Baltrumer Dünengrab - Ulrike Barow - E-Book

Baltrumer Dünengrab E-Book

Ulrike Barow

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Jens Pottbarg ist pleite. Da kommt dem Hamburger Krimiautor die Einladung auf die Nordseeinsel Baltrum sehr gelegen. Er soll alte Sitten und Gebräuche zu Papier bringen. Dass er dabei in einen echten Mordfall verwickelt wird, hat er nicht erwartet. Welche Rolle spielt dabei Stefan Mendel, der auf der Insel gegen den Widerstand der Insulaner eine Wohngruppe für schwer erziehbare Jugendliche einrichten will?

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Seitenzahl: 335

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Ulrike Barow

Baltrumer Dünengrab

Inselkrimi

Zum Buch

Jens Pottbarg ist pleite. Da kommt dem Hamburger Krimiautor die Einladung auf die Nordseeinsel Baltrum sehr gelegen. Er soll alte Sitten und Gebräuche zu Papier bringen. Dass er dabei in einen echten Mordfall verwickelt wird, hat er nicht erwartet. Welche Rolle spielt dabei Stefan Mendel, der auf der Insel gegen den Widerstand der Insulaner eine Wohngruppe für schwer erziehbare Jugendliche einrichten will?

Ulrike Barow, 1953 in Gütersloh geboren, lebt mit ihrer Familie im schönen Leer (Ostfriesland) und auf der Nordseeinsel Baltrum. Sie ist gelernte Buchhändlerin. Der erste Kurzkrimi Baltrumer Wintermärchen wurde in der Anthologie Inselkrimis (Leda-Verlag, 2006, TB 2010) veröffentlicht. Dort erschienen auch ihre Kriminalromane, die alle auf Baltrum spielen.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Leda-Verlag:

Endstation Baltrum (2008)

Dornröschen muss sterben (2009)

Baltrumer Bärlauch (2010)

Baltrumer Dünengrab (2011)

Baltrumer Bitter (2012)

Baltrumer Bescherung (2013)

Baltrumer Maskerade (2014)

Baltrumer Kaninchenkrieg (2015)

Baltrumer Eiszeit (2016)

Baltrumer Badezeit (2017)

Baltrumer Krimitage (2018)

Baltrumer Glockenschlag (2019)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Originalausgabe erschienen im Leda-Verlag.

2019 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2019

Lektorat: Maeve Carels

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Starcookie / Shutterstock

ISBN 978-3-8392-6406-5

Anfang September

Jakob Pottbarg staunte nicht schlecht. Was ihm sein Lektor und alter Freund Goldberg da gerade eröffnet hatte, wollte ihm nicht in den Kopf. Warum ausgerechnet er? Er war Krimischreiber. Und kein schlechter.

»Jakob, du musst nicht, versteh mich richtig. Es ist nur ein Angebot. Du hast doch mal Psychologie studiert, wenn ich mich recht erinnere. Wirklich, ich dachte, ich könnte dir damit eine Freude machen.«

Jakob Pottbarg schaute seinen Freund ratlos an. »Mitte November? Auf eine kleine Nordseeinsel? Ich glaube, du hast sie nicht mehr alle. So viele dicke Klamotten habe ich gar nicht. Ich bin Stadtmensch, wie du weißt. Ich brauche Inspiration. Die kleine Brasserie, das pulsierende Leben auf den Straßen Hamburgs, und nicht zuletzt den Mikrokosmos meines Waschcenters um die Ecke. Das ist meine Welt. Außerdem liegt mein neuester Krimi in den letzten Zügen.«

Peer Goldberg lachte. »Der Mikrokosmos hat einen Namen. Claudia. Gib es zu. Und was deinen Krimi angeht: Es wäre schön, wenn die letzten Züge endlich bei mir auf dem Schreibtisch einfahren würden. Wir wollen im nächsten Jahr damit rauskommen, wie du weißt. Es ist zwar noch Zeit bis dahin, aber die vergeht schnell. Trotzdem denke ich, eine Auszeit auf der Insel könnte dir gut tun. Willst du ’nen Kaffee?«

Jakob schüttelte den Kopf und stand auf. »Nee, lass man. Ich mach mal ’nen Gang an der Alster lang. Kopf freipusten lassen. Ich sage dir dann Bescheid.«

»Aber warte nicht so lange, sonst muss ich jemand anderen bitten. Ist schließlich eine Auftragsarbeit. Vielleicht die Grobert, was meinst du?« In Peer Goldbergs Augen sah Jakob kleine Lichtpunkte vergnügt aufblitzen.

Die Herbstsonne schickte ihre letzten warmen Strahlen über die Außenalster. Einige Segelboote durchschnitten mit raschem Zug die Wellen, auf die der Wind weiße Schaumkronen gezaubert hatte. Jakob setzte sich auf seine Lieblingsbank unter der mächtigen Trauerweide. Er beobachtete durchtrainierte, braungebrannte Marathontypen, die völlig in sich selbst versunken leichtfüßig ihre Runden liefen, aber auch junge Leute in seinem Alter in schicken Laufklamotten. Er selbst hatte seinen Körper nie zu mehr als einem Spaziergang überreden können. Wenn überhaupt. Wenn er denken wollte, musste er sitzen. So wie jetzt. Außerdem – wie würde es denn aussehen, wenn er in seiner Jeans, die beim letzten Waschen wieder ein wenig eingelaufen war, und seinen Uralt-Turnschuhen versuchen würde, mit diesen smarten Typen mitzuhalten?! Nee, dann lieber die Welt aus der Ruhe betrachten. Dazu kam, so gestand er sich ein, dass es höchste Zeit war, ein paar Dinge einmal von mindestens zwei Seiten zu bedenken. Existenzielle Dinge.

Womit sollte er anfangen? Wie wäre es mit Finanzen? Gute Idee. Könnte gar nicht besser laufen. Gleich in den übelsten Tiegel gegriffen. Der Brief der Sparkasse, der seit Tagen auf seinem Schreibtisch lag, war nicht sehr freundlich abgefasst gewesen. Dispo überschritten. Da kannten die keinen Spaß. Aber der neue Krimi würde erst in ein paar Monaten erscheinen. Und das mickerige Honorar dafür frühestens ein halbes Jahr später. Falls denn jemand überhaupt Interesse an den Abenteuern seiner Kommissare Möglich und Ender zeigte.

