mir«, und an Ida und ihre Mutter gewandt: »Und Sie auch bitte.«

Mrs. Cosway ließ Idas trocken abschätziges Lachen hören und meinte, sie wolle es versuchen. »Allerdings weiß ich nicht, ob ich meine Zunge so weit werde verbiegen können.«

»Shashtin.« John artikulierte es perfekt. »Shashtin, Shashtin.«

»Iß jetzt, John.« Die Mutter ging mit diesem gutaussehenden, intelligent wirkenden Mann um wie mit einem Fünfjährigen.

Ich war es nicht gewohnt, um diese Zeit so viel zu essen, und hatte meine liebe Not, eine Scheibe Schinken, eine halbe Scheibe Brot und vier Aprikosenhälften zu bewältigen. John schnitt seine Butterbrote in jeweils vier Dreiecke, auf die er Marmelade, Sardellenpaste, Marmite und [30] Frischkäse verteilte, so daß die Triangel sich in Farbe und Geschmack unterschieden. Dann stellte er den Teller so vor sich hin, daß der waagerechte Schnitt durch die Mitte der Scheibe eine Parallele mit der Tischkante bildete, und fing an zu essen, wobei er achtgab, daß die anderen Stücke sich nicht verschoben, als er nach dem linken Dreieck ganz oben griff. Diese Tätigkeit nahm ihn offenbar voll in Anspruch, so daß er um sich her sonst nichts wahrnahm.

Ich bin, wie gesagt, sehr für klare Verhältnisse und schätze es gar nicht, wenn man wie selbstverständlich davon ausgeht, ich sei über eine Familie, deren Verzweigungen und Nebenlinien im Bilde, obwohl mich kein Mensch in diese Dinge eingeweiht hat. Frauen – meist sind es Frauen – sind dann schnell irritiert oder sogar böse, wenn ich das Kind, von dem die Rede ist, nicht in den richtigen Zusammenhang bringen kann oder nicht weiß, mit wem Soundso verheiratet oder daß Onkel Dingsda vor drei Jahren gestorben ist.

Ich hatte mir deshalb vorgenommen, Mrs. Cosway um nähere Auskunft über die Familienmitglieder zu bitten, aber da sagte sie unvermittelt von sich aus: »Sie wollen bestimmt wissen, wer hier im Haus wer ist und wie sie in unsere Familie gehören, Miss – äh – Shashtin.« Damit hatte sie zum ersten und letzten Mal meinen Namen richtig ausgesprochen.

»Ganz recht«, bestätigte ich.

»Meine älteste Tochter und meinen Sohn kennen Sie schon. Meine Tochter Zorah, das heißt Mrs. Todd, lebt zur Zeit nicht hier. Sie hat ihr Domizil in London.« In Mrs. Cosways Stimme schwang so etwas wie bitterer Stolz. »Die anderen beiden Misses Cosway, meine Töchter [31] Winifred und Ella, sind zur Zeit außer Haus. Sie brauchen, wie es scheint, offenbar ständig Zerstreuung und gehen später zu einer Wein-und-Käse-Party – was immer das sein mag – im Gemeindehaus. Das ist unsere ganze Familie. Haben Sie sonst noch Fragen?«

Ich amüsierte mich insgeheim über ihren herrischen Ton und das geschäftsmäßige Gebaren. »Nicht zu dem, was Sie mir gerade erläutert haben, aber ich wüßte gern Näheres über meine Aufgaben.«

»Wir sind fertig mit dem Tee. Gehen wir in den Salon«, sagte Mrs. Cosway.

John blieb bei Ida, die sich ans Abräumen und an den Abwasch machte. Es sah so aus, als ob sie die ganze Hausarbeit ohne Hilfe erledigte, während ihre Schwestern – wie ihre Mutter es darstellte – nur ihrem Vergnügen lebten.

Jetzt, gegen Abend, hatte es aufgeklart. Mattes Sonnenlicht fiel durch die Terrassentür auf den Teppich und ließ die abgetretenen Stellen in dem verblaßten grünrosa Muster deutlicher hervortreten. Einzige Lichtquelle war eine hölzerne Deckenlampe, in der zwei Glühbirnen fehlten. Mrs. Cosway hatte sich auf das beigerosa Sofa gesetzt und bedeutete mir, auf einem Kaminsessel Platz zu nehmen (daß er so hieß, erfuhr ich später von Ida), einem Möbel mit hölzerner Lehne und losen Sitzpolstern. Ich stellte fest, daß man in diesem Raum allenfalls fernsehen konnte, es gab zur Unterhaltung keine Bücher, keinen Plattenspieler, kein Radio. Man konnte keine Bilder anschauen (bis auf eine riesige, sehr dunkle Landschaft in Öl) und auch keine Fotos. Zerstreuen konnte man sich wohl notfalls noch mit der Betrachtung der Druse.

[32] »Sie schauen sich Großvater Cosways Fund an, wie ich sehe.«

»Ja.« Ob das der verrückte Vorfahr war? »Sie ist wunderschön.«

Wieder jenes abschätzige Lachen, das mehr einem Hustenanfall glich und in dem keine Spur von Heiterkeit lag. Die Augen leuchteten nicht auf, die Mundwinkel wiesen weiter nach unten.

