Außenseiter - Elias J. Connor - E-Book
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Elias J. Connor

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Beschreibung

Ellis ist ein trauriger Junge - gefangen in seinen Tagträumen, alleine gelassen und geschlagen von seiner Familie, gehänselt und gemobbt in der Schule. Es scheint, niemand hört ihm zu und niemand hat Anteil an seinen Ängsten und seiner Traurigkeit. Eines Abends begegnet ihm das gleichaltrige Mädchen Natalie. Sie gibt ihm das Gefühl, endlich eine wahre Verbündete zu haben. Natalie nimmt Ellis mit auf Fantasiereisen und ermöglicht ihm, wieder schöne Träume zu haben und trotz seiner traurigen Situation glücklich zu sein... bis Ellis eines Tages feststellt, dass Natalie nicht echt ist, sondern nur eine imaginäre Figur. Als Ellis nach einem verheerenden Vorfall in der Familie im Heim landet, lernt er dort ein reales Mädchen kennen, welches Natalie bis aufs Haar gleicht. Sie scheint sein Leben zu verändern. Kann Ellis seinen Weg jetzt finden und sich seinen Prüfungen besser entgegenstellen? (Neuversion von THE STORY OF ELLIS BAXTER)

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Elias J. Connor

Außenseiter

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Kapitel 1 - Traum oder Wirklichkeit?

Kapitel 2 - Ellis hat Geburtstag

Kapitel 3 - Im Schwimmbad

Kapitel 4 - Die schlechte Note in Deutsch

Kapitel 5 - Die Nacht woanders

Kapitel 6 - Warum musst du gehen, Natalie?

Kapitel 7 - Karens Freunde

Kapitel 8 - Cereon

Kapitel 9 - Ist Natalie wirklich da?

Kapitel 10 - Gedemütigt

Kapitel 11 - Herbstferien

Kapitel 12 - Natalie spricht wieder

Kapitel 13 - Der geheime Clan

Kapitel 14 - Die Flucht

Kapitel 15 - Krieg im Haus Cereon

Kapitel 16 - Gewinner und Verlierer

Kapitel 17 - Die ersten Worte nach langer Zeit

Kapitel 18 - Bei Natalie zu Hause

Kapitel 19 - Zurück auf Cereon

Kapitel 20 - Brenne, Tagebuch, brenne

Kapitel 21 - Weihnachten in Miami

Kapitel 22 - Wir bleiben Freunde für immer

Kapitel 23 - Der erste Albtraum nach 2 Jahren

Kapitel 24 - Das Jugendzentrum

Kapitel 25 - Das Lied der Feen

Kapitel 26 - So finster wie die Nacht

Kapitel 27 - Der Boss der coolen Clique

Kapitel 28 - Bilder aus der Vergangenheit

Kapitel 29 - Innigkeit

Kapitel 30 - Natalies Schwur

Kapitel 31 - Wird sie sterben?

Kapitel 32 - Gegen den Strom

Kapitel 33 - Wo ist Natalie?

Kapitel 34 - Die Erinnerung an die Austausch-Schüler

Kapitel 35 - So weit, wie die Flügel dich tragen

Kapitel 36 - Nadjas Worte

Kapitel 37 - Ellis und Nadja

Kapitel 38 - Natalies Bekenntnis

Kapitel 39 - Wieder Bilder aus der Vergangenheit

Kapitel 40 - Willst du nicht mehr leben?

Kapitel 41 - Zurück im Heim Cereon

Kapitel 42 - Neuanfang in einer anderen Stadt

Impressum

Widmung

Für Nadja.

Dieses ist das erste Buch von mir, das du gelesen hast.

Deine Inspiration machte es zu dem, was es wurde.

Danke.

Für Jana.

Meine Freundin. Meine Muse.

Danke, dass du da bist und ich dir immer wieder Geschichten erzählen darf.

Kapitel 1 - Traum oder Wirklichkeit?

Der Junge stand am Abgrund eines riesigen Berges. In der Ferne hörte er, wie ein Gewitter heran rauschte. Der Horizont war verhangen von Wolken, und Blitze zuckten aus ihnen heraus.

Er hatte keine Angst. Normalerweise hatte er Angst vor dem Donner, weil der so laut war. Aber Ellis stand einfach da und sah zu, wie das Gewitter langsam näher kam. Er hatte keine Ahnung, warum es ihn nicht bange machte.

Wieder zuckte ein Blitz aus den Wolken. Diesmal war es deutlich näher, denn der Donner hallte kaum 4 Sekunden danach durch die Gegend.

Ellis stand da uns atmete aus. Als er an sich herunter sah, sah er, dass er nichts trug als eine Schlafanzughose. Er fuhr sich mit der Hand durch seine braunen Locken und schüttelte seinen Kopf.

Und eine Brise umspielte Ellis’ Haut.

„Ellis“, machte plötzlich eine sanfte Stimme.

Ellis drehte sich um.

Aber da war niemand.

Wieder ein Blitz und darauf gleich ein Donner. Jetzt war das Gewitter direkt über ihm.

Aber Ellis hatte noch immer keine Angst. Mochte der Blitz noch so stark sein. Mochte der Donner noch so laut sein.

Auf einmal bebte die Erde. Ellis merkte, dass der Berg, auf dem er stehen musste, anfing zu wackeln. Einige Steine bröckelten den Abgrund hinunter, vor dem Ellis stand.

Ellis sah hin.

Aber er hatte noch immer keine Angst.

„Flieg, Ellis, flieg“, sagte wieder diese Stimme, die er eben schon hörte.

Ellis drehte sich erneut um… und dann sah er auf einmal in das Gesicht eines Mädchens. Sie hatte lange, braune Haare, trug ein weißes Nachthemd und hatte große, braune Augen, mit denen sie Ellis lächelnd ansah.

„Flieg, Ellis, flieg“, hauchte sie wieder.

Und dann mit einem Mal krachte es gewaltig, und ein Blitz schlug in den Berg ein, der daraufhin in tausend Teile zersprang, und ehe sich Ellis versehen konnte, schwebte er mit dem Mädchen zusammen in der Luft, und unter ihnen erstreckten sich die Ausläufer von Frankfurt, der Stadt, in der Ellis wohnte.

„Was geschieht hier?“, fragte Ellis. „Träume ich?“

„Wer weiß?“, meinte das Mädchen.

Und dann nahm sie Ellis an die Hand, und beide flogen wie Superman über die Stadt.