Folgte das zweite Problem. Seine Schreibblockade. Dieses große, schwarze Loch im Gehirn, das sofort größer wurde, wenn er nur wagte, an den Mittelteil seines neuen Werkes zu denken. Jakob wusste schlichtweg nicht, wie und wo er den Widersacher seiner Kommissare sterben lassen konnte. So, dass es zum Ende der Geschichte passte. Das Ende war ihm nämlich, dessen war er sich sicher, perfekt gelungen und wartete nur auf die lobenden Worte der Öffentlichkeit.

Und endlich: Claudia. Wie war noch der Satz? Ach, ja. »Mein Brummbär, ich liebe jedes Kilo an dir.« Er fand den Satz schön. Bis er in ihr Gesicht sah. Sie stand auf Dominic Raacke. Der hatte einmal Wäsche bei ihr abgegeben. Das war bei den Dreharbeiten zu Tod in Harvestehude gewesen. Schon ein paar Jahre her. Seitdem zuckte sie jedes Mal zusammen, wenn ein Mann mit grauen Locken am Schaufenster vorbeilief.

Er würde niemals ein Raacke werden. Schon allein wegen seiner Größe nicht. Ein Meter zweiundneunzig kriegte man nun mal nicht kleiner. Nur schlanker.

Was hatte Peer Goldberg genau erzählt …? Fenna Boekhoff, eine alte Bekannte von Baltrum und sehr geschichtsinteressiert, hätte sich mit der Bitte an ihn gewandt, einen Schriftsteller auf die Insel zu schicken, der vier Wochen lang alteingesessene Insulaner befragen und dann das Erhörte – oder Unerhörte – aufschreiben sollte. Hauptsächlich ginge es um alte Sitten und Gebräuche, Aberglauben und derlei Dinge. Dafür werde dem Schreiber eine Ferienwohnung zur Verfügung gestellt. Nebst Verpflegung bei ebendieser Dame. Außerdem wolle Frau Boekhoff alle Türen öffnen, die der Schreiber für seine Recherchen brauche. Klang irgendwie gar nicht schlecht.

Okay, ich bin ein fast erfolgreicher Schriftsteller von Kriminalromanen, fasste er abschließend zusammen. Habe somit ein Renommee zu verlieren in den Abgründen der Auftragsschreiberei. Aber ich muss es keinem erzählen, oder? Außerdem – vier Wochen kostenloses Wohnen und Essen sind ein schlagkräftiges Argument. Ganz abgesehen von der Möglichkeit, dass mir der Mittelteil meines neuen Krimis am Nordseestrand sozusagen auf dem Silbertablett serviert wird.

Jakob beschloss, dass die ganze Geschichte eindeutig unter seinem Niveau lag. Aber er würde seinen Freund nicht enttäuschen, sondern ihn anrufen und das Angebot annehmen. Er zog sein Handy aus der Tasche. Leer. Also zurück zum Verlag, der seinen Sitz an der vornehmen Rothenbaumchaussee hatte.

Er stieg die Stufen zur gläsernen Eingangstür hoch und wollte sie gerade mit einem leichten Schwung öffnen, als er Petra Grobert neben sich auftauchen sah. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Ausgerechnet diese arrogante Zicke im roten Designerkostüm. »Hallo, Jakob, wie geht’s? Hast du schon gehört? Bin soeben für den Pösel­dorfer Jugendbuchpreis nominiert worden.«

Er schluckte und krächzte ein undeutliches »Glückwunsch« heraus.

Sie lachte glockenhell. »Und wie läuft’s bei dir?«

»Ach, ich …« Er zögerte. »Ich … ich habe ein … – Stipendium der Nordseeinsel Baltrum erhalten. Coole Sache. Gut dotiert. Klasse Gelegenheit.«

»Na, dann pack mal schön deine Koffer«, flötete die Grobert. »Viel Spaß in der Einöde.« Schon war die zierliche Frau mit der großen getönten Brille an ihm vorbeigezogen und in den Weiten des Verlagshauses verschwunden. Auch sie schrieb Krimis und moderierte außerdem im Hörfunk. »Blöde Tussi«, murmelte er und dachte an den Abend, an dem sie seinen ersten Krimi in ihrer Sendung nicht gerade verrissen, aber eben auch nicht so gewürdigt hatte, wie er sich das gewünscht hätte. »Der Krimi hinterlässt nicht gerade das Gefühl, dass wir seit Jahren darauf gewartet haben«, war ihr knapper Kommentar gewesen.

»Es ist ein hartes Geschäft«, hatte Peer festgestellt, als Jakob damals zu ihm gelaufen war, um seine angeknackste Seele wieder aufbauen zu lassen. »Du kannst es drehen und wenden, wie du willst: Objektiv kann man nicht mal Leberwurst beurteilen. Geschweige denn ein Buch. Immerhin, wir glauben an dich. Sonst würden wir dich bestimmt nicht veröffentlichen, oder?«

Kräftig klopfte er an die Tür, hinter der er seinen Freund Goldberg zu finden hoffte.

*

2° Celsius, Wind: WNW Stärke 6 Donnerstag, 24.November

Ole drehte sich unruhig hin und her. Die erste Nacht war immer fürchterlich. Er kannte das. Er knipste die Nachttischlampe an und schaute auf den Wecker. Halb drei. Er hörte Riekes kräftiges Schnarchen aus dem Nachbarzimmer und lächelte. Nicht einmal nachts kann sie ihre Klappe halten, dachte er und sah ihr fröhliches Gesicht mit den dunklen Sommersprossen vor sich. Seine kleine Schwester, die nie um ein passendes Wort verlegen war. Was war das für ein wohliges »Ich bin zu Hause«-Gefühl gewesen, als sie ihm bei seiner Ankunft in die offenen Arme gelaufen war! Auch seine Eltern hatten am Hafen auf ihn gewartet. Die Mutter wie immer ein bisschen auf dem Sprung, so als ob sie jeden Moment damit rechnete, dass irgendwelche äußerst wichtigen Dinge ohne sie stattfinden würden. Dahinter sein Vater, der alle Angelegenheiten gründlich durchdachte, bevor er sich zu einer Aussage hinreißen ließ.

Drei Monate war Ole unterwegs gewesen. Drei Mal New York und zurück auf einem der großen Containerschiffe, den Transportmitteln der globalisierten Welt. Nun hatte er Urlaub. Wie das so war in der christlichen Seefahrt: Für jeden Tag Arbeit gab es einen Tag frei.

Jetzt hätte er die Zeit zum Schlafen gehabt. Stun­­den­lang. Kein Gedanke mehr an Ladelisten, Sicher­heits­vorschriften und Rettungsübungen.

