Baltrumer Kaninchenkrieg - Ulrike Barow - E-Book

Baltrumer Kaninchenkrieg E-Book

Ulrike Barow

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Die Umweltaktivistin Edith Oligs, Vorsitzende der Baltrumer Tierschutzgruppierung »Proniggels«, wird tot in den Dünen aufgefunden. Verdächtig sind viele, denn Edith war streitbar. Vor allem ihr Einsatz für die allgegenwärtigen Kaninchen ging vielen Insulanern gegen den Strich. Tierrechte und niedliche Viecher schön und gut, aber liebevoll gepflegte Gärten und unzerwühlte Dünen sind vielen deutlich wichtiger. Nach einer Ratssitzung, bei der die Fetzen fliegen, droht der Baltrumer Kaninchenkrieg zu eskalieren. Inselpolizist Michael Röder hat alle Hände voll zu tun - und doch den Kopf nicht wirklich frei. Dass Unbekannte das Osterfeuer, Attraktion für Einheimische und Urlauber gleichermaßen, vorzeitig anzünden, ist sein geringstes Problem...

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Seitenzahl: 385

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Ulrike Barow

Baltrumer

Kaninchenkrieg

INSELKRIMI

Zum Autor

Ulrike Barow wuchs in Gütersloh auf und machte eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Danach zog es sie zum Lieblingsurlaubsort ihrer Kindheit, der kleinen Nordseeinsel Baltrum. Dort lernte sie ihren Mann kennen und arbeitete im Einzelhandel sowie im familieneigenen Vermietungsbetrieb. Nebenbei verfasste Ulrike Barow Artikel für die Lokalzeitung. Vor einigen Jahren griff sie die Idee auf, Baltrum-Krimis zu schreiben. Viele Kurzgeschichten sind seitdem ebenfalls entstanden. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie nicht nur auf der Insel, sondern auch in der schönen ostfriesischen Stadt Leer.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

(Originalausgabe erschienen 2015 im Leda-Verlag)

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

unter Verwendung eines Fotos von: © skeeze / pixabay.com

ISBN 978-3-8392-6506-2

Personenverzeichnis

Wer ist dabei?

Michael Röder: ist Oberkommissar auf Baltrum und liebt

Sandra, seine Frau,

und Amir, ihrer beider Heidewachtel

Eilert Thedinga: aus Grotegaste hilft über Ostern seinem Baltrumer Kollegen

Arndt Kleemann: Hauptkommissar aus Aurich, ist ein guter Freund von Röder

Gero Schonebeck: Hauptkommissar aus Aurich, war schon einmal auf der Insel

*

Die Proniggels

Edith Oligs: ist nicht mehr dabei

Anke Hasekamp: arbeitet im Kindergarten und mag Enno

Enno Seeberg: mag nicht so sehr die Proniggels, aber Anke

Mark Tiesler: arbeitet im Nationalparkhaus und behauptet: Alle Tiere haben Rechte

Friedemann Untied: ist auf Baltrum für das Seelenheil zuständig

Melissa Harms: ist PETA-Mitglied und fürsorgliche Mutter ihres Sohnes Jonas

*

Rupf – Rettet unsere Pflanzenwelt

Hartmut und Ingeborg Opitz: lieben ihren Garten und hassen Kaninchen

Oliver Abels: ist im Gemeinderat und will am Wettbewerb »Unser Dorf hat Zukunft« teilnehmen