»Der Großvater meines verstorbenen Mannes war Amateurgeologe, das war im letzten Jahrhundert eine sehr beliebte Betätigung. Amateure waren sie damals natürlich alle, es gab noch keine Studiengänge dafür, aber deshalb waren diese Männer nicht weniger wert.« Sie wartete offenbar auf eine zustimmende Bemerkung von mir, und als die ausblieb, fuhr sie fort: »Er war auch Forschungsreisender, und die Druse hat er gefunden, als er auf einer Expedition nach Mogador das Atlasgebirge durchquerte. Wohl auf dem Kamel.« Eine nachdenkliche Pause. »Glauben Sie, es könnte ein Kamel gewesen sein?«

Damals wußte ich noch nicht – wie denn auch? –, daß dies die einzige freundschaftlich-beiläufige Frage war, die sie je an mich richten würde. »Ein Kamel«, sagte ich, »oder vielleicht auch ein Esel.«

»Ein Esel hat keine Würde. Großvater war laut Aussage meines Mannes sehr auf seine Würde bedacht und überdies korpulent – allerdings vielleicht noch nicht als junger Mann. Er war ein seltsamer Mensch, aber hochbegabt. Er hat unsere Bibliothek hier geschaffen. Was hatten Sie doch gleich gefragt?«

»Welche Aufgaben Sie mir zugedacht haben.«

[33] »Ja, richtig. Sie werden sich um John kümmern, wenn ich es nicht kann, zum Beispiel wenn ich müde bin.« Sie bildete sich wohl einiges auf den durchdringenden Blick ein, den sie auf mich richtete, aber ich hielt ihm stand. »Sie könnten ihn fragen, er hat Sie schließlich haben wollen, aber ich vermute, viel würde dabei nicht herauskommen.« Wieder das hustende Lachen, dann sagte sie unvermittelt: »Ich bin nämlich fast achtzig.«

Ich halte nichts von dem mancherorts geschätzten Brauch, einem Gesprächspartner, der einem sein Alter verrät, automatisch zu versichern, das sähe man ihm nicht an. Mrs. Cosway war jede Stunde ihrer neunundsiebzig Jahre ins Gesicht geschrieben.

»Am besten«, sagte sie jetzt, »sehen Sie sich morgen und vielleicht noch übermorgen an, was ich mit John mache, dann wissen Sie, was notfalls zu tun ist. Ich würde mich gern nach dem Lunch zwei Stunden aufs Bett legen und manchmal abends ausgehen.« Wieder traf mich dieser Blick. »Man hat Freunde im Dorf, die man nicht oft genug sieht. Er bekommt Medikamente, starke Medikamente, natürlich streng nach ärztlicher Verordnung. Sonst wäre zu befürchten, daß er gewalttätig wird. Schlimm, was?«

Eine absonderliche Formulierung, fand ich. »Es ist sehr traurig«, sagte ich zum zweiten Mal an diesem Tag, und sie sah mich so scharf an, als hätte ich sie korrigiert.

»Noch etwas?«

»Könnten Sie mir bitte bestätigen, daß ich jedes zweite Wochenende und jede Woche einen ganzen Tag freihabe?«

»Ja, das war so vereinbart.«

Sie betrachtete die Sonnenflecken auf dem Teppich. [34] Draußen wurde es zunehmend wärmer und heller, und Ida spannte eine Wäscheleine, um den trockenen Abend auszunutzen. John, der sie begleitet hatte, nahm ihr den einen Pfosten ab, der offenbar nicht richtig stehen wollte, wobei er darauf achtete, nicht ihre Hände zu berühren, rammte ihn in die Erde und trat mit leichtem Nicken zurück.

Mrs. Cosway war meinem Blick gefolgt und drehte sich jetzt auf ihrem Sessel herum, um ihren Sohn besser zu sehen. »Sonderbar, nicht?« sagte sie. »Er war ein ganz normales Kind. Gewiß, mit anderen Jungen hat er sich nie gut verstanden, und wenn er seinen Koller hatte, konnte man nichts mit ihm anfangen. Aber davon abgesehen… tja, man macht sich so seine Gedanken. Unser Arzt, ein großartiger Mediziner, meint, daß der Auslöser für seinen Zustand ein schwerer emotionaler Schock war.«

Auch ich machte mir meine Gedanken. Von Ida wußte ich, daß Mrs. Cosway ihre eigene Theorie zum Ausbruch von Johns Schizophrenie hatte, aber offenbar mochte sie darüber mit mir im Moment nicht sprechen. John und Ida hängten inzwischen die Wäsche auf, wobei John seine Wäscheklammern alle exakt im gleichen Abstand anbrachte, unabhängig von der Breite des jeweiligen Kissenbezugs oder Hemds. Das überraschte mich, denn eigentlich gehörte zwanghaftes Verhalten doch nicht zum Krankheitsbild der Schizophrenie.

»Sie könnten eigentlich gleich heute abend anfangen«, sagte Mrs. Cosway. »John schläft unten, badet aber erst morgens. Er bekommt von mir eine Schlaftablette.« Und als wollte sie jede Widerrede im Keim ersticken, setzte sie hinzu: »Immer.«

[35] »Hat er denn Schlafschwierigkeiten?«

»Ohne die Tablette legt er sich nicht ins Bett«, sagte sie, ohne auf meine Frage einzugehen. »Er denkt, es ist eine Vitamintablette. Eine Multivitamintablette. Es ist besser so.«

Ich war schockiert. »Und die verschreibt ihm Ihr Arzt?«

»Ja, natürlich. ›Ich kann nur raten, John zu sagen, daß es Vitamine sind‹, meinte er. ›Sonst nimmt er sie am Ende nicht.‹«

Ich verzichtete wohlweislich auf weitere Fragen zu diesem Thema. »Etwas möchte ich noch wissen – es hat nichts mit John zu tun. Haben Sie Bücher im Haus?«

»Bücher?« wiederholte sie, als hätte ich nach Elefanten gefragt.

