Fiese Friesen 2 - Kriminelles zwischen Meer und Moor - Ulrike Barow - E-Book

Fiese Friesen 2 - Kriminelles zwischen Meer und Moor E-Book

Ulrike Barow

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Beschreibung

Ostfriesland steht für Ruhe, Erholung, Abgeschiedenheit. Aber Ostfriesland ist auch das Land der Gegensätze. Daraus ergeben sich allerhand Konflikte, in denen die Frontlinien oft überraschend verlaufen. Umweltschutz gegen Windkraft, Landwirte gegen sauberes Wasser, Vermieter gegen Fremde - kaum zu glauben, wie fies die Friesen werden können! Dann kocht den angeblich so kühlen Küstenbewohnern das Blut, und die Wogen der Erregung schlagen hoch. Schon wird aus manchem Nordlicht ein Mordlicht …

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Peter Gerdes (Hrsg.)

Fiese Friesen 2 – Kriminelles zwischen Meer und Moor

Kurzkrimis

Zum Buch

Düne, Watt und Mord Die Liebe zu Ostfriesland macht viele Touristen zu Wiederholungstätern. Aber Vorsicht – Liebe kann auch blind machen! Denn Ostfriesland, das Land der Gegensätze, gestählt durch den ständigen Kampf gegen die Gezeiten, ist längst nicht immer und überall so friedlich, wie es uns glauben machen will. Zwischen Meer und Moor, Deich und Düne, Torf und Tee wuchern die Konflikte um die Wette, und allerorten reifen die Mordpläne. Dann zeigt sich, wie fies die Friesen werden können! Ob es nun gegen übergriffige Vermieter, gegen kleine Raubfische oder große Immobilienhaie geht, ob alte Rechnungen beglichen oder neue Geliebte entsorgt werden sollen – Friesen sind findig. Nicht jeder große Coup gelingt, aber längst nicht jeder Missetäter landet am Ende vor Gericht. Denn auch die friesische Polizei ist manchmal sehr speziell …

Peter Gerdes, geboren 1955 in Emden, lebt in Leer (Ostfriesland). Er studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Seit 1995 schreibt er Krimis und betätigt sich als Herausgeber. 1999 übernahm er die Leitung des Festivals „Ostfriesische Krimitage“ und wurde 2018 CRIMINALE-Beauftragter des SYNDIKATS. Die Krimis „Der Etappenmörder“, „Fürchte die Dunkelheit“ und „Der siebte Schlüssel“ wurden jeweils für den Literaturpreis „Das neue Buch“ nominiert.

Mehr Infos unter: www.mordwesten.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Willowpix / istockphoto und Inga Nielsen / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-7082-0

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Inhalt

Nerven blank

Ralf Kramp

Freie Kunst für Moormerland

Barbara Wendelken

Touristenschreck

Peter Gerdes

Die Wahrheit kennt nur der Wind

Tatjana Kruse

Rheiderländer Kochduell

Heike Gerdes

Die Kakofonie

Günter Neuwirth

Rupert ermittelt

Klaus-Peter Wolf

Vogelkiek

Ulrike Barow

Fürchtet euch nicht!

Günther Thömmes

Investition in die Zukunft

Regine Kölpin

Boskops Blut

Peter Gerdes

Katerfrühstück

Heike Gerdes

Der nervigste Gast aller Zeiten

Peter Godazgar

Kurzbiografien

Lesen Sie weiter …

Nerven blank

Ralf Kramp

Mal ganz unter uns, von Amts wegen darf ich das eigentlich nicht weitererzählen, aber ich weiß ja, dass das bei Ihnen gut aufgehoben ist. Sie sind ja auch nicht von hier, da besteht keine Gefahr, dass das den falschen Leuten zu Ohren kommt. Gut, ich bin auch kein gebürtiger Ostfriese, aber das gütige Schicksal hat mich vor etwa anderthalb Jahrzehnten hierhin geführt, da war ich … warten Sie mal … 35. Ja, 35 muss ich da gewesen sein. Zuerst Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen, dann zweite juristische Staatsprüfung in Hannover, da bin ich dann ein paar Jahre geblieben, tja, und dann wurde diese Stelle frei. Richter am Amtsgericht Aurich, erste Zivilkammer. Klingt gemütlich, oder? Unter uns: Ist es eigentlich auch. Klar, da gibt es immer auch mal Stress, aber im Großen und Ganzen muss schon viel passieren, bis bei uns mal die Nerven blankliegen.