*

Jäger

Jörg Weber: ist Jagdpächter und hat Respekt vor seiner Frau Elena

Reinhard Petri: mag nicht alle und arbeitet bei der Gemeinde

Werner Gronewald: aus Aurich soll zwischen den Parteien vermitteln

Hajo Akkermann: hält sich für einen Mörder

Tino Middelborg: ist der neue Bürgermeister und hat viele Ideen

Thomas Claaßen: ist Gemeindemitarbeiter und gerne dagegen

Maren und Jan Schmitz: wollen beim Schatzkofferspiel gewinnen

Prolog

Wie sie dort lag. Ihr Kopf eingebettet ins tiefe Gras. Die Augen geschlossen. Bewegungslos wie im Tiefschlaf. Ihre braunen Schultern an den kleinen bewachsenen Hügel unterhalb der weißen Randdünen geschmiegt. Die kräftigen nackten Beine, auf denen sich zwei Fliegen umeinander bemühten, arbeitslos, entspannt. Sogar das kreisrunde Loch in ihrer Stirn, aus dem in feinen Streifen das Blut über ihr Gesicht gelaufen war, störte diese Ruhe nicht. Im Gegenteil. Die Farbe des Blutes harmonierte mit den orangenen Mohnblüten auf ihrer Bluse. Eine ganze Weile blieb er neben ihr, betrachtete sie, dann stützte er sich mit den Händen ab, nahm im Aufstehen sein Gewehr, schulterte es und stolperte durch das feuchte Dünengras zurück zum Katastrophenweg. Sein Fahrrad stand am Zaun beim Niedersächsischen Turnerbund. Er hatte Rückenwind.

Es würde Unruhe auf der Insel geben. Ausgerechnet jetzt, wo der erste Ansturm der Ostergäste zu erwarten war. Auf der hohen Düne rechts von ihm spielten drei kleine Kaninchen. Hajo Akkermann nahm sein Gewehr von der Schulter und legte an.

Auf dem Weg zum Westen der Insel wurde ihm bewusst, dass sie eine lange Hose, Gummistiefel und eine dicke Wolljacke getragen hatte. Immerhin war es erst Ende März und die letzten Tage waren kühl gewesen. Die braunen Beine, die muskulösen Schultern waren nur eine wohlige Erinnerung an viele Jahre, in denen er im Bett neben ihr aufgewacht war. Selbst die Bluse war seiner Fantasie entsprungen. Sie glich der, die sie sich im Harz während einer ihrer seltenen Urlaube gekauft hatte.

Samstagabend

»Ich möchte echt mal wissen, wo Edith bleibt.« Anke Hasekamp setzte erneut die Schere an und bemühte sich, genau dem Strich zu folgen, den Mark auf die große Pappe gemalt hatte. Ein Stück den Hals hoch, dann der runde Hinterkopf, die beiden hochstehenden Ohren und … »Manno, geht das schwer.« Sie stöhnte so laut, dass Enno sie erstaunt anblickte.

»Soll ich es mit einem Messer versuchen?«, fragte er.

Anke nickte. »Ist vielleicht eine bessere Idee.« Sie schob die große Pappe über den Wohnzimmertisch. »Ich mache uns mal Tee.«

»Aber nicht wieder Ingwertee«, bat Mark Tiesler. »Von dem habe ich beim letzten Mal so einen flotten Otto gekriegt …«

»Schon gut. Echt ostfriesisch. Mit Kluntje und Sahne.«

»Wie – mit Sahne? Sahne von der Kuh? Ich denke, du hast nur Hafersahne im Haus? Hast du deinem Veganerleben entsagt?«, wunderte sich Mark.

»Für nette Gäste habe ich auch Kuhsahne«, erklärte sie.

»Für mich ist Hafersahne völlig in Ordnung, das weißt du«, lächelte Mark.

Enno Seeberg knallte das Messer auf den Tisch. Er hatte genug. Sollten sie sehen, wie sie fertig wurden. Sowieso ’ne dämliche Idee, das mit der Demo. Völlig bekloppt.

Er schaute in die Runde. Da saß seine Freundin Anke. Die Frau, der er seit einem Vierteljahr nicht mehr von der Pelle wich. Anke mit den braunen Augen. Und was machten diese braunen Augen? Sie lächelten Mark an. Ausgerechnet Mark mit seinem ständigen »Alle Tiere haben genau so viel Rechte wie die Menschen.« Als ob der noch nie Fleisch gegessen hätte. Erst im letzten Sommer hatte er ihn bei einer Grillparty mit einem großen Kotelett auf dem Teller gesehen. Da war er sich beinahe sicher. Der sollte man nicht so tun, als wäre er der Tierretter. Außerdem – was sollte das heißen: ›Das weißt du‹? Was lief da zwischen denen?

Jetzt fehlte nur noch Edith. Die große Vorsitzende. Und Friedemann Untied. Dann wären sie vollständig. Zumindest der harte Kern, der sich regelmäßig bei Anke im Wohnzimmer traf, um darüber nachzudenken, wie man sich für die Kaninchen auf der Insel einsetzen könnte. Die Proniggels eben.