»Ja. Ich würde mir gern etwas zum Lesen leihen, bis ich weiß, wo die nächste öffentliche Bibliothek ist.«

Sie warf mir einen taxierenden Blick zu. »Wir haben selbst eine Bibliothek, aber die ist unter Verschluß.«

Was sollte man dazu sagen?

»Das mag Ihnen sonderbar vorkommen. Man hat seine Gründe. Ich habe Ihnen ja erzählt, daß der Großvater meines Mannes die Bibliothek geschaffen hat. Dazu möchte ich nur sagen, daß er sich dabei einige… ziemlich unpassende Absonderlichkeiten geleistet hat.«

Ich mußte sofort an die geheimen Erotika-Sammlungen der Viktorianer denken, von denen ich gelesen hatte, sagte aber nur: »Bis ich mir in Colchester einen Leserausweis besorgt habe, komme ich schon zurecht.«

»Ich habe nicht behauptet, daß wir keine Bücher hätten. Ella hat jede Menge. Schauen Sie sich ruhig in ihrem Zimmer um, sie hat bestimmt nichts dagegen.« Das klang [36] recht abfällig. »Sie ist unkompliziert«, setzte sie hinzu und lachte.

Ich rechnete damit, daß sie Schwierigkeiten haben würde, vom Sofa hochzukommen – die Sitzkissen hatten tiefe Kuhlen, und die Federung schien hinüber zu sein –, spürte aber, daß sie jede Hilfestellung schroff ablehnen würde. Doch meine Sorge war überflüssig, sie erhob sich geschmeidig wie eine Zwanzigjährige und ohne sich an der Sofakante abzustützen. Dann stand sie kerzengerade vor mir. Sie hielt sich besser als ihre Tochter.

»John wird jetzt zu Bett gehen wollen«, sagte sie.

Es war sehr früh, noch nicht sieben, und ein unerwartet schöner Tag. Auf dem Rasen, wo Bettwäsche und Hemden reglos in der Luft hingen, waren Ida und John nicht mehr zu sehen. Mrs. Cosway ging ihn suchen, und er kam mit ihr zurück. Oder vielmehr hinter ihr. Er bewegte sich langsam und wie benommen, aber offenbar ohne Druck von Mrs. Cosway.

Außer meinem schien es nur noch ein weiteres Badezimmer im Haus zu geben, dagegen fand sich jenes praktisch nutzlose Sanitärobjekt, das Waschbecken, in jedem Schlafzimmer außer dem von John. Erst nach ein paar Tagen wußte ich das Glück zu schätzen, daß ich – was damals in England eine Seltenheit war – nur zwei Meter von meinem Bett entfernt eine eigene Dusche hatte. Der Raum, den John sich zum Schlafen ausgesucht hatte, sah nicht nach einem Schlafzimmer aus. Es war ein trist möblierter Raum mit hoher Decke, Kaminsesseln, kleinen Tischen, einem Klavier und einem Chenillevorhang in einer Farbe, die man [37] beschönigend »Altgold« nannte. Der wilde Wein, der bis über die Fensterkanten reichte, machte das Zimmer noch dunkler. John schlief auf einer Klappcouch, auf einem Waschtisch mit Marmorplatte standen eine Steinzeugschüssel und ein Becher für seine Zahnbürste.

»Ich komme in zehn Minuten wieder«, sagte ich, fest entschlossen, diesem erwachsenen Mann nicht beim Ausziehen zuzusehen.

Mrs. Cosway warf mir einen scharfen Blick zu. So viel Eigenständigkeit hatte sie mir offenbar nicht zugetraut. Ich ging auf mein Zimmer, packte meine übrigen Sachen aus und legte auf einen Ankleidetisch, den ich zum Schreibsekretär ernannt hatte, mein großes ledergebundenes Tagebuch.

Als ich nach exakt zehn Minuten wiederkam, hatte John einen gestreiften Pyjama und einen Morgenrock an. »Shashtin«, sagte er ausdruckslos, ohne erkennen zu lassen, ob er stolz auf die korrekte Aussprache war.

»John«, gab ich zurück, und das blieb unsere Begrüßung bis zum Ende.

Mrs. Cosway unterzog mich einer peinlich genauen Musterung. »Ich hatte eigentlich eine Achtzehn- oder Neunzehnjährige erwartet. Nicht daß es mich stört – aber Sie müssen um einiges älter sein.«

»Ich bin vierundzwanzig.« Ich kam mir vor wie Elizabeth Bennett bei Lady Catherine de Bourgh im Kreuzverhör.

Wieder das kurze Stakkatolachen, dann: »In meiner Jugend galt rotes Haar, wie Sie es haben, als häßlich.«

»Zu meinem Glück haben die Zeiten sich geändert«, konterte ich.

[38] »Ja«, bestätigte sie, ohne sich anmerken zu lassen, ob sie die Spitze bemerkt hatte. »Heutzutage hält man Sie wohl für eine gutaussehende Frau. Sie haben ein modernes Gesicht. Jetzt leg dich hin, John, dann gebe ich dir deine Tablette.«

