Es scheint die Sonne noch so schön - Barbara Vine - E-Book
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Barbara Vine

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Beschreibung

Ein langer, heißer Sommer im Jahr 1976. Eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe junger Leute sammelt sich um Adam, der ein altes Haus in Suffolk geerbt hat. Sorglos leben sie in den Tag hinein, lieben, stehlen, existieren. Zehn Jahre später werden auf dem bizarren Tierfriedhof des Ortes zwei Skelette gefunden ­ das einer jungen Frau und das eines Säuglings...

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Seitenzahl: 553

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Barbara Vine

Es scheintdie Sonne nochso schön

Roman

Aus demEnglischen vonRenate Orth-Guttmann

Titel der 1987 bei Viking, London,

erschienenen Originalausgabe:

›A Fatal Inversion‹

Copyright ©1987 by Kingsmarkham Enterprises Ltd.

Die deutsche Erstausgabe erschien

1989 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Bernard Villemot, ›Parly‹, um 1968

Copyright ©2015, ProLitteris, Zürich

Für Caroline und

Richard Jefferiss-Jones

in herzlichem

Gedenken

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22417 7 (16.Auflage)

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Der reglose Körper lag auf einem Teppichrest in der Mitte des Jagdzimmers. Alec Chipstead sah sich suchend um, dann nahm er von einem der Haken einen Regenmantel, bedeckte den Körper damit und überlegte zu spät, daß er den Mantel nun nie wieder würde tragen können.

Er ging hinaus, um den Tierarzt zu verabschieden.

»Ich bin froh, daß es vorbei ist.«

»Seltsam, wie schmerzlich so was sein kann«, sagte der Tierarzt. »Sie werden sich sicher einen neuen Hund anschaffen?«

»Ich nehme es an, ja, aber das muß Meg entscheiden.«

Der Tierarzt nickte und stieg in seinen Wagen. Dann steckte er den Kopf zum Fenster hinaus und fragte, ob er den Kadaver wirklich nicht abholen lassen sollte. Nein, sagte Alec, schönen Dank, aber darum würde er sich selbst kümmern. Er sah dem Wagen nach, der die lange, ansteigende Straße hochfuhr – die »Trift«, wie die Leute hier in der Gegend sagten –, unter den tief hängenden Zweigen der Bäume hindurch, und dann hinter der Biegung verschwand, dort, wo der Kiefernwald begann. Der Himmel war von blassem Silberblau, die Bäume waren noch grün und hatten nur hier und da ein paar gelbe Sprenkel. Der September war feucht gewesen, und auch die Rasenflächen, die sanft bis zum Waldrand abfielen, waren grün. Am Rand des Rasens, den zur Auffahrt hin eine [6] Blumenrabatte begrenzte, lag ein zerbissener Gummiball. Wie lange war der wohl schon da? Bestimmt ein paar Monate. Mit dem Ballspielen war es für Fred schon lange vorbei gewesen. Alec steckte den Ball in die Tasche. Er ging ums Haus herum, stieg über die Steinstufen zur Terrasse hinauf und trat durch die hohe Tür ein.

Meg saß im Salon und tat, als sei sie in die Lektüre von Country Life vertieft.

»Er hat nichts gemerkt«, sagte Alec. »Ganz friedlich ist er eingeschlafen.«

»Wie dumm wir uns benehmen…«

»Ich hatte ihn auf dem Schoß, er ist eingenickt, der Tierarzt hat ihm die Spritze gegeben, und dann ist er – gestorben.«

»Wir hätten ihn nicht länger halten können, nicht mit diesem schrecklichen Veitstanz. Es war ja nicht mehr mit anzusehen, und für ihn muß es die Hölle gewesen sein.«

»Ich weiß. Wenn wir Kinder gehabt hätten, Liebes… Ich meine, Fred war nur ein Hund, und manche Leute machen so was auch bei Kindern durch… Man muß sich das mal vorstellen.«

Kummer macht zuweilen eine scharfe Zunge. »Daß Eltern den Arzt holen, um ihre kranken Kinder einschläfern zu lassen, habe ich allerdings noch nicht gehört.«

Alec sagte nichts mehr. Er ging durch die große, schön proportionierte Halle mit dem anmutig geschwungenen Treppenaufgang und unter dem breiten Bogengang hindurch zum Küchenbereich und zu dem dahinter liegenden Jagdzimmer. Sie hatten die beiden Küchenräume Zusammenlegen und hochmoderne Küchenmöbel und –geräte [7] einbauen lassen. Hier merkte man nichts davon, daß das Haus zweihundert Jahre alt war. Die Bezeichnung Jagdzimmer für den Raum, in dem der Gefrierschrank stand und in dem sie ihre Mäntel aufhängten, hatten sie von ihrem Makler übernommen. Jagdwaffen gab es dort jetzt nicht mehr, doch zu Zeiten der Berelands hatten da sicher welche gehangen, und ein alter Junker Bereland hatte in einem Windsorstuhl an einem Tisch aus massiven Kiefernbrettern gesessen und sie geputzt…

Er lüpfte eine Ecke des Regenmantels und warf einen letzten Blick auf den toten Beagle. Meg war zu ihm getreten. Rührselig dachte er – sagte es aber nicht laut –, daß die braunweiße Stirn nun endlich Ruhe vor den qualvollen Zuckungen hatte.

»Er hat es schön gehabt im Leben.«

»Ja. Wo wollen wir ihn begraben?«

»Auf der anderen Seeseite, dachte ich, in dem kleinen Forst.«

Alec hüllte den Körper in seinen Regenmantel, wickelte ihn ein wie ein Paket. Der Mantel hatte schon bessere Tage gesehen, aber er hatte ihn seinerzeit bei Aquascutum gekauft, – ein teures Leichentuch. Alec hatte das dunkle Gefühl, er sei Fred dieses letzte Liebesopfer schuldig.

Meg zog ihren Anorak an. »Ich weiß was Besseres. Warum im Kleinen Forst, wenn wir einen richtigen Tierfriedhof haben? Bitte, Alec! So lange werden da schon Haustiere begraben, es wäre mir schon lieb, wenn Fred such dort liegen könnte.«

»Warum nicht?«

[8] »Es ist dumm und sentimental, ich weiß, aber irgendwie möchte ich schon, daß er bei all den anderen ist. Bei Alexander und Pinto und Blaze. Blöd, was?«

»Komm, mir geht’s ja genauso«, sagte Alec.

Er ging hinüber in die früheren Stallungen, wo der Traktor stand und das Brennholz für den Winter gestapelt war, und kam mit einem Schubkarren und zwei Spaten zurück.

»Wir stellen eine Gedenktafel für ihn auf, was meinst du? Ich säge sie von einem Platanenstamm herunter, das ist schönes weißes Holz, du kannst sie dann beschriften.«

»Einverstanden, aber das hat ja Zeit.« Meg bückte sich nach dem Paket, zuckte im letzten Augenblick zurück, richtete sich auf und schüttelte den Kopf. Es war Alec, der den Hund in den Schubkarren legte. Sie gingen die Trift hinauf.

Zu dem Grundstück gehörten zwei Waldstücke – drei, wenn man das unterhalb des Sees mitzählte. Der Rasen vor dem Haus, in dem eine hohe schwarze Zeder stand, reichte bis an den alten, fünf oder sechs Morgen großen Laubwald, und dahinter, auf ansteigendem Gelände, lag hinter einem grasigen Waldweg der Kiefernwald, eine Pflanzung von etwas zu eng stehenden Wald- und Strandkiefern, die jetzt eine dichte aufgeforstete Fläche bildeten. Das Waldstück war größer als der Laubwald, fast doppelt so groß, und wirkte als Windschutz, denn seit der Rodung der Hecken fegten die Stürme ungehindert von den präriegleichen Feldern her über die Landstraße.

Wenn man den Kiefernwald von der Trift und von der Straße nach Nunes aus sah, wirkte er undurchdringlich. Doch an der Südseite führte eine Abzweigung des [9] Waldweges zwischen den in Reih und Glied stehenden Bäumen hindurch zu einer fast kreisförmigen Lichtung. Die Chipsteads waren erst einmal hier gewesen, auf einem sonntäglichen Erkundungsgang kurz nach dem Kauf von Haus und Grundstück. Bei zwanzig Morgen Land dauert es eine Weile, bis man sich in seinem neuen Besitz zurechtgefunden hat. Sie hatten ihre Entdeckung mit leichter Rührung, aber auch mit sanftem Spott zur Kenntnis genommen; selbst voreinander mochten sie sich ihre Sentimentalität nicht anmerken lassen.

»So etwas gibt es nur in England«, hatte Meg gesagt.

Diesmal wußten sie genau, wohin sie zu gehen hatten und was sie finden würden. Sie bogen von der Trift auf den Waldweg ein, der die beiden Waldstücke wie ein Tunnel verband und an dessen fernem Ende man wie einen Bildausschnitt rautenförmige Viehweiden, dunkler gefärbte Koppeln und einen Kirchturm sah. Dort, wo das Gras aufhörte, glitt der Fuß auf Fichtennadeln, und es roch nach Harz.

Die Lichtung war mit Gras bewachsen, das sich zu zehn, zwölf kleinen Hügeln, zu flachen Buckeln, grünen Kuppen wölbte. Die Gedenktafeln waren meist aus Holz, Eiche natürlich, sonst hätten sie nicht so lange gehalten; trotzdem waren einige umgefallen und vermodert. Die übrigen waren grün von Flechten. Dazwischen standen hier und da auch Steine – ein Schieferblock, eine Platte aus rosa Granit, ein Brocken leuchtendweißer Islandspat, auf dem der Name Alexander eingemeißelt war, dazu die Daten: 1901–1909.