Proniggels. Ihm stieg der Lachreiz die Kehle hoch. Ausgerechnet er hatte diesen Namen erfunden. Nach fünfzehn Sanddornschnäpsen im Sealords. Nachdem er wieder einmal an seine Lieblingsszene aus dem Film ›Karniggels‹ von Detlev Buck hatte denken müssen. So hatte es sich fast von selbst ergeben. Karniggels – und wenn man Karnickel liebte, gehörte man eben zu den Proniggels. Logisch. Aber niemals ernst gemeint. Alle anderen waren begeistert gewesen. Der Name hatte sofort seinen Siegeszug über die Insel angetreten. Inzwischen wusste jeder, wer die Proniggels waren.

Zu Anfang war auch Melissa dabei gewesen. Aber dann war sie einfach nicht mehr erschienen.

Er hustete. Hoffte so, den Anfall in den Griff zu bekommen. Doch es nützte nichts. Genau in dem Moment, als es aus ihm herausbrach und ihm Tränen über die Wangen liefen, klopfte es.

»Habt ihr einen Scherz gemacht? Kann ich mitlachen?«, hörte Enno Seeberg die tragende Stimme des Pastors.

»Nein, keine Ahnung, was mit Enno ist.« Anke stand auf. »Aber der beruhigt sich schon wieder. Ich gehe jetzt in die Küche. Das Teewasser wartet.«

»Meine Lieben, leider konnte ich nicht eher. Ich musste meine Predigt für morgen ausarbeiten. Als Pastor hat man eben immer …«

»Schon gut, Friedemann. Setz dich zu uns.« Mark Tiesler rückte ein wenig und zog einen Stuhl heran. »Wir haben dir genug Arbeit aufgehoben.«

Enno zog ein Taschentuch aus der Hose und schnäuzte sich. Er hatte das vage Gefühl, dass Anke nach der Sitzung einige unangenehme Fragen stellen würde. Er durfte es nicht übertreiben. Enno hatte zu lange um sie gekämpft, um jetzt zu riskieren, dass sie ihn an seinem neuerworbenen, ökologisch nachhaltig hergestellten Sweatshirt packte und nach draußen schob. Besser, er klinkte sich wieder ein. Er nahm das Messer vom Tisch und schnitt den Rest des Kaninchenkopfes aus der großen Pappe. Dort, wo Mark die Augen des Tieres eingezeichnet hatte, ritzte er ovale Löcher hinein. Dann nahm er sich das nächste Pappquadrat.

Das Geschirr klirrte leicht, als Anke das Tablett auf den Tisch stellte. Lächelnd verteilte sie die Tassen. »Der Tee braucht noch drei Minuten.«

»Übrigens – ich habe mit Melissa gesprochen.« Friedemann Untied legte vorsichtig einen Kluntje in seine Teetasse. »Ich habe ihr ein weiteres Mal eindringlich klar gemacht, wie wichtig jedes Lebewesen auf dieser schönen Insel ist.«

»Und? Was hat sie gesagt?«, fragte Mark.

»Sie hat gesagt, dass auch Blumen Lebewesen sind. Und dass sie sich nicht mehr sicher ist, was richtig ist«, antwortete der Pastor. »Außerdem müsse sie sich um ihren Sohn kümmern.«

»Da hast du ihr bestimmt geraten, eine Runde zu beten, oder?« Enno hielt es nicht mehr aus. Sollte doch jeder nach seiner Fasson selig werden. Wenn Melissa nicht mehr wollte – bitteschön.

Obwohl, ein wenig wunderte es ihn schon. Sie war die erste gewesen, die sich für die Kaninchen auf der Insel eingesetzt hatte. Gegen alle Widerstände. Dann waren Edith Oligs und Anke dazugestoßen. Friedemann Untied und Mark Tiesler, der Mann vom Nationalparkhaus, waren die Nächsten gewesen. Sie hatten lange überlegt, was sie gemeinsam tun könnten, um jedem klarzumachen, dass kein Mensch das Recht hatte, über Leben und Tod anderer zu entscheiden. Das galt eben auch für Kaninchen. Dafür hatte sich Melissa Harms engagiert eingesetzt. Doch dann hatte sie sich nach und nach zurückgezogen. Vielleicht war ihr das Gerede des Pastors genauso auf den Keks gegangen wie ihm.

Es war still geworden in dem kleinen Wohnzimmer. Nur die Kerze mit dem fröhlichen Wachshasen darauf knackte leise und warf zuckendes Licht in den Raum.