Nerven blank … ja genau, das wollte ich Ihnen doch erzählen: Schon mal was von Temmo und Wilko Joken gehört? Den Zwillingen vom Jokenhof? Nein? Ja, um die geht es. Ist auch ganz gut so, dass Sie die nicht kennen. Wie gesagt, eigentlich dürfte ich darüber nicht … egal. Temmo und Wilko sind Zwillinge, 78 Jahre, ziemlich verschroben. Die kennt hier in und um Aurich herum jeder. Das sind so zwei schwer vermittelbare Junggesellen. Sehr eigen, sehr speziell. Meine Frau rümpft immer die Nase, wenn ich abends zu Hause erzähle, dass die zwei mal wieder bei uns zu einer Verhandlung angetanzt sind.

Wie? Oh ja, das passiert dauernd. Irgendwas haben die immer. Grundstücksgeschichten, Beleidigungen, üble Nachrede, solche Sachen eben.

Ich habe da mittlerweile richtig Vergnügen dran. Meine Frau, wie gesagt, die kann daran nix Komisches finden, aber die kommt ohnehin nicht so gut mit der hiesigen Bevölkerung klar. Manchmal glaube ich, dass sie am liebsten in Hannover geblieben wäre. Na ja, da kann ich ihr leider nicht helfen.

Jetzt sitzt sie mir gegenüber, während ich gemütlich frühstücke und in der Ostfriesen-Zeitung blättere. Sie tippt auf ihrem Handy rum und organisiert ihren Tagesablauf. Fitnessstudio, Fingernägel, Friseur – die drei Fs. Ich komme nicht von ungefähr gerade jetzt auf Temmo und Wilko, denn mit der fetten Schlagzeile in unserer Tageszeitung haben genau diese beiden alten Zausel zu tun.

»Liebling«, sage ich und schlürfe am Kaffee.

Sie guckt gar nicht auf und fragt nur: »Hm?«

»Erinnerst du dich, dass ich erst letzte Woche gesagt habe, dass Temmo und Wilko schon lange nicht mehr vor Gericht waren?«

»Hör mir auf mit denen«, murmelt sie mit zusammengekniffenen Augen. »Weiß gar nicht, was du an den Blödmännern so ulkig findest.«

Ja, was finde ich an denen eigentlich so ulkig?

Als ich vor 15 Jahren hierherkam, hatten sie gerade diesen erbitterten Erbstreit. Ihre Mutter, die alte Johanne Joken, hatte gerade mit knapp 90 das Zeitliche gesegnet. War mit dem Trecker im Berumfehner Moor von der Straße abgekommen und in einen Schloot gekippt. Die Brüder warfen sich damals gegenseitig vor, nicht auf die schon reichlich demente Mutter aufgepasst zu haben. Und nachdem die Beerdigung mit allen Drum und Dran erledigt war, ging der Streit um das Erbe los.

Nur einen Steinwurf vom alten Hof zwischen Eversmeer und Neuschoo hatten die Jokens in den 90ern einen Neubau hingesetzt. Das hatte damals schon für verschiedene juristische Auseinandersetzungen gesorgt. Der Vater, der alte Lübbo, war wohl auch schon so ein Kaliber. Nachdem jetzt die Eltern tot waren, stand eigentlich fest, dass Temmo den alten Hof und Wilko den Neubau bewohnen sollte. Nach dem Streit um den Tod der Mutter war aber Temmo damit nicht mehr einverstanden, und dann wurde Wilko, der sich bereits im neuen Gebäude eingerichtet hatte, da wieder rausgeklagt. Zwei Jahre lang ging das dann vor Gericht hin und her, die Anwälte haben eine Menge Geld verdient, und dann musste Temmo wieder aus dem Neubau zurück auf den alten Hof. Und wenn Sie jetzt denken, dass es das damit gewesen wäre, liegen Sie falsch. Drei Mal ging das hin und her! Und jetzt wohnt Wilko also im elterlichen Hof, und Temmo sitzt im Neubau. Oder doch andersrum? Ist ja auch egal. Das wäre also wohl endgültig geregelt, könnte man meinen, aber danach ging der Kleinkrieg erst richtig los.