Doch nun fehlte ihm das monotone, nie enden wollende Vibrieren der riesigen Antriebsmaschine im Bauch des Schiffes, das sein Schlafen und sein Wachsein in den letzten Monaten begleitet hatte. Dieses Geräusch, das selbst in den Häfen, während der knappen Liegezeiten, nicht verstummte.

Er schaltete die Lampe wieder aus, drehte sich auf die Seite und versuchte sich einzubilden, dass er sich noch immer in der geräumigen Kammer der London Star befand.

Um halb sechs gab er auf. Er zog seinen Jogginganzug an und öffnete die Tür seines alten Kinderzimmers. Leise schlich er durch den langen Flur, vorbei an Riekes Zimmer und an dem seiner Eltern. Dann ging er behutsam die hölzerne Treppe hinunter, am ersten Stock vorbei, in dem die beiden Ferienwohnungen lagen, und erreichte schließlich aufatmend das Erdgeschoss.

Er spürte ein leichtes Ziehen in der Magengegend und dachte an die leckeren Mahlzeiten zurück, die der Koch zur Freude der Besatzung täglich zubereitet hatte. Da war es von Vorteil gewesen, dass sich auch ein Fitnessraum an Bord befand. Er schaute an sich herunter und strich sich leicht mit der flachen Hand über die Stelle, an der eine Wölbung, knapp so groß wie ein halber Fußball, den angestrebten Waschbrettbauch ersetzte.

»Und bei Mutters guter Küche wird das mit dem Waschbrett auch nichts werden«, stöhnte er leise und öffnete den Kühlschrank.

Ein Erdbeerjoghurt leuchtete ihm entgegen. Seine Lieblingsmarke. Ungeduldig zog er die metallene Deckelfolie ab. Dann genoss er Löffel für Löffel den süßlich-herben Geschmack.

Eine gute Stunde würde er warten müssen, bis sich der Rest der Familie um den Frühstückstisch versammelte. Auch jetzt, in der gästearmen Zeit Ende November, war während der Woche an Ausschlafen nicht zu denken. Rieke musste zur Schule und Mama stand wie immer auf, um das Frühstück zuzubereiten. Auf seinen Vater wartete die Arbeit. Der hatte sich auf der Insel einen kleinen Handwerksbetrieb aufgebaut. Hausmeisterdienste und Gartenarbeiten im Sommer, tapezieren, malern und Reparaturarbeiten im Winter.

Oles Blick fiel auf das Küchenfenster. Er schob die Gardine zur Seite in der Hoffnung, schon irgendwo am Himmel einen hellen Streifen zu entdecken. Vergeblich. Es war einfach noch zu früh. Würde er eben wieder ins Bett gehen. Plötzlich zuckte links vom Gartenzaun ein Licht auf. Einmal. Zweimal. Was war das? Eine Taschenlampe? Ein Fahrradlicht? War gestern nicht die Jahreshauptversammlung des Bootsclubs gewesen? Also ein Nachtschwärmer auf dem Weg nach Hause? Wieder leuchtete das Licht auf. Es schien sich nicht von der Stelle zu bewegen. Also konnte es keine Fahrradlampe sein. Sollte er rausgehen und nachsehen? Lieber nicht. Das konnte leicht als Neugierde ausgelegt werden, sollte es sich tatsächlich um einen der Spätheimkehrer handeln. Angestrengt schaute er nach draußen, konnte aber nichts erkennen. Nur das Licht, das im Wind schaukelte und immer wieder aufleuchtete. Aber was, wenn jemand Hilfe brauchte?

Er würde nachsehen. Als er die Haustür öffnete, war das Licht verschwunden. Er schaute angestrengt in die Dunkelheit, lauschte, doch nichts rührte sich. Dann eben nicht. Auf der Insel passiert sowieso nichts, beruhigte er sich.

Oder sollte der Schriftsteller, der in einer der Ferienwohnungen seiner Mutter Quartier genommen hatte, bereits unterwegs sein? Auf der Suche nach Kobolden und Elfen? Seine Mutter hatte kurz von ihrer Idee erzählt, die alten Geschichten aufschreiben zu lassen, und dass sie sich an Peer Goldberg gewandt hatte. Der war in der Zeit seiner regelmäßigen Baltrumaufenthalte fast schon ein guter Freund der Boekhoffs geworden. Schon seine Eltern hatten auf der Insel ihre Jahresurlaube verbracht. Und Peer Goldberg hatte ihnen Jakob Pottbarg geschickt.

Nun war der Mann schon ein paar Tage da, und seine Mutter hatte ihm natürlich als Erstes Tant’ Anna vorgestellt, die eine wahre Fundgrube für derlei Geschichten war. Wenn sie denn wollte.

Unschlüssig trat Ole von einem Bein auf das andere. Noch eine halbe Stunde mindestens, bis die anderen kamen. Der Gedanke an die kuschelige Wärme seines Bettes überwältigte ihn. Genauso vorsichtig, wie er zuvor die Treppen heruntergestiegen war, schlich er wieder hinauf und schloss leise die Tür seines Schlafzimmers.

»Mama, Mama, hast du meinen Zeichenblock gesehen? Ich kann das öde Teil nicht finden.« Rieke schlug mit der flachen Hand auf den Küchentisch.

»Psst, Rieke, wir haben einen Gast im Haus.« Fenna Boekhoff hatte ihren Zeigefinger an die Lippen gelegt.

»Ja, ja, ich weiß, die lieben Gäste. Immer das Gleiche. Wenn es wenigstens nur im Sommer wäre. Aber nein, meine Mutter, die Retterin der Baltrumer Geschichte, muss ja unbedingt auch im Winter Gäste aufnehmen.« Unwillig schaute Rieke ihre Mutter an. »Das wär’s dann mal wieder mit der Selbstverwirklichung. So viel zum Thema ›Freiheit für Insulanerkinder‹.« Rieke trat mit dem Fuß gegen das Tischbein. Das Geschirr schepperte.

Fenna zuckte zusammen. »Sag mal, geht’s noch? Tob dich in der Schule aus. Im Matheunterricht. Und heute Nachmittag bei der Gartenarbeit. Du kannst mir helfen, die Stühle reinzutragen. Papa kommt ja nicht dazu. Da kannst du dich selbst verwirklichen.«

»So hab ich das doch alles nicht gemeint. Es ist nur … Der Winter ist halt die Zeit im Jahr, in der wir nicht ständig auf Gäste Rücksicht nehmen müssen. Du weißt schon: Freundinnen einladen und so, ohne Angst, dass wir die Gäste nerven. Also denen nicht auf dem Kopf rumtrampeln und all das. Aber was soll’s. Im nächsten Jahr bin ich sowieso weg. Dann könnt ihr mein Zimmer auch noch vermieten.«

»Was soll dieser Aufstand am frühen Morgen? Hast du Stress in der Schule, oder was ist los?«, fragte Riekes Mutter verwundert.