»Sag mal, was hält dich eigentlich bei uns?« Das Lächeln auf Ankes Gesicht war verschwunden. »Ich habe immer das Gefühl, dass du nicht hinter der Sache stehst. Deine blöden Sprüche ständig! Lass es einfach. Du musst nichts tun, was du nicht willst!«

Notbremse. Dringend.

»Tut mir leid. War nicht so gemeint.« Mein Gott, wie er es hasste! Warum konnten die nicht einfach gehen und ihn mit Anke alleine lassen?! »Soll ich noch einen Kaninchenkopf ausschneiden? Als Friedensangebot?«

»Wir haben keine Pappe mehr. Fünf Köpfe reichen für unsere Aktion«, erklärte Anke ernst. »Aber es wäre schön, wenn du Holz von draußen holen würdest, nachdem du deinen Tee getrunken hast. Das Kaminfeuer lässt nach.«

Enno ließ den Tee stehen, nahm den Binsenkorb, der vor dem großen Ofen stand, und verließ das Wohnzimmer. Mochten sie sich ihre Mäuler über ihn zerreißen.

Draußen fuhr ihm ein kalter Nordwestwind unter sein Sweatshirt. Besser hätte er eine Jacke angezogen. Egal. Er ging die paar Meter bis zum Schuppen, an dessen Wand einige Kubikmeter Holz lagerten. Er stapelte einen Scheit nach dem anderen in den Korb und war froh, als er die Haustür wieder hinter sich schließen konnte. Als er das Wohnzimmer betrat, hörte Enno gerade noch Mark sagen: »Gronewald soll vermitteln.«

Gronewald? Meinte Mark etwa Werner Gronewald, seinen alten Berufsschulbekannten aus Norder Tagen und jetzigen Angestellten beim Landkreis? Unter anderem für die Jagd auf den Inseln zuständig? »Welcher Gronewald? Wobei soll er …?«

»Tino Middelborg hat ihn gebeten«, erklärte Mark. »Unser Bürgermeister will wohl endlich Rechtssicherheit, was das Abschießen der Kaninchen anbelangt. So hat er es mir zumindest erzählt.«

»Ist vielleicht nicht schlecht«, überlegte Friedemann Untied. »Fast alle Gemeinderatsmitglieder sind auch Jäger. Da wird Middelborg bestimmt nicht ausgewogen informiert. Nein – gut, dass der Gronewald kommt.«

»Na, ob Gronewald da der Richtige ist, wage ich zu bezweifeln. Der war bei der jährlichen Deichschau einer der Experten, oder Mark?« Enno stellte den Korb neben dem Kamin ab und legte einige Holzscheite nach.

»Stimmt. Genau wie ich. Natürlich haben wir uns da die Schäden angesehen, die die Kaninchen angerichtet haben.«

»Vielleicht kannst du Kontakt aufnehmen und mit ihm reden?«

Mark Tiesler schüttelte den Kopf. »Das überlasse ich gerne dir. Ich habe vor Mittwoch keine Zeit. Wirklich nicht.«

»Okay, dann spreche ich mit ihm.« Enno war froh, etwas Positives in die Runde werfen zu können. »Ich kenne ihn und kann die Sachlage mal aus unserer Warte schildern.«

»Gute Idee.« Anke schaute ihn etwas versöhnlicher an. »Noch ’ne Tasse Tee?«

»Gerne.« Was sollte es? Solange diese Tierfreunde hier am Tisch saßen, konnte er auch Tee trinken. Später, zum Abendessen, würde er sich ein Bierchen genehmigen.

Er hatte Gronewald lange nicht gesehen. Auch als sie beide eine Ausbildung in der Verwaltung gemacht hatten, waren sie eher nebeneinander hergelaufen. Er selbst war in Norden aufgewachsen, Werner Gronewald war kurz vor der Ausbildung von Wilhelmshaven nach Norden gezogen. Ihre Interessen waren damals ziemlich unterschiedlich gewesen. Enno hatte immer bei kniffligen Fragen in Rechtssachen Auskunft geben können. Werner war der Ansprechpartner für die nächsten Partytermine und Veranstaltungen in Norden und Umgebung gewesen. Er würde ihn am Montag anrufen. Mal sehen, was der zu sagen hatte.