Ob er das gehört hatte, war nicht zu erkennen. Später wurde mir klar, daß er immer dann, wenn er sich scheinbar fügsam den Wünschen seiner Mutter unterordnete, nur seinen eigenen Wünschen folgte. Er wollte sich hinlegen, weil er müde war, er wollte die Tablette haben, weil man ihm gesagt hatte, Vitamine wären gut für ihn. Nichts hätte ihn bewegen können, etwas zu tun, was ihm widerstrebte. Und erst noch viel später durchschaute und begriff ich, daß er manchmal, wenn er auf seine Mutter hörte, das in Unkenntnis der wahren Situation tat. Ich sah zu, wie John den Taschen seines Morgenrocks einen Kugelschreiber, einen Bleistift, einen Würfel, ein winziges grünes Fläschchen mit geriffelten Wänden, eine Sicherheitsnadel, ein Bonbon in Zellophan, ein Büchlein im Format sieben mal zwölf Zentimeter und eine Rolle Heftpflaster entnahm. Aus diesen Gegenständen legte er ein Muster auf dem Nachttisch, rückte sie ein paarmal zurecht, begutachtete sein Werk und veränderte die Lage des einen oder anderen Stücks noch um eine Winzigkeit. Mrs. Cosway klopfte ziemlich ungeduldig mit einer Schuhspitze aufs Linoleum. Endlich war er zufrieden, zog den Morgenrock aus, hängte ihn an den Haken an der Tür und stieg ins Bett. Ich erwartete ein Gutenachtritual, vielleicht das Erzählen oder Vorlesen einer Geschichte, ein heißes Getränk, aber Mrs. Cosway schenkte nur Wasser in einen Henkelbecher. Dann legte sie eine [39] weiße Tablette in ein Glasschälchen, das sie ihm hinstreckte. Er nahm es, trank das Wasser und schluckte die Tablette. Seine Mutter behandelte ihn wie ein Kind, aber ohne ihm einen Kuß zu geben, wie das zwischen Mutter und Kind üblich ist. Sie trat zurück, sorgsam darauf bedacht, ihn nicht zu berühren, und sagte »Gute Nacht!«, ohne seinen Namen oder einen Kosenamen anzufügen.

Ich sagte ihm auch gute Nacht und machte mich ans Aufräumen, wobei ich mich bemühte, das Muster auf seinem Nachttisch nicht durcheinanderzubringen. Mrs. Cosway beteiligte sich nicht, behielt mich aber im Auge. Als wir das Zimmer verließen, war John schon eingeschlafen. Nur ein starkes Schlafmittel wirkt so schnell, dachte ich mißbilligend. Mrs. Cosway ließ die Tür angelehnt.

»Geräusche von draußen stören ihn nicht«, sagte sie.

Nach so einem Schlafmittel würde ihn nichts mehr stören.

»Das können Sie doch sicher übernehmen, wenn ich aus dem Haus gehe, nicht wahr? Man darf ihn nicht anfassen, dann fängt er an zu schreien.« Sie sah auf die Uhr, die an ihrem mageren Arm schlackerte. »Es ist fünf vor halb acht. In genau einer Stunde gibt es Abendessen.«

»Nicht für mich«, sagte ich. »War das vorhin nicht die letzte Mahlzeit des Tages?«

»Wo denken Sie hin? Ida wird etwas kochen, danach gibt es Käse und Dessert.« Mrs. Cosway musterte mich kritisch von oben bis unten. »Sie sind viel zu dünn.«

Nicht so dünn wie Sie oder Ida, dachte ich. Nachdem ich gesehen hatte, wie sie John dieses als Vitamintablette getarnte Schlafmittel verabreicht hatte, wollte ich nur noch [40] weg von ihr. Ich mußte allein sein, hatte tatsächlich keinen Hunger und würde bei Tisch bestimmt kein Wort herausbringen.

»Ganz wie Sie wollen«, sagte sie deutlich verstimmt. Es paßte ihr offenbar nicht, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf ging.

»Wenn ich sonst nichts mehr für Sie tun kann…«

»Ach du lieber Himmel, nein. Nicht um diese Zeit. Hier ist Ellas Zimmer.«

Der Anblick verschlug mir fast den Atem. Ella Cosways Lieblingsfarbe war eindeutig Pink, das in allen nur denkbaren Schattierungen vertreten war – pfirsichfarben, Rougerosa, Zuckerrosa, Rosé, fuchsienfarben, Koralle. Auf den blaßrosa Vorhängen blühten Rosen, die Bettwäsche war rosaweiß gestreift, der Teppich erdbeereisrosa, und die Kissen waren so rosig wie das Wangenrot einer Blondine. Selbst die Nähmaschinenabdeckung war pink. Auf dem gestreiften Fenstersitz standen oder saßen ein Dutzend »Puppen für Erwachsene«, alle nach der neuesten Mode gekleidet, mit Schuhen an den Füßen und Handtaschen am Arm. Die Bücher waren in einem kleinen weißen Schrank am Kopfende des Bettes, und die Puppen und das Meer von Pink ließen mich das Schlimmste befürchten. Zum Glück lag ich mit meiner Vermutung falsch. Ich suchte nach einem Buch, das typisch englisch war und englisches Leben in der Stadt und auf dem Land – wenn auch nicht notwendigerweise in der Gegenwart – schilderte. Nachdem ich Villette von Charlotte Brontë verworfen hatte, weil es zu traurig war und überdies zum großen Teil nicht in England spielte, Die Türme von Barchester, weil ich den Roman gerade erst [41] gelesen hatte, und den Egoist, weil das Buch zu klein gedruckt war, nahm ich mir die Großen Erwartungen von Dickens mit auf mein Zimmer.

Gegen dieses Zimmer war nichts zu sagen, es war zwar trist und ziemlich kahl, aber der Schrank war groß genug, ein schöner bodenlanger Spiegel stand darin und ein ordentlicher Sessel, der mit dem Cretonne der Vorhänge bezogen war. Ich nahm das Tagebuch vom Ankleidetisch und setzte mich bequem zurecht, um meine ersten Eindrücke aufzuschreiben. Das ehrgeizige Ziel, gewissermaßen eine tägliche Chronik zustande zu bringen, habe ich natürlich nicht verwirklicht, aber an den meisten Tagen reichte es doch zu einer kurzen oder auch längeren Notiz. Hätte ich das nicht geschafft… wer weiß, wie dann alles gekommen wäre.