Rieke zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. »Entschuldige, Mama, war wirklich nicht so gemeint. Ich habe nicht wirklich etwas gegen Jakob.«

»Für dich immer noch Herr Pottbarg, meine Liebe! Ein bisschen mehr Disziplin, wenn ich bitten darf. Außerdem solltest du dich etwas beeilen mit dem Frühstück. Die Schule fängt gleich an«, sagte Fenna energisch.

»Mama, er hat mir angeboten, dass ich Jakob sagen darf. Das macht man wohl so unter Schreibern. Ich habe schließlich auch schon mal einen Beitrag auf Baltrum-online veröffentlicht. Außerdem hat er mir noch verraten, dass er unter einem anderen Namen seine Krimis veröffentlicht. Spannend, nicht?«

Fenna nickte. »Unter Pseudonym? Weißt du, wie er sich nennt?«

»Nein, ich wollte ihn fragen, aber dann habe ich es einfach vergessen.«

»Hast du stattdessen wieder nur auf den kleinen Mann im Ohr gehört, der ›Tokio Hotel, Tokio Hotel‹ gerufen hat? Typisch meine Tochter«, lachte Fenna auf.

»Papa, nun mach doch mal was. Mama dreht durch. Und außerdem – meine Tokio-Hotel-Phase ist schon seit Jahren vorbei. Wer kennt die denn noch?« Mit großen, bittenden Augen blickte Rieke ihren Vater an, der sich hinter der Zeitung vom Vortag verschanzt hatte.

»Bin ich froh, wenn ich gleich in Ruhe meine Arbeit machen kann. Tapeten reden nämlich nicht, müsst ihr wissen«, murmelte er. Dann leerte er seine Tasse Tee, stand auf, zog seine dicke grüne Arbeitsjacke mit den bunten Farbflecken an und ging raus. Verblüfft schauten die beiden Frauen hinter ihm her.

»War es gerade sooo schlimm?«, fragte Rieke erstaunt.

Fenna schüttelte den Kopf. »Nee, es geht noch viel schlimmer. Aber jetzt los, ab zur Schule.«

Als Jakob Pottbarg die Küche betrat, deutete die Kaffeemaschine gerade mit einem letzten Seufzer an, dass sie ihren Job erledigt hatte. Seine Gastgeberin stand winkend am Fenster. Dann drehte sie sich um. »Na, Herr Pottbarg, gut geschlafen?«

Jakob lächelte. »Wenn man hier nicht schlafen kann, ist man selber schuld. Bin früh zu Bett und habe bis gerade geratzt wie ein Bär.«

»Na, dann haben Sie von unserer lebhaften Familienunterhaltung vorhin gar nichts mitbekommen. Inzwischen hat sich die Lage allerdings beruhigt. Mein Mann ist zur Arbeit, Rieke gerade in die Schule gefahren und Ole schläft noch. Was haben Sie denn heute vor?«

Jakob zögerte. »Ich weiß es noch nicht genau. Ich glaube, ich werde dem Grabstein von Hendrik deBoer einen Besuch abstatten, dann den Friedhof aufsuchen. Frau Albers, Ihre Tante, ich meine, ich soll ja Tant’ Anna zu ihr sagen, hat mir so vieles erzählt. Jetzt will ich sehen, ob ich passende Namen zu den Geschichten finde.«

Fenna nickte. »Ich finde es schön, dass Sie an dem Thema wirklich interessiert sind. Ich bin gespannt, was Sie zusammengetragen haben. Das Schwierigste wird sicher sein, Reales von Sagen und Aberglauben von altem Naturwissen zu trennen. Aber bei meiner Tante sind Sie in guten Händen. Nun frühstücken Sie erst einmal in Ruhe. Um viertel nach eins gibt es Mittagessen. Bis dann.«

Ehe Jakob antworten konnte, fand er sich schon allein am Küchentisch wieder. Genüsslich biss er in sein Brötchen. Es war der perfekte Tagesbeginn. Er war rundum zufrieden. Hier unten in der Küche seiner Gastgeber herrschte genau die Mischung zwischen Moderne und gelebter Gemütlichkeit, die er so liebte.

Inzwischen war er sich sicher, dass es ein guter Rat von Peer Goldberg gewesen war, auf die Insel zu fahren. Auch wenn ihm der Mittelteil seines Krimis immer noch fehlte.

Seit knapp einer Woche war er nun auf Baltrum, hatte schon viele Einwohner kennengelernt und ihren Geschichten zugehört. Manchmal wiederholten sich die Inhalte. Manchmal wichen sie ein wenig voneinander ab, doch es war immer spannend. Er dachte an Frau Boekhoffs Worte. Genau das war das Aufregende an den alten Lebensweisheiten: herauszufinden, wie sie entstanden waren, und welche Lehren man heute noch daraus ziehen konnte.

Er hatte alles, was er in den letzten Tagen von den Insulanern erfahren hatte, erst handschriftlich gesammelt, dann abends in sein Laptop eingegeben. Zu Hause in Hamburg würde er alles noch einmal überarbeiten. In eine interessante, gut lesbare Form bringen. Er musste zugeben: Was ihm zu Beginn eher als lästige Beigabe zu einem preiswerten Monat erschienen war, hatte ihn inzwischen mit Haut und Haaren gepackt.

Als die Küchentür mit einem Ruck aufgestoßen wurde, zuckte Jakob zusammen.

»Aha, Sie sind sicher der Schreiberling, den meine Mutter herbeordert hat, nicht wahr? Und außerdem gerade im Begriff, meinen Lieblingsschinken aufzuessen.«

»Das konnte ich doch nicht wissen«, versuchte Jakob sich zu rechtfertigen. »Den hat Ihre Mutter auf den Tisch gestellt.« Er stand auf und streckte dem jungen Mann, der in schlabberigen Jogginghosen, einem zerknitterten T-Shirt und strubbeligen blonden Haaren vor ihm stand, die Hand entgegen. »Sie müssen Ole sein, nicht wahr? Der Herr der sieben Weltmeere?«

»Bin ich, bin ich. Gestern angekommen. Würden Sie mir was von Ihrem Kaffee abgeben? Wette, meine Mutter hat genug für zwei gemacht.« Ole zog einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor und ließ sich mit einem lauten Stöhnen drauf plumpsen.

