Das Geburtstagsgeschenk - Barbara Vine - E-Book

Das Geburtstagsgeschenk E-Book

Barbara Vine

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Beschreibung

Ivor Tesham, ein Machtmensch, Draufgänger und Politiker, macht seiner anderweitig verheirateten Geliebten zum achtundzwanzigsten Geburtstag ein riskantes Überraschungsgeschenk. Ein Geschenk, das seine Karriere und sein Leben zu zerstören droht.

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Seitenzahl: 426

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Barbara Vine

Das Geburtstags-geschenk

Roman

Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann

Titel der 2008 bei Viking (Penguin), London, erschienenen Originalausgabe: ›The Birthday Present‹ Copyright © 2008 by Kingsmarkham Enterprises Ltd.

Die deutsche Erstausgabe erschien 2009 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von Julian Hibbard (Ausschnitt)

Copyright © Julian Hibbard/ Stone+/Getty Images

Für Simon und Donna, Philip und Graham

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24060 3 (2. Auflage)

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Wenn wir uns einst im Himmel treffen, werden wir alle dreiunddreißig Jahre alt sein, denn Christus war dreiunddreißig, als er starb. Eine reizvolle Idee! Wahrscheinlich sind die Leute, die sich das ausgedacht haben, darauf gekommen, weil es ein idealer Lebensabschnitt ist – nicht mehr die erste Jugend, aber von Alterserscheinungen noch weit entfernt. Mir erzählte Sandy Caxton davon, mein Tischnachbar bei dem Essen, zu dem Ivor zur Feier seines Geburtstages – des dreiunddreißigsten natürlich – eingeladen hatte. Ja, meinte Ivor später, Caxton habe immer einen ganzen Sack solcher Weisheiten auf Lager. Ich glaube allerdings eher, dass Caxton das Thema wechseln wollte, denn ich hatte ihn gefragt, ob er in London wohne.

»Bedaure, das kann ich Ihnen nicht sagen.« Als er mein verblüfftes Gesicht sah, fügte er hinzu: »Ich war mal Nordirland-Minister, und wir sollen nicht darüber sprechen, wo wir wohnen.«

Eigentlich hätte ich mir das denken können. Von Ivor wusste ich, dass Sandy sogar auf der Party einen Leibwächter dabeihatte und dass die Polizei, wenn Sandy irgendwo zur Frühmesse gehen wollte, vorher mit Spürhunden die Kirche absuchte. Letztlich hat es ihm nichts genützt. Sie haben ihn erwischt – genau nach Plan. Aber davon später. Iris’ Tischnachbar war Ivors Freund Jack Munro, den sie [6] besonders schätzte und von dem sie sich mit großem Bedauern verabschiedete, als wir vor den anderen gehen mussten. Wir hatten zwar einen zuverlässigen Babysitter, aber es zog uns trotzdem zurück zu Nadine. Sie war das erste unserer vier Kinder, und wir waren beide so vernarrt in sie, dass wir unruhig wurden, sobald wir längere Zeit von ihr getrennt waren, und sei es auch für den himmlischen Geburtstag ihres Onkels und obwohl eine ihrer Großmütter das Babysitten übernommen hatte.

Eine Person aber, die Ivor nahestand (wenn ich das so sagen darf), fehlte bei der Feier.

»Ivors Freundin war nicht da«, stellte ich fest, während wir die Fitzjohn’s Avenue hochgingen.

»Sie war bestimmt nicht eingeladen. Du kennst doch Ivor. In mancher Hinsicht ist er erstaunlich rückständig. Man lädt seine Geliebte nicht zusammen mit seinen Freunden ein.« Sie lächelte, wie immer, wenn von den Eigenheiten ihres Bruders die Rede war, halb mitleidig, halb bedauernd. »Außerdem hält er es wohl für Zeitverschwendung, angezogen mit ihr auszugehen, statt ausgezogen mit ihr drinzubleiben.«

»So läuft das also?«

»Wahrscheinlich nur so«, sagte Iris.

Wird sein Name genannt, reagieren die meisten Menschen mit einem verständnislosen »Wer?«, die übrigen denken kurz nach und fragen dann, ob das nicht der Typ sei, um den es – wann war das doch gleich – diese Skandalgeschichte gegeben habe.

Mein Schwager war Politiker durch und durch, und [7] deshalb lässt es sich nicht vermeiden, dass ich auch die Politik werde ins Spiel bringen müssen. Allerdings merke ich immer mehr, wie wenig ich über dieses Thema weiß und wie sehr die Details mich langweilen. Ich habe mir deshalb vorgenommen, diesen Aspekt von Ivors Leben so weit es geht auszuklammern bis auf (wie ich hoffe) besonders Interessantes und – denn darum kommt, wer über diese Ära spricht, nicht herum – den Rücktritt von Margaret Thatcher, die Ernennung von John Major zum Premierminister und die Parlamentswahlen von 1992 und 1997.

In meinen Bericht habe ich auch Jane Athertons Tagebuch aufgenommen. Nicht in Auszügen, sondern vollständig, so wie es Juliet zugeschickt wurde. Ivors Geschichte und auch die von Hebe Furnal wären ohne diese Aufzeichnungen nicht komplett. Erst kam das Päckchen, dann mit getrennter Post ein Brief. Ivor hat beides nie gesehen, ich vermute, dass er vom Vorhandensein des Tagebuchs nicht einmal etwas ahnt. Auf ihn war so viel eingestürmt, dass er einfach nichts mehr wissen wollte und lieber den Kopf in den Sand steckte. Jane war mit Hebe befreundet, aber die beiden waren sich offenbar so unähnlich, wie zwei Frauen es nur sein können. Was Jane der Freundin sonst noch bedeutet haben mag (abgesehen davon, dass sie ein willkommener Kontrast zu der schönen Hebe war), weiß ich nicht, fest steht jedenfalls, dass sie ihr Alibis lieferte. Und hätte sie sich dafür – insbesondere für ein bestimmtes Alibi – nicht hergegeben, wäre alles, was ich hier schildern werde, gar nicht passiert.

Ich selbst habe Hebe nie persönlich zu Gesicht bekommen. Wie alle anderen kenne auch ich sie nur von den Fotos, die nach dem Unfall in den Zeitungen erschienen – eine [8] hübsche Blondine, fast schon eine Schönheit, ein Model-Typ. Sie, die sich zwei Männer schnappten in dem Glauben, sie hätten die Richtige erwischt, und die andere hübsche Blondine sahen sich wirklich zum Verwechseln ähnlich, das fand nicht nur ich, sondern auch die Polizei und die Presse. Die Frage, welche Frau das beabsichtigte Opfer war, wurde öffentlich nie geklärt. Ivor ärgerte sich sehr darüber, dass man Hebe Furnal für Kelly Mason halten konnte, obwohl das für ihn zunächst scheinbar von Vorteil war, da es die Suchscheinwerfer der Polizei (oder der Presse) von ihm weglenkte. Denn so sehe ich es – als habe der Lichtkegel einer starken Taschenlampe auf der Suche nach einem Drahtzieher in dunkle Winkel geleuchtet und Ivor ein- oder zweimal fast berührt, ehe er weiterwanderte.

Hebe Furnal: siebenundzwanzig Jahre alt, Hausfrau mit einem abgeschlossenen Studium in Medienwissenschaften und einem zweijährigen Sohn namens Justin. Ehefrau von Gerry Furnal und Geliebte des Parlamentariers Ivor Tesham. »Mätresse« klingt veraltet, aber Iris nannte sie so und auch Ivor, als er mich ein, zwei Wochen nach jenem dreiunddreißigsten Geburtstag fragte, ob er Hebe eine Wohnung kaufen solle. Er bat mich hin und wieder um meinen Rat, wenn er ihn auch nie beherzigte. Kein Mensch beherzigt gute Ratschläge, ganz besonders nicht solche, die er selbst erbeten hat. Außerdem hatte Ivor seine Entscheidung längst getroffen.

»Irgendwie reizvoll ist die Idee schon, du kannst dir vorstellen, in welcher Hinsicht. Aber ich glaube, ich lasse es. Ich käme mir zu sehr vor wie ein Lebemann aus dem 18. Jahrhundert, der sich eine Geliebte in Shepherd’s Market hält.«

[9] »Shepherd’s Market kannst du dir gar nicht leisten«, wandte ich ein.