Zeit und Witterung hatten jede Spur von Schrift auf den [10] Holzkreuzen getilgt. Die Inschrift auf dem rosa Granit aber war noch deutlich zu erkennen, blaze stand da, in Großbuchstaben und Antiquaschrift, und darunter:

SIE WIMMERN UND WINSELN NICHT ÜBER IHRE LAGE,

SIE LIEGEN NICHT WACH IN DER DUNKELHEIT UND WEINEN UM IHRE SÜNDEN.

NICHT EINER VON IHNEN IST WOHLANSTÄNDIG ODER UNGLÜCKLICH IN DER GANZEN WEITEN WELT.

Meg bückte sich, um die unter gelbem Moder fast völlig unkenntlichen Pinselstriche zu betrachten. »›Über welche ewigen Ströme, Pinto…‹« las sie. »›Von uns gegangen nach drei kurzen Jahren.‹ Was meinst du, ob Pinto ein Wasserspaniel war?«

»Oder ein zahmer Otter.« Alec hob Freds verhüllten Körper heraus und legte ihn ins Gras. »Wir haben so was mal als Kinder gemacht. Nur war es damals ein Karnickel. Mein Bruder und ich haben ein Karnickelbegräbnis veranstaltet.«

»Aber ihr hattet bestimmt keinen richtigen Friedhof.«

»Nein, wir mußten ein Blumenbeet nehmen.«

»Wo legen wir ihn hin?«

Alec griff zum Spaten. »Da drüben, neben Blaze, denke ich. Anscheinend war Blaze der Letzte, der hier beigesetzt worden war. 1957 steht auf dem Stein. Die späteren Besitzer haben wohl keine Haustiere mehr gehalten.«

Meg tat ein paar Schritte, betrachtete die Gräber und versuchte zu berechnen, in welcher Reihenfolge die Grabstellen belegt worden waren. Das war gar nicht so einfach, [11] weil von den hölzernen Gedenktafeln so viele umgefallen waren, aber daß Blaze das letzte Tier gewesen war, das man hier bestattet hatte, schien ziemlich eindeutig, denn hinter seinem Grab waren zwei Reihen mit je sieben Hügeln und links davon drei Hügel.

»Leg ihn rechts neben Blaze«, sagte sie.

Nachdem Alec einmal angefangen hatte, lag Meg jetzt daran, es möglichst schnell hinter sich zu haben. Das war doch alles dummes Zeug, war ihrer als einigermaßen intelligenter Menschen mittleren Alters unwürdig, war Kinderkram. Als Alec von seinem Karnickelbegräbnis erzählt hatte, war ihr das klargeworden. Dabei hätte sie vorhin fast vorgeschlagen, ein paar Abschiedsworte für Fred zu sprechen. Wir graben ihn jetzt ein, legen die Grassoden über ihn und fertig, dachte sie. Und den Unsinn mit der Gedenktafel müssen wir uns aus dem Kopf schlagen. Weiße Platane? So weit kommt’s noch! Meg griff nach dem zweiten Spaten und begann rasch, den weichen, mit Kiefernnadeln durchsetzten Boden auszuheben. Unter der Humusschicht durchdrang der Spaten den Boden so mühelos, als grabe man an einem Sandstrand knapp oberhalb der Flutlinie.

»Sachte, Meg«, sagte Alec. »Wir graben doch nur Fred ein und nicht einen Sarg, der sechs Fuß unter die Erde muß.«

Die Worte waren unglücklich gewählt; wenn sie ihm in den kommenden Tagen wieder in den Sinn kamen, verspürte er unweigerlich ein Grimmen in der Magengegend und ein Kribbeln in der Nase. Sein Spaten stieß an etwas Festes. Ein Stein, ein länglicher Feuerstein vielleicht… Er [12] grub um ihn herum und legte einen flügelförmigen Knochen frei. Demnach war hier schon ein Tier begraben… Ein Tier mit auffallend großem Brustkorb. Ich werde Meg nichts sagen, beschloß er, sondern den Brustkorb und das Schlüsselbein da unten rasch zuschaufeln und dort, wo sie gräbt, neu anfangen.

Irgendwo hörte Alec einen Raben krächzen. Wahrscheinlich in den hohen Linden des Laubwalds. Raben sind Aasfresser, dachte er mit einem Gefühl des Unbehagens. Erneut hob er den Spaten, durchstach die feste, trockene Grasnarbe. Dann merkte er, daß Meg ihm ihren Spaten hinhielt. Was darauflag, sah aus wie der fächerförmige Mittelfußknochen eines sehr kleinen Fußes.

»Ein Affe?« fragte Meg gepreßt.

»Vermutlich.«

»Warum hat er keinen Grabstein?«

Alec antwortete nicht. Er grub tiefer, hob einen Spaten voll nach dem anderen von der weichen, harzduftenden Erde ans Licht. Meg grub Knochen aus, sie hatte schon ein ganzes Häufchen zusammen.

»Wir tun sie am besten in eine Schachtel oder so und graben sie wieder ein.«

»Nein«, sagte er. »Nein, Meg, das wird nicht gehen.«

»Warum nicht? Was ist denn?«

»Schau her.« Er hob seinen Fund hoch, um ihn Meg zu zeigen. »Sieht so ein Hundeschädel aus? Oder der Schädel eines Affen?«

[13] 2

Adam wehrte sich gegen die Erinnerung an das, was in Troremmos geschehen war. Er träumte davon, aus seinem Unterbewußtsein konnte er es nicht aussperren, und auch in Assoziationen kehrte es immer wieder, aber er gestattete sich nie, bei den Erinnerungen zu verweilen, ein Programm mit wahlfreiem Zugriff zu fahren oder lange den gedachten Bildschirm zu betrachten, auf dem die Optionen erschienen. Wenn der Vorgang begann, wenn die Assoziationen auf Eingabe schalteten – beim Klang eines griechischen oder spanischen Ortsnamens etwa, dem Geschmack von Himbeeren, dem Anblick von Kerzen im Freien – hatte er sich dazu erzogen, eine Escape-Taste zu drücken, wie die Computer sie hatten, die er verkaufte.

Im Lauf der Jahre hatte es kaum mehr als eine flüchtige Assoziation gegeben. Er hatte Glück gehabt. An jenem letzten Tag hatten sie nicht nur vereinbart, sich nie wieder zu treffen – das war selbstverständlich –, sondern auch, daß sie bei einer zufälligen Begegnung geflissentlich aneinander vorbeischauen, ohne ein Zeichen des Erkennens vorübergehen würden. Schon längst überlegte Adam nicht mehr, was wohl aus ihnen geworden war, wohin das Leben sie verschlagen hatte. Er hatte sich nicht bemüht, Karrieren zu verfolgen, hatte nicht in Telefonbüchern geblättert. Hätte ein innerer Inquisitor ihn befragt und absolute Ehrlichkeit verlangt, hätte er vielleicht gestanden, am [14] wohlsten wäre ihm, wenn er sicher sein könnte, daß sie alle tot waren.

Seine Träume waren etwas anderes, waren eine andere Welt. Dort besuchten sie ihn. Immer spielten sie in Troremmos, diese Träume. Wenn er des Nachts oder an einem heißen stillen Nachmittag allein den ummauerten Garten betrat oder um die Ecke zur Hintertreppe ging, wo Zosie die Geister von Hilbert und von Blaze gesehen hatte, kamen sie ihm entgegen. Einmal war es Vivien gewesen, in ihrem leuchtendblauen Kleid, ein andermal Rufus, in weißem Kittel und mit Blut an den Händen. Nach diesem Traum hatte er es nachts nicht mehr gewagt einzuschlafen. Er war absichtlich wach geblieben aus Angst, wieder einen solchen Traum zu haben. Wenig später war das Kind zur Welt gekommen, für ihn eine willkommene Flucht in unruhige, gestörte Nächte, in denen er dem Schlaf widerstand, bis er zu müde zum Träumen war. Und im Grunde war es sein Pech, daß Abigail so brav war und sieben, acht Stunden hintereinander durchschlief.

Das brachte ihn nicht nur um die Ausrede, er müsse wach bleiben, um sie zu hüten, sondern schuf zusätzliche Ängste. Ihr Schlaf war so friedlich, so still und unbewegt. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, nachts fünf oder sechs Mal aufzustehen und in ihr Zimmer zu gehen. Eine derart penetrante Besorgnis, sagte Anne, sei nicht normal, und wenn das so weiterginge, müsse er wohl doch mal zum Psychiater. Sie, die Mutter, schlief tief und traumlos. Adam ging dann tatsächlich zum Psychiater und ließ sich therapieren, was nicht viel half, weil er sich nicht rückhaltlos öffnen, nicht wahrheitsgemäß von der Vergangenheit [15] erzählen konnte. Als er dem Therapeuten gestand, er habe Angst, einmal sein Kind tot aufzufinden, wenn er ins Zimmer käme, schrieb der ihm Tranquilizer auf.