Der Wilko stellt jedes Jahr im Sommer so eine hässliche zerlumpte Vogelscheuche in den großen Kirschbaum. Dass der das Gesicht von seinem Bruder hier im Copyshop hat groß ausdrucken lassen und der Vogelscheuche als Gesicht aufgeklebt hat, hätte auch nach hinten losgehen können, denn immerhin sind sie ja Zwillinge. Aber sein Bruder hat so eine Narbe auf der linken Wange, weil er als Kind mal kalte Ravioli direkt aus der Dose gegessen hat, ohne Besteck, nur mit dem Mund. Die Narbe hat Wilko auf der Vogelscheuche mit Edding ganz fett in Rot markiert.

Dann kam die Sache mit dem Spüli. Die Kühe vom Wilko hatten plötzlich alle Schaum vorm Mund, nachdem sie auf dem Feld aus der Wassertränke gesoffen haben. Und sie haben gut aus dem Hals gerochen.

Gar nicht gut aus dem Hals gerochen hat dagegen der Temmo, als sie ihn zwei Monate später verhaftet haben, weil er in der Nacht zuvor angeblich stockbesoffen acht Hühner seines Bruders mit dem Luftgewehr abgeknallt hat. Darunter war auch der Zuchthahn Scooter, mit dem Wilko 2004, 2005 und 2006 den ersten Platz bei der Rassegeflügelschau in Aurich gemacht hat.

Dafür hat der Wilko ihm ein paar Wochen später die Hälfte seiner Schafherde mit Bitumen geteert.

Das waren alles so hinterhältige Sachen. Irgendwie ist keiner von denen jemals verurteilt worden, denn entweder war die Beweislage zu dünn, oder die Anwälte haben die immer wieder rausgepaukt. Ich glaube, die haben fast ihr ganzes Vermögen vor Gericht verbraten.

»Erinnerst du dich noch an die kleine Hütte?«, frage ich meine Frau, die sich immer noch sehr intensiv ihren drei Fs widmet. Sie blickt kurz von ihrem Handy auf und runzelt die Stirn. »Hütte?«

»Ja, die kleine Hütte, die genau auf der Grenze zwischen den Grundstücken vom alten und vom neuen Jokenhof steht. Das hat bei den beiden damals das Fass zum Überlaufen gebracht!«

Sie schnaubt verächtlich. »Lass mich doch mit den zwei Idioten in Ruhe.«

Ja, die zwei Idioten … Bei der Hütte haben sie endgültig bewiesen, dass sie das sind.

Das ist so eine winzige Bruchbude auf einem kleinen dreieckigen Stückchen Brachland an einer Stelle, wo die jeweiligen Grundstücke der Brüder aneinandergrenzen. Da hatte der alte Joken einen Bollerofen drin gehabt und ein paar Schnapsflaschen, und wenn es anfing zu regnen, dann kroch der da schon mal unter, um trocken zu bleiben. Manchmal auch bei schönem Wetter, wenn er Krach mit seiner Johanne hatte.

Um diesen Kotten hatte sich jahrzehntelang keiner gekümmert, bis der Temmo auf einmal beschloss, der gehöre zu seinem Anwesen, und den als kleine rustikale Ferienunterkunft an die Touristen vermieten wollte. Da hat Wilko ihn ganz fix rausgeklagt, weil er nämlich der Meinung war, dass die Hütte zu seinem Anwesen gehört. Und dann hat er die Idee seines Bruders fortgeführt. Aus Temmos Huuske wurde da ruck-zuck Wilkos Huuske.