Jakob lachte. Er nahm eine Tasse, ein Frühstücksbrettchen, Messer und Löffel aus dem Schrank und legte alles vor dem jungen Mann auf den Tisch. »Ich mache mich gut als Steward, oder? Ihre Mutter hat mich in die Geheimnisse ihrer Küche eingewiesen. Falls sie mal nicht zu Hause ist und ich Hunger bekomme. Darf’s ein Brötchen sein? Käse ist ebenfalls da.«

Ole gähnte laut. »Gerne. Ist genau das, was ich brauche: schlafen und essen. Und ab und zu ein bisschen feiern. Drei Monate lang. Kann man mit leben, oder?«

»Das ist der Vorteil Ihres Berufes: viel freie Zeit und ein gutes Gehalt.« Jakob seufzte, als er an sein Bankkonto dachte. »Und ein relativ sicherer Arbeitsplatz. Aber ob mir der monatelange Aufenthalt auf See so großen Spaß machen würde – ich weiß nicht.«

»Fürs Familiegründen ist es in der Tat nicht vorteilhaft«, antwortete Ole mit vollem Mund. »Aber sonst geht’s. Will ich auch nicht ewig machen. Mal sehen, was später so läuft. Havariekommissar oder so. Und Sie – erzähl’nse mal von sich. Aber vorher – ich heiße Ole. Ist doch einfacher, oder?«

»Da hast du recht. Jakob. Aus Hamburg.« Jakob überlegte, wo er anfangen sollte. Beim Einkommen besser nicht. »Also, ich habe in den letzten Jahren Krimis geschrieben. Regionalkrimis. Hamburger Regionalkrimis. Genauer gesagt Alsterkrimis … Mein nächster soll in ein paar Monaten erscheinen. Dann geht es wieder los mit Lesungen und so. Deutschlandweit. Jede Menge Arbeit.«

»Ach, und da hast du dir jetzt eine Auszeit genommen zum Erholen?«, fragte sein Gegenüber neugierig.

Jakob schnitt ein frisches Brötchen auf. »Nun ja, Erholung, ich weiß nicht. Man könnte es eher wissenschaftliche Studien nennen. Deine Mutter hatte die Idee mit dieser geschichtlichen Aufarbeitung. Hochinteressant. War gleich Feuer und Flamme. Ist ein gutes Gefühl, sein Können dieser interessanten Aufgabe zur Verfügung zu stellen«, sagte er selbstgefällig. »Und wer weiß, vielleicht springt zusätzlich neuer guter Krimistoff dabei raus. Als Schreiber ist man immer auf der Suche nach Input.«

»Das sieht man«, grinste Ole und zeigte auf das Brötchen, das Jakob gerade mit einer doppelt gefalteten Scheibe Schinken belegte.

»Ich meinte natürlich eher geistiger Natur«, nuschelte Jakob beleidigt. Er konnte quasi fühlen, wie sein Gesicht rot anlief. »Aber ohne Essen geht es schließlich nicht. Gerade wir Autoren müssen auf abwechslungsreiche Kost achten. Der Geist will ständig frisch genährt sein, und der Körper hat mit dem vielen Sitzen in den endlos langen Stunden des Denkens und Schreibens sonst Probleme …«, Jakob stockte. Ole hatte seinen Kopf in die verschränkten Arme gelegt, und wenn der Mann nicht gerade aus Mitgefühl weinte, dann lachte der, dass sein ganzer Körper zuckte.

Jetzt war Jakob richtig sauer. Er wischte sich den Mund mit der bunten hühnerbedruckten Papierserviette ab, die seine Gastgeberin dekorativ gefaltet neben seinen Teller gelegt hatte, stand auf und verließ die Küche. Was bildete sich dieser Schnösel eigentlich ein? Der hatte bestimmt von Literatur nicht die geringste Ahnung. Und auch nicht davon, wie viel Kraft mit jedem Buchstaben verbunden war, den man aufs Papier brachte. Wort für Wort. Zeile für Zeile. Seite für Seite. Ein täglicher Kampf. Die beste Formulierung. Man ruhte nicht eher, bis sie gefunden, entstaubt, immer wieder auf den Prüfstand gestellt und zu guter Letzt niedergeschrieben war. Und dann, als krönender Höhepunkt, musste man sich noch mit Leuten wie Petra Grobert rumschlagen!

Langsam stieg Jakob die Treppe hoch zu seiner Ferienwohnung. Was war das für eine gehässige Kuh! Kollegenneidisch. Hochgradig. Dass man so eine im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ihr Unwesen treiben ließ, wollte ihm nicht in den Kopf. Nur langsam beruhigte sich sein Puls, und seine Gedanken richteten sich wieder auf das, was ihn auf die Insel geführt hatte.

*

Fenna Boekhoff saß in ihrem Wohnzimmer und nippte vorsichtig an ihrem heißen Holundertee. Ihr Blick suchte das Gartenhaus, das nebenan, von der Straße nicht einsehbar, auf dem Nachbargrundstück bei den Grombachs stand. Horst Grombach hatte es vor einigen Jahren hinter seinem großen Wohnhaus zwischen zwei ausladenden Pappeln bauen lassen. Zu Anfang hatte er tatsächlich nur sein Gartenwerkzeug darin gelagert, aber dann hatte es nicht lange gedauert, bis die ersten Feriengäste dort eingezogen waren. Ob er je eine Genehmigung dafür bekommen hatte, bezweifelten die meisten Insulaner.

Stefan war wieder da. Ein Jahr war seit dem letzten Wiedersehen vergangen. Schon Tage vor seiner Ankunft hatte sie der Gedanke nervös gemacht, ihn zu sehen. Als es dann so weit gewesen war, hatte sie sich vor Aufregung fast übergeben müssen. Sie hasste das Prozedere, sich wie zwei entfernte Bekannte über den Gartenzaun begrüßen zu müssen.

»Tag, Herr Mendel, Sie auch wieder hier?«

»Tag, Frau Boekhoff, tatsächlich, ein Jahr ist wieder rum.«

Grauenhaft, dieses Gesieze in der Öffentlichkeit. Aber es hatte sich irgendwie so ergeben.

Dann hatte sie die unwiderstehlichen Lachfältchen um seine braunen Augen gesehen und alles war gut gewesen.

Sie merkte, wie ihre Hände beim Hochnehmen der Tasse zitterten. Warum musste er immer wieder auf die Insel kommen? Gab es nicht genügend andere abgeschiedene Orte, die er mit seinen schwierigen Kindern aufsuchen konnte? Wieso nicht Norderney? Oder Amrum?