„Warum können wir fliegen?“, wollte Ellis wissen.

„Wir können alles, was du dir wünschst“, sagte das Mädchen ruhig.

„Wohin fliegen wir?“, fragte Ellis.

„Wohin möchtest du?“, fragte das Mädchen zurück.

Ellis blickte über die Dächer der Häuser.

„Da vorne ist meine Schule“, sagte er dann auf einmal.

„Gut“, sagte das Mädchen. „Sehen wir sie uns mal an.“

Ellis und das Mädchen landeten dann schließlich auf einem großen Hof, in dessen Mitte eine alte Eiche stand, um diese mehrere Sitzbänke angebracht waren. Das Gebäude war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Es war geformt wie ein U und erstreckte sich um den Hof herum und war offen nach der Seite, wo die Parkplätze waren.

„Wer bist du?“, fragte Ellis dann das Mädchen.

Das Mädchen lächelte ihn an, aber sie wollte nicht auf seine Frage eingehen. „Es ist niemand hier“, sagte sie stattdessen. „Sollen wir mal reingehen? Ich würde gerne mal deinen Klassenraum sehen.“

Ellis lief dann mit dem Mädchen zum Eingang, der in den hinteren Trakt des Gebäudes führte. Als er versuchte, die Türe, die er abgeschlossen vermutete, zu öffnen, ging sie tatsächlich auf.

„Es ist so dunkel hier“, sagte Ellis. „Ich sehe nichts.“

„Kein Problem“, sagte das Mädchen. „Ich kann machen, dass es morgens ist.“

Mit einem Mal… ging in Sekundenschnelle die Sonne auf. Das Unwetter, welches längst schon verschwunden war, war nicht mehr zu spüren, und das Tageslicht leuchtete in den großen Innenraum, der zu den anderen Fluren führte, wo die Klassenräume waren.

„Wie hast du das gemacht?“, wollte Ellis wissen. „Es war doch eben noch Nacht…“

Das Mädchen lächelte.

„Du musst eine Fee sein oder so was“, stellte Ellis fest.

„Vielleicht deine Fee“, hauchte das Mädchen.

Und auf einmal ertönte die Schulglocke. Es war große Pause.

Und dann, in der nächsten Sekunde… huschten zig Kinder – sicher Hunderte – aus den Klassenräumen heraus in den großen Flur.

Ellis zitterte, denn er hatte ja nur eine Schlafanzughose an. Was, wenn die anderen ihn so sehen würden?

„Hab keine Angst“, sagte das Mädchen, als sie Ellis an die Hand nahm. „Sie können uns nicht sehen. Zeigst du mir jetzt deine Klasse?“

„Es ist die 6 a“, sagte Ellis.

Dann führte er das Mädchen in den unteren Flur. Dort gab es drei Türen. Die hinterste, das war der Klassenraum von Ellis’ Klasse.

Er und das Mädchen gingen hinein.

Im Raum waren zwölf Tische so gestellt, dass sie alle zum Schreibtisch und der Tafel zeigten. Schultaschen standen unterhalb der Tische. Und Mäppchen und Schreibhefte lagen auf den Tischen.

„Wo sitzt du?“, sagte das Mädchen.

Ellis lief zu seinem Platz in der vorletzten Reihe.

„Sitzt jemand neben dir?“, fragte das Mädchen dann.

Und Ellis schüttelte seinen Kopf.

Und schließlich entdeckte das Mädchen etwas, was an der Tafel stand. Sie las: „Ellis Baxter ist eine Schwester. Keiner vermisst dich, also verpiss dich.“

„Ellis, was bedeutet das?“, wollte das Mädchen wissen.

Und mit einem Mal klingelte es wieder… und in der nächsten Minute kamen die Kinder wieder herein in den Klassenraum.

„Komm“, sagte das Mädchen.

Und gerade, als sie zur Türe gehen wollten… sah Ellis sich selbst. Er und das Mädchen schienen nur Beobachter zu sein, und der richtige Ellis lief langsam mit gesenktem Kopf zu seinem Platz und setzte sich hin.

„Mädchen“, sagte ein Junge zu ihm. „Alice im Wunderland“, sagte ein anderer Junge, der Ellis gleich darauf ins Gesicht schlug.

Ellis wehrte sich nicht. Er blieb still sitzen und schaute nach unten.

„Ich bin ein Außenseiter“, flüsterte der Ellis in Schlafanzughose zu dem Mädchen, mit dem er hier war. „Sie mobben mich.“

„Das dachte ich mir“, sagte das Mädchen mitfühlend. „Komm, gehen wir nach draußen.“

In der Morgensonne war es relativ warm, fast zu warm für Ende Juni.

„Morgen ist mein Geburtstag“, sagte Ellis traurig. „Keiner von ihnen wird kommen.“

„Bist du sicher?“

Ellis schnaufte aus. „Vielleicht kommt Alexander“, sagte er. „Er ist neben mir der Zweit-Unbeliebteste der Klasse. Aber er wusste noch nicht, ob er kommen kann.“

„Wer kommt sonst noch?“, fragte das Mädchen.

„Meine Schwester hat noch ein paar ihrer Freundinnen eingeladen“, antwortete Ellis. „Aber eigentlich hab ich gar keine Lust auf eine Feier.“

„Komm“, sagte das Mädchen. „Sehen wir uns mal dein Zuhause an.“

Daraufhin nahm sie Ellis wieder bei der Hand, und sie flogen hoch in die Lüfte. Sie flogen über die Dächer der Innenstadt hinweg, flogen über die Hügel von Seckbach, bis sie an Ellis’ Wohnsiedlung in Bergen-Enkheim ankamen. Dort gab es an den Hängen ein seltsam geformtes, gelbes Terrassenhaus.

„In der obersten Etage wohne ich“, sagte Ellis.

Sie landeten auf Ellis’ Balkon. Die Türe zum Inneren von Ellis’ Zimmer stand offen, und er und das Mädchen gingen hinein.

In Ellis’ Zimmer standen ein Einzelbett, ein Schreibtisch, und ein Nachtschrank, auf dem eine kleine Musikanlage war. An der Wand waren zwei Regale mit Büchern und Disney-Comicheften, die Ellis so gerne las.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte das Mädchen schließlich, nachdem es den Raum ansah. „Aber ich komme gerne wieder.“

Daraufhin legte die Fremde ein kleines Buch auf den Schreibtisch, bevor sie sich zum Balkon begab.