Abigail war jetzt ein halbes Jahr alt und durchaus lebendig, groß für ihr Alter, ein friedliches Kind mit liebem Gesicht. An jenem Donnerstagmittag Ende September besah sie sich ohne Neugier die Schlange am Abfertigungsschalter, in der sie standen, legte den Kopf wieder auf das Kissen ihrer Kinderkarre und machte die Augen zu. Eine Spanierin, die nach Hause flog und die Kleine schon eine Weile beobachtet hatte, seufzte gerührt, während ein rucksackbewehrter, ob der saumseligen Abfertigung erboster Amerikaner erklärte, die Kleine habe die richtige Einstellung. Adam und Anne und Abigail – sollte eines Tages ein Sohn kommen, würden sie ihn Aaron nennen – wollten mit der Iberia für zehn Tage auf Urlaub nach Teneriffa fliegen. Der Termin war bewußt so gewählt, daß Abigail alt genug war, um Klimawechsel und neue Umgebung zu verkraften, aber noch jung genug, um sich mit der Milch ihrer Mutter zufriedenzugeben.

In Heathrow drängte sich – wann eigentlich nicht, dachte der weltgewandte Adam, der häufig für seine Firma mit dem Flugzeug unterwegs war –, eine wirbelnde, absonderlich gewandete Masse Mensch. An ihren Jeans und T-Shirts, den Klamotten, die nichts übelnahmen, den Pullis, die sich zusammenknautschen und in die Gepäckablage stopfen ließen, konnte man die erfahrenen Reisenden eindeutig von den Anfängern unterscheiden, die flotte Leinensachen trugen, Leder und italienischen [16] Glitzerlook – und Stiefel, die am Reiseziel womöglich von geschwollenen Füßen heruntergeschnitten werden mußten.

»Fensterplätze, wenn es geht«, sagte Adam und reichte die Tickets über den Schalter. »Und Nichtraucher bitte.«

»Raucher«, sagte Anne. »Falls du es nicht vorziehst, allein zu sitzen.«

»Also gut, Raucher.«

Es stellte sich heraus, daß alle Plätze in der Raucherabteilung und am Fenster schon vergeben waren. Adam setzte die beiden großen Koffer – der eine war voller Wegwerfwindeln für den Fall, daß es die auf den Kanaren nicht ohne weiteres zu kaufen gab – auf die Waage und behielt sie im Auge, während sie auf das Band rollten, um sicher zu sein, daß ihnen auch die richtigen Anhänger verpaßt wurden. Zweimal im vergangenen Jahr, einmal auf dem Flug nach Stockholm und einmal auf dem Flug nach Frankfurt, war sein Gepäck verlorengegangen.

»Am besten wickele ich Abigail nochmal«, sagte Anne. »Dann können wir gleich durchgehen und in der Abflughalle einen Kaffee trinken.«

»Ich muß erst noch zur Bank.«

Gickernd deutete Anne auf das Bildzeichen, das den Raum für Mutter und Kind bezeichnete. »Warum eigentlich ein Fläschchen und nicht ein Busen?«

Adam nickte nur abwesend. »Trink einen Kaffee, ich komme nach.« Er hatte früher durchaus Humor gehabt, aber den hatten ihm die Träume ausgetrieben und die Ängste, die bei allem, was er tat und sagte, mitliefen wie Untertitel eines Films in fremder Sprache. »Und iß nicht [17] mehr als ein Stück Kuchen«, sagte er. »Wenn du ein Kind hast, ißt du nicht nur mehr, sondern dein Stoffwechsel ändert sich, und du brauchst viel weniger Nahrungszufuhr, um dick zu werden.« Ob das stimmte, wußte er nicht genau. Es war seine Revanche, weil sie im Raucherteil hatte sitzen wollen.

Abigail schlug die Augen auf und lächelte ihm zu. Immer, wenn sie ihn so ansah, überlegte er voller Schmerz und Schrecken, wie es wohl wäre, sie zu verlieren, und daß er sofort und bedenkenlos jeden umbringen würde, der es wagte, ihr etwas zuleide zu tun, daß er mit Freuden für sie sterben würde. Aber wieviel schwerer ist es, dachte Adam, mit den Menschen zu leben statt für sie zu sterben. Der Assoziationsvorgang ließ ihn an einen anderen Vater denken. Hatte er für sein Kind ebenso empfunden? Und hatte er sich inzwischen wieder gefangen, ging das überhaupt, wenn einem so etwas widerfahren war? Adam drückte die Löschtaste, blickte kurz in erschreckende Schwärze, ging mit einer großen Leere im Kopf an den Abfertigungsschaltern vorbei zur Rolltreppe.

Eine Leere im Kopf ist dem Denkvermögen ebenso zuwider wie der Natur ein Vakuum, und so füllte sich Adams Kopf rasch wieder mit allerlei Sorgen und Überlegungen, die sich um Banken und Wechselkurse drehten. Im Obergeschoß war das Gewühl noch ärger, gerade hatten zwei Flugzeuge, eins aus Paris, das andere aus Salzburg, sich ihrer menschlichen Fracht entledigt, die Passagiere hatten sich ihr Gepäck von nebeneinanderliegenden Bändern geschnappt und drängten nun gleichzeitig durch die Zollkontrolle. In weiter Ferne sah Adam das Zeichen [18] von Barclays Bank türkisblau leuchten. Es war dies eine Farbe, die ihm ausgesprochen unsympathisch, ja, zutiefst zuwider war, aber eine warnende innere Stimme hielt ihn regelmäßig davon ab, sich nach dem Grund für diese Abneigung zu fragen, und nur Erwägungen der Vernunft – oder der Vernünftigkeit – hatten ihn davon abgehalten, deshalb die Bank zu wechseln. Er kämpfte sich, vorbei an den Ticketschaltern, allmählich an das blaue Lichtband heran, entschuldigte sich flüchtig bei einer Frau in Tirolerhut und Trachtenkleid, der er einen Ellbogen in die Rippen gestoßen hatte – und blickte durch ein wogendes Meer von Gesichtern in das Gesicht jenes Mannes, den er bei sich immer nur den Inder genannt hatte.

Mit Vornamen hieß er Shiva, nach dem zweiten Gott der Hindu-Trinität. An seinen Nachnamen konnte Adam sich nicht erinnern, mußte ihn aber damals wohl gekannt haben. Die letzten zehn Jahre hatten relativ wenig Spuren in Shivas Gesicht hinterlassen, allenfalls war es ein wenig starrer geworden, ließ spätere Hagerkeit ahnen, eine rassenimmanente Trauer. Die Haut glänzte dunkel wie eine Roßkastanie, die Augen waren bläulich-dunkelbraun, als schwömmen die Pupillen in tintenfleckigem Wasser. Es war ein gut aussehendes Gesicht, europider als das Gesicht eines Engländers, arischer als das, was den Nazis als Ideal oder Prototyp vorgeschwebt haben mochte, scharf geschnitten und ausgefeilt bis auf die Lippen, die voll und geschwungen waren, von feiner Sinnlichkeit, und sich jetzt schüchtern, zögernd zum Ansatz eines Lächelns öffneten.

Ihre Blicke hielten sich nur sekundenlang fest, und in [19] diesem Moment spürte Adam, wie sein eigenes Gesicht sich finster verzog, drohend, ablehnend – ein Ausfluß der Angst –, während das Lächeln auf Shivas Gesicht schrumpfte, erkaltete, erstarb. Adam wandte rasch den Kopf ab. Er drängte sich durch die Menge, gewann einen Freiraum, hastete, geriet fast ins Rennen. Für einen richtigen Dauerlauf waren zu viele Menschen da. Dann endlich hatte er, schwer atmend, die Bank erreicht, vor der eine Schlange stand. Er schloß einen Moment die Augen und überlegte, was er tun würde, was um Himmels willen er tun oder sagen sollte, wenn Shiva ihm gefolgt war, sich ihm offenbarte, ihn gar berührte. Adam hielt es für durchaus möglich, daß er in Ohnmacht fallen, sich übergeben würde, wenn Shiva ihn anfaßte.

Er war zur Bank gegangen, weil ihm im Taxi, auf der Fahrt nach Heathrow, eingefallen war, daß er zwar Travellerschecks und Kreditkarten bei sich hatte, aber kein Bargeld in der Landeswährung. In Teneriffa würde er wieder ein Taxi zahlen, würde dem Hausdiener im Hotel ein Trinkgeld spendieren müssen. Adam übergab dem Kassierer die Hälfte der Barschaft aus seiner Brieftasche, zwei Zehn-Pfund-Noten, und verlangte dafür – mit einer Stimme, die so geborsten klang, daß er sich räuspern und hüsteln mußte, um sich verständlich zu machen – spanische Peseten. Als er sein Geld in Empfang genommen hatte, mußte er wohl oder übel kehrtmachen, um seinen Hintermann nachrücken zu lassen. Mit beträchtlicher Willensanstrengung zwang er sich, den Kopf zu heben und den Blick durch die langgestreckte Ankunfthalle, über das Gewühl der Reisenden gehen zu lassen. Er trat [20] den Rückzug an. Die Menge hatte sich ein wenig gelichtet; das würde sich in ein, zwei Minuten wieder ändern, wenn die Passagiere von der Maschine aus Rom kamen. Er machte etliche dunkelhäutige Menschen aus, Männer und Frauen afrikanischer, westindischer und indischer Herkunft. Adam war nicht immer Rassist gewesen, aber er war es jetzt. Er fand es erstaunlich, daß sich diese Leute Reisen in Europa leisten konnten.

»In Europa, das muß man sich mal vorstellen«, hatte er zu Anne gesagt, als sie angekommen waren, und sie hatte gekontert, daß diese Schwarzen vielleicht nach Hause flogen oder gerade aus ihrer Heimat oder der Heimat ihrer Vorfahren gekommen waren. »Wir sind in Terminal Two«, sagte er. »Von hier aus fliegt man nicht nach Jamaika oder Kalkutta.«

»Eigentlich müßten wir uns wohl freuen«, meinte sie. »Spricht doch für ihren Lebensstandard.«

»Es darf gelacht werden«, sagte Adam.