»Da hast du recht. Pimlico aber zum Beispiel schon. Nein, ich lasse lieber die Finger davon, das gäbe dann nur andere Probleme.«

Probleme sollte er allerdings so oder so bekommen. Doch zurück zu Kelly Mason. Sie war »die hübsche Kleine an der Kasse«, das »Aschenbrödel aus dem Supermarkt«, die Frau, die einen Fernsehmogul geheiratet hatte und berühmt wurde, weil sie blauen Satin mit Pailletten trug und nicht gekidnappt worden war. Wo sie jetzt ist? Manche sagen, sie sei in einer privaten Nervenklinik, einer anderen Version nach, die wahrscheinlicher klingt, hat man sie und ihre Betreuer in einer entlegenen Villa auf jener Insel im Südpazifik untergebracht, die ihr Mann für sie gekauft hat. Auf jeden Fall lebt sie – wohl aus Angst vor der Welt – völlig zurückgezogen, während sie ohne Ivors wenn auch unabsichtliches Eingreifen glücklich und zufrieden in ihrer Villa in der Bishops Avenue wohnen und die Mutter von Damian Masons Kindern sein könnte.

Damit Sie sich ein Bild von Ivor machen können – falls Sie sich an ihn nicht mehr aus der Zeit erinnern, als er Minister in John Majors Regierung war –, zitiere ich am besten den Eintrag im Dod’s, dem Handbuch der Parlamentsabgeordneten.

Ivor Hamilton Tesham, geboren 12. Januar 1957, Sohn des John Hamilton Tesham und Louisa, geb. Winstanley; Ausbildung Eton College, Windsor; Brasenose College, Oxford [10] (MA Jura); ledig; zugelassen als Barrister 1980, Lincoln’s Inn; Anwalt für Wirtschaftsrecht. Kandidiert in den Parlamentswahlen 1987 in Overbury; Unterhausabgeordneter für Morningford seit der Nachwahl vom 27. Januar 1988: Ausschüsse: Auswärtiges, Verteidigung; 1989 persönlicher Referent von Verteidigungsminister John Teague; 1990 Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium; 1992 Staatsminister für Luftwaffe Ausland im Verteidigungsministerium. Hobbys: Theater, Musik, Lesen. Adresse: Unterhaus, London SW1

Ich kannte ihn schon als kleinen Jungen in Ramburgh, er ist fünf Jahre jünger als ich. Wir zogen weg, als ich acht war, aber ich bin in diesem Dorf zur Welt gekommen, ebenso wie Ivor und meine Frau. Er und Iris sehen sich sehr ähnlich, er ist drei Jahre älter als sie. Beide sind groß und schlank und dunkel. Sandy Caxton hat mal gesagt, Iris habe das Gesicht einer israelitischen Prinzessin oder einer Rachel, die um ihre Kinder weint, obgleich das einzige jüdische Blut, das sie und Ivor haben, Anfang des 19. Jahrhunderts in die Familie kam. Ivor sah angeblich sehr gut aus, ich kann das nicht beurteilen. Aber ich habe erlebt, dass Frauen sich nach uns umdrehten, wenn wir ein Restaurant betraten, und mir haben sie bestimmt keine schönen Augen gemacht.

Damals war er seit einem Jahr mit Hebe Furnal »zusammen«, wie er es ausdrückte. Vorher war die Schauspielerin Nicola Ross seine Freundin gewesen. Sie hatten sich freundschaftlich getrennt. Ich weiß nicht, warum sie sich trennten und warum es eine »freundschaftliche« Trennung war, aber Iris meint, es habe nichts mit Hebe zu tun gehabt. Die Affäre [11] mit Nicola Ross sei für Ivor einfach nicht prickelnd genug gewesen. Sie waren beide ledig und ungebunden, es gab Leute, die fanden, sie seien geradezu füreinander geschaffen. Nicola, die er Nixie nannte, war eine angemessene Begleiterin für einen Parlamentarier, eine gutaussehende Blondine mit vielversprechenden Karriereaussichten, ein, zwei Jahre älter als er. Ivor war mit ihr sogar in Ramburgh gewesen und hatte sie seinen Eltern vorgestellt, war aber nicht zu ihr gezogen und hatte sie auch nicht gebeten, zu ihm zu ziehen, was nicht weiter erstaunlich war, denn er hatte noch nie mit einer Frau unter einem Dach zusammengelebt. Dann kamen die Trennung und Hebe Furnal. Als er mich fragte, ob wir ihm unser Haus zur Verfügung stellen könnten (wobei er nie damit herausgerückt ist, was er dort vorhatte), erzählte er mir, wie sie sich kennengelernt hatten.

»Auf einem Empfang im Jubilee Room. Ich weiß nicht, ob du den kennst. Man erreicht ihn über eine düstere Treppe am hintersten Ende der Westminster Hall. Wir warteten auf die 7-Uhr-Abstimmung, ich hatte nichts zu tun. Jack Munro sagte, ich solle doch mit zu dem Empfang kommen. Veranstalter war eine karitative Einrichtung, die Herz-und-Lungen-Stiftung.«

»Ich habe die Spendenaufrufe im Radio gehört«, sagte ich.

»Wenn du mitkommst, kriegst du einen Drink umsonst, wenn’s auch nur die Mückenpisse ist, die sich im Jubilee Room Sauvignon schimpft, sagte Jack. Also ging ich mit. Der Fundraiser war ein gewisser Gerry Furnal, aber den habe ich gar nicht kennengelernt. Dafür seine Frau.«

Er lächelte, als er daran zurückdachte.

»Und dann?«, sagte ich.

[12] »Du weißt, wie so was einen plötzlich packt. Sie hat erstaunliche Beine, unheimlich lang, und auch sonst so einiges aufzuweisen. Ihre Haare sind ganz hellblond und reichen ihr bis zur Taille. Ich habe nicht lange gefackelt. Ich bin zu ihr hin und habe gesagt: ›Ivor Tesham. Wie geht’s?‹ Und sie hat gesagt: ›Hebe Furnal. Mir geht’s gut, danke, sehr viel besser als vor fünf Minuten.‹ Eine Frau nach meinem Herzen, dachte ich und zeigte auf den Monitor an der Wand. ›Sehen Sie den grünen Bildschirm da oben? In fünf Minuten erscheint dort in weißen Buchstaben das Wort Abstimmung, dann muss ich gehen.‹ ›Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer‹, sagte sie. ›Haben Sie ein gutes Gedächtnis?‹ ›Bestens‹, sagte ich, und in dem Moment, als sie die Nummer hersagte, kam die grüne Glocke auf den Schirm. Während es zur Abstimmung läutete, rannte ich die Treppe hinunter und durch die Westminster Hall und die Treppe hoch und über den Gang in die Abgeordnetenlobby, betete mir dabei die Nummer vor und spulte sie immer noch ab, während ich zur Abstimmung ging, und kaum kam ich heraus, griff ich mir einen Zettel und schrieb sie auf.

So ging es los. Am nächsten Tag rief ich sie an. Wir schaffen es mit Mühe und Not, uns alle vierzehn Tage zu treffen, und irgendwie muss das anders werden, aber zunächst wäre es schön, wenn du mir um den 17. Mai herum an einem Freitagabend euer Haus zur Verfügung stellen könntest.«

»Ja, sicher, wir fahren am Freitag sowieso immer nach Norfolk«, sagte ich, ohne groß nachzudenken, denn er war nicht nur mein Schwager, sondern auch ein guter Freund. Ich dachte mir nicht: Du unterstützt Ivor dabei, mit einer verheirateten Frau zu schlafen, du leistest einer unerlaubten [13] Affäre Vorschub, indem du ihm dein Haus zur Verfügung stellst, das wäre mir nie in den Sinn gekommen, ich sagte mir nicht, du bist mit schuld daran, wenn ein ahnungsloser Ehemann unglücklich wird und ein kleines Kind womöglich die Mutter verliert. So etwas spricht man nicht aus, ja ich wagte es nicht einmal zu denken. Außerdem bot sich unser Haus in Hampstead geradezu an für derlei Heimlichkeiten.

Gewöhnlich traf er sich mit Hebe Furnal in seiner Wohnung in Westminster. Für sie war das ein langer Weg, sie wohnte in West Hendon, jenseits der North Circular Road. »Ganz weit vom Schuss«, wie Ivor es ausdrückte, oder »in der Pampa«. Ich habe ihr Haus nie gesehen – er übrigens auch nicht. Ehe sie sich auf den Weg zu ihrem Rendezvous machen konnte, musste sie warten, bis der Fundraiser zurück war, denn jemand musste bei dem kleinen Justin bleiben. Ein andermal erzählte mir Ivor, dass er und Hebe mehr Telefonsex als richtigen Sex hatten, genau genommen täglich, doch selbst den »sabotierte« der Zweijährige (die martialische Wortwahl eines persönlichen Referenten im Verteidigungsministerium), indem er lautstark »Mummy nicht reden, Mummy nicht reden!« dazwischenkrähte.