Das geht natürlich nicht so einfach, denn streng genommen hat es für das Ding nie eine Baugenehmigung gegeben. Und dann gibt es ja auch noch Beherbergungsgesetze und Hygienevorschriften … Ich will Sie nicht mit juristischen Interna langweilen. Jedenfalls gab es nicht weniger als 17 Klagen wegen dieser Bretterbude. Der Wilko wollte sie abreißen und ein Windrad da hinbauen, dann hat der Temmo den Denkmalschutz eingeschaltet … völliger Quatsch natürlich, aber das dauert, dauert und dauert. Ich bin irgendwann da rausgefahren und habe mir das Ding mal aus der Nähe angeguckt. Sieht ziemlich heruntergekommen aus. Bett, Tisch, zwei Stühle … Alles stockfleckig und staubig. Wie man darum so einen Wind machen kann, ist mir wirklich schleierhaft.

Und dann kam plötzlich irgend so ein Lokalhistoriker mit einer alten Karte, und der konnte beweisen, dass das kleine dreieckige Grundstück in Wirklichkeit der Stadt Aurich gehört, und dass die Brüder schon wieder mal ein paar Jahre völlig umsonst prozessiert hatten.

Da eskalierte dann alles, da lagen die Nerven endgültig blank.

Platte Reifen an Wilkos Geländewagen, Temmos Todesanzeige im Wochenblatt. Glyphosat in Wilkos Gemüsegarten, kaputte Scheiben an Temmos Gewächshaus. Wenn die all die Energie, die sie an ihre jeweiligen Rachefeldzüge verschwendet haben, in ehrliche Arbeit investiert hätten …

Irgendwann hielt Aurich TV es für eine gute Idee, den Zwist mal im Fernsehen aufzuarbeiten, und dann konnte eines Abends die Bevölkerung diese beiden Hornochsen in all ihrer Pracht und Herrlichkeit auf dem heimischen Bildschirm bestaunen.

»Wenn der Temmo noch einmal seinen Fuß in diese Hütte setzt«, schnaubte der Wilko mit blutunterlaufenen Augen, »dann knall ich den ab!« Ich schwöre es, das hat der wirklich vor laufenden Kameras von sich gegeben.

Und der Temmo, der hat sogar noch seine Flinte präsentiert. »Hier, guckt genau hin! Mit dem Schießprügel baller ich dem Wilko ein Loch in die Birne, wenn der sich noch mal der Hütte nähert!«

Das kann man sich alles nicht ausdenken.

Ich selbst hab die zwei mindestens acht oder neun Mal bei mir im Gerichtssaal gehabt. Eine Kollegin sogar elf Mal!

Und wozu das alles? Für nichts und wieder nichts!

Obwohl …

Mein Blick wandert noch einmal über den Zeitungsartikel mit der fetten Schlagzeile. Jetzt ist wohl bei einem von den beiden endgültig die Sicherung durchgebrannt. Oder bei beiden. Man weiß es nicht so genau.

MÄNNLICHE LEICHE IN DER HÜTTE AM JOKENHOF

Weder Temmo noch Wilko, so viel scheint schon mal festzustehen. Ein junger Mann, der sich da besser nicht reingetraut hätte. Kann keiner von hier gewesen sein, sonst hätte er einen weiten Bogen um die Bude gemacht.

Womöglich sind beide gleichzeitig mit der Flinte auf ihn losgegangen, haben von beiden angrenzenden Grundstücken auf ihn geschossen.

Ich schiebe meiner Frau die Zeitung hin. Vielleicht interessiert sie ja die Schlagzeile, obwohl sie sich eigentlich nie für die zwei Prozesshanseln interessiert hat. Aber sie guckt gar nicht auf. Seit gestern Abend ist sie sehr mit ihrem Handy beschäftigt. Wen immer sie da auch erreichen will, reagiert nicht. Frantek heißt er, so habe ich im Laufe der Zeit herausgefunden, wenn ich mir ab und an mal heimlich ihren Chatverlauf angeguckt habe. Ist Pole, wohnt in Oldenburg und macht Musik in einer Band. Sie hat ihn wohl auf einem Festival in Manslagt kennengelernt. Frantek, ha! Sind ja sogar vier F, die meine Frau so auf Trab halten!