Er sah sich nach Shiva um. Sein Blick fiel auf einen Inder, offenbar einen Flughafenmitarbeiter, denn er trug einen Overall und schleppte irgendwelches Reinigungsgerät herum. War es vielleicht dieser Typ gewesen, den er vorhin gesehen hatte? Oder gar der modisch gekleidete Geschäftsmann, der jetzt an ihm vorüberging und dessen Gepäckanhänger ihn als D. K. Patel auswies? Ein Inder, dachte Adam, sieht ziemlich wie der andere aus. Vermutlich sah für die ein Weißer auch ziemlich wie der andere aus, aber das fand Adam im Grunde weniger wichtig. Wichtig war, daß es sich bei dem Mann, den er so flüchtig in der Menge der Gesichter erblickt hatte, vielleicht gar [21] nicht um Shiva handelte. Möglich, daß seine gewöhnlich so gewissenhaft unter Kontrolle gehaltenen Gedanken ein wenig aus dem Ruder gelaufen waren nach den Träumen der letzten Nacht, nach seinen Sorgen um Abigail, dem Blick auf den Gepäckanhänger, daß sie deshalb empfänglich waren für finstere Ängste und Phantasien. Gewiß, es schien, als habe der Inder ihn erkannt, aber konnte er, Adam, sich da nicht geirrt haben? Diese Leute machten sich gern lieb Kind und reagierten auf eine finstere Miene mit einem hoffnungsvollen, defensiven Lächeln…

Shiva hätte mir nicht zugelächelt, dachte Adam jetzt, ihm mußte ebensoviel daran liegen wie mir, einer Begegnung aus dem Weg zu gehen. Sie hatten Troremmos unterschiedlich erlebt – alle fünf hatten sie unterschiedliche Rollen gespielt –, aber die Taten, die sie begangen hatten, das Schreckliche, Unwiderrufliche ihrer Schritte war ihnen allen doch sicher unvergeßlich. Nach zehn Jahren war all dies nicht dazu angetan, ein Lächeln hervorzurufen. Und in mancher Hinsicht war Shiva dem Kern der Dinge näher gewesen als er – wenn auch nur in mancher Hinsicht.

»Ich an seiner Stelle«, sagte Adam – er sagte es nicht laut, aber seine Lippen bewegten sich dabei – »ich an seiner Stelle wäre nach Indien zurückgegangen. Todsicher.« Er biß sich auf die Lippen, um sie zur Ruhe zu bringen. War Shiva hier oder in Delhi zur Welt gekommen? Er erinnerte sich nicht mehr. Ich will nicht an ihn denken, an keinen von ihnen, sagte er lautlos. Ich schalte ab.

Wie konnte er seinen Urlaub genießen, wenn ihn solche Dinge belasteten? Und er war fest entschlossen, ihn zu genießen. Eine der größten Freuden würde es sein, daß [22] sie ihr Zimmer mit Abigail teilten, deren Bettchen – dafür wollte er schon sorgen – auf seiner Seite des Doppelbetts stehen würde, so daß er sie in den langen durchwachten Nachtstunden im Auge behalten konnte. Jetzt sah er Anne, die am Eingang zu den Abflugräumen auf ihn wartete. Sie hatte sich seine Mahnung zu Herzen genommen und nichts gegessen, aber das brachte ihn nur noch mehr gegen sie auf. Sie hatte Abigail aus ihrer Karre genommen und hielt sie so, wie nur Frauen mit ihren betonten Hüften es können, was Adam zusätzlich ärgerte. Abigail saß mit gespreizten Beinen auf Annes rechter Hüfte und schmiegte sich in Annes Arm.

»Du warst so lange weg«, sagte Anne, »daß wir schon dachten, sie hätten dich gekidnappt.«

»Leg ihr nicht deine Worte in den Mund.«

Fürchterlich fand er das. Wir dachten… Abigail meint… Woher wollte sie das wissen? Natürlich hatte er Anne nie etwas von Troremmos erzählt, nur daß er seinen Einstieg ins Geschäftsleben und seine jetzige Stellung dem Erbe seines Großonkels verdankte. Damals, als ihn noch Verliebtheit an Anne band statt bloßer Liebe (die man ja wohl, so sagte er sich, seiner Frau schon anstandshalber entgegenzubringen hatte, wenn man drei Jahre mit ihr verheiratet war), war er versucht gewesen, ihr sein Herz zu öffnen. Es hatte eine Zeit gegeben, einige wenige Wochen, zwei Monate vielleicht alles in allem, in denen sie einander sehr nah gewesen waren, in denen es schien, als könnte einer die Gedanken des anderen lesen, als gäbe es keine Geheimnisse zwischen ihnen.

»Was würdest du mir nie verzeihen?« hatte sie ihn [23] gefragt. Sie lagen im Bett, in einem Cottage in Cornwall, das sie für einen Frühjahrsurlaub gemietet hatten.

»Ich glaube nicht, daß es an mir wäre, dir irgend etwas zu verzeihen. Weißt du, ich würde nie über Dinge richten wollen, die du getan hast.«

»Heine soll auf dem Sterbebett gesagt haben: Dieu me pardonnera. C’est son métier.«

Sie mußte es übersetzen, weil sein Französisch so schlecht war. »Na schön, überlassen wir es also dem lieben Gott, es ist sein Job. Und reden wir nicht drüber, Anne, einverstanden?«

»Es gibt nichts, was ich dir nicht verzeihen würde«, sagte sie.

Er holte tief Atem, drehte sich um, sah zur Decke, wo sich auf dem unebenen Putz, zwischen den dunklen, gemaserten Balken seltsame Muster und Silhouetten abzeichneten, eine nackte Frau mit erhobenen Armen, ein Hundekopf, eine Insel, wie Kreta geformt, lang und schnabelspitz, ein skelettierter Flügel.

»Auch nicht die Belästigung von Kindern?« fragte er. »Oder Menschenraub? Oder Mord?«

Sie lachte. »Wir reden über Dinge, die bei dir vorstellbar wären.«

Die Kluft zwischen ihnen war jetzt so tief, daß ihre Beziehung nur noch ein Schatten dessen war, was sie in jenen Tagen füreinander empfunden hatten, damals in Cornwall und kurze Zeit davor und kurze Zeit danach. Früher hatte er manchmal gedacht: Hätte ich es ihr gesagt, als sich damals die Chance bot, hätte ich es ihr da gesagt, hätten wir uns entweder endgültig getrennt, oder es wäre [24] eine richtige Ehe geworden. Jetzt dachte er so etwas schon lange nicht mehr, in solchen Momenten mußte die Escape-Taste her. Er hätte gern seine Tochter durch die Paßkontrolle getragen, aber sie stand in Annes Paß, und Anne hatte sie auf dem Arm, als der Beamte Abigail ansah, einen Blick auf den Namen im Paß warf, noch einmal Abigail ansah und lächelte.

Wenn es Shiva war, dachte er, ist es nur gut, daß ich ihn in der Ankunft gesehen habe und nicht in der Abflughalle. Demnach war Shiva auf dem Weg nach Hause – wo immer das sein mochte, in irgendeinem Ghetto von Nord- oder Ostlondon, in das sich kein Weißer verirrte –, während er, Adam, London verließ. Er brauchte daher nicht zu befürchten, Shiva noch einmal in die Arme zu laufen. Und was konnte schließlich diese zufällige Begegnung schon schaden, wenn es denn wirklich Shiva gewesen war? Es war ja nicht so, daß er Shiva wirklich für tot gehalten hätte – ebensowenig wie die anderen. Und zu hoffen, daß er sein Lebtag keinen von ihnen würde Wiedersehen müssen –, das war dann wohl doch etwas zu viel verlangt. Bisher hatte kein Wort darüber in der Zeitung gestanden, nicht einmal Gerüchte hatte es gegeben. Er hatte Glück gehabt, hatte es noch, denn daß er Shiva gesehen hatte, änderte nichts, machte nichts besser oder schlechter. Das Leben würde weitergehen – mit Anne und Abigail und stetigem beruflichen Erfolg, sozialem Aufstieg. Im nächsten Jahr würden sie sich vielleicht ein besseres Haus leisten können, sie würden ihren Sohn Aaron zeugen und in die Welt setzen, der Assoziationsvorgang würde Troremmos aus dem Speicher holen, die Escape-Taste es löschen.

[25] Das Leben würde mehr oder weniger geruhsam weitergehen, und ein paar Tage auf Teneriffa würden die Erinnerung an das braunglänzende Gesicht zwischen bleichen, besorgten, enervierten Fratzen verblassen lassen. Höchstwahrscheinlich war es gar nicht Shiva gewesen. In Adams Gegend wohnten fast ausschließlich Weiße, kein Wunder, wenn er da einen dunkelhäutigen Mann mit einem anderen verwechselt hatte. Kein Wunder auch, daß er immer dann, wenn er das Gesicht eines Inders sah, Shiva aus dem Speicher holte. Es war ihm schon öfter passiert, in Geschäften, auf dem Postamt. Und es spielte auch im Grunde keine Rolle, denn Shiva war nun verschwunden, für weitere zehn Jahre verschwunden…

Er nahm das Handgepäck vom Durchleuchtungsgerät, reichte Anne ihre Handtasche und flüchtete sich in eine Therapie, die er manchmal anwandte, um die Wut zu bannen, die er auf sie hatte. In eine Therapie der falschen Nettigkeit.