Ich hatte, wie gesagt, nicht lange überlegt, ihm unser Haus zu überlassen, aber hieß ich Ivors Vorhaben auch gut? Iris tat es entschieden nicht und sagte ihm das auch. Ich bemühte mich, seine Haltung nicht zu werten. Was ich empfand, waren nicht so sehr moralische Bedenken als ein fast körperlicher Widerwille. Mir wurde flau bei der Vorstellung, dass dieses Mädchen, ja diese junge Mutter – ich hätte nicht sagen können, warum das die Sache schlimmer machte – in einem von Ivor bezahlten Taxi zu ihrem Mann zurückfuhr und ihn [14] mit Geschichten über den Film täuschte, den sie angeblich gesehen, oder das Essen, zu dem sie sich angeblich mit einer Freundin getroffen hatte, und dass sie innerhalb weniger Stunden vielleicht erst mit Ivor und dann mit ihrem Mann schlief. Ich verstand es nicht. Ich verstand nicht, was sie daran fanden. Ich hätte es noch weniger verstanden, hätte ich damals geahnt, was die beiden trieben, hätte ich von ihren Vergnügungen und Verkleidungen und Rollenspielen gewusst. Iris, die es verstand, aber nicht billigte, erklärte mir oder versuchte mir zu erklären, Hebe und Ivor hätten sich gewissermaßen gesucht und gefunden, zwei Menschen mit denselben Neigungen, derselben fiebrigen Lebensgier. Liebe? Wohl kaum. Ich weiß nur, dass es von dem, was Iris und ich füreinander empfanden, weltenweit entfernt war.

Fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch war das Dorf Morningford von einem Tesham im Parlament vertreten worden. Dann waren lange Zeit die Liberalen am Ruder, bis 1959 – Ivor war zwei – sein Großvater den Sitz eroberte, den er dann bis 1974 innehatte. Dessen Nachfolger starb auf dem Parteitag der Konservativen im Jahre 1987, Ivor kandidierte in der dadurch erforderlichen Nachwahl und errang den Sitz mit einer Mehrheit von gerade mal neuntausend Stimmen. Da war er einunddreißig, ein ungewöhnlich junger und sehr ehrgeiziger Abgeordneter. Als früherer Präsident der Oxford Union war er rhetorisch geschult, hielt eine denkwürdige Jungfernrede und hätte bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Wort ergriffen, hätte Sandy Caxton ihm nicht abgeraten. Parlamentarier nehmen ein Übermaß an Beredsamkeit nicht immer wohlwollend zur Kenntnis.

[15] 1989 wurde er persönlicher Referent des Verteidigungsministers und hatte damit den Fuß auf der untersten Sprosse der politischen Karriereleiter. Mit Glück und Fleiß führte der nächste Schritt zum Fraktionsführer und von da zu Staatssekretärs- und Staatsministerposten. Ivor spielte seine Funktionen eher herunter, wie man das von Leuten in seiner Position kennt, und behauptete, es sei reine Kärrnerarbeit, bestehend aus Botengängen und der Terminkalenderbetreuung für den Minister, aber man merkte, wie sehr die Ernennung ihn freute.

Die Medien waren noch nicht ganz so aufdringlich oder brutal wie heute, hatten aber schon damals ein wachsames Auge auf junge Hoffnungsträger, besonders bei den Konservativen. Es hatte Korruptionsaffären und unappetitliche Skandale gegeben. Margaret Thatcher war schon lange Premierministerin, und wie immer, wenn eine Amtszeit zu lange währt, munkelte man von Coups und Verschwörungen und Rebellionen. Aber wie gesagt – ich kenne mich nicht aus in der Politik, was ich hier schildere, ist die Geschichte eines Aufstiegs und eines Falls.

Einige Wochen nach seiner Geburtstagsfeier lud Ivor mich zum Essen in den Churchill Room ein, der im Erdgeschoss des Unterhauses von dem Gang abgeht, der zur Terrasse führt. Wir würden unter uns sein, sagte er, er wolle mit mir über eine Sache sprechen, die nichts mit Politik oder dem Unterhaus zu tun habe. Es stellte sich heraus, dass er mich um einen Rat in Sachen Hebe Furnal bitten wollte.

Er hatte sich, wie gesagt, dagegen entschieden, ihr eine Wohnung zu kaufen, so dass ihre heimlichen Treffen weiter [16] auf die gewohnte unbefriedigende Art und Weise abliefen. Dass er sich unser Haus erbeten hatte, lag nun schon einige Monate zurück, und als er jetzt wieder davon anfing, fürchtete ich fast, er würde mich fragen, ob er es nicht regelmäßig nutzen könne. Aber nein, darum ging es nicht. Er hatte ja auch noch seine Wohnung. Das Problem war nicht, dass sie nicht gewusst hätten, wohin – notfalls hätten sie in ein Hotel gehen können –, sondern dass Hebe mit Justin einen Klotz am Bein hatte.

»Angeblich gibt so etwas doch der Beziehung zusätzliche Würze«, sagte ich. »Je schwieriger es ist, sich zu treffen und sich zu sehen.«

»Wenn ich dieses Wort ›Beziehung‹ schon höre«, fuhr er gereizt auf. »Entschuldige, aber auf mich wirkt das jedes Mal wie eine kalte Dusche. Stell dir vor, du triffst eine Frau, die dich auf den ersten Blick elektrisiert, wie mir das bei Hebe passiert ist, und sagst: ›Ich will eine Beziehung mit dir…‹ Glaubst du wirklich, die Leute reden so?«

Ich musste lachen und sagte, ich wüsste es nicht, aber möglich wäre es.

»Im Übrigen können wir uns über mangelnde Würze, wie du sagst, nicht beklagen, da kann nichts fad werden, auch wenn wir uns täglich treffen würden. Was beim jetzigen Stand der Dinge höchst unwahrscheinlich ist.« Er sah mich kurz von der Seite an. »Ich habe noch nicht mit ihr darüber gesprochen, aber ich überlege mir, ob ich sie bitten soll, Gerry Furnal zu verlassen.«

»Und zu dir zu ziehen?« Ich dachte an seine Freundschaft mit Nicola Ross und wunderte mich etwas, aber so hatte er es nicht gemeint.

[17] »Nicht direkt.« Er sah mich erneut an und rasch wieder weg. »Ich könnte eine Wohnung für sie mieten.«

»Sie soll also ihren Mann verlassen und in einem gemieteten Liebesnest leben? Und was ist mit dem kleinen Jungen?«

Ich war damals ein Kindernarr und bin es – allerdings etwas gemäßigter – immer noch. Im Frühjahr 1990, als Nadine ein halbes Jahr alt war, blieb mein Blick an jedem Baby, jedem Kleinkind hängen, das mir auf der Straße begegnete. Berichte über Kindesmisshandlungen in der Presse konnte ich nicht lesen, die Aufnahmen nicht ansehen, die der Kinderschutzbund veröffentlichte. Als Iris und ich in der Oper Peter Grimes sahen, musste ich an der Stelle, als er den Jungen schlägt, den Zuschauerraum verlassen. Deshalb hatte ich sofort an den zweijährigen Justin Furnal denken müssen.

»Sie würde ihn mitnehmen«, sagte ich.

»Meinst du? Darauf war ich noch gar nicht gekommen. Das wäre allerdings von Nachteil.«

Ich mag Ivor sehr gern – heutzutage. Bei jenem Gespräch kam bei mir fast so etwas wie Abneigung auf. So ging es mir öfter mit ihm. Eben noch war ich angetan von seinem Charme und seiner stürmisch-verwegenen Art, und plötzlich sagte er etwas, was das alles zunichtemachte und mich geradezu empörte.

»Selbst wenn sie ihren Mann verlassen würde, und ich habe nicht den Eindruck, dass du davon ausgehen kannst – wie denkst du dir das in Zukunft? Furnal und sie würden sich scheiden lassen, und sie würde das Sorgerecht für Justin bekommen.« Ich nannte den Jungen beim Namen, weil es mir widerstrebte, »das Kind« zu sagen.