Einen Heizkörper hatte das Zimmer nicht, Zentralheizung ist in England erst seit den siebziger Jahren die Regel. Im Winter ist das hier bestimmt der reinste Eiskeller, dachte ich, ein Kaminfeuer gibt es bestimmt nur im Salon und vielleicht noch in der Eingangshalle. Dort konnte man, wenn man durch den offenen Kamin nach oben schaute, wie ich später entdeckte, den Himmel sehen. Ein einziges Mal habe ich mich im Winter dort hingestellt und den eisigen Zugwind gespürt, der einem die Haare zur Seite wehte.

Vor allem aber kreisten meine Gedanken an jenem Abend immer wieder um jenen Mann, jenen »armen Jungen«, wie ich ihn unwillkürlich nannte, obwohl er fünfzehn Jahre älter war als ich, der in betäubtem Tiefschlaf lag, in den man ihn dank einer Lüge versetzt hatte. Dann aber sagte ich mir, daß ich zunächst nichts dagegen tun konnte, nahm [42] mich zusammen und schrieb auf, was ich den Tag über erlebt hatte. Eine Dreiviertelstunde später hörte ich ein Auto über die Auffahrt kommen. Der knirschende Kies meldete Hausbewohnern stets zuverlässig, wann ein Wagen sich näherte.

Ich sah aus dem blätterumrankten Fenster, wozu ich nicht einmal die Vorhänge zurückzuziehen brauchte, denn sie waren fast durchsichtig. An diesem schönen kühlen Mittsommernachtsabend war es um halb zehn noch nicht dunkel, und ich konnte die beiden Frauen, die gekommen waren, deutlich erkennen.

Es waren offenbar die Töchter des Hauses. Nach der Größe hätte ich nicht sagen können, wer die Ältere war, aber ich erkannte Ella an ihrem Baumwollkleid mit dem Rosenmuster und den pinkfarbigen Stöckelschuhen. Sie hatte am Steuer gesessen, deshalb stieg ihre Schwester zuerst aus dem ramponierten alten Volvo. Ich weiß nicht, ob es in meinem Tagebuch steht, aber ich erinnere mich genau, daß ich bei meinem ersten Blick auf Winifred dachte, wie leicht eine eigentlich gutaussehende Frau sich mit dickem Make-up, einem zipfelnden Kleidersaum und einer schlappen handgestrickten Wolljacke entstellen kann.

Beide waren brünett und hochgewachsen, Ella nur um einiges kleiner als ihre Schwester. Bei Winifred drängte sich der Gedanke auf, daß man sie als junges Mädchen mit ihrer Größe aufgezogen hatte, weshalb sie noch heute runde Schultern und einen krummen Rücken machte. In dieser Haltung ging sie zur Haustür, die Arme vor der Brust verschränkt, als sei ihr kalt. Was sie zueinander sagten, hörte ich nicht, aber daß sie gestritten hatten, war unübersehbar. [43] »Gestritten« ist vielleicht zuviel gesagt, es war eine ihrer endlosen Kabbeleien, wohl über irgendeine Kleinigkeit bei der Wein-und-Käse-Party.

In dem Moment, als Winifred unter dem Vorbau und aus meinem Blickfeld verschwand, lachte Ella laut auf. Nicht mit dem bellenden Hustenlachen, das für ihre Mutter und ihre Schwester Ida so tpyisch war, sondern mit einem silberhellen Ton, in dem etwas wie Hohn schwang, auch wenn ich ihn an jenem Abend als zärtlich, ja liebevoll deutete. Ich hörte, wie unter mir knarrend die Haustür aufging und sich leise schloß.

Ein Blatt hatte sich zwischen Glas und Fensterrahmen verfangen. Ich zog es heraus und legte es auf den Ankleidetisch. Dann nahm ich, eigentlich ohne bewußte Entscheidung, wie ich jetzt meine, einen weichen Bleistift aus der Schublade und machte mich daran, auf eins der Vorsatzblätter des Tagebuches das Haus zu zeichnen.

[44] 3

Vogelgesang weckte mich. Es war halb fünf, und zum ersten Mal hatten mich singende Vögel aus dem Schlaf geholt. Ich horchte diesen Lauten nach, Musik von ganz eigener Art, deren Klang und Rhythmus etwas Jubelndes hat, aber keine Tonleitern kennt. Es wurde rasch hell, und das Vogellied erfüllte das ganze Zimmer, so daß es mich um sechs nicht mehr im Bett hielt. Ich mußte aufstehen und hinausgehen.

Nachdem der vergangene Tag bis zum Abend trübgrau gewesen war, begann der Morgen sonnig und windstill mit leichtem Dunst, was einen schönen Sommertag verhieß. Ich ging durch die Küche und den Gang, der in den Garten führte, vorbei an Kammern, in denen Mäntel hingen und Stiefel herumstanden, Taschen und Säcke, Tonnen und Dosen und Kisten – wobei ich zur Übung all diese nützlichen Gegenstände auf englisch benannte –, und zum Schluß einem Raum mit unverputzten Ziegelwänden, der voller Blumentöpfe und Gießkannen war.