»Komm«, sagte er. »Wir haben noch Zeit, dir im Duty-free Shop ein Parfüm zu kaufen.«

[26] 3

»Das Böse« war ein dummes Wort. Vom Sinn her ebenso bedeutungslos, amorph, diffus und verquollen wie das Wort »Liebe«. Jeder wußte in etwa, was es bedeutete, aber keiner konnte es genau definieren; irgendwie schien da etwas Metaphysisches mitzuschwingen. Zu diesen Überlegungen war Shiva durch ein Kritikerzitat auf dem Umschlag eines Taschenbuchs angeregt worden, das seine Frau Lili Manjusri auf dem Salzburger Flughafen gekauft hatte. »Eine dräuende Wolke des Bösen«, hatte der Rezensent geschrieben, »hängt über dieser düster-prachtvollen Saga – von der ersten Seite bis zu ihrem erstaunlichen Ende.« Lili hatte den Roman gekauft, weil sie am Zeitschriftenkiosk sonst keine englischsprachigen Bücher hatte finden können.

Als Shiva dieses Wort las, mußte er unwillkürlich an einen grinsenden, bockspringenden Mephistopheles mit gewundenen Bockshörnchen und Frack denken. Was sich in seiner eigenen Vergangenheit zugetragen hatte, war in seinen Augen kein Werk des Bösen, sondern eine Kette überaus beklagenswerter Fehlleistungen, die aus Angst und Habgier entstanden waren. Die meisten Torheiten dieser Welt, fand Shiva, entstanden aus Angst und Habgier. Wer solches mit dem Begriff des Bösen bezeichnete, als seien dabei Berechnung und bewußte Verfehlung im Spiel, verriet nur seine Unkenntnis der menschlichen [27] Seele. Um diese Dinge kreisten seine Gedanken, als er, Lili neben sich, die Koffer auf einem Gepäckwagen, den er am Eingang zur Untergrundbahn abstellen würde, den Kopf hob und dem Blick von Adam Verne-Smith begegnete.

Für Shiva gab es keinen Zweifel daran, daß der Mann, den er sah, Adam war. In seinen Augen sahen durchaus nicht alle Europäer gleich aus. Adam und Rufus Fletcher zum Beispiel, beide weiß und mehr oder minder angel-sächsisch-keltisch-nordisch-normannischer Herkunft, hatten äußerlich sehr wenig Ähnlichkeit miteinander. Adam war schmal und hellhäutig und hatte dichtes, ungebärdiges dunkles Haar (das mit den Jahren merklich lichter geworden war). Rufus war blond und stämmig und hatte für einen so breit gebauten Mann erstaunlich scharfe, spitze Züge. Shiva hatte Rufus vor ein paar Jahren gesehen, war aber ganz sicher, daß dieser ihn nicht bemerkt oder aber nicht erkannt hatte, während Adam, das spürte er genau, sehr wohl wußte, wer er war. Shiva setzte zu einem Lächeln an, aus genau dem Beweggrund, den Adam dafür unterstellt hatte: Er wollte sich lieb Kind machen, sich schützen, Zorn von sich abwenden. Er war in England geboren, hatte Indien nie gesehen, war mit der englischen Sprache aufgewachsen, hatte das wenige an Hindi, das er je gelernt hatte, längst vergessen – und besaß doch alle Schutzinstinkte, alle Unsicherheiten des Immigranten. Seit den Ereignissen von Troremmos war es damit sogar noch schlimmer geworden, fand er. Seit damals hatte sich alles zum Schlimmeren gewendet, war es langsam, aber stetig mit seinem Glück, seinem [28] Geschick, seinem Wohlstand – oder seinen Wohlstandserwartungen – bergab gegangen.

Adam warf ihm einen finsteren Blick zu und schaute weg. Er will mich nicht kennen, dachte Shiva, das ist ganz klar.

Lili wollte wissen, was er da eben gesehen hatte.

»Einen Typ, den ich von früher kenne.« Shiva benützte jetzt Ausdrücke wie »Typ« und »Macker«, Vokabeln, mit denen Inder gern um sich werfen, um echt britischen Zungenschlag zu simulieren. Früher hätte er das nicht getan.

»Willst du ihm nicht guten Tag sagen?«

»Leider, leider will er nichts von mir wissen. Ich bin ein armer Inder. Und er gehört nicht zu denen, die bereit sind, sich auf ihre farbigen Brüder einzulassen.«

»Red nicht so dummes Zeug«, sagte Lili.

Shiva lächelte traurig. Warum denn nicht, fragte er, dabei wußte er ganz genau, daß er unfair war – Adam wie auch sich selbst gegenüber. Hatten sie nicht verabredet – nach dem Auszug aus Troremmos, als jeder seiner Wege gegangen war –, daß sie fürderhin so tun würden, als seien sie einander nie begegnet, als hätten sie nie zusammen gelebt? Hatten sie nicht ausgemacht, in Zukunft einander fremd zu sein, fremder, als Fremde es sich je sein konnten? Adam hielt sich daran, das hatte man ja eben gesehen, und vermutlich hatten Rufus und das Mädchen es genauso gemacht. Shiva aber war und dachte anders, fatalistischer, pessimistischer. Andere mochte er täuschen, aber sich selbst zu täuschen, sich Theater vorzuspielen, Nachdenklichkeiten zu verdrängen – das brachte er nicht fertig. Es [29] wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dadurch Vergessen zu suchen, daß er sich Erinnerungen an Troremmos verbot. Er erinnerte sich jeden Tag daran.

»Ich habe ihn in dem Haus kennengelernt, von dem ich dir erzählt habe«, sagte er zu Lili. »Er gehörte zu der Gruppe dort, der ganze Besitz gehörte ihm.«

»Dann ist es auch gescheiter, wenn ihr euch nicht kennt«, sagte Lili.

Sie kaufte die Fahrkarten. Adam hatte richtig vermutet, Shivas Wohngegend in Ostlondon kam einem Ghetto sehr nahe. Lili schob die beiden grünen Pappstreifen in eine Falte ihres Saris. Sie war nur eine halbe Inderin, ihre Wiener Mutter war als Au-pair-Mädchen nach England gekommen und hatte einen Arzt aus Darjeeling geheiratet, der als Chirurg an einem Krankenhaus in Bradford tätig war. Als Lili heranwuchs und der Arzt gestorben war, zog ihre Mutter wieder nach Österreich, ließ sich in Salzburg nieder und verkaufte Glockenturm-Bierkrüge in einem Andenkenladen. Dorthin fuhren sie jeden Sommer, wenn Shiva Urlaub hatte, den Flug bezahlte ihnen Sabine Schnitzler, die wieder ihren Mädchennamen und weitgehend auch ihre Muttersprache angenommen hatte und manchmal in Gesellschaft »all dieser Inder«, wie sie sich ausdrückte, etwas überrascht, ja, ratlos wirkte. Denn Lili, die fast ebenso helle Haut hatte wie Adam Verne-Smith, gab sich indischer als waschechte Inder, trug Saris, hatte sich das krause, braune, alpenländische Haar bis zur Taille wachsen lassen und nahm Sprachunterricht bei einer bengalischen Nachbarin. In ihrer Stimme schwang etwas von dem im Rhythmus ans Walisische gemahnenden Tonfall, [30] der für Inder so typisch ist, wenn sie Englisch sprechen. Eigentlich müßte mich das freuen, dachte Shiva manchmal. Aber es freut mich nicht. Wie wäre mir wohl zumute, wenn ich eine Frau geheiratet hätte, die meine ethnische Herkunft ablehnt?

Er hatte vor der Heirat Lili von Troremmos erzählt – es wäre ihm gegen den Strich gegangen, so etwas zu verschweigen –, aber er war nicht in Einzelheiten gegangen, hatte nur in großen Zügen die Fakten wiedergegeben. Natürlich war ihm klar, daß er ihr eines Tages vielleicht alles würde erzählen müssen.

»Es war nicht deine Schuld«, hatte sie damals gesagt.

»Sie haben mich nie einbezogen, das stimmt. Und über meine Ratschläge hätten sie sich sowieso hinweggesetzt.«

»Ja, aber dann…«

Shiva setzte zu einer stockenden Erklärung an – und schwieg. Er konnte ihr wohl die Wahrheit sagen, nicht aber die ganze Wahrheit. Bei aller Aufrichtigkeit – bis zu dem Geständnis, daß der Vorschlag von ihm gekommen war, mochte er doch nicht gehen.

»Du solltest versuchen, es zu vergessen«, hatte sie gesagt.

»Irgendwie käme mir das unrecht vor. Das mit dem kleinen Mädchen dürfte man nie vergessen.«

Es war deshalb wohl unvermeidlich, daß er den Tod seines eigenen Kindes – das auch Lilis Kind war – als Vergeltung sah, als gerechte Strafe. Bei einem Christen wäre diese Einstellung verständlich gewesen, aber er war kein Christ. Er war nicht einmal ein richtiger Hindu. Seine Eltern hatten in dieser Hinsicht nichts für seine Erziehung [31] getan; sie selbst hatten ihren Glauben – bis auf einige wenige Äußerlichkeiten – schon vor seiner Geburt aufgegeben. Dennoch war ihm eine leise nachklingende Erinnerung des Blutes geblieben, die Überzeugung aller Orientalen, daß dieses Dasein nur eins von vielen auf dem großen Rad des Lebens ist und daß er eine Wiedergeburt als ein besser oder schlechter (in seinem Falle bestimmt schlechter) gestelltes Lebewesen zu erwarten hatte. Schon sah er sich als Bettler mit absichtlich verkrüppelten Gliedern am Hafen von Bombay um Almosen winseln. Daß er gleichzeitig von einer Vergeltung auf dieser Welt überzeugt war, paßte dazu eigentlich nicht so recht. Er sah den Tod seines Sohnes bei der Geburt durch eine Placenta praevia als gezielte Strafe, wenn er auch nicht hätte sagen können, wer sie ihm auferlegt hatte.