[18] »Glaubst du, Rob? Schließlich hätte sie Ehebruch begangen.«

»Ich denke, du bist Anwalt«, sagte ich. »Hast du noch nie von einverständlicher Scheidung gehört? Falls sie nicht kriminell oder drogensüchtig ist, bekommt sie das Sorgerecht, wie tugendhaft dieser Gerry Furnal auch sein mag.«

»Daran hatte ich nicht gedacht. Schreckliche Vorstellung, dass einem dieses Kind ständig im Weg ist… Es ist schon schlimm genug, wenn wir telefonieren.« Dass ich leicht von ihm abrückte, merkte er offenbar nicht. Ich nahm einen großen Schluck Wein. »Wenn Gerry sich scheiden lassen würde, müsste ich sie wohl heiraten.«

»Für einen Mann mit so gewagten sexuellen Neigungen, Ivor«, sagte ich – und dachte noch rechtzeitig daran, dass ich von dem, was mir Iris vertraulich erzählt hatte, nichts rauslassen durfte –, »bist du erstaunlich altmodisch. Eine Geliebte in einem Liebesnest, eine heimliche Affäre – und jetzt glaubst du, ihre Ehre retten zu müssen. Natürlich müsstest du sie nicht heiraten, aber ich denke, du müsstest ihr ein Heim bieten, mit ihr zusammenleben.«

»Ein Heim bieten – wie das klingt! Ich sehe förmlich eine fette Matrone vor mir… Entschuldige, ich bin gemein.«

Ich fragte vorsichtig, ob er sich überlegt habe, was die Presse dazu sagen würde.

»Fehlt nur noch, dass du von den ›Printmedien‹ sprichst!« Er lachte. »So ein persönlicher Referent ist doch nur ein kleiner Fisch in einem großen Teich. Hast du schon mal zugesehen, wie Fischbrut in einem Zuchtteich ausgesetzt wird? Ich schon. Man lernt eben nie aus. Es gibt ein ziemlich schauderhaftes Stück von Barrie, das der Theaterklub [19] von Morningford aufgeführt hat. Es heißt Mary Rose, und natürlich musste ich es mir ansehen. ›Du lernst nie aus‹, sagt jemand, und die Antwort ist: ›Lernst du was, dann hast du was zum Vergessen.‹ Das ist die einzige gute Stelle in dem ganzen Stück.« Er lächelte schmal. »Die Presse interessiert es nicht, ob ich eine Freundin habe. Die Journaille mag prüde sein, wenn es ihr in den Kram passt, aber ein bisschen Sex gesteht sie selbst unsereinem zu.«

»Auch wenn die Freundin verheiratet ist und mit ihrem Mann unter einem Dach lebt?«

»Das wissen die ja nicht. Sie legen sich weder vor ihrem noch vor meinem Haus auf die Lauer. Käme ein Reporter alle vierzehn Tage an dem bewussten Abend vorbei, sähe er nur eine schöne blonde Frau, die meinen Wohnblock betritt. Sie könnte dort sonst wen besuchen. Oder sogar dort wohnen.«

»Mag sein«, sagte ich. »Trotzdem – sieh dich bitte vor!«

In den kommenden Monaten sollte ich mich öfter an dieses Gespräch erinnern. Es brachte mich zum Nachdenken über das Unbewusste und dass wir uns ständig auf einer dünnen Schicht bewegen, unter der erschreckende Abgründe gähnen. Wäre ein einziges Wort anders gewesen, hätte alles ganz anders kommen können. Wenn Ivor zum Beispiel ›nein‹ statt ›ja‹ gesagt hätte, als Jack Munro ihn gefragt hatte, ob er zu jenem Empfang im Jubilee Room mitkommen wolle.

[20] 2

Den Nachnamen – Delgado – habe ich von meinem Großvater, der um 1930 aus Badajoz nach England kam, und manchmal bin ich froh, dass ich offenbar zusammen mit dem spanischen Namen, der »schlank« bedeutet, auch ein Schlankheitsgen geerbt habe. Ein Dicker hätte an diesem Namen schwer zu tragen. Ich bin dünn und ziemlich groß, ein unauffälliger Typ, blass und bebrillt – ich spiele mit dem Gedanken, mir Iris zuliebe Kontaktlinsen zuzulegen –, mit einer überraschend tiefen Stimme und einem merkwürdigen, fast lautlosen Lachen. Diese lautlose Lache ließ ich auch hören, als Iris bemerkte, Ivor wolle sich unser Haus borgen, weil seine pompös-modernistische Einrichtung für seine Zwecke gut geeignet sei.

Damals hatten wir ein Cottage auf dem Land, ganz in der Nähe von Iris’ Elternhaus in Ramburgh, und ein kleines Haus in einer der kopfsteingepflasterten Gassen in Hampstead, und um dieses Haus ging es. Die Eltern von Iris hatten es ihr zur Hochzeit geschenkt mitsamt der vorhandenen Ausstattung und dem Mobiliar im Stil der HollywoodModerne, das um 1930 der letzte Schrei gewesen war und an dem keiner der Vorbesitzer etwas geändert hatte. Wenn man es betrat, bekam man einen gelinden Schock. Von außen war es ein Backsteinhaus aus dem 19. Jahrhundert, mit Rosen und Klematis berankt, mit grünen Fensterläden und einer [21] Laterne über der Haustür. Innen empfingen einen Chrom, viel Schwarz, viel Silber, abgewetzte weiße Ledermöbel (die Nadine und ihr kleiner Bruder mit Spuren von Himbeermarmelade und Marmite verzieren sollten), dazu ein großes Wandbild der New Yorker Skyline bei Nacht und ein schwarzgelbes abstraktes Gemälde in einem Aluminiumrahmen. Oben war es noch schlimmer, zumindest in dem größeren der beiden Schlafzimmer. Das ausladende Bett – war es das, was Ivor gereizt hatte? – war sehr niedrig, die Matratze berührte fast den Boden, auf dem ein einstmals weißer Zottelteppich lag. Vor unserer Zeit hatte jemand einen halben Liter Kaffee darüber ausgekippt – zumindest konnte man es so sehen. Iris sagte, sie habe eher den Eindruck, als sei eine Vorbesitzerin dort niedergekommen. Wir hatten eigentlich einen Läufer über den Fleck legen wollen, so wie wir uns eigentlich vorgenommen hatten, das ganze Haus zu renovieren, sobald wir es uns leisten konnten. Nur den runden Spiegel mit den Glühbirnen rund um den Rahmen wollte ich unbedingt behalten, er erinnerte mich an ein Foto von Claudette Colberts Haus in Beverly Hills aus einer alten Filmzeitschrift.

Ich fragte Iris, was sie mit »für seine Zwecke gut geeignet« gemeint hatte.

»Es sei die richtige Atmosphäre, hat er gesagt. Ich habe ihn nicht gefragt, was er damit meinte.«

»Und nun wird er es erst recht nicht mehr sagen«, meinte ich.

Ivor hatte uns für den Abend ins Theater eingeladen, er wollte offenbar feiern, denn er war gerade Fraktionsführer [22] geworden. Man gab Julius Cäsar, ein berühmter englischer Schauspieler mit Adelstitel spielte den Brutus und Nicola Ross die Calpurnia. Hinterher gingen wir alle auf ein Glas Champagner in Nicolas Garderobe, danach wollten wir sie zum Essen ausführen. Es ging mich ja nichts an, aber ich dachte bei mir, wie viel schöner es wäre, wenn sie noch Ivors Freundin wäre und er sich Gedanken über ein Zusammenleben mit dieser Frau machen würde. Kurz darauf zeigte sich der junge Schwarze, der den Casca gespielt hatte, an der Tür, und Nicola bat ihn herein. Sie stellte ihn als Lloyd Freeman vor, und das Gespräch kam sehr bald auf Schwarze, die eigentlich für Weiße geschriebene Rollen spielten. Warum sollten die Zuschauer, wenn sie Frauen mittleren Alters die Julia abnahmen und schwergewichtigen Diven die Mimi, nicht einen schwarzen Mark Anton akzeptieren? Lloyd sagte, er habe Glück gehabt, diese Rolle zu ergattern, er habe sie aber nur bekommen, weil sie sehr klein sei. Ob wir ihn uns zum Beispiel in einer Pinero-Komödie vorstellen könnten, fragte er.

Wir sprachen darüber, dass in Romanen bis zum Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus Schwarze oder Inder immer als komisch oder böse hingestellt wurden und als einzige ernste Rolle für einen Schwarzen Othello zur Verfügung stand, und ich überlegte gerade, wovon Lloyd wohl lebte, als er sagte, er habe zusammen mit einem Freund ein Mietwagen-Unternehmen und sei auch selbst als Fahrer unterwegs. Ivor horchte auf – Iris und ich erklärten es uns später damit, dass er wahrscheinlich an Lloyds Minicabs interessiert war, um Hebe nach ihren Rendezvous nach Hause bringen zu lassen – und Lloyd gab ihm seine Karte. Danach ging Lloyd nach Hause, und wir gingen zum Essen.