Tau lag auf der weitläufigen Rasenfläche, über die zwei grüne Vögel mit langen Schnäbeln und roten Hauben spazierten, die im Gras nach Futter suchten. Damals wußte ich nicht, ob sie auf tierische oder pflanzliche Nahrung aus waren und hätte auch nicht erkannt, daß es Buntspechte [45] waren. Sie sahen kurz auf, ließen sich aber ansonsten nicht stören, als ich auf dem sandigen Weg an ihnen vorbeiging. Wäscheleine und Pfosten waren verschwunden. Behutsam auftretend, um die Vögel nicht zu erschrecken, ging ich auf das locker bepflanzte Gelände zu, auf das ich am Vortag nur einen kurzen Blick geworfen hatte. Dort stand eine Gruppe von Tannenbäumen, wie ich sie nannte, weil mir nichts Besseres einfiel, obwohl natürlich sogar ich sah, daß ihr Laubwerk goldfarben, rot, fast weiß und schieferfarben und grün in allen Schattierungen leuchtete. Es war offenbar eine alte Anlage, die Bäume mochten, wenn nicht von dem Drusenentdecker und Forschungsreisenden, vielleicht von seinem Sohn gesetzt worden sein, es gab daneben noch viele andere schöne große Bäume mit langen spitzen oder breiten flachen Blättern und solche, die ich für Exoten hielt, die vielleicht der Forschungsreisende mitgebracht hatte.

Ich entdeckte auch einen Küchengarten mit Gemüse in ordentlichen Reihen und einen recht düsteren schilfgesäumten Teich voller Seerosenblätter, über den verwilderte Bäume lange, haardünne Zweige hängen ließen. Ein Boot mit zwei parallel zum Bootsrand in den Dollen liegenden Rudern lag auf der stillen, dicht bewachsenen Wasserfläche, aber es sah aus, als habe seit Jahren niemand darin gesessen, niemand die Ruder bewegt, so daß es jetzt schwerfallen würde, es aus der glitschigen Umklammerung der Seerosenstengel zu befreien.

Bis auf diesen Winkel waren die Anlagen von Lydstep Old Hall gesichtslos und übertrieben ordentlich. Der Gärtner, der sie betreute, ging ihnen offenbar am liebsten mit Schere oder Säge zuleibe, denn die meisten Bäume und [46] Büsche waren brutal gestutzt, und die Wege waren geradezu pingelig sauber gefegt. Außerdem fand er – oder fand vielleicht Mrs. Cosway –, daß Blumen geschmacklos oder zu arbeitsintensiv waren, denn trotz der Gießkannen war weit und breit nichts Blühendes zu sehen.

Ich hatte eigentlich bis zum Feld und die Strecke von gestern nachmittag in die entgegengesetzte Richtung gehen wollen und stand auch schon am Tor, dann aber schien es mir plötzlich weit wichtiger, das Labyrinth zu finden. Über weite Rasenflächen und zwischen locker gepflanztem Buschwerk ging ich bis zu der Mauer, die sich um das Grundstück zog. Jetzt blieb mir nichts weiter übrig, als umzukehren. Statt durch das Tannenbaumgehölz und über den Buntspechtrasen ging ich an der Mauer entlang zu meinem Ausgangspunkt zurück.

Dabei fand ich struppiges Gras, ein paar Beerenbüsche und einen verwilderten Obstgarten. Die Bäume – Äpfel, Birnen und Pflaumen, vermutete ich – sahen aus, als wären sie nicht mehr zu retten, die Stämme waren gelbgrün von Flechten oder grau von Moos, viele Zweige abgestorben und die wenigen Früchte deformiert und wurmig. Ein Labyrinth aber war weit und breit nicht zu sehen, selbst wenn irgendwo mal eins gewesen sein mochte. Isabel war viele Jahre nicht mehr auf Lydstep gewesen und hatte seit langem nur noch gelegentlich Kontakt mit der Familie. Es konnte durchaus sein, daß im Lauf der Jahre die Pflege zu aufwendig und das Labyrinth zum überflüssigen Luxus geworden war.

Ich überlegte, wo es gewesen sein könnte, aber das war schwerer, als Gründe für seine Beseitigung zu finden. [47] Nirgends fand ich neu angelegten Rasen oder verwilderte Flächen, an denen sich Wurzeln alter Hecken durch das Gras schoben, nirgends kahlen, unkrautüberwucherten Boden. Natürlich hätte ich die Cosways fragen können, die ich in einer Stunde beim Frühstück treffen würde, aber plötzlich hatte ich Hemmungen. Damit hätte ich verraten, daß ich mit einer Bekannten über sie gesprochen hatte, sie würden mich für allzu neugierig halten und – vielleicht nicht einmal zu Unrecht – fürchten, ich könnte bei ihnen herumspionieren.

Ida, die in der Küche war, als ich zurückkam, sah mich tatsächlich einigermaßen argwöhnisch, aber auch deutlich erleichtert an. Sie hatte nämlich, als sie frühmorgens heruntergekommen war, bestürzt festgestellt, daß die Hintertür entriegelt war, und zerbrach sich seit einer halben Stunde den Kopf darüber, ob sie etwa – welch unverzeihlicher Leichtsinn! – gestern abend vergessen hatte, den Riegel vorzuschieben.

»Was bin ich froh, daß du es warst, Kerstin.«

Ida trug Rock, Bluse und Kittelschürze vom Vortag, dazu karierte Hausschuhe und Strümpfe, die sie bis zu den Knöcheln heruntergerollt hatte. Ihr Gesicht war – ja, ich kann es nicht anders sagen –, ihr Gesicht war gramzerfurcht, es hätte mich nicht gewundert, wenn sie vor meinen Augen in sich zusammengesunken wäre und die Hände vors Gesicht geschlagen hätte. Auf dem altgedienten Küchentisch, einem riesigen Möbel voller Löcher und Dellen und mit zahllosen Kerben von Messerschnitten an den Rändern, drängten sich Brotlaibe, Butterschalen, Kartons mit Cornflakes und [48] anderen Frühstücksflocken, eine Schüssel mit Eiern, Marmeladegläser und Teller-, Tassen- und Untertassenstapel.