Auf dem Weg von der Entbindungsstation zu den Gebäuden der Allgemeinmedizin und Verwaltung, die freundlich-distanzierten Stimmen noch im Ohr, die ihm sanft, aber sachlich eröffnet hatten, daß sein Sohn tot war, während Lili schlief, mit Sedativa ruhiggestellt, hatte er aufgeblickt und Rufus Fletcher gesehen. Rufus trug einen weißen Kittel und ein Stethoskop um den Hals. Er ging sehr schnell – schneller als Shiva in die entgegengesetzte Richtung – von einem nach Labor aussehenden Haus mit hohen Fenstern und weißbekittelten männlichen und weiblichen Gestalten dahinter zum Haupthaus der Klinik. Er wandte Shiva den Kopf zu, streifte ihn mit einem gleichgültigen Blick und sah wieder weg. Rufus hatte wirklich nicht gewußt, wer er war, davon war Shiva überzeugt, er hatte ihn nicht als eines der anderen beiden [32] männlichen Mitglieder jener kleinen Gemeinschaft erkannt, die sich an die zwei Monate so nah gewesen war. Demnach, stellte Shiva einigermaßen überrascht fest, hatte Rufus tatsächlich sein Studium beendet und war Arzt geworden. Shiva wußte natürlich, daß Rufus sich dieses Ziel gesetzt hatte, daß er damals bereits seit drei Jahren studierte, daß er beträchtliche Kenntnisse und einen scharfen Verstand besaß – wer wollte das vergessen? –, aber er hatte wohl geglaubt, die anderen habe dasselbe Schicksal getroffen wie ihn, sie seien wie er einer tödlichen Lähmung anheimgefallen, die alle ehrgeizigen Bemühungen, alles Aufstrebende zunichte machte, ihn ängstlich in den Schatten hatte zurückweichen lassen. Nur wenn man sein Gesicht nicht zeigt, hatte er sich gesagt, nur wenn man sich duckt und in dunklen Winkeln haust, kann man hoffen, zumindest physisch unbeschädigt durchs Leben zu gehen. Offenbar waren die anderen nicht dieser Meinung, jedenfalls nicht Rufus, der flott und federnden Schrittes, mit hüpfendem Stethoskop, über den asphaltierten Hof ging und im Haupthaus verschwand, durch eine Tür mit der Aufschrift »Privat«, wie Shiva später feststellte, die er, den strikte Ruhe fordernden Schildern zum Trotz, lautstark hinter sich zuschlug.

Für Lili war es bei diesem einen Kind geblieben, vorläufig jedenfalls, sie war ja noch nicht dreißig, und eine Placenta praevia, hatten sie im Krankenhaus gesagt, war zwar ein bedauerliches Vorkommnis, brauchte sich aber nicht zu wiederholen, und falls das doch der Fall sein sollte, sei man beim nächsten Mal darauf vorbereitet. Shiva selbst drängte nicht. Das Viertel, in dem sie [33] wohnten, war übervölkert und ungesund, und daß die Arbeitslosigkeit dort nicht ganz so arg war wie in Nordengland, war auch schon alles, was man an Positivem darüber sagen konnte.

Ihre Straße hieß Fifth Avenue. Es ist in England nicht die Regel, Straßen mit Zahlen zu bezeichnen, aber es kommt doch hin und wieder vor. So gibt es nicht weniger als vierzehn First Avenues im Gebiet von London, zwölf Second Avenues, neun Third Avenues und drei Fourth Avenues. Die Fifth Avenue ist außerdem noch in West Kilburn und Manor Park vertreten, beide Bezirke besitzen auch eine Sixth, in Manor Park gibt es zusätzlich eine Seventh Avenue. Shivas Fifth Avenue war eine lange, gewundene, baumlose Straße, die steil abfiel und sich in Serpentinen wieder bergauf wand, obschon die Gegend sonst nicht sehr hügelig war. An der U-Bahn-Station war ein Ladenzentrum mit einem von Pakistanis betriebenen kleinen Supermarkt, einem von Zyprioten betriebenen griechischen Restaurant, einem ehemals eleganten Geschäft mit drei Schaufenstern, das nun Bau- und Ersatzteile für Motorräder verkaufte, und einem Zeitungsladen, dessen Besitzer auf Befragen harmlos erklärten, sie seien Farbige vom Kap. Auf der Mitte der Fifth Avenue, Ecke Pevsner Road, gab es noch ein kleines Lebensmittelgeschäft und ein Pub, den Boxer, und am anderen Ende der Straße einen Friseur und gegenüber ein Wettbüro. Dazwischen standen Reihenhäuser aus stumpfrotem oder khakigelbem Backstein, die jetzt alle zwischen siebenundneunzig und neunundneunzig Jahre alt sein mußten. Parallel zum Gehsteig erstreckte sich vom Zeitungsladen bis zum [34] Pub, vom Lebensmittelgeschäft bis zum Friseur eine Doppelreihe geparkter Autos. Wenn man mit halb zugekniffenen Augen hinsah, konnte einem der Vergleich mit einer Schnur bunter Perlen in den Sinn kommen.

Shiva betrat den Zeitungsladen. Zwei junge Jamaikaner lümmelten breit am Ladentisch, so daß Shiva nicht an die Zeitungen herankam. Leise verlangte er den Standard und reichte sein Geld zwischen den weit auskragenden Ellbogen hindurch. Er wollte keine Scherereien haben. Hier richtete sich der Haß gegen die Inder, nicht gegen die Weißen. Allerdings gab es auch nicht mehr viele Weiße hier, nur noch ein paar ganz Alte, die nicht hätten wegziehen können, selbst wenn sie gewollt hätten.

Lili war draußen bei den Koffern stehengeblieben. Er fand es sehr mutig, daß sie Saris trug und in indischen Geschäften kaufte und Bengalisch lernte, denn all das machte sie auffällig. Sie hätte ohne weiteres als Weiße durchgehen können. Nur die Augen, von einem typischen dunklen Bläulich-Braun, das Weiße des Auges etwas vorstehend und ebenfalls bläulich schimmernd, verrieten sie. Doch so genau sahen die Leute schließlich nicht hin, und überhaupt: Sie waren hier in London und nicht im Johannesburg der fünfziger Jahre. Ja, sie hätte als Weiße durchgehen können, und er hatte es ihr immer wieder nahegelegt, hatte sie förmlich beschworen. Aber das sei nun mal ihre Identität, hatte sie gesagt, es sei alles, was sie besitze, und sie malte sich nach wie vor ein Kastenzeichen auf die Stirn, das ihr nicht zustand, trug ihre goldenen Armbänder und kochte sag ghosht und dal, statt Hamburger und Fritten aus der Tiefkühltruhe zu holen wie die meisten [35] Leute hier. Er griff nach den Koffern, sie nahm das Handgepäck, und sie gingen nach Hause, vorbei an drei Schwarzen, die sie stumm und feindselig anstarrten, und zwei älteren weißen Frauen, die sie keines Blickes würdigten.

Lili würde sofort anfangen auszupacken, würde die getragene Garderobe nach hellen und dunklen Sachen sortiert in Plastiksäcke stecken und in den Waschsalon in der Pevsner Road bringen. Es wäre sinnlos gewesen, ihr das auszureden, sie hatte doch keine Ruhe, wenn schmutzige Wäsche in der Wohnung lag. Solange sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr draußen herumlief, war dagegen wohl auch kaum etwas zu sagen. An einem sonnigen Septembernachmittag konnte ihr auf dem Weg zwischen Wohnung und Waschsalon wenig passieren, und Mrs.Barakhda, die den Waschsalon betrieb, war ihre Freundin – oder zumindest die beste Bekannte, die Lili hatte.

Er machte ihr eine Tasse Tee, während sie die Wäsche sortierte, die Koffer zuklappte und in dem Schrank unter der Treppe verstaute. Immerhin hatten sie ein ganzes Haus mit drei Schlafzimmern. Die meisten Häuser in diesem Viertel waren in zwei Wohnungen aufgeteilt, zwei Haustüren quetschten sich unter das winzige Vordach. Er bot ihr an, die Wäschesäcke für sie zu tragen, aber davon wollte sie nichts wissen. Reaktionär wie sie war – denn Lilis Mutter war eine feministische, unabhängige Frau – vertrat sie die Ansicht, daß Männer wohl Koffer, nicht aber Wäschesäcke tragen durften.

Er schenkte sich noch eine Tasse Tee ein und nahm sich die Zeitung vor.

[36] Ein großes Foto zeigte die Prinzessin von Wales beim Besuch eines Heims für behinderte Kinder. Der Leitartikel handelte von Unruhen im Nahen Osten, ein weiterer Artikel berichtete über Rassenkrawalle in Westlondon, Straßenschlachten und eingeschlagene Schaufensterscheiben. Shivas Blick wanderte nach unten, blieb an einer Schlagzeile am Ende einer der Spalten auf der linken Seite hängen. Für den dazugehörigen Text – einen einzigen Absatz – war es eine unverhältnismäßig große Schlagzeile, sie störte die Symmetrie der Seite.