[23] Ich habe ihn nie wiedergesehen und bis zu dem Unfall auch nie mehr an ihn gedacht. Auch von ihm waren Fotos in den Zeitungen, wenn auch nicht so viele wie von Hebe. Er war ein guter Schauspieler, und wenn ich jetzt im West End ein Stück mit schwarzen Schauspielern sehe, muss ich an ihn denken. Denn heute ist üblich, was er damals für unmöglich hielt. Letztes Jahr habe ich einen schwarzen Heinrich den Fünften und letzte Woche einen schwarzen Heinrich den Sechsten erlebt und denke mir, dass ich Lloyd durchaus wieder in Julius Cäsar hätte sehen können, aber diesmal als Cassius. Dazu wird es nicht mehr kommen. Sein Tod war zwar nicht Ivors Schuld, aber ohne Ivor wäre Lloyd heute noch am Leben. Er war zweiunddreißig, muss also noch ein Jahr altern, wenn er in den Himmel kommt.

Den zweiten Mann, Dermot Lynch, habe ich nie kennengelernt, aber einmal, in Ivors Wohnung, seine Stimme gehört. Er war gekommen, um Ivors Wagen zum Kundendienst zu bringen. »Ich werf dann die Schlüssel durch den Schlitz, wie immer, Chef«, hörte ich ihn sagen und überlegte, ob es Ivor, der Wert auf die Anrede »Sir« legte, nicht gegen den Strich ging, wie ein Inspektor in einem Fernsehkrimi angeredet zu werden. Sehr kann er sich nicht daran gestört haben, denn er heuerte Dermot Lynch als zweiten Mann für das Geburtstagsgeschenk an.

»Das Geburtstagsgeschenk« – so nannten es Iris und ich später immer, statt von dem Unfall zu sprechen. Damals, im Frühjahr 1990, hatten wir natürlich keine Ahnung von Ivors Plänen, wir wussten nur, dass er an einem Freitag um den 17. Mai herum unser Haus haben wollte, und etwas später kam heraus, dass der 17. Mai Hebes Geburtstag war. Er [24] hatte ihr schon ein Geschenk gekauft, eine Perlenkette, die er uns in ungewohnter Offenherzigkeit zeigte.

»Wunderschön«, sagte Iris. »Das Dumme bei Perlen ist, dass nur ein Fachmann sagen kann, ob sie Tausende wert sind oder aus einem Kaufhaus kommen.«

»Das ist ja gerade der Witz«, widersprach Ivor. »Sie kann die Perlen tragen, ohne dass Furnal sagen könnte, ob sie sich die Kette selbst gekauft hat oder nicht.«

Ivor nahm seine Pflichten als Volksvertreter ernst. Noch als Minister fuhr er an den meisten Wochenenden nach Morningford zu seiner Samstagvormittagssprechstunde. Die Wochenenden in London waren echte Erholung für ihn, die in Norfolk nicht. Besonders im Sommer musste er sich ständig bei dem einen oder anderen Dorffest oder bunten Nachmittag blicken lassen und abends an einem Essen teilnehmen und ein paar Worte sagen. Es gab immer irgendeine Veranstaltung, bei der er als Schirmherr gefragt war, oder ein Anliegen, das die Wähler über ihn an den zuständigen Minister herantragen wollten. Als das Geburtstagsgeschenk anstand, ging es um die drohende Schließung eines kleinen örtlichen Krankenhauses. Ivor hatte an allen Sitzungen des »Hände weg von unserem Krankenhaus«-Komitees teilgenommen, weigerte sich aber, bei dem Marsch durch Morningford mit abschließender Demo auf dem Marktplatz mitzumachen. Schließlich wollte die konservative Regierung die Schließung des Krankenhauses durchsetzen, und er war deren Fraktionsführer. Er wollte um keinen Preis auf der falschen Seite im Rampenlicht stehen. In diesen Dingen reagierte er immer übervorsichtig, ja fast neurotisch.

[25] Wenn er seinen Wahlkreis besuchte, wohnte er bei seinen Eltern auf Ramburgh House, das diese ihm zugedacht hatten. Wenn er heiratete, hatten sie gesagt, würden sie es ihm überlassen und in das hübsche, aber sehr viel kleinere Verwalterhaus am östlichen Ende des Anwesens ziehen. So wie die Dinge lagen, dachte ich mir, war es noch eine Weile hin, ans Heiraten dachte Ivor nicht so schnell.

Ramburgh House war ein ziemlich großes Gebäude im Queen-Anne-Stil, eines jener Herrenhäuser, die – von der Hauptstraße nur durch einen schmalen Rasen- und Pflasterstreifen getrennt – mitten im Dorf stehen und denen man sich durch einen Torbogen in einer hohen Backsteinmauer nähert. Das Anwesen selbst – Garten, Park, ein paar Wiesen und Wald – lag hinter dem Herrenhaus, und das Verwaltergebäude stand etwa achthundert Meter weiter weg am Ende der sogenannten East Avenue, die beidseits von Linden gesäumt war. Ivors altmodische (und ein wenig lächerliche) Auffassung von der dem Landadel gebührenden Achtung zeigt sich daran, dass er es »den Witwensitz« nannte.

Das Anwesen ist nicht weiter bemerkenswert – flaches Land, aufgelockert nur durch das Flüsschen, das zwischen Erlen dahinfließt. Von Pevners Standardwerk über Gebäude in Norfolk wird es nur mit einem kurzen Absatz bedacht. Doch Ivor hing an Ramburgh House, und während sein Vater den traditionellen Gutsherrn gab, gefiel er sich in der Rolle des Nachfolgers, lud den Pfarrer und seine Frau zum Essen ein und schaute bei den Einheimischen vorbei, um sich ihre Klagen über hohe Mieten und nötige Reparaturen anzuhören. Inzwischen sind die meisten Einheimischen tot und ihre Häuser Feriendomizile für Londoner.

[26] Unser Cottage war zwölf Kilometer weiter weg, aber noch in Ivors Wahlkreis. Wir wählten in Hampstead, hatten aber das Recht, bei Kommunalwahlen auch in Morningford unsere Stimme abzugeben. Zu den wenigsten Veranstaltungen, von denen Ivor uns erzählte, konnten wir uns freimachen, immerhin aber schafften wir es zum Aalessen in Morningford, einem jährlichen Fest im Rathaus, dessen Ursprünge bis in graue Vorzeit zurückreichen. Früher waren dabei nur einheimische Aale verzehrt worden, die aber waren im Lauf der Jahre knapp geworden, und man munkelte, die Hälfte von denen, die im April 1990 serviert wurden, stammte aus Thailand. Ich weiß nicht, ob es in Thailand Aale gibt und wenn ja, ob sie von dort importiert werden, jedenfalls ging die Geschichte in jenem Jahr von Tisch zu Tisch. Iris und ich hatten kommen können, weil das Fest mittags stattfand, so dass wir Nadine mitnahmen.

Ivor hielt eine Rede, eine sehr gute Rede, fand ich, mit zündenden Aalwitzen und Geschichten über die glorreiche Vergangenheit von Morningford und seine noch strahlendere Zukunft – wobei kein Wort über die Schließung des Krankenhauses fiel, aber ziemlich viel von Wohltaten die Rede war, die das Städtchen der derzeitigen Regierung verdankte. Trotzdem war ich nicht böse, als Nadine erst anfing zu greinen und dann zu schreien und wir gehen mussten. Ich hörte später, dass Ivor sich etlichen heiklen Fragen hatte stellen müssen, von denen die peinlichste war, wie lange Margaret Thatcher sich noch als Premierministerin würde halten können. Offenbar zog er sich aus der Affäre, indem er sie mit Lob überhäufte.

Abends hatte er ausnahmsweise keine Verpflichtungen [27] und besuchte uns in Monks Cravery. Iris fragte nach Hebe, und er sagte, es gehe ihr gut und er habe ihr schon von den Perlen erzählt. Mit dieser Frage, wie es dem Gesprächspartner oder einem oder einer Nahestehenden geht, verhält es sich sonderbar. Wir stellen sie ständig, heute noch mehr als vor siebzehn Jahren. Dabei interessiert uns der Gesundheitszustand des oder der Befragten nicht die Spur, und nichts ärgert uns mehr, als zu hören, man sei beim Aufwachen ein bisschen angeschlagen gewesen, habe sich aber jetzt bis auf leichte Kopfschmerzen wieder berappelt. Nein, wir erwarten brandheiße Neuigkeiten oder Näheres über Erlebnisse oder Eskapaden des Betreffenden, erwarten schmerzliche Todesnachrichten oder Katastrophenmeldungen. Auf so etwas war Iris zwar nicht aus, aber Ivors knappe Antwort befriedigte sie auch nicht.