„Warte“, sagte Ellis. „Ich weiß doch nicht, wie ich dich nennen soll. Wie ist dein Name?“

Das fremde Mädchen lächelte und flog dann los.

Und in der nächsten Sekunde wurde es Ellis kurz schwarz vor Augen. Als er seine Augen wieder öffnete, merkte er, dass er in seinem Bett lag.

Er atmete heftig.

Er sah auf die Uhr, die auf seinem Nachtschränkchen stand. Sie zeigte den 24. Juni an, morgens um halb sieben.

Ellis zitterte.

„Heute habe ich Geburtstag…“, flüsterte er leise zu sich selbst.

Langsam stand er auf und ging zu seinem Schreibtisch… und dort lag das kleine, schwarze Buch, welches das fremde Mädchen eben dort hingelegt hatte.

Ellis schlug es auf…

Und er las, was drin stand: „Alles Gute zum Geburtstag wünscht dir deine Freundin Natalie.“

„Natalie“, flüsterte Ellis leise. „Dann war es kein Traum…“

Kapitel 2 - Ellis hat Geburtstag

Ellis klappte das Buch zu und legte es in seine Tasche, die für die Schule schon fertig gepackt war. Dann stapfte er langsam die Treppe hinauf, die zum Esszimmer führte. Als er die Türe aufmachte, saßen seine Mutter Meredith und sein Vater Joseph schon am Esstisch. Karen, seine Schwester, war noch im Badezimmer und blockierte es, wie jeden Morgen, bis fünf Minuten vor der Abfahrt in die Schule, so dass Ellis nur Minuten hatte, sich zu waschen, zu bürsten und die Zähne zu putzen.

„Herzlichen Glückwunsch, Ellis Baxter“, sagte Joseph.

„Oh, mein Kleiner hat Geburtstag“, sagte Meredith und stürmte auf Ellis zu. Dann begann sie, ihn im ganzen Gesicht abzuknutschen und überhäufte ihn mit Küssen. Angewidert wandte Ellis sich ab.

„Nicht!“, rief er aus.

„Du bist jetzt 13 Jahre alt“, sagte Meredith. „Aber du wirst nie groß. Du musst mir versprechen, dass du für immer mein kleiner Junge bleibst, und dass du für immer hier wohnen bleibst. Weißt du, deine Schwester ist 11, und sie zieht sicherlich in einigen Jahren aus. Aber du bleibst für immer hier bei Mama wohnen, mein Kleiner.“

Ellis schnaufte aus.

Es wunderte ihn schon nicht mehr, dass sein Vater nichts gegen die Attacken seiner Mutter machte. Vielleicht hatte er sie schon aufgegeben. Ellis wusste, dass seine Mutter sehr sonderbar war, seit sie immer diese Tabletten nahm. Er wusste auch, dass sie ihn immer schlug, wenn er nicht parierte oder sich gegen seine anscheinend überfürsorgliche Art stellte. Und er wusste, dass Meredith ihm die Schuld dafür gab, dass sie so war wie sie war.

Karen.

Immer war es Ellis, wenn Karen weinte oder ihn ärgerte oder ihn sonst wie drangsalierte. Karen drehte es immer so, dass Ellis am Ende als der Schuldige da stand. Und dass seine Mutter sich dann überfordert fühlte und Tabletten nahm und Ellis schließlich dafür die Schuld gab.

In seiner Familie – weder bei seinem Vater, noch bei seiner Schwester oder bei seiner sowieso überforderten Mutter, die ihn grenzenlos an sich binden wollte, so sehr, dass es Ellis Weh tat – hatte er einen Ansprechpartner. Bei keinem konnte er sagen, wenn ihm etwas nicht passte oder er Probleme hatte. Und das war so, seit seine Familie vor sieben Jahren nach Deutschland zog und sein Vater dieses Haus kaufte, in dem sie jetzt wohnten. Seit sie hier waren, war der Vater nicht nur der Vermieter von allen anderen Wohnungen in diesem Terrassenhaus am Hang in Bergen-Enkheim, er war auch noch ein angesehener Geschäftsmann, der von morgens um Sieben bis weit in den Abend herein im Büro war. Und Ellis fragte such manchmal, ob er überhaupt mitbekam, was hier in der Familie tagtäglich passierte. Ellis glaubte manchmal sogar, dass er wirklich Schuld an allem hatte – Schuld daran, dass seine Mutter Tabletten nehmen musste, Schuld daran, dass seine Schwester ihn bis aufs Blut drangsalierte und mobbte.

Aber das war ihm heute egal. Denn er hatte ein Geheimnis. Und dieses Geheimnis stand in seinem kleinen, schwarzen Buch.

Als Karen raus kam, machte sie keine Anstalten, Ellis zu gratulieren. Sie setzte sich wortlos an den Tisch und aß das Marmeladenbrötchen, was ihr Vater ihr zuvor schmierte.

„Ich hab doch gesagt, keine Butter“, sagte Karen dann.

Ellis lief daraufhin ins Badezimmer und machte sich schnell fertig. Als er wieder herauskam – so nach fünf oder zehn Minuten – standen der Vater und Karen bereits abfahrbereit.

„Was trödelst du so lange?“, sagte er zu Ellis.

Ellis packte wortlos seine Schultasche.

„Mama bereitet einen süßen Kindergeburtstag vor“, sagte Meredith. „Karen hat ein paar Freunde eingeladen. Du hast ja keine. Du brauchst ja keine. Es wird ein schöner Geburtstag, du wirst sehen.“

„Ha!“, frotzelte Karen. „Mamas Liebling.“ Sie stieß Ellis in die Seite. „Wenn ich 12 werde, werde ich eine rauschende Party mit Jungs und ohne Eltern machen, und zwar bei meiner Freundin, die sturmfrei haben wird an dem Tag.“

„Du bist ja auch schon erwachsen“, sagte Meredith zu Karen. „Aber Ellis ist ein kleiner Junge.“

„Hallo?“, wollte Ellis sagen. „Ich bin zwei Jahre älter als Karen. Sie ist 11, ich bin 13, sieht das denn keiner?“

Aber er sagte nichts.

Im Auto holte Ellis das kleine geheime Buch aus seiner Tasche. Und dann holte er einen Stift heraus. Und dann schrieb er etwas.

Ich weiß nicht, was letzte Nacht geschehen ist, aber es ist etwas ganz Besonderes geschehen. Und heute ist ein ganz besonderer Tag. Denn es ist der erste Tag, an dem ich eine Freundin habe. Ich hatte noch nie eine Freundin. Aber heute habe ich eine.