Ich vergaß einen Moment, daß ich auf keinen Fall Au-pair-Mädchen spielen wollte, und fragte, ob ich ihr helfen könne.

»Nein, nein, vielen Dank, ich bin’s ja gewöhnt.«

Geduscht und in sauberer Hose und Bluse fand ich mich eine Stunde später im Eßzimmer ein. So wie ich nach dem Labyrinth gesucht hatte, fahndete ich jetzt nach dem Telefon. Ich hatte es am Vorabend läuten hören, kurz nachdem Winifred und Ella gekommen waren, den Apparat selbst aber nicht gesichtet. In dem tristen Raum war der Tisch zum Frühstück gedeckt, die Tür stand sperrangelweit offen, und nachdem ich John und seine Mutter begrüßt hatte, entdeckte ich glücklich den Apparat, der auf dem Büffet stand. Mrs. Cosway war meinem Blick gefolgt und betete eine lange Liste von Telefonierregeln herunter.

»Wenn Sie ein Gespräch führen wollen«, sagte sie, »bitten Sie die Vermittlung, die Zeit zu stoppen und Ihnen zu sagen, wieviel es kostet. Führen Sie über jedes einzelne Gespräch Buch, am besten legen Sie ein Notizbuch dafür an. Wenn Sie sich kurz fassen, dürften die Kosten Sie nicht allzusehr belasten. Nach zehn Uhr abends sind Telefonate von hier aus nicht gestattet, jedes Gespräch ist auf zehn Minuten zu beschränken, und nach halb neun werden keine Anrufe entgegengenommen. Sie haben vielleicht gestern abend kurz vor zehn das Telefon läuten hören. Der Anruf war für eine meiner Töchter, und ich werde sie deswegen zur Rede stellen. Sie werden Ihre Bekannten hoffentlich [49] veranlassen können, nicht während meiner Nachmittagsruhe anzurufen, nicht zwischen sieben und neun, weil wir da beim Frühstück sind, und zwischen eins und zwei, weil wir da beim Mittagessen sitzen.«

Das war, um mit meinem Mann zu reden, ein dicker Hund. Wie sollte ich Mark, meinem Studienfreund aus Lund, diese Vorschriften begreiflich machen, geschweige denn ihn dazu bewegen, sich daran zu halten? Aber ich nickte nur und widmete mich meinem gekochten Ei und dem Butterbrot. Ida, die offenbar ganz allein die Frühstückssachen vom Küchentisch ins Eßzimmer geschleppt hatte, war endlich auch mal zur Ruhe und zum Essen gekommen.

»Hast du gut geschlafen?« fragte sie mich, als hätten wir uns heute noch nicht gesehen.

»Danke, sehr gut.«

»Meine Schwestern Ella und Winifred kommen gleich herunter.«

Mrs. Cosway legte ihr Messer hin und sagte in unangenehm trockenem Ton und meinen Namen so aussprechend, wie sie es für richtig hielt: »Kerstin will alles über unsere Familie wissen, Ida, sie ist für klare Verhältnisse. So ein karger Satz dürfte ihr nicht genügen.«

»Was hätte ich denn sagen sollen, Mutter?« fragte Ida verblüfft.

»Schon gut, ich übernehme das.«

Mrs. Cosway wandte sich mir zu. Ihr Sohn war mit dem Essen fertig. Er hatte wie ein Kind die Brotrinden übriggelassen und sie auf dem Teller zu einem Malteserkreuz angeordnet. Sein glasiger Blick war nicht auf das Gesicht seiner [50] Mutter gerichtet, sondern auf einen Punkt jenseits von ihrer linken Schulter. Was für ein gutaussehender Mann er doch war – wären da nicht der stumpfe Blick gewesen und diese Krankheit, die auf ihm lastete.

»Meine Tochter Ella«, sagte Mrs. Cosway, »unterrichtet an einer Schule in Sudbury, meine Tochter Winifred ist Köchin.«

»Mutter!« sagte Ida vorwurfsvoll.

»Nichts da ›Mutter!‹ Winifred ist Köchin, punktum. Mag sein, daß sie eine sehr gute Köchin ist, für mich hat sie noch nie gekocht, aber in meinen Augen gehört eine Köchin zum Gesinde, und ich finde es eigenartig, daß sich eins meiner Kinder auf diese Ebene begeben hat. Neulich hat ihr jemand ein Trinkgeld zugesteckt, das hat sie mir selbst erzählt.«

John saß stumm und wie in Trance da. Zuerst dachte ich, er hätte sein gekochtes Ei nicht angerührt, dann aber sah ich Eigelb an seinem Löffel: Er hatte das Ei gegessen und dann umgekehrt wieder in den Eierbecher gesteckt. Ich darf ihn nicht ständig so anstarren, dachte ich, und zum Glück hörte ich in diesem Augenblick Schritte auf der Treppe.

Ida erklärte rasch: »Winifred hat einen Catering Service. Für die Party, auf der die beiden gestern abend waren, hat sie das Essen geliefert.«

Ehe ich darauf etwas sagen konnte, kamen die beiden Schwestern herein. Ihre Mutter, die vielleicht noch darüber brütete, wie beschämend es für eine Frau in ihrer Position war, ein Kind in dienender Stellung zu haben, nickte ihnen nur zu und verfiel wie ihr Sohn in Schweigen. Es blieb Ida überlassen, mich vorzustellen.