»Und? Hat sie sich gefreut?«

»Natürlich. Sie erzählt mir seit Monaten, dass sie Perlen liebt. Klar hat sie sich gefreut.«

Ich erwähne das, weil die Perlen in den kommenden Ereignissen eine wichtige Rolle spielen, allerdings erst viel später, erst in jener ruhigen Phase, als das Geburtstagsgeschenk (das andere, meine ich) scheinbar Vergangenheit war und Ivor dachte, alles sei überstanden, die entsetzliche Furcht sei ein für allemal vorbei und nichts dergleichen – die schlaflosen Nächte und die panische Angst vor der Presse – werde noch einmal wiederkommen. Gerry Furnal war mittlerweile zum zweiten Mal verheiratet, Justin wurde älter und würde bald eine Stiefschwester bekommen. In all den Jahren mussten diese Perlen in ihrem schwarzen, mit Samt ausgeschlagenen Lederetui in einer Schublade irgendwo in Gerry Furnals [28] Vororthaus gelegen haben oder in Jane Athertons Handtasche hin und her gereist sein, von Furnal kommentarlos zur Kenntnis genommen, so wie er Hebes übrigen Schmuck zur Kenntnis genommen hatte, den Ramsch aus den Oxfam-Läden und von den Marktständen an der Costa Brava. Wenn sie auch als Lösegeld für einen König wohl nicht getaugt hätten (wie es in einer englischen Redensart heißt, wenn man von einer exorbitant hohen Summe spricht), waren sie locker so viel wert wie sämtliche Möbel und alles Drum und Dran in Gerry Furnals Haus.

Viel später, als die Zeit des Beichtens gekommen war, die Zeit der verzweifelten Suche nach Rat und Hilfe, erzählte mir Ivor, wie er Lloyd Freeman noch einmal getroffen hatte, auf einer Party von Nicola Ross. Nicola gab ständig Partys, sie brauchte dazu keine besonderen Anlässe wie einen Geburtstag oder Weihnachten. Iris und ich waren auch eingeladen, hatten aber keinen Babysitter auftreiben können.

Schüchterne Leute kommen immer früh zu einer Party, denn wenn sie zu den Ersten gehören, brauchen sie sich nicht in einen Raum zu wagen, der schon voll unbekannter Gäste ist. Ivor, für den Schüchternheit ein Fremdwort war, kam an diesem Tag erst, als die Party schon seit einer Stunde im Gang war, und gedachte dafür umso länger zu bleiben. Nicola lud immer zu viele Leute ein, und es herrschte drangvolle Enge. Ivor zwängte sich durch die Menge, machte einen Bogen um Gäste, mit denen er nicht sprechen wollte, weil sie ihn langweilten, und stand plötzlich Lloyd gegenüber. Sie hätten die üblichen unverbindlichen Worte gewechselt, sagte Ivor, und dann habe er beschlossen, Lloyd [29] auf der Stelle seinen Vorschlag zu machen. Mit Dermot Lynch hatte er schon gesprochen, und der war einverstanden.

Eine Bedienung vom Cateringservice ging herum und füllte die Gläser, und beide ließen sich Merlot nachschenken. Ivor, der damals ziemlich enthaltsam war, trank auf Partys immer sehr viel, was man ihm aber, soweit ich das beurteilen kann, nie anmerkte. Bei Lloyd, sagte er, habe er den Eindruck gehabt, dass der sich gern volllaufen ließ, wenn es ihn nichts kostete. Ivor erinnerte ihn an das Gespräch in Nicolas Garderobe, wo Lloyd ihm von seiner Taxifirma erzählt hatte, und fragte, ob er einen Auftrag für ihn übernehmen würde. Er brauche einen Schlitten der Extraklasse (seine Worte), so etwas wie einen schwarzen Mercedes mit geschwärzten Fenstern im Fond. Er sollte an einem Freitag in einigen Wochen eine Frau zu einem Haus in Hampstead fahren. Es würde auch noch ein zweiter Fahrer dabei sein.

»Klingt gut«, sagte Lloyd. »Wie weit?«

»Acht, neun Kilometer. Höchstens. Fünfhundert Pfund pro Mann.«

Lloyd wurde sehr nachdenklich. »Wo ist der Haken?«

»Es gibt keinen«, sagte Ivor. »Aber möglicherweise Komplikationen.«

»Rufen Sie mich doch an. Ich muss jetzt gehen. Meine Freundin sucht mich.«

Und da war sie schon, nahm Lloyd beim Arm und zog ihn weg. An jenem Abend sah Ivor sie zum ersten Mal, eine bildhübsche dunkelhaarige Weiße, die spanisch wirkte oder portugiesisch, mit einem prachtvollen Busen unter einem tief ausgeschnittenen Top. Von den Fesseln, die Ivor später so [30] bewunderte, war damals nichts zu sehen. Ivor registrierte den Busen, wie das jeder Mann getan hätte, das schöne Gesicht, die vollen roten Lippen, aber sie war nicht sein Typ, und er dachte schnell wieder an die grazile Hebe, ihre zarten Züge und ihre lange blonde Mähne. In diesem Moment fragte er sich auch, warum zum Teufel er ausgerechnet diese Frau haben musste, die heute einmal mehr nicht an seiner Seite war, eine verheiratete Frau, die sich das Beste aus zwei Welten wünschte, einen Ehemann und einen Liebhaber, und die sich nur alle vierzehn Tage einmal für ihn freimachen konnte. Doch Sehnsucht und Selbstvorwürfe hinderten ihn nicht daran, die Vorbereitungen für das Geburtstagsgeschenk voranzutreiben.

In der folgenden Woche rief er Lloyd an und verabredete sich mit ihm und Dermot Lynch in einem Pub in Victoria. Er kannte es nicht, sie waren alle drei noch nie dort gewesen. Vermutlich hatte er es gerade deshalb ausgesucht. Lloyd kam als Erster und erörterte sachlich das Drum und Dran – den Kauf von Skimasken für sich und Dermot, Handschellen und Knebel für Hebe. Dermot, der mit den Händen sprach, verdrehte die Augen, reckte einen Daumen hoch und zwinkerte Ivor zu, als dieser ihnen sagte, wo sie sich die Requisiten holen sollten, und ihnen das Geld dafür und für die Anmietung des Wagens übergab. Er wiederholte sein Angebot – fünfhundert Pfund für jeden, um eine Frau von einer Adresse nördlich der North Circular Road nach Hampstead zu bringen. Lloyd nickte und sagte, auch wenn Ivor ihn nicht darum gebeten hatte, er würde natürlich den Mund halten.

Zweihundertfünfzig Pfund sofort, sagte Ivor, die andere Hälfte in bar in einem Umschlag auf dem Dielentisch neben [31] der Haustür. Einen Hausschlüssel würden Lloyd und Dermot nicht brauchen, er selbst werde dort sein und die Haustür nur anlehnen. Sie tranken alle drei noch eine Runde, Dermot reckte wieder den Daumen hoch und verbreitete sich ausführlicher über die Vorbereitungen, als Ivor lieb war. Außerdem lachte er viel.

»Wie sind Sie bloß auf so eine Idee verfallen?« Staunend über Ivors Einfallsreichtum schüttelte er den Kopf.

Lloyd war ziemlich schweigsam. Er hatte sich gerade von seiner Freundin getrennt, wovon Ivor allerdings damals nichts wusste. Dermot und Lloyd fuhren zusammen in Lloyds Wagen weg.

[32] 3

Zu den Einsichten, die ich Sandy Caxton verdanke, gehört auch die, dass man früher glaubte, das Gewicht der Seele betrüge beim Verlassen des Körpers einundzwanzig Gramm. Oder Unzen, das weiß ich nicht mehr. Die Neuplatoniker dachten, dass die Seele in allen Körperteilen gegenwärtig sei. Hoffentlich hatte Sandys Seele noch Zeit gehabt, sich davonzumachen, als die Bombe hochging, denn sie zerfetzte ihn bis zur Unkenntlichkeit. Vielleicht wurde sie zu einem schneeweißen Vogel und nistet nun bis zum Jüngsten Tag unter Gottes Thron. Angeblich glauben das manche Muslime.