»Ich muss los.« Mark klopfte auf den Tisch. »Wann sehen wir uns wieder?«

»Ich würde sagen, am Mittwoch«, schlug Anke vor. »Am Dienstag ist Gemeinderatssitzung. Vielleicht gibt es dann schon neue Erkenntnisse. Außerdem müssen wir unseren Plan für die Osterfeuerdemo genau besprechen. Hoffentlich wird das Wetter am Ostersamstag gut. Sonst können wir die Aktion gleich vergessen. Eine Demo ohne Zuschauer bringt schließlich nichts.«

Mark schüttelte den Kopf. »Mittwoch kann ich nicht. Da haben wir Generalprobe. Für das Theaterstück, das Ostersonntag Premiere hat. Aber macht ihr man. Ihr könnt mir Bescheid geben.«

Prima. Mittwoch war genau der richtige Tag. Es war immer der richtige Tag, wenn Mark nicht konnte. Wenn Enno den Blick aus Ankes braunen Augen nicht mit diesem Heini teilen musste.

Blieb nur zu hoffen, dass sich der Pastor ebenfalls bald auf den Weg machte und sich kuschelige Zweisamkeit einstellte. Nur er und Anke.

Er hatte Glück. Auch Friedemann Untied verabschiedete sich eine gute Viertelstunde später. Doch Enno musste schnell feststellen, dass es mit dem gemütlichen Abend schwierig werden könnte.

Anke blitzte ihn zornig an, als er die letzten Tassen zu ihr in die Küche brachte. »Wieso bist du eigentlich immer so zynisch? Erklär es mir. Ich denke, du stehst hinter unserer Sache. Wenn nicht, dann frage ich mich, warum du mitmachst? Geh in die Kneipe, wenn dich unsere Ziele nicht interessieren.«

Achtung. Jetzt nur keinen Fehler machen. »Nein, du verstehst das völlig falsch. Ich bin gerne dabei. Mir fehlt nur manchmal der Humor bei diesen Leuten. Sie sind so ernsthaft.« Er konnte ihr schließlich nicht erzählen, dass ihm der Abschuss der Karnickel völlig einerlei war und er nur an den Sitzungen teilnahm, weil Anke da war. Gut, so ganz waren ihm die Kaninchen nicht egal. Er mochte die wolligen Dinger, wenn sie abends auf dem Deich saßen und sich putzten, aber ihm wäre nie eingefallen, einer Bürgerinitiative zum Schutz der Tiere beizutreten. Wenn er Anke nicht kennengelernt hätte.

»Aber wir haben alle das gleiche Ziel. Selbst Friedemann. Auch wenn er …«, sie lächelte, »manchmal wirklich etwas zu salbungsvoll seine Meinung vertritt. Das muss man aber hinnehmen. Finde ich zumindest.«

»Schon gut. Habe verstanden. Beim Boxtraining vom Kultur- und Sportverein muss ich mich auch arrangieren. Das ist halt so.« Enno griff nach Ankes Hand und zog sie zu sich auf das Sofa. »Nicht böse sein. Ich gelobe Besserung.«

Es tat gut, wie sie sich in seine Armbeuge kuschelte. Er würde sich in Zukunft zusammennehmen. Auch wenn es schwerfiel. Nur eines würde er nicht machen. Um nichts in der Welt. Er würde niemals an dieser dämlichen Demons­tration am Ostersamstag teilnehmen. Selbst wenn es zu dem Zeitpunkt bereits dunkel war und die Chance bestand, dass keiner ihn erkennen konnte.

Sonntag

Die Glocken läuteten. Höchste Zeit, aufzustehen. Es war spät geworden am Abend zuvor. Ingeborg Opitz schlug die Bettdecke zurück und horchte auf das Klappern, das aus der Küche kam. Hartmut machte Frühstück. Wie jeden Morgen. Sie zog sich ihren Jogging­anzug an und stapfte die Stufen hinunter.

»Guten Morgen, mein Lieber«, begrüßte sie ihren Mann zwischen zwei Gähnern.