Ihr Name ist Natalie. Sie ist mir gestern Nacht das erste Mal begegnet. Und ich dachte erst, es war ein Traum, aber es war wahr. Ich habe dieses Buch – das hat sie mir gegeben – auf meinem Schreibtisch gefunden. Wenn es nicht wahr gewesen wäre, dann wäre das Buch ja nicht da. Aber es war da.

Natalie, wo immer du bist, ich hoffe, du kommst bald wieder.

Ellis klappte das Buch dann zu und tat es in seine Schultasche zurück.

Zuerst ließ Joseph Karen an ihrer öffentlichen Schule heraus, dann fuhr er Ellis zu seiner. Zur privaten Beklopptenschule, wie Karen und ihre Freundinnen immer sagten.

Die Schule, in die Ellis ging, war keineswegs eine Sonderschule, nur war neben der Schule ein Haus angeschlossen, in dem nach dem Montessori-System unterrichtet wurde, welches für lernschwache und behinderte Kinder gedacht war. Aber die Schule, in die Ellis ging, war eine ganz normale Privatschule. Diese hatte nach außen hin aber wegen der angeschlossenen Sonderschule den Ruf einer ebensolchen.

Ellis stieg aus dem Auto und schlenderte über den Hof zum Eingang des Gebäudes, in dem seine Klasse war. Als er vor der Klasse ankam, wurde er schon von zwei Jungs angeraunt.

„He, da kommt Alice im Wunderland“, sagte der eine Junge.

„Na, wo ist denn dein Kleidchen, Schwuchtel?“, fragte der andere.

Sie stießen Ellis etwas herum, bis dann der Biologielehrer, Dr. Fabian, ankam.

„Schluss jetzt!“, rief Dr. Fabian. „Wir gehen in den Filmraum. Aus gegebenem Anlass will ich euch heute einen Film zeigen.“

„Stark“, sagte ein Mädchen, das ebenfalls zur Klasse gehörte und auf der Fensterbank saß. „Film. Kein Unterricht.“

Die Klasse ging dann geschlossen in den Filmraum, und dann stellte sich Dr. Fabian vorne hin.

„Wer von euch raucht bereits oder hat schon einmal geraucht?“, fragte er.

Natürlich zeigte keiner auf. Alle wussten, dass Tom, der Insider der Klasse schlechthin und der beliebteste Junge, schon rauchte. Aber keiner verpetzte ihn.

„Ich meine, ich hätte Ellis neulich auf dem Hof mit einer Zigarette gesehen“, stellte Dr. Fabian fest.

Plötzlich gab es ein Riesengelächter. Alle lachten Ellis aus.

„Herr Fabian“, meinte Tom dann lakonisch. „Da müssen Sie sich irren. Ellis würde nie rauchen, so mutig ist er nicht. Er ist viel zu schwach, um so cool zu sein.“

Die Klasse lachte weiter.

Natürlich hatte Fabian sich geirrt. Ellis hatte nie geraucht, und tatsächlich hätte er sich das nie getraut.

„Nun, wie auch immer, dies ist genau der Grund, warum ich euch den folgenden Film zeigen will. Viele meinen, Rauchen sei cool. Aber in Wahrheit ist es der Gruppenzwang, der Jugendliche zu Rauchern macht. Und wie gefährlich Rauchen ist, das sehen wir jetzt.“

Der Lehrer machte dann den Film an, und die Klasse erfuhr alles über die Gesundheitsrisiken des Rauchens und über den Gruppenzwang.

Aber es schien ihnen auch nach dem Film egal zu sein. Rauchen war cool, und wer in war, der rauchte. So wie Tom.

Ellis hasste Tom.

Als am Mittag die Schule zu Ende war, wurde Ellis von seinem Vater abgeholt. Alexander, der Junge, der auf Ellis’ Fete kommen sollte als Einziger aus seiner Klasse, fuhr tatsächlich mit.

Zu Hause hatte die Mutter die große Tafel im Wohnzimmer bereits gedeckt. Karen und drei ihrer Freundinnen aßen bereits Kuchen.

„Ihr hättet wenigstens warten können, bis ich da bin“, maulte Ellis dann.

„Sie hatten Hunger“, stellte Meredith klar. „Hier, sieh mal, was ich meinem Kleinen zum Geburtstag schenke.“

Ellis machte ein Päckchen auf – und drin war eine echte Digitaluhr, so wie man sie in den Achtzigern trug.

„Wow“, machte Ellis. „Danke.“

Er hatte sich diese Uhr schon lange gewünscht. Eine richtige Digitaluhr, überhaupt nicht modern, ganz nach Ellis’ altmodischem Geschmack.

Ellis bekam noch CDs von seiner Lieblingsband ABBA geschenkt – auch eine Gruppe aus den späten 70ern und frühen 80ern. Dass Ellis auf so altmodischen Kram stand, das war mit einer der Gründe, warum er in der Schule und von seiner Schwester so gehänselt wurde.

„Abba!“, machte Karen. „Schwuchtelmusik. Ich höre Bushido und Sido“, sagte sie.

Nachdem Ellis und die anderen dann Kuchen gegessen hatten und Kakao getrunken hatten, schlug der Vater vor, dass sie einen kleinen Spaziergang machen sollten. Also gingen sie dann los über einen Weg, der in ein nahe gelegenes Waldstück führte.

„Ellis“, sagte dann Kerstin, eine von Karens Freundinnen. „Hast du schon mal geküsst?“

„Sie meint ein Mädchen“, sagte Karen. Dann wandte sie sich ihrer Freundin zu. „Ellis ist viel zu unreif. Er hat noch nie geküsst. Er kriegt nie eine Freundin.“

„Du hast aber“, sagte Kerstin zu Karen.

Karen nickte. „Ich hab sogar schon mehr als das. Und das mit meinen elf Jahren.“

„Wow, du bist echt cool“, meinte Kerstin zu Karen.

„Viel cooler als Ellis. Der ist gar nicht cool“, meinte Karen, so dass Ellis es hören konnte. „Baby, Baby, Baby“, sang sie dann. „Ellis ist ein Baby.“

Daraufhin sangen ihre drei Freundinnen mit. „Baby, Baby, Baby. Ellis ist ein Baby.“

Auf einmal drehte Ellis sich um. Er stürmte auf seine Schwester zu und schlug sie ins Gesicht.

„Ellis, Schluss!“, sagte Joseph und ging dazwischen.