Tja, sie hätten sich wohl besser weiter in Oldenburg getroffen, obwohl das natürlich sehr umständlich ist. Warum kommt der auch auf einmal hierher, nach Aurich?

Unter anderen Umständen wäre der Kotten der Jokens ein ganz hübsches Liebesnest, und deshalb hab ich den Polen gestern Abend mit einer SMS von ihrem Handy für 22 Uhr dahin bestellt. Und die Nachricht gleich wieder gelöscht, klar. Eine Kerze sollte er ins Fenster stellen. Tja, ist meine romantische Ader.

Ich bin gespannt, ob einer von den Zwillingen dafür ins Kittchen wandert. Wäre schon irgendwie schade, oder? Wenn der ganze Zank jetzt so plötzlich beendet sein soll …

Nun ja, da sieht man mal wieder: Kein Ding ist so schlecht, dass es nicht doch für irgendwas gut wäre. Keine Angst, ich verschone Sie jetzt mit meinen Binsenweisheiten. Ich bin jedenfalls froh, dass Sie das alles für sich behalten. Aber Sie verstehen doch, dass ich das einfach irgendjemandem mal erzählen musste, oder?

Freie Kunst für Moormerland

Barbara Wendelken

Darf ich fragen, wer hier vertreten ist? Ostfriesen-Zeitung, Ostfriesische Nachrichten, Anzeiger für Harlingerland und Ostfriesen-TV? Keine überregionalen Medien? Nun gut, dann muss das eben reichen, auch wenn ich mir größere Resonanz erhofft hatte.

Wo ist die Kamera? Bitte filmen Sie mich von rechts, das ist meine Schokoladenseite. Danke. Machen wir vorher eine Tonprobe? Unnötig? Wie Sie meinen. Dann fange ich einfach an.

Meine Damen und Herren, betrachten Sie diese Veranstaltung als das letzte Aufbäumen einer gequälten Seele, einen Aufschrei gegen die Windmühlen einer hinterwäldlerischen Bürokratie, staatlichen Borniertheit und stumpfer Ignoranz.

Sie werden mir wohl recht geben, dass jeder Ort seinen eigenen Kulturschaffenden braucht, dessen Werk unlösbar mit dem Ort verbunden ist. Einen Künstler, der bei jedem kulturellen Event das Tüpfelchen auf dem I ist, das Sahnehäubchen, die Krönung. Moormerland, das ist Ihnen hoffentlich aufgefallen, ist in dieser Hinsicht ein weißer Fleck auf der kulturellen Landkarte.

Deshalb habe ich mich entschieden, diesen Platz einzunehmen. Im Interesse der Samtgemeinde Moormerland und der gesamten Region. Mein Name ist Friedo. Friedo mit i-e, bitte schreiben Sie das richtig. Friedo, das passt nahtlos in eine Reihe mit Christo, Dali und Banksy. Sie lachen, finden Sie das anmaßend? Das habe ich nicht anders erwartet, junge Frau. Alle großen Künstler mussten gegen Missachtung und Neid kämpfen, bevor ihr Genie erkannt wurde. Ich möchte mal sagen: Sie werden sich noch wundern. Dass ich zu einem so ungewöhnlichen Mittel wie einer Geiselnahme greifen muss, um endlich bemerkt zu werden, liegt einzig und allein an der Engstirnigkeit der Moormerländer, und hier möchte ich im Besonderen unseren Bürgermeister hervorheben. Im Übrigen sehen Sie ja selbst, dass es meiner Geisel gut geht. Noch. Ich bin kein gewalttätiger Mensch. Man zwingt mich zu dieser Aktion. Machen Sie das bitte in Ihren Berichten deutlich.