»Skelett im Waldgrab gefunden« lautete die Schlagzeile, und darunter stand: »Beim Ausheben eines Grabes für seinen toten Hund legte ein Grundbesitzer aus Suffolk, Eigentümer eines Hauses bei Hadleigh, ein menschliches Skelett frei. Es scheint sich um die sterblichen Überreste einer jungen Frau zu handeln. Jeden weiteren Kommentar lehnte die Polizei zunächst ab, und Mr.Alec Chipstead, vereidigter Immobiliensachverständiger, stand für Fragen nicht zur Verfügung.«

Shiva las den Text zweimal. Eigenartig formuliert, dachte er, aber diesen Eindruck hatte er bei den meisten Meldungen und Artikeln aus der Zeitung. Meistens wußten die Presseleute wenig, aber dieses Wenige brachten sie so orakelhaft wie möglich, um dem Leser Appetit auf mehr zu machen und seine Lust auf Spekulationen zu wecken. So ging aus der Meldung zum Beispiel nicht hervor, ob der Grundbesitzer und Mr.Alec Chipstead ein und dieselbe Person waren – obschon das offenbar gemeint war.

Shiva spürte, daß ihm Schweiß im Gesicht, auf [37] Oberlippe und Stirn stand. Er wischte ihn mit seinem Taschentuch weg, schloß die Augen, machte sie wieder auf, schaute sich langsam im Zimmer um und sah dann wieder auf das vor ihm liegende Zeitungsblatt, als habe er geträumt oder phantasiert. Natürlich war der Text noch da.

Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dachte Shiva, nachdem der erste Schreck sich gelegt hatte, daß eine Verbindung zwischen diesem Fund und Troremmos besteht. Der einzige gemeinsame Nenner war Suffolk, und er erinnerte sich genau, daß es bei seiner ersten Fahrt nach Nunes eine Debatte darüber gegeben hatte, ob der Ort in Suffolk oder in Essex lag. Durch die Verwischung der Verwaltungsgrenzen, die damals begonnen hatte, war es immer wieder zu Unregelmäßigkeiten gekommen, so konnte beispielsweise ein Hausbesitzer als Postanschrift Essex angeben, mußte aber seine Kommunalsteuern an den Grafschaftsrat von Suffolk entrichten. Adam Verne-Smith war es so gegangen.

Im übrigen stimmte das mit dem einzigen gemeinsamen Nenner nicht ganz, denn da war ja noch die Leiche. Die Leiche der jungen Frau. Ich muß abwarten, was sie weiter berichten, dachte Shiva, ich muß es auf mich nehmen und warten.

Seine Patientin war an die Fünfzig, eine gutaussehende, hochgewachsene Frau, sehr gut gekleidet. Sie hatte ihr teures Ensemble – er tippte auf Jasper Conran – wieder angezogen und hinter dem Wandschirm den Lippenstift aufgefrischt. Er hatte gerade einen Abstrich bei ihr gemacht.

[38] »Sieht sehr ordentlich aus in Ihrem Innenleben«, sagte er lächelnd.

Auch die Sprechstundenhilfe lächelte, sie hatte gut lächeln, denn schließlich war sie zwanzig Jahre jünger und konnte sich, falls nötig, bei gynäkologischen Problemen von Dr.Fletcher kostenlos versorgen lassen.

Das sei ja sehr erfreulich, meinte Mrs.Strawson. Sie wirkte locker und entspannt. Rufus bot ihr eine Zigarette an. Eine der zahlreichen Eigenschaften, die seine Patientinnen an ihm schätzten – neben gutem Aussehen, Charme, Jugend, Jungenhaftigkeit und der Tatsache, daß er mit ihnen wie mit gleichberechtigten Partnerinnen umging – war sein Unvermögen, sich das Rauchen abzugewöhnen.

»Ich begehe eine der schlimmsten Sünden, die es gibt«, pflegte er zu sagen. »Ich bin Arzt, und ich rauche. Es heißt, daß jeder aus unserer Gilde für die Tabakindustrie jährlich fünfzigtausend Pfund an Anzeigengeldern wert ist.«

Woraufhin sich bei der Patientin – besonders wenn sie nicht rauchte – sogleich Mitleid und mütterliche Gefühle einzustellen pflegten. Der arme Junge, dieser ständige Streß, er arbeitet so schwer, es ist doch klar, daß er etwas braucht, woran er sich festhalten kann. Mrs.Strawson inhalierte genüßlich. Es war ihr erster Besuch bei Rufus Fletcher in der Wimpole Street, und sie war sehr froh, daß sie der Empfehlung ihrer Freundin gefolgt war.

»Wie steht es mit der Verhütung? Würden Sie mir sagen, welche Methode Sie benutzen?«

Nach dieser schmeichelhaft-diskreten Andeutung, daß [39] sie sich noch auf der Höhe ihrer fruchtbaren Jahre befand, hätte Mrs.Strawson ihm mit Freuden alles gesagt, was er von ihr verlangte. Als sie von einem uralten Pessar erzählte, das sie sich vor zwanzig Jahren hatte einsetzen lassen und an das seither niemand gerührt hatte, mußten sie alle noch einmal lachen. Er wolle es sich aber doch mal ansehen, meinte Rufus. Sicherheitshalber.

Mrs.Strawson entledigte sich erneut des Jasper Conran-Ensembles und stieg auf den gynäkologischen Stuhl. Rufus tastete sie ab. Er konnte beim besten Willen nicht feststellen, ob das Ding – es sieht aus wie ein griechisches Alpha, hatte sie zu seiner Überraschung erklärt – noch da war oder nicht. Seine Gedanken gingen zu dem Standard, den er zusammengelegt und ins oberste Schreibtischfach gestopft hatte, als ihm Mrs.Strawson gemeldet wurde. Es konnte nicht um die Dinge gehen, die vor zehn Jahren passiert waren. Ausgeschlossen! Hätte es sich um das bewußte Haus, die bewußte Tote gehandelt, wäre doch bestimmt nicht von einem Grab im Wald die Rede gewesen, sondern von einem Grab auf einem Tierfriedhof, so etwas konnte doch kein Mensch verwechseln. Rufus hatte offenbar vergessen, wie oft er die Schlamperei der Presse gegeißelt, wie oft er zu Marigold gesagt hatte, man könne kein Wort von dem glauben, was diese Burschen schrieben. Sie möge sich wieder anziehen, bat oder vielmehr ersuchte er Mrs.Strawson mit verbindlichster Höflichkeit.

»Wenn wir versuchen würden, es herauszunehmen«, sagte er zu ihr, »müßten wir das unter Narkose machen, und darauf sind Sie bestimmt nicht scharf, wie? Es tut [40] Ihnen nicht weh, im Gegenteil, es scheint ja sehr brav seine Pflicht getan zu haben. Ich würde vorschlagen, daß wir es drinlassen, damit es sein gutes Werk fortsetzen kann.«

Manchmal überlegte er, wie erstaunt, ja, wie entsetzt viele Frauen wären, wenn sie wüßten, daß diese Intrauterinpessare im Grunde keine Kontrazeptiva, sondern Abortiva waren. Ehe das Pessar zum Einsatz kommen konnte, mußte schon eine Empfängnis stattgefunden, mußten Ei und Sperma sich in einem Eileiter vereinigt haben, mußten die sich vermehrenden Zellen in den Unterleib gewandert sein, um sich ein Heim, einen Ankerplatz zu suchen, den ihnen die alphaförmige Schlinge vorenthielt, so daß die winzigen Ansätze eines Embryos vergeblich umherschwammen, bis sie schließlich ausgestoßen wurden. Die moralische Seite des Problems kratzte Rufus nicht, er fand das Thema an sich fesselnd, hütete sich aber, seinen Patientinnen gegenüber je ein Wort darüber verlauten zu lassen. Seiner Frau Marigold hätte er selbstverständlich nie gestattet, einem solchen Fremdkörper Heimatrecht in ihrem Leib zu geben, ebensowenig wie er ihr die Pille genehmigte oder gar eine dieser sogenannten reversiblen Tubenligaturen bei ihr hätte machen lassen. In seinem Bett in Mill Hill nahm Rufus einen Gummi oder betrieb coitus interruptus, den er, wie er fand, recht artig beherrschte.

»Das wäre dann alles, Mrs.Strawson«, sagte er, »vielen Dank, wegen des Abstrichs bekommen Sie Bescheid.« Er begleitete sie bis zum Schreibtisch im Vorzimmer, wo das Honorar von 40Pfund kassiert wurde. Sie schüttelten sich die Hand, und Rufus wünschte ihr eine gute Heimfahrt [41] nach Sevenoaks, um diese Zeit war es wohl mit den Staus noch nicht so arg. Er wußte sehr wohl, daß Ärzten seines Typs oft vorgeworfen wurde, sie verströmten ihren Charme nur an die barzahlenden Privatpatientinnen, während sie ihre Kassenpatientinnen, bei denen nur der Staat abkassierte, wie defekte Maschinen behandelten. Er wußte um diese Praktiken, mißbilligte sie im Prinzip und hatte nach seiner Niederlassung zunächst versucht, sich davon freizuhalten, was ihm aber nicht gelungen war. In diesem von einer Zweiklassengesellschaft geprägten Land war er nicht prominent genug, um den gerechten Kampf zu kämpfen. Im Krankenhaus mit seinem Strom ambulanter Patientinnen und den Kassenpatientinnen auf den Stationen war er so eingespannt, so gehetzt und überlastet, waren die Frauen so unterwürfig, so unwissend oder auch nur so verdrossen, daß er seine hehren Grundsätze vergaß. Hinzu kam natürlich, daß sie keine gepflegte Aussprache hatten und keine Gold Card vom American Express in Etienne-Aigner-Handtaschen herumtrugen. Die beiden Frauentypen schienen verschiedenen Gattungen anzugehören, Schwestern nur unter dem Schlüpfer, der bei den einen von Janet Reger, bei den anderen von den British Home Stores kam. In der medizinischen Betreuung machte Rufus letztlich keinen Unterschied. Seine besondere Fürsorge galt seiner Frau – und nicht den Mrs.Strawsons dieser Welt.