„Sie hat mich Baby genannt“, weinte Ellis.

„Niemand hat dich Baby genannt“, mahnte der Vater ihn. „Karen ist nun mal reifer als du.“

Ellis war wütend. Er war so wütend, dass er seine nagelneue Uhr vom Arm nahm und sie auf den Steinboden schmetterte. Sie zerfiel zugleich in tausend Teile.

„Ellis, was tust du?“, schrie ihn Meredith an. Sofort packte sie ihn am Arm und schüttelte ihn heftig. „Musst du mich immer zur Weißglut bringen? Du bist Schuld. Was tust du mir an?“

Dann schlug sie ihn in die Rippen und lief dann weg. „Wegen dir muss ich Tabletten nehmen“, rief sie hinterher. „Du hast die Uhr kaputt gemacht. Du machst die Familie kaputt. Immer ärgerst du deine Schwester. Du bist Schuld.“

Meredith lief dann den Weg zurück und ging dann ins Haus, wo sie sich direkt ins Badezimmer begab und ihre Drogen nahm.

Joseph packte Ellis am Arm und ließ ihn nicht mehr los, bis sie zu Hause ankamen.

„Geh auf dein Zimmer und mache dir Gedanken über das, was du angerichtet hast“, sagte Joseph dann, und Ellis ging zugleich auf sein Zimmer.

Nach kurzer Zeit kam Alexander herein.

„Tut mir leid das mit eurem Streit“, sagte er.

Ellis nickte nur.

„Dein Vater sagte, er bringt mich jetzt nach Hause. Also, wir sehen uns morgen in der Schule“, warf Alexander hinterher.

Dann verließ er das Zimmer.

Ellis setzte sich auf sein Bett und weinte leise. Er weinte nicht um die Uhr. Nun, das war schade, dass er sie kaputt machen musste. Aber er weinte nicht um die Uhr. Er weinte, weil sein Geburtstag so verhunzt geworden ist. Und weil seine Schwester es wieder so hat aussehen lassen, dass er Schuld an allem hatte. Schuld daran, dass der Tag so wurde wie er wurde.

Ellis saß da und weinte.

Auf einmal streichelte ihn jemand über seinen Kopf.

Ellis schaute auf…

„Natalie“, hauchte er.

Natalie umarmte ihn.

„Ich hab so gehofft, dass du wieder kommst“, flüsterte Ellis.

„Ich habe es dir ja gesagt“, meinte Natalie dann.

„Du weißt nicht, was heute los war“, hauchte Ellis leise.

„Doch, ich weiß es“, sagte Natalie. „Warum gehen sie nur so mit dir um? Du kannst doch gar nichts dafür, wie deine Schwester zu dir ist. Und deine Mutter gibt dir die Schuld für ihre Tablettensucht.“

„Bin ich Schuld, Natalie?“, fragte Ellis.

Natalie schüttelte den Kopf.

„Eines Tages gehen wir weg“, sagte sie leise. „Und dann nehme ich dich mit.“

„Können wir irgendwohin fliegen, so wie letztens?“, fragte Ellis.

„Heute nicht“, sagte Natalie dann. „Komm, wir feiern deinen 13. Geburtstag.“

Daraufhin holte sie eine Kerze heraus, die sie dann in einen leeren Kerzenständer steckte, der bei Ellis auf dem Schreibtisch stand. Dann zündete Natalie die Kerze an.

„Erzähl mir mehr von dir“, forderte sie Ellis dann auf. „Jetzt, wo wir Freunde sind, möchte ich alles von dir wissen.“

Ellis kuschelte sich mit Natalie auf dem Bett zusammen.

„Nun“, sagte er. „Ich bin in Amerika geboren. Vor Jahren sind wir nach Deutschland ausgewandert.“

„Nicht das“, unterbrach ihn Natalie. „Ich möchte etwas von deinen Gefühlen hören.“

Ellis schaute traurig. „Manchmal frage ich mich, ob ich wirklich alles Schuld bin“, begann er dann. „So wie alle zu mir sind. So wie sie in der Schule sind. So wie meine Familie zu mir ist. Ich hab doch keinen, mit dem ich reden kann. Manchmal denke ich, ich bin wirklich ein Spasti. Ein Idiot. Ein Spinner oder Träumer, der schwach ist, ein Weichei und sich nichts traut.“

„Oh, Ellis“, sagte Natalie. „Du traust dich viel mehr, als du vielleicht derzeit denkst.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Denk doch nur an den Berg, der explodiert ist. Und an das Gewitter. Du hattest keine Angst.“

„Aber das bin ich nicht, Natalie“, widersprach Ellis. „Das war wahrscheinlich nur ein Traum. Aber im echten Leben habe ich Angst. Im echten Leben muss ich mir bei Gewittern die Ohren zu halten. Im echten Leben bin ich ein Weichei.“

„Wetten, dass nicht?“, lächelte Natalie.

Ellis sah sie fragend an.

„Na, los, küss mich“, sagte sie leise. „Auf den Mund.“

„Ein richtiger Kuss?“, hakte Ellis nach.

„Traust du dich?“, fragte Natalie ihn.

Und dann gab Ellis Natalie einen Kuss auf den Mund.

„Siehst du? Ich habe es dir gesagt“, meinte Natalie lächelnd.

„Das war so… so ganz…“, flüsterte Ellis… doch als er sich umdrehte, war Natalie nicht mehr da.

Und Ellis atmete tief aus.

Er ging zu seinem Schreibtisch, holte das kleine, schwarze Buch aus seiner Tasche und schrieb:

Ich habe heute ein Mädchen geküsst. Heute, an meinem 13. Geburtstag. Und das war mein bestes Geburtstagsgeschenk, was ich bekommen hatte.

Natalie war eben da. Ich weiß nicht, wie sie das immer macht – mal ist sie da, mal ist sie weg. Sie taucht immer mal auf. Und ich habe das Gefühl, wenn ich ganz stark Sehnsucht nach ihr bekomme, oder überhaupt nach einem Menschen, mit dem ich reden kann, dann kommt sie. Ich kann Natalie vertrauen. Ich kann ihr alles sagen. Ich glaube, ich liebe sie.

Natalie wusste schon, was geschehen war, als sie hier ankam heute Abend. Sie wusste schon, dass mein Geburtstag total verkorkst war. Dass mich Karen wieder dazu brachte, auszuflippen. Dass mir Mutter wieder die Schuld geben würde, dass sie Tabletten nimmt. Dass mir alle wieder die Schuld geben. Dass mich alle fertig gemacht haben.