Ich sehe, dass es bereits Fragen gibt. Bitte, die junge Frau in der gelben Jacke. Welche Zeitung vertreten Sie? Die Ostfriesen-Zeitung. In Ordnung. Ich höre.

Ob ich in Wahrheit Friedrich Knaller heiße, Lehrer bin und am Missgunster Weg wohne? Moment. Ich möchte nicht, dass Sie das jetzt aufnehmen. Kamera aus, sonst geschieht ein Unglück. Vergessen Sie nicht, dass das Wohlergehen meiner Geisel in Ihren Händen liegt.

Die Kamera ist wirklich aus? Gut. Es stimmt. Laut Papier heiße ich Friedrich Knaller, und dieser Name hat mich 57 Jahre lang zum Gespött der Leute gemacht. Nicht mal meine Schüler haben mich ernst genommen. »Fidiknall« haben sie mich genannt und mich damit in den Wahnsinn getrieben. Auf Anraten meines Psychologen habe ich mich vorzeitig pensionieren lassen, was mir endlich die notwendige Zeit für meine Kunst schenkt.

So, Sie können weiterfilmen. Von rechts, sagte ich. Herrgott, muss man denn alles zweimal sagen?

Aufnahme läuft? Gut. Ich, also Friedo, möchte etwas bewegen. Hier in Moormerland, meinem Heimatort, mit meiner Kunst. Und das ist nicht so einfach. Deshalb, nur deshalb stehen wir heute hier im Rathaus.

Kunst, meine Herrschaften. Da herrscht bei uns gähnende Leere. Selbst im Umland findet man nicht viel, höchstens diese Statuen eines gewissen Herrn Böck. Die Theda mit der Teetasse in der Hand oder die Meerwiefke am Hafen.

Wie? Der Mann hieß Böke und die Statue Teelke? Das spielt doch keine Rolle, junge Frau, weil diese naturgetreuen Nachbildungen der Realität ohnehin nichts mit Kunst zu tun haben. So etwas kriegt doch nun wirklich jeder zustande.

Hören Sie mal, ja, Sie da hinten, der Mann mit dem Bart, wenn Sie nicht aufhören zu lachen, lasse ich Sie auf die Straße setzen. Diese Veranstaltung soll gewiss nicht dazu dienen, mich weiteren Verunglimpfungen auszusetzen.

Ich stehe hier, um über meine Kunst zu reden. Und damit wären wir beim Thema. Kunst. Echte Kunst muss verfremden, muss Fragen aufwerfen, Fragen, die den Betrachter nicht mehr loslassen, die ihn bis ins Mark erschüttern und in seine Träume verfolgen. Fragen, die sein Leben verändern.

Das ist mein Weg, die wahre Kunst, die aufrüttelt und Schmerzen bereitet. Deshalb stehe ich hier mit einer Waffe in der Hand.

Sie schon wieder, junge Frau? Bitte, ich höre.

Warum ich gekleidet bin wie ein indischer Guru? Nein, das hat keine religiöse Bedeutung.

Ein Künstler darf nicht aussehen wie Herr Hinz oder Frau Kunz. Vielmehr muss er seine eigene Kunst spiegeln. Schreiben Sie das bitte. Und Sie da bleiben mit der Kamera rechts. Sonst breche ich hier ab. Was? Ob meine Waffe geladen ist? Selbstverständlich. Und jetzt reicht es mir. Ich lasse keine weiteren Fragen zu und komme direkt zu meinen Forderungen.

Punkt eins: Ich möchte … ach, was heißt möchte. Schneiden Sie das wieder raus, ich will das Rathaus verhüllen. Dieser hässliche, in die Jahre gekommene Kasten ist doch nun weiß Gott keine Zierde für die Gemeinde. Und die Pläne für einen Neubau sollen ja wieder vom Tisch sein, wie man hört. Also werde ich den gesamten Komplex in schwarze Folie einschlagen. Schwarze Folie mit fluoreszierenden Sternen. Verstehen Sie den Sinn? Sternenhimmel, Universum, grenzenlose Weite, ein Synonym für Kunst, die keine Grenzen kennt.