»Es passt so gut«, hatte er ihr erklärt. »Das Gartenhaus hat genau die richtige Größe für meine Truppe. Um diese Zeit sind kaum Gäste da, die sich gestört fühlen könnten. Ich kann mit den Jungs Ausdauertraining am Strand machen bis zum Abwinken und ihnen so die gefährlichen Gedanken an Diebstahl und Kampf aus dem Kopf treiben.« Mit einem Lächeln hatte er hinzugefügt: »Außerdem ist es schön, wenn wir uns wiedersehen, oder?«

Ihr war klar, dass sie es gar nicht anders wollte. Einmal im Jahr sie beide. Das musste reichen.

Sie stand auf, als sie Oles Stimme im Flur hörte. »Mama, wo steckst du?«

»Hier, ich bin im Wohnzimmer.«

Kurz darauf stand ihr Großer im Raum und lachte sie fröhlich an. »Habe soeben ein äußerst vergnügliches Gespräch mit dem Herrn Literaten gehabt. Mann, der glaubt aber fest an sich selbst.«

»Na ja, es kann eben nicht jeder so bodenständig sein wie wir. Wir wissen, dass man auch mit Toilettenputzen sein Geld verdienen kann, nicht wahr?«, sagte Fenna.

Ole nickte. »Oder mit Reinigen von Ballasttanks. Ein wirklich schweißtreibender Job. Aber nützt ja nix. Irgendwie muss man über die Runden kommen.«

Fenna berührte ihren Sohn leicht am Arm. »Es ist schön, dich wieder bei uns zu haben. Erhol dich erst einmal richtig. Hier hast du die Gelegenheit.«

»Genau das werde ich tun und mich noch zwei Stündchen meinem Bett anvertrauen«, antwortete Ole und war verschwunden.

Fenna atmete tief durch. Sie hatte keine Ahnung, wie es ihr immer wieder gelang, die Gefühle, die sie im Moment beherrschten, nicht nach außen dringen zu lassen. Zumindest hoffte sie, dass es so wäre. Kein Mensch durfte davon erfahren, vor allem nicht ihre Familie.

Sie schaute auf die Uhr. Noch eine Stunde. Dann würde er die Aufsicht über die vier Jungen für kurze Zeit in die Hände der anderen Betreuer legen und sich mit ihr in den Dünen treffen. Er hätte ihr was zu erzählen, hatte er wie beiläufig gemurmelt, als sie sich morgens zufällig gesehen hatten. Er war wie immer von seinen Schützlingen umringt gewesen.

Im Garten nebenan bemerkte sie Horst Grombach, der einige Ausläufer der großen Pappel mit der Astschere beschnitt. Der Herr arbeitet selbst?, dachte sie erstaunt. Sonst lässt der doch nur seine Angestellten malochen. Dann fiel ihr ein, dass Viktor, der es als Hausmeister tatsächlich einige Jahre bei ihm ausgehalten hatte, vor ein paar Wochen aufgehört hatte. Man sagte, es hätte wiederholt zwischen den beiden Streit gegeben. Nicht zuletzt um den jämmerlichen Lohn, den Grombach seinen Mitarbeitern zahlte. Das Wort Mindestlohn konnte der nicht einmal buchstabieren.

Ihr Nachbar legte das Arbeitsgerät ins Gras und zündete sich eine Zigarette an.

Horst Grombach und seine Frau waren seit etwa zehn Jahren ihre Nachbarn, angereist aus Hessen. »Wir wollen doch mal sehen, ob man hier nicht ganz schnell ganz viel Geld verdienen kann«, waren die Worte gewesen, mit denen sich Grombach auf der Insel eingeführt hatte. Zuerst hatten sie das Haus mit den acht Ferienwohnungen gekauft und auf den neuesten Stand gebracht und den großflächigen Garten neu gestaltet. Wie sagte neulich jemand? Nach den Richtlinien deutscher Gartenbaukunst. Schön ordentlich! Bei Horst Grombach musste der Rasen mit Zirkel und Wasserwaage beschnitten werden. Wöchentlich.

Boekhoffs ließen die Natur gerne wachsen. Gemäht wurde zweimal im Jahr. Völlig ausreichend auf einer Insel, fanden Fenna und ihr Mann. Da die beiden Grundstücke nur durch den auf Baltrum üblichen weißen Holzzaun getrennt waren, hatte es zu Anfang ein paar Diskussionen zwischen Boekhoffs und ihren neuen Nachbarn gegeben. Ein immer wiederkehrendes Thema war dabei die Flugweite von Unkrautsamen gewesen. Dann hatte Jörg Boekhoff, der ansonsten eher zu den Stillen im Lande gehörte, ein Machtwort gesprochen. Laut und unüberhörbar. Seitdem grüßte man sich, aber das war es dann auch schon.

Inzwischen besaßen Grombachs tatsächlich mehrere Häuser auf der Insel. Er machte den Papierkram, seine Frau musste putzen.

Das kleine Gartenhaus vermieteten sie inzwischen sommers wie winters an feste Gruppen. So auch an das Better Life Camp, ein Heim für verhaltensauffällige junge Menschen. Vier Jugendliche – Fenna schätzte sie zwischen dreizehn und sechzehn – und drei Betreuer waren in diesem Jahr auf die Insel gekommen. Auch der Leiter des Camps, Stefan Mendel, war wieder mit dabei. Ihr Stefan.

Horst Grombach war mit den Jahren auf der Gewinnerseite angekommen. Diesen Eindruck erweckte er zumindest, wenn er mit hocherhobenem Kopf auf dem Fahrrad unterwegs war, um seine Immobilien zu begutachten. Seine große Klappe ging vielen auf den Geist. Sein Erfolg schien ihm allerdings recht zu geben. Zumindest war dies Grombachs feste Überzeugung. Seine Frau Christina jedoch war mit den Jahren immer stiller geworden. Sie sagte kaum ein Wort, nickte nur verhalten freundlich, wenn sie und Fenna sich auf der Straße begegneten. Weder nahm sie an den Aktivitäten des Kultur- und Sportvereins teil, noch war sie anderweitig irgendwie öffentlich anzutreffen. Das wäre mir viel zu langweilig, überlegte Fenna, und dachte daran, wie oft sie versucht hatte, Christina in das insulare Leben einzubinden. Es war ihr bis heute nicht gelungen.