Natalie wusste es schon. Manchmal denke ich, sie weiß Sachen vorher. Bevor sie passieren. Sie hat zu mir gesagt, eines Tages rennen wir weg. Ob das stimmt?

Ich, Ellis Baxter, habe jetzt eine Freundin. Das stimmt. Das ist wahr. Und alles Andere ist mir heute egal.

Ellis klappte dann das Buch wieder zu und steckte es zurück. Dann legte er sich auf sein Bett und machte seine Augen zu.

Kapitel 3 - Im Schwimmbad

Es war soweit.

Heute sollte es eröffnen. Schon seit Tagen freute sich Karen, Ellis' Schwester, darauf, mit ihren Freunden in das neue Freibad im Ort zu gehen. Es war groß, hatte mehrere Becken und einen weiten Außenbereich.

Klar, dass Karen alleine mit ihren Freunden dorthin wollte, mit ihren 11 Jahren halbnackt auf dem Gras liegen und junge Männer scharf machen. Das war ganz ihr Style.

Klar, dass Ellis sehr gerne mitgegangen wäre. Aber Karen mochte ihn nicht. Und bei ihren Freunden war er nur das kleine Weichei.

Klar, dass Meredith Ellis niemals alleine in das Schwimmbad gelassen hätte. Wenn er mitginge, würde sie ihn begleiten, das hatte sie ihm in den letzten Tagen mehrfach angedeutet. Meredith war überzeugt, dass Ellis ohne seine Mutter nicht ins Schwimmbad durfte.

„Mausispecki, wo ist deine Badehose?“, rief die Mutter.

Ellis saß in seinem Zimmer auf dem Schreibtischstuhl. Er drehte sich fortwährend und wedelte dabei mit den Händen vor seinem Gesicht.

„Mausispecki“, rief seine Mutter erneut.

„Lass ihn, Mutter“, schrie Karen aus ihrem Zimmer. „Er geht sowieso nicht mit. Ich will mit meinen Freunden alleine ins Schwimmbad.“

Ellis hörte nicht genau zu, worüber Meredith und Karen diskutierten. Er hörte seine Schwester schreien, aber er schien die Worte nicht zu verstehen.

Ellis war ein Verrückter. Ein Psycho, ein Einzelgänger, den sowieso niemand wollte. Das wusste er. Es interessierte ihn auch nicht, worüber seine Schwester mit ihrer Mutter diskutierte.

Er wäre ja gerne ins Schwimmbad gegangen. Aber nicht, wenn seine Mutter dabei wäre.

Langsam lief Ellis die Treppen aus seinem Zimmer hoch und schloss die Zimmertüre, die sein Apartment mit dem Rest der Wohnung verband.

Ellis legte sich aufs Bett. Er begann, zu träumen.

Die Bilder waren verschwommen. Ellis sah sich selbst, wie er über der Stadt flog. Er schwebte mitten am Tag über das große Einkaufszentrum. Daraufhin flog er weiter zu der gewundenen Straße am Ried. Dort landete er und setzte sich ans Ufer des Sees.

„Natalie“, flüsterte er leise.

Jetzt wäre er gerne bei ihr. Bei seiner heimlichen Freundin, die niemand kannte. Aber sie war nicht da.

Im Busch neben Ellis fand er plötzlich ein kleines, batteriebetriebenes Modellboot mitsamt Fernsteuerung. Ellis sah es eine Weile an. Dann nahm er es vorsichtig. Er schaltete es an und legte das Boot daraufhin ins Wasser.

Während er so spielte und sich daran ergötzte, was für schöne Kurven das Boot ins Wasser zeichnete, vergaß er ganz die Zeit.

Als er glaubte, dass es schon Abend wurde – was jedoch nicht stimmte – rief ihn seine Mutter erneut und riss ihn aus seinen Träumen.

Ellis lag auf seinem Bett und weinte.

„Mausispecki, deine Schwester wollte mit ihren Freunden zusammen sein, ganz für sich. Das musst du verstehen“, sagte die Mutter, während sie sich zu Ellis aufs Bett setzte.

Angewidert drehte sich Ellis weg und sah aus dem Fenster raus.

„Wir gehen morgen ins Schwimmbad“, meinte die Mutter zu ihm. „Nur du und ich. Dann hast du mich ganz für dich alleine, so wie du es immer willst.“

Genau das waren diese Momente, in denen Ellis seinen Kopf und seinen gesamten Körper ganz ausschalten konnte. Es war fast so, als wenn er nicht mehr in seinem Körper war.

Was daraufhin geschah, das wusste Ellis nicht. Er bekam es nicht mit. Er hörte seine Schreie, sein Weinen. Aber er spürte nichts.

Wenig später fand er sich auf der großen Wiese im Freibad wieder.

War es der gleiche Tag? Ellis wusste es nicht.

Er sah sich um. Er suchte Karen und ihre Freunde. Aber sie waren nicht da.

Als Ellis neben sich sah, sah er seine Mutter. Sie lag auf ihrem dicken Bauch und beobachtete Ellis.

Er sah an sich herunter.

Ellis war nackt. Er hatte nicht einmal eine Badehose an. Er erschrak.

„Verdammt noch mal, Mutter“, schrie er. „Wo ist meine Badehose? Warum bin ich nackt?“

„Beruhige dich, Ellis“, sagte die Mutter. „Es ist doch nicht schlimm, wenn du nackt bist. Du bist mein kleiner Junge, und jeder darf dich sehen.“

Ellis weinte.

„Du hast sie doch selbst ausgezogen“, machte ihm die Mutter klar. „Deine Badehose war nass. Und nasse Badehosen muss man ausziehen.“

Ellis stellte sich auf.

Seine Mutter holte daraufhin eine Fotokamera heraus und machte ein Foto von Ellis – splitterfasernackt, wie er war.

Ellis rannte davon. Er rannte in die Umkleide-Kabine und schloss sich ein.

Warum hat seine Mutter das nur getan? Warum hat sie ihn in aller Öffentlichkeit so bloß gestellt? Er war doch 13 Jahre alt, er hatte doch ein Recht auf seine Privatsphäre, erst recht auf seine Intimsphäre.

Er sollte kein Schamgefühl haben, hat ihm seine Mutter immer gesagt. Solange sie dabei an seiner Seite ist, müsste er kein Schamgefühl haben.