Ich habe mein Anliegen dem Bürgermeister vorgetragen, aber der Mann hat nichts verstanden. Er hat sogar behauptet, dass das Verhüllen von Gebäuden nicht auf meinem Mist gewachsen wäre. Wortwörtlich. Auf meinem Mist. Ob ich schon mal den Namen Christo gehört hätte. Ich weiß nicht, was der Schnösel sich einbildet. Was hat das Moormerländer Rathaus bitte mit dem Reichstag gemein? Nichts. Gar nichts. Und die Idee mit dem künstlichen Sternenhimmel stammt ganz allein von mir. Schreiben Sie das bitte auf.

Wir kommen zu Punkt zwei. Ich will dort, wo die Rudolfswieke auf die Westerwieke trifft, diesen hässlichen Schiffsanker oder was das sein soll, entfernen lassen und stattdessen eine zeitgemäße Installation aufstellen. Die Ortswahl ist ideal, weil die Schulbuslinie dort entlangführt. So wird jeder Schüler gezwungen, sich mit meiner Kunst auseinanderzusetzen. Ich denke an eine Inszenierung aus Pferdeskeletten, denen noch Fleisch und Sehnenreste anhaften, als hätte das Raubtier gerade erst von ihnen abgelassen. Das Ganze werde ich durch Kunstharz haltbar und wetterfest machen. Stellen Sie sich das bildlich vor, Sehnen, Muskeln und dann die leuchtend weißen Knochen. Ja, da kommt man ins Grübeln, nicht wahr? Warum leben wir, wie definiert man Schönheit? Was wird aus unseren Körpern, wenn die Seele entschwindet? Gibt es überhaupt eine Seele?

Ich habe also ein weiteres Mal den Bürgermeister aufgesucht. Die Vorzimmerdame, wir reden von meiner Geisel, hat versucht, mich abzuwimmeln. Der Bürgermeister wäre nicht zu sprechen. Nachdem ich eine halbe Stunde gewartet hatte, öffnete sich die Tür, und der Bürgermeister kam heraus. »Ach, unser verehrter Herr Künstler«, begrüßte er mich.

Ich legte ihm meine Pläne dar. Für einen Moment sah es so aus, als hätte ich mein Ziel erreicht. Aber dann, und das ist unverzeihlich, begann der Mann zu lachen. Und dann fragte er, ob ich die Körperwelten von Gunther von Hagens nachahmen wollte. Schlimmer noch, ob mir auch mal etwas Eigenes einfallen würde, und ob es überhaupt legal wäre, das Schaffen eines anderen Künstlers zu imitieren.

Als hätte ich, Friedo, es nötig, andere Kunstschaffende nachzuahmen. Nur weil ein Herr Doktor von Hagen eine Methode entwickelt hat, Leichen zu plastinieren, kann es wohl kaum für den Rest der Welt verboten sein, etwas Ähnliches zu tun. Den Umgang mit Pinsel, Leinwand und Ölfarben darf auch nicht eine Person für sich allein beanspruchen, genauso wenig wie das Bearbeiten von Stein.

Ich sehe, da hebt jemand die Hand. Ich antworte nur noch auf Fragen, die meine Kunst betreffen.

Ja, natürlich werde ich für meine Arbeit echte Tierkadaver verwenden. Was heißt hier Tierquälerei? Ein totes Tier kann man nicht mehr quälen. Nun beruhigen Sie sich mal, es ist ja noch gar nichts passiert. Wenn es soweit ist, dürfen Sie gern gegen meine Installation protestieren. Möglichst öffentlichkeitswirksam, wenn ich bitten darf. Presse schadet nie.

Und jetzt kommen wir zu Punkt drei meiner Forderungen.

Sie erinnern sich bestimmt an den Schlagzeuger der Beatles. Paul McCartney, der war mit einer Chinesin verheiratet. Die trug immer so einen dunklen Hut. Der gute Mann wurde ja leider erschossen.