*

Er fror. Genau wie gestern und vorgestern. Warum hatte er nur so eine dünne Jacke an, die allenfalls für kurze Wege auf der Rothenbaumchaussee geeignet war? Und dann auch nur, wenn man mit dem Auto unterwegs war? Es hätte ihm klar sein müssen, dass dieses Teil nicht ausreichen würde, seinem Körper vor dem kalten Nordseewind Schutz zu bieten. Windstärke sechs aus Nordwest, das steckte man eben nicht einfach so weg. Und die Böen erst. Selbst bei Rückenwind – unerträglich! Ärgerlich zog er seinen Kragen noch fester um den Hals.

Hätte er doch bloß … Quatsch. Hätte er nicht. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, dachte er säuerlich, ich habe gar keine Jacke, die diesen Novemberwetteransprüchen genügen würde. Keine von diesen dicken Dingern mit Vlies innendrin, mit denen hier jeder rumlief. Mit einer schönen, warmen Kapuze dran. Er hatte das Gefühl, seine Ohren frören langsam ab. Dabei hatte er immer gedacht, dass seine langen Haare den Kopf vor Kälte schützen würden. Taten sie aber nicht. Unwillig schüttelte er seine Mähne. Das Einzige, was passierte, war, dass die Haare ihm ständig vor dem Gesicht rumwehten. Das nächste Mal würde er sie sich mit einem Gummiband zusammenbinden, bevor er rausging. Das war sicher.

Und selbst, wenn er sich eine dicke Jacke zulegen wollte, er hätte gar kein Geld für so ein schönes, kuscheliges Teil. Das war die nackte Wahrheit. Immerhin bekam keiner mit, wie sehr er in der dünnen Jacke zitterte. Es war weit und breit keine Menschenseele zu sehen.

Vor der Kläranlage fand er den alten Grabstein, dessen Inschrift er sich notieren wollte. Er ging in die Knie und versuchte, die in den Stein gehauene Schrift zu lesen.

HIER RÜST HET

S.V.L.K.D.

VAN H.D.DE BOER

GB. 12.OKT. 1794 IN VEENDAM

OVERLEDEN ALLHIER

DEN 12. JULI 1849

Jakob hatte gehört, dass die Insulaner den holländischen Schiffer nicht auf ihrem Friedhof beerdigen wollten, weil er sie zu Lebzeiten böse beschimpft und verflucht hatte. »Auf diesem Sandhaufen möchte ich nicht einmal begraben sein«, hatte der Mann gerufen, als er eines Tages um Weißbrot und Genever bat, jedoch von den armen Inselbewohnern nur Schwarzbrot und Ziegenmilch angeboten bekam. So wurde ihm denn, als er ein paar Jahre später auf seinem Schiff im Wattenmeer unterhalb der Insel starb, eine christliche Beerdigung auf dem Friedhof verweigert.

»Einen gästefreundlicheren Platz als vor der Kläranlage konnten sich die Insulaner für diesen Stein wohl nicht aussuchen«, schimpfte Jakob vor sich hin, als er sich wieder aufrichtete. Er mochte gar nicht daran denken, dass er jeden Meter, den er gen Osten gelaufen war, Richtung Westen wieder zurücklaufen musste, wenn er Tant’ Anna besuchen wollte. Sie wohnte in einem der letzten Häuser im Westdorf. Er schauderte bei dem Gedanken an den weiten Weg, den er noch vor sich hatte. Außerdem – was hieß hier überhaupt ›besuchen wollte‹? Er musste wohl oder übel. Schlafen und essen gegen schreiben, so war es abgemacht. Mit eingezogenen Schultern ging er los. Seine Hände steckten tief in den Taschen seiner verwaschenen Jeans.

Zu Anfang hatte er es nicht leicht gehabt mit der alten Frau Albers. Sie war bereits weit über achtzig und hatte nicht das Gefühl, dass sie es ihrer Nachwelt schuldig war, die alten Geschichten zu erhalten. Erst als er versprochen hatte, ihr ein kostenloses Exemplar des neuen Buches persönlich vorbeizubringen, hatte sie eingewilligt. Die Sache mit dem ›persönlichen Vorbeibringen‹ hatte er in diesem Moment nicht so ganz ernst genommen. Er würde mit Sicherheit seine Lesetournee nicht unterbrechen, nur weil auf Baltrum eine Sammlung von sagenumwobenen Sinnsprüchen erscheinen würde – in einer Auflage von zwanzig Stück! Das Verteilen sollte mal Frau Boekhoff schön übernehmen. Schließlich war sie diejenige, die die Idee zu dem Buch gehabt hatte, und sie war außerdem die Nichte der alten Dame und Tant’ Anna hoffentlich zu alt, um sich an sein Versprechen zu erinnern.

Er klopfte und hörte ein schwaches »Komm man rin. Na, wo geiht di dat?« Tant’ Anna stand mit ihrer bunten Küchenschürze im Flur und schaute ihm freundlich entgegen. »Treck di man dien Jack ut.«

Mühsam schälte er sich mit durchgefrorenen Händen aus seiner Jacke und folgte Tant’ Anna in die behaglich warme Küche. Tee und zwei reichlich mit Butter bestrichene Scheiben Rosinenstuten standen schon auf dem Tisch, so als ob sie gewusst hätte, dass er genau jetzt bei ihr zur Tür hereinkommen würde.

Sie lachte, als sie Jakobs erstauntes Gesicht sah. »Ist keine Spökenkiekeree. Meine Nachbarin hatte dich eben auf der Hafenstraße gesehen und mir davon erzählt. Da dachte ich mir: De Jung kummt bestimmt bi mi.«

Er setzte sich auf die gemütliche Eckbank, und ließ den Teeduft in die Nase ziehen. Er traute sich noch nicht, die Tasse an den Mund zu setzen. Stattdessen hatte er seine Hände zwischen seine Beine geklemmt und hoffte, dass das Zittern bald nachlassen würde.

Auf dem Tisch, neben der Teekanne, stand eine Vase. Darin Zweige mit grünen Blättern und Trauben von dunkelblauen Beeren. Er wunderte sich. Um diese Jahreszeit?

»Holunder. Holunderzweige im Haus bringen Glück. Und Glück ist wichtig, min Jung. Der Holunder hat auf der Insel eine besondere Bedeutung. Früher wurde er hier sogar als Grenzmarkierung von Grundstücken gesetzt. Kann man heute zum Teil noch sehen, wenn man mit wachen Augen herumläuft. Schriev dat man glieks op«, sagte Tant’ Anna eifrig.

Jakob beeilte sich, seinen Schreibblock aus der Tasche zu zerren. Das war doch mal wieder eine interessante Geschichte. »Aber wieso sind die Zweige jetzt noch grün?«, wunderte er sich und hoffte, ein wenig Mysteriöses über den Holunder zu erfahren.