Hartmut Opitz blickte kurz auf, dann er goss die Eier ab. »Guten Morgen. Das passt ja prächtig: Das Frühstück ist fertig und du bist da. Ich habe dich hoffentlich nicht geweckt? Mir ist nämlich eben ein Teller runtergefallen.«

»Nein, das waren wohl eher die Glocken, die Untieds Schäfchen zum Gottesdienst riefen.« Der Stuhl protestierte leise, als sie sich setzte. Ihre Kücheneinrichtung hätte dringend einmal ausgewechselt werden müssen. Seit vierzig Jahren saß sie nun auf diesem mit braunem Stoff bespannten Stuhl am immer gleichen Tisch. In ihrer Ferienwohnung hatte sich einiges getan in den letzten Jahren. Man musste Schritt halten in der heutigen Zeit. Aber privat, da standen die Küchen­möbel, altdeutsch und wuchtig, wie zementiert an der Wand. Nur ein wenig Farbe war ab und zu an die Wände gekommen, wenn sie die Flecken nicht mehr übersehen konnte.

Es war auch der immer selbe Mann, der ihr seit vierzig Jahren gegenübersaß. Allerdings hatte sie bei ihm nur selten über eine Auswechslung nachgedacht. Nur einen mehr oder weniger versteckten Hinweis auf diese Möglichkeit hatte sie durchaus schon in den Raum geworfen. Sie hatte nämlich erfreut festgestellt, dass sie damit seine Einsatzbereitschaft in Haus und Garten stets frisch erhielt. Womöglich müsste sie sich bei einem Neuen das Frühstück selbst zubereiten. Ein übler Gedanke. Nein, es war schon alles gut so.

»Ich habe eine schlechte Nachricht.« Hartmut biss mit Inbrunst ein großes Stück aus seinem Brötchen. »Die verdammten Viecher haben unsere ganzen Krokusse gefressen.«

Erschrocken schaute sie ihn an. »Woher weißt du …?«

»Ich war schon draußen. Ich dachte, mich trifft der Schlag. Alle Krokusse und alle Tulpen – weg. Nur die Osterglocken haben sie stehen lassen.«

»Ich verstehe das nicht. Wir haben doch alles eingezäunt. Da kommen weder Rehe noch die verdammten Karnickel rüber. Wie konnte das passieren?« Das Schinkenbrötchen schien ihr plötzlich gar nicht mehr so einladend. Ihr war einfach der Appetit vergangen.

»Tja, wenn ich es richtig beurteile, hat jemand unseren Zaun herausgerissen, beziehungsweise heruntergetreten. Aber ich bin mir nicht sicher. Schau du dir die Stelle an.«

Sie lief die Treppe hoch, zog so schnell sie konnte Hose und Jacke an und war draußen. Das Frühstück konnte warten. Und wenn der Tee inzwischen kalt wurde, machte Hartmut sicher neuen. Jetzt war erst einmal der Zaun wichtig. Ihr Garten war ihr ganzer Stolz. Nicht umsonst hatten sie ihr Haus Gartenfreude genannt.

Schon als Kind hatte sie mit ihren Eltern einen großen Garten bearbeitet. Damals in Stade. Im Gegensatz zu ihren Schulfreundinnen, die oft über die Arbeit beim Erbsenernten und Kartoffelausmachen stöhnten, hatte sie nie genug davon bekommen können. Ihre größte Liebe aber hatte der Ecke mit den Wildblumen und den wohl zwanzig verschiedenen Sorten Rosen hinter dem Haus gegolten.

Nach der Ausbildung zur Verkäuferin war sie nach Baltrum gezogen, hatte sich in Hartmut verliebt und war geblieben. Erst mit ihm in einer kleinen Wohnung, dann, als seine Eltern nicht mehr lebten, in dem Haus, das er geerbt hatte. Das Haus mit dem wunderschön großen Grundstück.

Im Laufe der Jahre hatten sie aus dem Stück Land, auf dem bis dahin nur Moos und einige Flecken Dünengras einen Lebensraum gehabt hatten, ein Schmuckstück geschaffen. Trotz des manchmal herben Klimas wuchsen Kirschen, Äpfel und Birnen und um die Rasenfläche herum hatten sie Mohn, Margeriten, Lupinen und vieles mehr angepflanzt. Im Sommer leuchtete der Garten in allen Farben.

Bis vor ein paar Jahren. Als die Kaninchen gekommen waren. Diese verdammten Viecher, die erst vereinzelt und unauffällig, dann immer häufiger, intensiver, über ihren Garten herfielen. Die sonst nur das Dünengelände im Osten der Insel bewohnt hatten und langsam merkten, dass das Futter im Westen erheblich besser schmeckte.