[51] »Meine Schwester Winifred, meine Schwester Ella. Das ist Kerstin Kvist.«

Ich überlegte, daß ich nun, solange ich hier war, eine scharf und guttural klingende ›Körstin‹ sein würde und nicht die sanfte Shashtin mit den weichen Zischlauten, die mir so vertraut war. Resigniert stand ich auf und schüttelte ihnen die Hand.

Mrs. Cosway wartete, bis sie saßen, dann sagte sie, als hätte sie Halbwüchsige vor sich und nicht Frauen von Ende Dreißig: »Der Anruf gestern abend war vermutlich für eine von euch. Macht euren Bekanntschaften bitte begreiflich, daß Anrufe mitten in der Nacht in diesem Hause nicht erwünscht sind.«

»Fünf vor zehn ist schwerlich mitten in der Nacht«, sagte Winifred.

»Der Anruf war für mich«, sagte Ella. »Der Direx. Eine wichtige Sache wegen der Obersekunda.«

Erst nach ein paar Sekunden ging mir auf, daß sie den Leiter ihrer Schule meinte. Während sie mit ihrer Mutter über den Anruf stritt – ich sollte noch erfahren, daß die Töchter untereinander oder mit ihrer Mutter stundenlang über die banalsten Angelegenheiten streiten konnten –, beobachtete ich die beiden Schwestern. Beide, besonders Winifred, sahen gut aus. Aber gutes Aussehen – das waren ja nicht nur ein gutgeschnittenes, regelmäßiges Gesicht, volles Haar, große Augen und eine gute Figur, die hatten sie beide, sondern die Haltung, das Lächeln, die Art, den Kopf zu drehen und die Welt an ihrer Schönheit teilhaben zu lassen. Weder Winifred noch Ella schien sich ihrer Vorzüge bewußt zu sein, Eleganz und Stil waren offenbar Fremdworte [52] für sie. Das Haar war stumpf und ungewaschen, Winifred benutzte Haarklemmen, damit es ihr nicht ins Gesicht fiel. Die schlappen Sommerkleider und Strickjacken in Blau und Pink waren nicht eben schmeichelhaft. Winifred war auch heute wieder stark geschminkt, besonders um die Augen herum, während Ella aussah, als hätte sie mit dem Make-up von gestern abend geschlafen. Die langen schlanken Hände waren ungepflegt, Ella hatte angeknabberte Nägel und Winifred Trauerränder. Keine Empfehlung für eine Köchin.

Während Ella und ihre Mutter sich weiter zankten, sagte Winifred: »Du mußt ja eine schöne Meinung von uns bekommen. Aber das darfst du nicht so wichtig nehmen.«

Ich dachte mir mein Teil, lächelte aber nur und fragte nach der Party, die sie gestern abend organisiert hatte. Das schien sie zu freuen. Die Gäste – bei der Party sollten Spenden für irgendwelche Reparaturen an der Kirche gesammelt werden – hatten sich gut amüsiert und alles aufgegessen, was sie vorbereitet hatte – die Mini-Quiches, die Käse- und Ananasspieße und die Mini-Windbeutel.

»Jammerschade«, sagte sie, »daß fast nur Frauen da waren. Abgesehen von Mr. Dawson natürlich, er ist immer dabei, aber sonst… Männer kommen einfach nicht zu solchen Veranstaltungen, und das ist sehr bedauerlich, denn sie haben schließlich das Geld.«

Meine feministische Seele revoltierte (auch damals schon) gegen diese Einstellung, aber ich fragte nur, ob es in Windrose viel Geselligkeit gäbe.

»Ja, doch, wir machen viel miteinander. In vierzehn Tagen koche ich für das Mittsommernachtsmahl. Danach feiern wir Erntedank, da mußt du kommen.«

[53] Noch immer ihr Recht verteidigend, Anrufe zu einer Zeit entgegenzunehmen, in der »kein Mensch, aber wirklich keiner auf die Idee käme, ins Bett zu gehen«, stand Ella auf und fuhr zur Arbeit. Der hellgrüne Volvo, der gut und gern seine fünfzehn Jahre auf dem Buckel hatte, startete klappernd und gurgelnd. Später sah ich, daß die Motorhaube eine Delle hatte, als sei sie schon mal unsanft mit dem Fahrzeug eines Vordermannes in Berührung gekommen.

Wer mochte dieser Mr. Dawson sein, den Winifred so merkwürdig verschämt erwähnt hatte? Sie mußte an diesem Vormittag offenbar nicht zur Arbeit aus dem Haus und hatte anscheinend auch hier nichts zu tun. Das Abräumen überließ sie Ida, die das klaglos übernahm. Idas Gesicht blieb wie das ihres Bruders unbewegt, aber während das seine keinerlei Gefühl verriet, keine Launen, weder Frust noch Wut, noch Freude – falls er so etwas überhaupt empfinden konnte –, war das ihre geprägt von duldsamer Hinnahme, als habe sie sich längst mit ihrem Los abgefunden und sei entschlossen, ihre Pflicht bis ans Ende ihrer Tage zu tun, nicht aufbegehrend, nicht besonders effektiv – als sie abgeräumt hatte, war der Tisch noch voller Krümel, zwischen denen zerknüllte Servietten lagen –, aber schicksalsergeben.

Den nächsten Tag und den übernächsten, einen Samstag, verbrachte ich hauptsächlich damit, Mrs. Cosway bei der Betreuung von John zuzusehen, und am Samstag nachmittag schlug ich vor, sie solle sich hinlegen, ich würde mit ihm spazierengehen. Ich hatte es geschafft, Mark anzurufen, und hatte ihn beim zweiten Anlauf auch erreicht – in beiden Fällen innerhalb der genehmigten Sprechzeiten. Er wollte es [54]