»Ich habe sie im Herbst abgeschnitten und mit Haarspray besprüht. So bleiben sie den ganzen Winter über schön«, war Tant’ Annas lapidare Antwort, und damit war sein Traum vom Mysterium schlagartig zu Ende.

»Wie geht es meiner Nichte?« Tant’ Anna schob ihm mit aufforderndem Blick den Teller mit den Scheiben Krintstuut herüber. »Ich habe sie schon drei Tage nicht gesehen. Hat wohl was Besseres zu tun, als ihre alte Tante zu besuchen. Ole soll auch wieder da sein, oder?«

Jakob nickte mit vollem Mund. »Gestern wieder eingelaufen. Wird sich bestimmt blicken lassen.« Er mochte nicht gern an die Szene morgens beim Frühstück erinnert werden und beteuerte: »Deiner Nichte geht es gut. Aber wenn ich noch einmal auf den Holunder zurückkommen darf: Gibt es darüber noch mehr zu berichten?«

Tant’ Anna nickte. »Man darf Holunder auf keinen Fall abholzen. Das gibt Unglück. Diese Aussage hat einen guten Grund. Denn als dieser Glaube entstand, gab es außer Holunder hier nichts, was in die Höhe wuchs, kein anderer Strauch, kein Baum und keine Heckenrose hatte sich bis dahin hier angesiedelt. Nur Holunder. Deshalb wurde er so verehrt. Aber glaub mir, min Jung. Es stimmt bis heute. Holunder abholzen bringt Unglück. Nur weiß das außer mir keiner mehr. Sind alle weggestorben mit der Zeit. Alle weg.«

Jakob merkte, dass Leben in seine Fingerspitzen zurückgekehrt war und langte nach seiner Tasse Tee. Tant’ Anna war in ihrem Polsterstuhl zusammengesunken und hatte die Augen geschlossen. Er kannte das. Sie würde sich drei, vier Minuten in sich selbst zurückziehen, um dann plötzlich die Augen aufzuschlagen und ihn verschämt anzulächeln.

Er lehnte sich zurück. Sofort umfing auch ihn eine leichte Müdigkeit. Ihm war, als würde ihn die Wärme aus einem alten Kachelofen wie ein wollenes Tuch umfangen. Dabei stand in Tant’ Annas Küche ein hochmoderner Induktionsherd und an der Wand unter dem Fenster hing ein normaler Heizkörper. Aber irgendwie war es anders. Ihm fiel nur das alte Wort ›heimelig‹ ein, wenn er die Situation beschreiben wollte. Lag es an der alten Frau, die so friedlich in ihrem Sessel schlief, an der Vielzahl der Bilder an den Wänden, die von mehreren Generationen Leben auf der Insel erzählten, oder war es einfach das leise Flackern des Teelichtes im Stövchen unter der Kanne?

Sollte er wohl gehen? Er schaute auf die Uhr. Gleich zwölf. Er hatte noch ein wenig Zeit bis zum Mittagessen. Und nicht die geringste Lust, sich jetzt schon wieder der Kälte auszusetzen.

In diesem Moment wachte Tant’ Anna auf. »Herr … äh … Jakob … min Jung, schön, dass du noch da bist. Muss wohl weggedummelt sein. Passiert immer häufiger in letzter Zeit. Weiß nicht, wieso.«

»Es liegt wohl an der Jahreszeit«, beeilte sich Jakob zu sagen. »Es ist eben November.« Er stockte. Irgendwie kam ihm diese Erklärung eher mau vor, und auch Tant’ Anna schaute ihn skeptisch an.

»Dann müsste ich schon seit Anfang des Jahres November haben, mein Lieber«, antwortete sie leise lächelnd. »Wenn du allerdings mit ›November‹ auf mein Alter anspielst, dann hast du sicher recht. Doch eines kannst du mir glauben: Mein Kopf, der ist noch fit, auch wenn der Körper inzwischen etwas nachlässt.«

»Na gut, dann wollen wir uns ein wenig um den Kopf kümmern«, antwortete Jakob, froh, das Thema wechseln zu können. »Wie wär’s mit einem neuen Sinnspruch?«

Tant’ Anna überlegte. »Hast du gewusst, dass die Kinder früher ihre Leibchen – du weißt, was Leibchen waren?«

Jakob zögerte und Tant’Anna erklärte: »Leibchen trugen die Kinder zwischen Unterhemd und Hose. Daran wurden die langen Strümpfe festgemacht. Also, dass die ihre Leibchen verkehrt herum angezogen bekamen, um Unglück abzuwenden?«

»Eine schöne Idee, aber das war bestimmt sehr unangenehm für die Kinder«, überlegte er.

»Die Kindererziehung hat sich in den Jahrzehnten grundlegend geändert, das ist sicher. Heute bekommen die sogar noch einen Urlaub geschenkt, wenn sie zu Hause Unheil anrichten. Aber was nützt es, ich bin alt und verstehe manchmal die Welt nicht mehr richtig«, seufzte Tant’ Anna.

»Du meinst die Gruppe, die im Gartenhaus bei deiner Nichte nebenan wohnt?«, fragte er neugierig. Er hatte die vier Jungs mit ihren Betreuern am Tag zuvor auf der Straße getroffen.

Better Life Camp hatte in großen roten Buchstaben auf ihren Sweatshirts gestanden. Sie hatten einen Fußball lachend immer wieder quer über die Straße getreten. Als er die Gruppe gerade vorsichtig umrundet hatte, schien die Stimmung zu kippen. Einer der Jugendlichen hatte empört aufgeschrien, ein anderer laut und hämisch gelacht. Ein kurzer scharfer Ruf eines der Erzieher hatte jedoch schnell wieder Ruhe in die Truppe gebracht.

»Ja, die kommen schon seit ein paar Jahren«, erklärte Tant’ Anna. »Bisher ist alles gut gegangen. Manche Insulaner finden ihre Anwesenheit jedoch nicht sehr beruhigend und würden ihnen am liebsten Inselverbot erteilen.«

»Geht das denn so einfach?«, fragte Jakob erstaunt.

»Das weiß ich nicht. Allerdings, wenn die vierzehn Tage vorbei sind und die Truppe wieder abgereist ist, gerät ihre Anwesenheit genau so schnell wieder in Vergessenheit.« Tant’ Anna zeigte fragend auf die Teekanne, doch Jakob winkte ab.

»Ich muss los. Deine Nichte wartet mit dem Mittagessen. Darf ich später oder morgen wiederkommen?«