Außen um das Grundstück hatten sie einen zwei Meter hohen Zaun gesetzt. Nicht schön, aber effektiv. Denn nicht nur die Kaninchen, sondern auch die Rehe fanden Gefallen an ihrem Garten. Und alles, was niedriger war als zwei Meter, bildete für Rehe schlichtweg kein Hindernis. In einem Meter Abstand, nach innen versetzt, hatten sie den Kaninchenzaun gezogen. Tief in die Erde gesetzt, engmaschig und hoch genug, dass keiner dieser Angreifer reinkam. Dazwischen hatten sie Wacholder und Kartoffelrosen gepflanzt. Die Rose, die auf Baltrum allgegenwärtig war und problemlos wuchs. So war eine dichte Wand um ihr sorgfältig gepflegtes Gartenstück entstanden.

Ingeborg Opitz öffnete die kleine Pforte in ihrem inneren Verteidigungsring, wie sie es nannten. Es stimmte: Wohl an die hundert blaue und gelbe Krokusblüten, die gestern noch das erste Grün des Rasens aufgelockert hatten, waren weg. Verschwunden. Einfach nicht mehr da. Ihr stiegen die Tränen in die Augen. Erst im letzten Herbst hatte sie die Zwiebeln in die Erde gesetzt.

Schnell fand sie die Stelle, wo die Kaninchen durchgeschlüpft waren. Der Zaun war heruntergetreten. Nicht nur das: Mit roher Kraft waren die grünen Befestigungsstäbe aus der Erde gerissen worden. Sie konnte kaum glauben, was sie dort sah.

Hartmut war ihr gefolgt und deutete auf den nächsten, den hohen Zaun. »Das ist nicht alles.«

Natürlich nicht. Auch durch den mussten sich die Kaninchen durchgearbeitet haben. Aber wie konnte das passieren? Was sie sah, verschlug ihr die Sprache. Der Zaun lag zur Südseite platt auf dem Grund. Die Streben links und rechts – abgesägt. Und links von der Öffnung, bei einer Tulpe, die sich zwischen die Triebe einer wilden Rose verirrt hatte, saßen zwei Kaninchen und mümmelten geruhsam vor sich hin.

»Hartmut, Hartmut, schaff sie raus. Ich werde wahnsinnig!« Sie musste etwas tun! Die Kaninchen töten! Sonst würden sie die nie wieder loswerden. Was nützte es, wenn sie den Zaun reparierten und die Viecher waren noch drin! Sie rannte zum Gartenhäuschen. Sie brauchte einen Spaten. Damit würde sie die Karnickel erschlagen. Abgeschlossen. Mist. Dann werfe ich sie eben tot, dachte sie wütend. Sie zog ihre Schuhe aus, lief mit bloßen Füßen zurück zum Zaun, holte weit aus …

»Ingeborg, mach dich nicht lächerlich. Die Viecher sind längst abgehauen.« Hartmut bemühte sich, wenigstens den kleinen Zaun notdürftig wieder aufzustellen.

»Aber der andere Zaun!«, schrie sie. Wollte der Blödmann es nicht begreifen? »Der muss doch auch … Warum hast du das nicht schon heute Morgen repariert? Als du das bemerkt hast, verdammt noch mal!« Resigniert ließ sie die Arme sinken und zog sich wieder ihre Schuhe über. Es war an diesem Märzmorgen empfindlich kalt.

Jetzt wurde auch Hartmut laut. »Weil ich mir die Karten legen konnte, ob du stinkiger wärest mit einem Karnickel im Garten oder ohne Frühstück! Noch kann ich nicht alles auf einmal!«

»Aber die Krokusse … Alles ist weg!« Fassungslos machte sie der Gedanke, der sich immer stärker in ihr Bewusstsein drängte: Die Kaninchen hatten Helfershelfer gehabt. Und das war kein Kinderstreich. Jemand hatte sie an ihrer empfindlichsten Stelle treffen wollen.

Aber warum? Sie hatten keinem etwas getan! Ihre Nachbarn hatten sich längst an ihre Abschottungstechniken gewöhnt und ließen sie in Ruhe. Hartmut hatte nur ein, zwei Mal laut werden müssen. Vor ein paar Jahren. Seitdem war alles okay. Man grüßte sich sogar wieder.