Sie war an diesem Tag seine letzte Patientin. Um diese Zeit startete er sonst seine Entspannungsphase. Was immer er seinen Patientinnen in knabenhaft-verlegenem Ton anvertrauen mochte – in Wirklichkeit hatte er seine [42] Rauchgewohnheiten streng unter Kontrolle; seine Ration betrug zehn bis fünfzehn Zigaretten pro Tag. Am Nachmittag, nachdem die letzte Patientin gegangen war, erlaubte er sich zwei, dabei las er dann die Abendzeitung, ehe er seine Praxis verließ und an der Bond Street in die U-Bahn stieg.

Heute hatte die Meldung, die er vor Mrs.Strawsons Ankunft gelesen hatte, ihm diese gewöhnlich so genußreiche halbe Stunde verdorben. Seine Sprechstundenhilfe hatte die Zeitung von der Mittagspause mitgebracht, das Blatt hatte während der Konsultation der beiden vorhergehenden Patientinnen auf dem Couchtisch gelegen. Weil Mrs.Strawson sich um fünf Minuten verspätet hatte – was er anstandslos schluckte, wohingegen er eine unpünktliche Kassenpatientin wieder weggeschickt hätte –, hatte er nach dem Standard gegriffen und den kurzen Artikel entdeckt.

Die halbe Stunde war verdorben, aber Rufus war ein disziplinierter Mensch. Er hätte es mit seinen dreiunddreißig Jahren nicht so weit gebracht, wenn er sinnlosen Spekulationen und neurotischer Selbstbespiegelung nachgegeben hätte. Daß er sich nach einer derart traumatischen Erfahrung so erfolgreich, so glänzend erholt hatte, war eine beachtliche Leistung. Er hatte sich einer selbstverordneten Therapie unterzogen, hatte sich allein in ein Krankenhauszimmer gesetzt und laut über die bewußten Vorfälle gesprochen. Er war Therapeut und Patient zugleich gewesen, hatte, um schonungslose Offenheit bemüht, die Fragen gestellt und die Antworten geliefert, hatte vor den kahlen Wänden, dem Metalltisch, dem Drehstuhl aus [43] schwarzem Leder, dem Fenster mit dem halb heruntergelassenen dunkelblauen Rollo von der Scham und dem Widerwillen gesprochen, dem schleichenden Selbstekel, der Lichtscheu, der Angst, die manchmal verzweifelt mit den Flügeln gegen Gitterstäbe in seinem Kopf zu schlagen schien.

Es hatte geholfen – bis zu einem gewissen Grade. Dieser Kram (wie er es bei sich nannte) hilft oft bis zu einem gewissen Grade, doch ist die Grenze meist ziemlich niedrig angesetzt. Spuck alles aus, dann bist du es los – na schön, das ist im Prinzip richtig, aber niemand kann dir sagen, warum es manchmal zu dir zurückkommt. Bei Rufus war manches zurückgekommen, und dann blieb nichts als Verdrängung und verbissene Arbeit. Die Zeit, beste aller Ärzte, wenn sie den Menschen auch letztlich unter die Erde bringt, hatte mehr vermocht als jede Therapie, und jetzt vergingen Tage, manchmal Wochen, ohne daß Rufus an Troremmos dachte. Oft war er es lange los und konnte vergessen. Der Assoziationsvorgang lief bei ihm nicht ganz so ab wie bei seinem vormaligen Freund Adam Verne-Smith, denn Adam war Philologe, er hingegen Naturwissenschaftler. Griechische oder spanische Namen weckten bei ihm keinerlei Erinnerung. Troremmos war ja nicht Griechisch und klang für Rufus, der im Gegensatz zu Adam kein Humanist war, auch nicht danach. Auch plagten ihn keine neurotischen Ängste, wenn es um Babys ging. Das wäre nicht günstig gewesen für einen Mann, von dem die Frauen ständig wissen wollten, ob sie ein Baby bekamen oder wie man es anstellen mußte, eins zu kriegen oder zu verhindern, daß man eins kriegte. [44] Da hatte er nun diese Troremmos-Sache glücklich fest im Griff und hegte die durchaus berechtigte Hoffnung, nie wieder in Worten oder Gedanken darauf zurückkommen zu müssen – und plötzlich kam diese Zeitungsmeldung!

Wenn das Haus, von dem sie berichteten, Wyvis Hall war, warum hatten sie es dann nicht hingeschrieben? Warum hatten sie nicht »bei Nunes« geschrieben statt »bei Hadleigh?« Es lag tatsächlich näher an Nunes als an Hadleigh, um viereinhalb Kilometer näher, allerdings war Hadleigh eine Stadt und Nunes nur ein sehr kleines Dorf. Bei Hadleigh gab es viele Häuser in der Art von Wyvis Hall, und für die Presse war jeder, dem ein paar Morgen Land gehörten, ein »Grundbesitzer«. Vielleicht war es gar nicht mal so ungewöhnlich, daß auf solchen Grundstücken menschliche Gebeine ans Licht kamen. Am Ende waren es archäologische Funde…

Die einzige greifbare Tatsache, die man dem Standard entnehmen konnte, war der Name des derzeitigen Besitzers: Alec Chipstead, vereidigter Immobiliensachverständiger. Rufus drückte seine zweite Zigarette aus, steckte die Zeitung in die Aktentasche und hängte sich den prachtvollen schwarzen Ledermantel von Beltrami über die Schultern, den er in Florenz erstanden hatte und in dem er wie ein Gangster ausgesehen hätte, wäre nicht sein Haar so hell und sein Gesicht so frisch und wären nicht die blauen Augen so englisch gewesen.

Er wünschte der Sprechstundenhilfe und der Sekretärin eine gute Nacht und ging über die Wigmore Street in Richtung Henrietta Place. Man könnte in eine öffentliche Bücherei gehen, dachte er, da haben sie alle Telefonbücher [45] des Landes, man könnte nachsehen, ob Alec Chipstead auf Wyvis Hall wohnt. Möglicherweise gibt es so was hier ganz in der Nähe. Jetzt wird nicht nach Büchereien gesucht, rief Rufus sich zur Ordnung, jetzt fährst du erstmal nach Hause, und dabei kannst du dir immer noch überlegen, was du machst. Irgendwie hatte er in Erinnerung, daß Büchereien am Donnerstagabend länger geöffnet waren.

Bewußt dachte er an etwas anderes. Bücherei hin, Bücherei her, er würde Marigold zum Abendessen ausführen. Irgendwo in Hampstead, vielleicht konnte er dann mal eben in die große Bibliothek bei Swiss Cottage… Schluß damit. Beim Essen würden sie den Umzug erörtern. Rufus hatte das Gefühl, daß er Mill Hill entwachsen war, es wurde Zeit, sich in Hampstead umzutun. Er wußte wohl, daß es Marigold eigentlich nach Highgate zog, aber trotz Therapie, trotz bestens funktionierender Selbstkontrolle zuckte er vor Highgate zurück. In diesen Wohnvierteln war es im Grunde wie auf dem Dorf, man kannte die Nachbarn und traf sich auf Partys. Als Akademiker aus dem Mittelstand lief man immer denselben Leuten aus seinen Kreisen über den Weg. Wenn er nun den Ryemarks begegnete oder gar Robin Tatian? Undenkbar!

Ein Haus in Hampstead bedeutete eine Hypothek in astronomischer Höhe. Na wenn schon… Nimm dir, was du willst, genieße, was du magst, irgendwie kommt dein Einkommen schon hinterher. Das hatte er mal irgendwo gelesen. Er war nicht schlecht dran, jeden Monat kamen neue Patientinnen hinzu, es würde nicht mehr lange dauern, dann waren seine Kapazitäten erschöpft.

[46] Er fuhr mit der Central Line bis zur Tottenham Court Road und dann mit der Northern Line nach Colindale, wo sein Wagen stand. Rufus erwischte seinen Zug, noch ehe die Rushhour eingesetzt hatte. Und dann passierte etwas, was ihn immer wieder freute: Seine Frau machte die Haustür auf, als er gerade den Schlüssel ins Schloß stecken wollte.

Marigold, die Ringelblume. Der Name paßte zu ihr. Sie war groß und blond und üppig, mit roten Wangen und rotem Mund und weißen Zähnen, will sagen: Sie sah Rufus sehr ähnlich. Man hätte sie wenn nicht für Zwillinge, so doch für Geschwister halten können. Rufus gehörte zu jenen Menschen, die den eigenen Typ am schönsten finden und die sich ihre Partner deshalb nach eben diesem Typ suchen. Als er Marigold noch nicht lange kannte, waren sie eines Abends in die Walküre gegangen, und er hatte hinterher spontan zu ihr gesagt: »Die Brünhilde war falsch besetzt, sie hätte aussehen müssen wie du.«