Ellis dachte an Karen. Wenn es so war, dass er seit gestern Nachmittag wieder einen seiner Blackouts hatte, war Karen gestern im Schwimmbad. Sie war dort alleine mit ihren Freunden. Und sie hatte kein Schamgefühl – jedenfalls nicht gegenüber jungen, erwachsenen Männern, die sich an nackten Körpern von 11-jährigen Mädchen ergötzten. Karen mochte es, diese Männer heiß zu machen. Klar, so wie sie aussah, könnte sie locker als 17-jährige durchgehen, jedenfalls bildete Karen sich das ein.

Für einen Moment dachte Ellis darüber nach, ob seine Nacktheit auch Mädchen von 15 oder 16 Jahren scharf machen könnte. Aber er fühlte sich selbst viel zu unattraktiv dafür, und außerdem hegte er gar nicht den Wunsch danach, junge Frauen scharf zu machen.

Ellis dachte an Natalie, seine heimliche Freundin. Erst kürzlich, als Ellis Geburtstag hatte, kam sie in sein Leben. Sie verstand ihn. Sie mochte ihn so, wie er war. Und für sie war er sicher auch attraktiv.

Wäre sie jetzt bloß hier.

Ellis saß zusammengekauert in der Kabine und weinte. Er bekam kaum mit, dass jemand ihm seine Klamotten unter dem Schlitz hindurchschob.

„Mausispecki, ziehst du dich bitte an?“, hörte er die Stimme seiner Mutter. „Es wird Zeit zu gehen.“

Still nahm Ellis seine Klamotten an sich und zog sich an.

Was daraufhin passierte, wusste er nicht mehr. Kaum, dass seine Mutter und er das Schwimmbad verlassen haben mussten, hatte er wieder einen seiner Blackouts.

Das Nächste, woran Ellis sich erinnerte, war, dass er in seinem Zimmer auf dem Bett lag und weinte. Es musste spät in der Nacht sein, denn draußen war es dunkel.

Ellis wusste nicht, welcher Tag heute war. Er wusste nicht, wie viel Zeit seit seiner letzten Erinnerung vergangen war. Irgendetwas hatte alles gelöscht. Und insgeheim war Ellis froh darüber.

Kapitel 4 - Die schlechte Note in Deutsch

Heute Morgen sollte Ellis’ Vater auf dem Weg in die Schule eine Klassenkameradin von Ellis mitnehmen. Sie hieß Jasmin. Sie war eigentlich nicht so schlimm, denn sie ließ Ellis die meiste Zeit in Ruhe. Von daher hatte er auch nichts dagegen, dass sie mitfährt.

Als sie ins Auto einstieg, platzte sie gleich mit einer freudigen Nachricht heraus. „Ich denke, heute bekommen wir die Deutscharbeit zurück, Ellis“, sagte sie. „Ich habe das Gefühl, dass ich eine 2 oder eine 1 habe. Was glaubst du, was du für eine Bewertung bekommst, Ellis?“

„Ach, du Scheiße. Die Deutscharbeit…“, dachte Ellis bei sich, ohne es zu sagen.

Ellis zuckte mit den Schultern.

In der ersten Stunde war erst einmal Chemie-Unterricht, und zwar bei Herrn Schulte. Der war bekannt dafür, dass er gerne Experimente mit Chemikalien durchführte, bei denen es heftig knallte. Ellis hatte jedes Mal eine Heidenangst vor Chemie.

Die Klasse war bereits vor der Türe des Chemieraums versammelt, und ein Mitschüler, der Stefan hieß, las die Bravo – eine Jugendzeitschrift, die auch heute noch für ihre berühmte Aufklärungsseite bekannt war.

„Cool, du hast die neue Bravo“, meinte Tom zu ihm. „Guck mal auf der Sex-Seite, wer so geschrieben hat.“

Stefan schlug die Aufklärungsseite auf, wo Jugendliche mit ihren Problemen an den berühmten Dr. Sommer schreiben konnten.

„Hier, das müsst ihr lesen“, rief er. Und zugleich versammelten sich einige Jungen und Mädchen neben Stefan, der vor der Türe auf dem Boden saß.

„Ich kriege keinen hoch“, begann er, vorzulesen. „Ich bin 13 Jahre alt und bekomme noch immer keinen Steifen. Ich versuche es jeden Abend, wenn ich alleine bin, aber es klappt einfach nicht. Ist bei mir alles okay?“ Stefan lachte, als er fertig war. Die Antwort, die darunter stand, interessierte ihn und seine Mitschüler gar nicht erst. „Ha!“, machte er lachend. „Der ist dreizehn und kriegt keinen hoch. Haha…“

Alle lachten.

Nur Ellis nicht. „Kriegst du einen hoch?“, rutschte es ihm dann raus.

Die Klasse verstummte und sah Ellis an.

Stefan blickte in Ellis’ Augen. Er machte keine Anstalten, auf Ellis’ Frage einzugehen.

„Ellis hat den Brief da hin geschickt“, sagte er.

Er begann daraufhin lauthals zu lachen.

Und die ganze Klasse lachte Ellis aus.

Ellis – obwohl er nicht an diese Zeitschrift geschrieben hatte – versank vor Scham im Erdboden.

Erst, als der Chemielehrer, Herr Schulte, kam, hörte die Klasse auf zu lachen.

In der letzten Stunde am heutigen Tage hatte die Klasse dann Deutschunterricht. Die Arbeit, welche sie vergangene Woche geschrieben hatten, war ein Aufsatz zum Thema „Soziales Miteinander“ – ein Thema, zu dem Ellis eigentlich so viel hätte einfallen können. Aber er verrannte sich stattdessen in eine Märchengeschichte von einer Fee, die den Armen hilft und den Hungernden zu Essen zauberte.

Es kam, wie es kommen musste. Als der Lehrer Ellis das Arbeitsheft zurückgab, schaute er ihn an. „Ellis Baxter – wieder eine 6. Mach so weiter, und du bleibst am Ende des Schuljahres sitzen.“

Die Klasse lachte Ellis aus. Sie lachte Ellis so lange aus, bis der Deutschlehrer sie ermahnte.

Was sollte Ellis nur seinem Vater sagen? Morgen würden sie Jasmin – die übrigens eine 2+ bekam – wieder mit in die Schule nehmen, und dann würde sie prahlen mit ihrer 2 und würde petzen, dass Ellis eine 6 hatte.