Der Fall dürfte bekannt sein, wenn auch vielleicht nicht in allen Einzelheiten. Sandy hatte mit seiner Frau und den beiden Kindern die Nacht in seinem Haus in Leicestershire verbracht. Sie schliefen im Haus, sein Leibwächter und der Hund in der Wohnung über der Garage, einem umgebauten Stall. Am Samstagvormittag wollte Sandy mit einem anderen Tory-Abgeordneten, einem Hinterbänkler, und seinem Wahlkampfmanager, der im Nachbardorf wohnte, zum Golfspielen. Der Leibwächter machte um sieben den üblichen Sicherheitscheck, überprüfte Sandys Wagen, einen Rover, und durchsuchte die Garage, wo sein Schäferhund in jeden Winkel schnüffelte. Weil der Leibwächter wusste, dass sein Chef wegfahren wollte, holte er den Wagen, schloss das [33] Garagentor und parkte das Auto auf dem gepflasterten Platz vor dem Haus.

Um halb acht stand Sandy auf. Erica und die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, ließ er schlafen. Er machte sich eine Tasse Tee, aß ein Brot mit Orangenmarmelade und verließ das Haus. Der Leibwächter war wieder in seine Wohnung gegangen, kam aber herunter, als er Sandy sah, begrüßte ihn und blieb mit seinem Hund in einiger Entfernung stehen, während Sandy in den Rover stieg. Nicht beim Drehen des Zündschlüssels, sondern als der Motor ansprang, ging der Wagen hoch.

Glas- und Metallsplitter trafen den Leibwächter. Offenbar rührte er sich nicht, sondern stand da wie versteinert. Der Hund, blutbespritzt und zitternd, fing an zu jaulen. Der Leibwächter blieb regungslos stehen, bis Erica Caxton schreiend aus dem Haus gerannt kam, dann lief er auf sie zu und rief: »Nicht hinsehen, nicht hinsehen!«, aber da war nichts mehr zu sehen außer Glas und Metall und ein paar Fetzen Stoff und Blut, überall Blut. Die Kinder, vierzehn und sechzehn, hatten alles verschlafen.

Der Anschlag war an jenem Tag der Aufmacher in den Nachrichtensendungen und Zeitungen vom Sonntag und Montag. Eine Stunde nach der Explosion übernahm die IRA die Verantwortung. Ivor war sehr verstört, unverhältnismäßig verstört, bin ich versucht zu sagen, aber vielleicht sehe ich das auch falsch. Sandy Caxton war fünfzehn Jahre älter als Erica und schon vor der Geburt von Iris und Ivor mit John Tesham, deren Vater, befreundet gewesen.

Ivor und seine Eltern kamen zur Beerdigung. Iris fühlte [34] sich nicht wohl, und ich riet ihr ab, was sie sehr erleichterte. Die Beerdigung war eine hochemotionale Angelegenheit, fast alle Großen des Landes waren da. Unter den Sargträgern waren drei Kabinettsminister und zwei Hochschul-Vizekanzler. Es war Mai, aber ein bitterkalter Tag, Nordwind trieb den Regen vor sich her, und die Bäume auf dem kleinen Dorffriedhof schwankten und schlugen, wie Ivor es ausdrückte, mit den Zweigen um sich wie mit zornigen Armen. Man spielte den Trauermarsch aus Händels Saul, Sandys Lieblingsmusik. Die Geschichte von Saul, Samuel und der Hexe von Endor soll er besonders geschätzt haben.

Ivor kam nach der Beerdigung zu uns nach Hampstead, ließ sich einen stärkeren Drink als gewöhnlich einschenken – Brandy mit einem Spritzer Soda – und erklärte düster, er sei so deprimiert, dass er nicht übel Lust hätte, das Geburtstagsgeschenk zu vertagen oder sogar zu streichen. Aber das ging nicht. Er hatte sich mit Hebe für Freitag, den 18. Mai, verabredet und alles mit Lloyd und Dermot festgemacht.

Bis dahin, meinte Iris, gehe es ihm bestimmt wieder besser, es seien ja noch fast zwei Wochen Zeit. Und schließlich sei es doch nur das übliche Treffen mit Hebe, abgesehen davon, dass es in unserem Haus stattfand und sie mit dem Wagen abgeholt wurde – oder nicht?

»Nicht ganz.« Ivor machte sein geheimnisvolles Gesicht, aber das gewohnte schmale Lächeln fehlte. »Es kommt noch das eine oder andere dazu – aber das erzähle ich euch alles hinterher.«

»Alles hoffentlich nicht.«

»Ihr wisst schon, was ich meine«, sagte Ivor – eine Allerweltsfloskel, die ich von ihm noch nie gehört hatte und die [35] ich mir nur damit erklären konnte, dass er sich wirklich schlecht fühlte.

Er blieb nur kurz und nahm sich dann ein Taxi zur Old Pye Street, er müsse bis zum nächsten Morgen noch einen Haufen Papier durcharbeiten. Als er fort war, sagte Iris: »Komisch ist das schon mit dieser mysteriösen Hebe. Wie erklärt sie wohl ihrem Mann diese Spritztouren? Sagt sie, dass sie ins Kino geht? Muss sie wohl, wo soll eine anständige junge Frau, die Mann und Kind hat, sonst allein hingehen?«

»Vielleicht sagt sie, dass sie mit einer Freundin ausgeht«, meinte ich. »Zum Essen oder meinetwegen auch in einen Klub.«

»Dann muss die Freundin mit ihr unter einer Decke stecken, muss eine Ausrede parat haben für den Fall, dass ihr Hebes Mann über den Weg läuft – es muss eine ›sie‹ sein oder allenfalls ein schwuler Mann –, um ihm vorschwärmen zu können, wie schön der Film oder das Essen war. Ich könnte dir nicht erzählen, dass ich ins Kino gehe, während ich mich in Wirklichkeit zu einem anderen Mann ins Bett lege, mir würden die Worte im Hals steckenbleiben.«

»Ich hoffe nicht, dass du dich zu einem anderen Mann ins Bett legst«, sagte ich.

»Bestimmt nicht, aber wenn ja, dann würde ich es dir sagen. Warum bleibt sie bei ihm? Weil er sie versorgt? Ein bisschen geschmacklos, nicht?«

»Die ganze Sache ist geschmacklos«, sagte ich, »und Ivor weiß das. Aber er ist ganz in ihrem Bann. Er liebt sie nicht, aber er kann nicht von ihr lassen. Vielleicht bleibt sie bei diesem Gerry… wie heißt er noch… bei diesem Gerry Furnal [36] nicht deshalb, weil sie ihn liebt, sondern weil er sie liebt. Nicht ausgeschlossen, dass er etwas ahnt, aber sie anfleht, ihn nicht zu verlassen. Mach, was du willst, aber geh nicht fort…«

Iris zog ein skeptisches Gesicht. »Stell dir vor, dass so etwas zwischen ihnen steht, dass sie ihn belügt und er sich überlegt, ob sie ihm Lügengeschichten auftischt, sich aber nicht traut zu fragen… Was ist denn das für eine Ehe? Nein, Rob, das kann so nicht stimmen.«

So stimmte es auch nicht. Gerry Furnal liebte Hebe, aber vielleicht ohne die Frau zu kennen, die er liebte. Er scheint sie auf einen Sockel gestellt und seine Schöpfung dann angebetet zu haben. Das ist nichts Ungewöhnliches, aber für Realisten wie mich wäre es nichts. Ich glaube auch nicht, dass ich einer so großen Selbsttäuschung fähig wäre. Ich besitze nicht sehr viel Phantasie. Die Wahrheit kam letztlich erschütternd deutlich durch die Tagebuchaufzeichnungen der armen Jane zutage – falls es die Wahrheit war und nicht das, was sie durch die verzerrende Linse ihres Selbstmitleids sah. Jane war die Freundin, die sich bereitgefunden hatte, Gerry zu täuschen, indem sie ihm notfalls überzeugende Gründe für Hebes Abwesenheit lieferte, und es dauerte nicht lange, bis wir durch Ivor von ihr erfuhren. Es war Iris, die diese uns bis dahin unbekannte Person die ›Alibi-Lady‹ nannte.