Ellis wollte es seinem Vater nicht sagen. Seiner Mutter schon gar nicht, denn die würde ihn wieder als unselbstständiges Baby hinstellen, und vielleicht würde sie ihn wieder schlagen oder Tabletten nehmen.

Als Ellis von seinem Vater abgeholt und dann nach Hause gebracht wurde – der Vater fuhr gleich darauf wieder in sein Büro – sagte Ellis ihm nichts von der Arbeit. Er saß nur im Auto und sagte kein Wort.

Und der Vater machte auch keine Anstalten, ihn zu fragen oder ihm etwas zu sagen.

Ellis kam in die Wohnung herein. Seine Mutter war nicht da, und sein Vater bereits wieder auf dem Weg in die Stadt. Nur Karen saß alleine am Esstisch und rauchte sich eine Zigarette.

„Du rauchst?“, fragte Ellis.

„Klar“, lachte Karen. „Alle, die in sind, machen das. Aber das kennst du ja nicht.“

Ellis machte eine wegwerfende Handbewegung und ging sofort auf sein Zimmer. Dann holte er sein Tagebuch wieder heraus und schrieb.

Karen raucht. Ich habe sie heute dabei erwischt. Ich will auch rauchen. Ich will auch cool sein. Und in. Warum darf Karen so etwas Erwachsenes tun, und ich nicht? Warum muss Karen die Große sein, und ich der Kleine, wo ich doch 2 Jahre älter bin? Ich hasse Karen.

Ich habe in Deutsch eine 6 zurückbekommen. Ich trau mich nicht, das Daddy oder Mutter zu sagen. Ich denke, Muter schlägt mich dann wieder.

Warum schlägt sie immer nur mich? Nie Karen?

Ich will weg gehen. Ich will weg hier.

Stundenlang saß Ellis wortlos an seinem Schreibtisch, das offene Tagebuch vor sich liegend. Als er es dann endlich zu machte, wurde es draußen schon dunkel.

„Du willst also weg?“, fragte dann plötzlich eine Mädchenstimme.

Ellis drehte sich um… und da saß auf einmal Natalie auf seinem Bett.

„Natalie“, rief Ellis aus. „Wie machst du das immer? Jedes mal, wenn ich an dich denke, kommst du und bist da.“

Natalie lächelte. „Schöne Scheiße das mit deiner 6 in Deutsch, nicht?“

„Wem sagst du das?“, meinte Ellis. „Ich hab keine Ahnung, wie ich das Daddy sagen soll.“

„Er wird es morgen herausfinden, wenn er Jasmin ins Auto lädt.“

Ellis schnaufte aus.

„Deine Schwester hat geraucht“, meinte Natalie dann. „Findest du auch, dass Rauchen cool ist?“

Ellis blickte sie an.

„Rauchst du?“, fragte er Natalie.

„Nö“, antwortete sie. „Ich find’ Rauchen uncool. Man schmeckt beim Küssen wie ein Aschenbecher.“

Ellis konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Ich find es auch nicht cool“, sagte er. „Aber irgendwie wäre ich schon gerne mal cool.“

„So richtig in“, sagte Natalie.

Ellis nickte.

„Ich weiß gar nicht, ob ich das sein möchte“, sagte sie leise. „Bist du sicher, dass du weglaufen willst?“

Ellis nickte.

„Dann komm“, meinte Natalie daraufhin.

„Wie, dann komm?“, wollte Ellis wissen.

„Pack ein paar Sachen zusammen, und dann gehen wir.“

Ellis sah sie an.

„Wir nennen es nicht weglaufen“, erklärte sie. „Wir nennen es, die Probleme nicht an sich heran lassen.“ Sie fasste Ellis an der Hand an. „Nimm dein geheimes Buch mit, du wirst es noch brauchen. Und eine Decke.“

Ellis packte eine Decke ein, nahm seine Schultasche, und dann ging er mit Natalie aus einer separaten Tür heraus, die von seinem unterhalb gelegenen Zimmer direkt ins Treppenhaus des Gebäudes führte. Leise schlich er sich mit ihr hinunter und machte dann vorsichtig die Eingangstüre auf.

„Ob sie es merken, dass ich weg bin?“, fragte er Natalie flüsternd.

Natalie schüttelte ihren Kopf.

Und dann liefen Ellis und Natalie los, über den Weg in das angrenzende Waldstück. Und Ellis konnte es kaum glauben, dass er sich so etwas traute. Er war tatsächlich von Zuhause weggelaufen. Er, Ellis Baxter, tat etwas richtig Wildes und Mutiges.

Während sie leise und wortlos liefen, schien der helle Mond auf die angrenzenden Felder.

Kapitel 5 - Die Nacht woanders

Es war sehr still hier draußen am Waldrand. Einige Vögel sangen in den späten Abendstunden noch ihr Lied, während Ellis und Natalie über einen Weg liefen, der am Hang entlang führte, unter dem sich ein weites Feld erstreckte.

„Pause“, meinte Ellis dann.

„Wir sind erst eine halbe Stunde gelaufen“, entgegnete Natalie.

Ellis schnappte nach Luft.

„Okay, Pause“, sagte Natalie schließlich.

Sie setzten sich auf eine Bank direkt am Wegrand.

Minutenlang sagten sie nichts und sahen sich einfach an.

„Ob sie es schon gemerkt haben?“, fragte Ellis schließlich.

Natalie zuckte mit den Schultern. „Wenn nicht, morgen früh werden sie es merken.“

Auf einmal hörten sie das Heulen eines Hundes in der Ferne. Es könnte aber auch von einem Wolf gekommen sein.

Ellis erschrak.

„Gibt es Wölfe hier?“, wollte Natalie wissen.

„Weiß nicht“, meinte Ellis.

„Hast du Angst?“

Ellis sah seine Freundin an. „Nicht, wenn du bei mir bist“, antwortete er.

„Ich habe Hunger“, sagte Natalie dann leise.

Ellis schnaufte laut aus. „Daran hab ich gar nicht gedacht.“

„Dann haben wir nichts zu Essen dabei?“ Natalie sah ihn an.

Ellis schüttelte sachte seinen Kopf.

„Wir müssten uns irgendwo etwas besorgen“, dachte sie nach.

Und Ellis sah sich um.

In nicht allzu weiter Entfernung stand auf dem Feld einsam ein altes Bauernhaus. Es schien dort dunkel zu sein, und man konnte nur die Umrisse des Gebäudes erkennen.

Wieder hörten sie den Wolf oder Hund heulen, wo immer er war.

---ENDE DER LESEPROBE---