Ich erinnere mich, dass ich damals sagte: »Alibi – das klingt eindeutig nach Polizei, aber ob die das Wort überhaupt benutzen?«

»Wirkt beinah arabisch.«

Ich schlug es nach. »Alibi (lat. zu alibi ›anderswo‹ von alius – ›ein anderer‹).«

[37] »Passt doch«, sagte Iris. »Die Alibi-Lady sagt Gerry Furnal, dass Hebe mit ihr zusammen war, dabei war sie in Wirklichkeit anderswo – nämlich bei Ivor. Und allzu oft wird sie es gar nicht zu sagen brauchen, denn so häufig werden Gerry und sie sich nicht begegnen. Wie mag ihr dabei zumute sein?«

»Sie sagt sich wahrscheinlich, dass sie zu Hebe halten muss. Deren Mann gegenüber ist sie schließlich zu nichts verpflichtet.«

»Weißt du was, Rob? Ich entwickle ein ausgesprochen ungesundes Interesse an all diesen Intrigen. Das muss aufhören.«

Ich gab ihr recht. Wir hätten an anderes zu denken, versicherten wir uns gegenseitig und schlossen eine Art Pakt, an den wir uns ziemlich gewissenhaft hielten, nicht mehr über Ivor und seine geheime Liebschaft zu spekulieren. Wir würden ihm, wie versprochen, unser Haus zur Verfügung stellen und wegfahren, und dann sollte er machen, was er wollte. Als er nach Sandy Caxtons Beerdigung bei uns gewesen war, hatte ich ihm die Schlüssel gegeben, er sollte sie, wenn er das Haus verließ, durch den Briefschlitz stecken. Später ließen wir uns dann doch sehr viel intensiver auf die Sache ein, notgedrungen, denn sonst wäre er ganz allein gewesen, hätte es ganz allein tragen müssen – zumindest bis Juliet Case auf der Bildfläche erschien.

An jenem berühmten Freitag stand zum ersten Mal nichts über den armen Sandy auf der ersten Seite unserer Tageszeitung. Der Aufmacher war, dass der Multimillionär Damian Mason ein nordenglisches Fußballteam kaufen wollte, sie brachten ein Foto von ihm, einem kleinen untersetzten [38] Mann mit Bärtchen, und seiner Frau Kelly in Shorts und knappem T-Shirt. Iris hatte ihre Grippe so gut wie überwunden, es war der erste Tag, an dem sie morgens aufwachte und sich wieder besser fühlte. Nadine quengelte ein bisschen herum, aber sonst fehlte ihr offenbar nichts, deshalb machten wir uns, nachdem ich ein paar wichtige Telefongespräche mit Mandanten erledigt hatte, auf den Weg nach Monks Cravery in Norfolk. Vorher bezog Iris noch unser breites Bett frisch und deckte, auch wenn ich sagte, es sei nicht nötig, den Kaffee- oder Blutfleck mit einem Läufer aus Nadines Zimmer ab.

Es war herrliches Wetter, der erste echte Frühlingstag.

[39] 4

Ich habe mich hingesetzt und angefangen, alles aufzuschreiben, weil ich diese Vorahnung hatte. Das war an dem Tag, als Hebe mich wieder mal um ein Alibi bat. Das machte sie schon lange, und ich machte es auch immer mit, aber diesmal war es anders, wichtiger als alle vorherigen. Einmal, weil es für eine längere Zeit als sonst war, und zum Zweiten, weil sie Geburtstag hatte. Ich meine – wohin sie ging und was sie da machte, das war ihr Geburtstagsgeschenk.

Als sie mir das sagte, hatte ich gleich ein ungutes Gefühl. Meine Vorahnung sagte mir, dass etwas ganz schrecklich schiefgehen würde. Ich würde mich vorsehen müssen. Und deshalb habe ich beschlossen, alles aufzuschreiben, nicht in einem Notizbuch, sondern auf losen Blättern, die kann ich zusammenklammern und in einen Schuhkarton packen, und den stelle ich dann in den einzigen richtigen Schrank, den ich in dieser winzigen Bude habe. Und wenn ich irgendwann ausziehe, nehme ich ihn mit. Schuhkartons sind lästig, und im Schuhgeschäft wirst du heute meist gefragt, ob du den Karton haben willst, kaum einer will ihn, und da überlegt man sich doch, was die Läden mit diesen Hunderten, Tausenden, Millionen von Schuhkartons machen. Bei meinem letzten Paar Schuhe haben sie mir den Karton förmlich aufgedrängt – der Laden sieht mich nicht wieder! –, und deshalb hab ich jetzt einen für meine Aufzeichnungen.

[40] Dass ich gerade diesen Karton nehme, ist ganz passend, denn zu dem Schuhkauf war Hebe mitgekommen und hatte ein Paar Stiefel gekauft. Vielleicht sollte ich besser sagen, dass ich mit Hebe mitgekommen bin, denn so fühlte sich das immer für mich an. Die Stiefel waren aus schwarzem Lackleder, sie hatten sehr hohe Absätze und waren vorn bis zum Knie geschnürt.

»Die kannst du auf der Straße doch gar nicht gebrauchen«, sagte ich.

Sie lachte. »Will ich auch gar nicht. Aber im Bett.«

Solche Bemerkungen sind mir peinlich, da weiß ich nie, wohin ich sehen soll. Wir tranken einen Kaffee zusammen, und dabei erzählte sie mir von dem, was sie mit Ivor Tesham so macht, wie sie sich verkleiden und verschiedene Rollen spielen, und dagegen ist ja eigentlich nichts einzuwenden, aber so, wie sie es erzählte, war es praktisch Sadomaso, und das war mir nicht geheuer. Vielleicht, weil es so gar nichts mit Gerry zu tun hatte, der ein ganz Solider ist. Dachte ich. Ob sie in Ivor verliebt sei, fragte ich.

»Was weiß denn ich! Wahnsinnig verrückt bin ich nach ihm, so viel steht fest, aber Liebe…? Ich hab mir eingebildet, dass ich in Gerry verliebt war, als ich ihn geheiratet habe. War ich ja vielleicht auch. Aber es hat nicht angehalten.«

Warum sie dann bei ihm bleibe, wollte ich wissen.

»Ich sage mir, dass es nicht recht wäre, Justin von seinem Vater zu trennen, aber ob das der wahre Grund ist? Du weißt ja, ich habe nie gearbeitet, habe gleich nach dem Studium Gerry geheiratet, und dann kam Justin. Was hätte ich machen sollen?«

[41] »Du hast doch Medienwissenschaften studiert«, wandte ich ein.

»Das haben eine Million anderer Leute auch. Ich wüsste gar nicht, wie ich es anstellen sollte, einen Job bei der Zeitung oder im Fernsehen oder sonst wo zu bekommen. Eigentlich bin ich nur in einer Sache gut. Als Hure wär ich super, aber da mache ich dann doch lieber weiter wie bisher.«

Ich kam auf die Stiefel zurück. Die würde sie doch bestimmt Gerry nicht zeigen? Sie hatten dreimal so viel gekostet wie meine Schuhe.

»Die bezahlt Ivor. Schließlich sind sie für ihn, zu seiner Lust.« Das ›s‹ in Lust zischte nur so, sie ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Bist du ein Engel und gibst mir ein Alibi für den 18. Mai?«

Ja, sagte ich, aber ihr Geburtstag sei doch am Siebzehnten.

»An dem Abend will Gerry mit mir ausgehen.« Sie verzog das Gesicht. »Du hast versprochen, dass du zum Babysitten kommst. Es ist lästig, aber die Ehe ist eben eine lästige Angelegenheit, was will man machen…«

Dazu fiel mir nichts ein. »Ich hab das Gefühl, dass was Schlimmes passieren wird. Könnt ihr es nicht auf einen anderen Abend legen?«

»Ach, Janey, du mit deinen Ahnungen! Ivor will es nun mal am Achtzehnten machen, und ich kann ihm nicht gut sagen, dass dir der Tag nicht passt. Außerdem weiß Gerry schon, dass wir da ins Theater gehen, du und ich.«

Mal wieder ohne mich zu fragen, aber mit mir können sie’s ja machen. Angefangen bei Mummy wissen alle, dass ich nie ausgehe. Eigentlich komisch – man liest in der Zeitung von jungen Leuten, die zu Raves und in Clubs gehen, [42] die jeden Abend auf der Piste sind, von einem Bett ins andere steigen, zu viel trinken und Drogen nehmen. Ich bin auch jung, aber ich weiß nicht mal, was ein Rave ist. Ich könnte an den Fingern einer Hand abzählen, wie viele Männer mich ausgeführt haben, und was die betrifft, die mich danach noch mal wiedersehen wollten… na, schweigen wir lieber.

Allzu oft habe ich Hebe kein Alibi zu geben brauchen. Gerry sah ich selten, so dass er mich nicht fragen konnte, ob wir uns gut im Odeon amüsiert hätten oder ob das Essen im Café Rouge gut gewesen sei. Er hat nie nachgehakt, ich meine, er hat nie angerufen und gefragt, ob ich wirklich mit Hebe zusammen war. Ich denke mir, dass er nichts geahnt hat. Es gehörte einiges dazu, ihn auch nur andeutungsweise misstrauisch zu machen, er war so vertrauensselig. Ob ich Gewissensbisse hatte? Früher mal hatte ich ein Gewissen, aber anscheinend ist es mir abhandengekommen. Wenn man so viel allein ist, stumpft alles in einem ab, auch das Gewissen. Früher oder später ist einem alles egal.