Bis auf Melissa natürlich. Melissa Harms wohnte mit ihrem Sohn gegenüber und hatte nie verwunden, dass Hartmut damals das tote Kaninchen vor ihre Haustür gelegt hatte. Seitdem hatte Melissa einige ihrer Fenster direkt gegenüber mit diesen doofen Postern zugekleistert. Wir sind Pflanzenfresser und andere sinnlose Sprüche. Lächerlich. Von dieser kampfbereiten Tierschutzgruppe. PETA. Stand ja ständig in allen Medien, wenn die wieder in einen Hühnerstall eingebrochen waren. Angeblich, um kranke Hühner zu filmen. Dass diese Leute vorher Zäune aufschnitten, Türen aufbrachen und sich an fremdem Eigentum vergriffen, das sollte dann völlig in Ordnung sein? Kein Wunder, dass die Bauern sauer waren.

Zaun? Wütende Bauern? PETA? Ihr kam ein schrecklicher Verdacht, der sich in Sekundenschnelle zur Gewissheit verdichtete. Natürlich! Das war es! Es konnte gar nicht anders sein! »Hartmut … Ich bin mal eben weg!«

Ihr Mann reagierte nicht. Mit kräftigen Schlägen versuchte er, einen der Pfähle wieder in der Erde zu verankern. Lächerlich! Die waren hinüber! Sie würden neue bestellen müssen. Und wer die bezahlte, das war klar.

Aufgebracht klingelte sie bei Melissa Sturm. Sie hätte schwören können, dass sie das Gesicht ihrer Nachbarin hinter der Gardine gesehen hatte, als sie über die Straße gerannt war. Doch Melissa öffnete nicht. Ingeborg wartet noch einen Moment, dann ging sie. Melissa war eine der wenigen Insulaner, die ihr Haus ständig abschlossen. Bei anderen konnte man einfach die Wohnung betreten, nachsehen, ob jemand da war, und bei Misserfolg einfach wieder gehen. Ingeborg hätte zu gern gewusst, was ihre ehemalige Freundin zu verbergen hatte. Vielleicht war Melissa wirklich nicht da, und ihr Sohn, Jonas, würde bestimmt nicht öffnen. Der saß immer nur oben in seinem Zimmer und hatte die Musik auf voller Lautstärke.

Sie würde wiederkommen!

Aber vorher würde sie Michael Röder herbeordern. Der sollte sich das Drama ansehen und gleich die Anzeige gegen Unbekannt aufnehmen.

Montag

»Meine Güte, was riecht das hier muffig.« Jörg Weber hätte sich liebend gerne die Nase zugehalten, doch um das kleine Holzfenster zu öffnen, brauchte er beide Hände. Es quietschte grässlich, als er den Flügel nach außen schob. Die hereinströmende Luft war zwar kalt, aber wenigstens frisch. »Ist schon eine ganze Weile her, dass wir hier waren«, sagte er zu Reinhart Petri.

»Kein Wunder. Die Jagdsaison ist seit zwei Monaten vorbei. Was sollten wir also hier?«

Vielleicht mal lüften, dachte der Pächter der Baltrumer Jagd und schaute sich in der Jagdhütte um. Das feuchte Frühjahr hatte seine Spuren hinterlassen. In den Ecken hatten dicke Spinnen Schutz vor dem Winter gesucht und in einem Glas, das auf dem Tisch vergessen worden war, klebten vertrocknete Schimmel­reste. An der Wand stand eine Waffentasche aus Kunststoff. Hatte einer seiner Jagdkollegen bei der letzten Jagd sein Gewehr hier vergessen? Das hätte ihm doch auffallen müssen. Er war der letzte gewesen, der den Raum am fünfzehnten Januar verlassen hatte, an Hasensilvester. Er nahm die Tasche hoch. Sie fühlte sich leicht an. Das kleine Schloss ließ sich ohne Probleme öffnen. Reinhart Petri schaute ihm neugierig über die Schultern, als er sie aufklappte. Sie war leer. Seltsam. Wer war, ohne seine Waffe zu schützen, mit ihr nach Hause gefahren? Seine Jagdkollegen von der Insel waren normalerweise sehr gewissenhaft, was ihre Gewehre anbelangte.

Er schaute genauer hin. Ein Namensschild war nicht zu sehen. Doch oben in der Ecke fand er zwei verwischte Zeichen, mit Faserstift geschrieben. Er meinte ein W und ein A zu entziffern, war sich aber nicht sicher. Er klappte die Tasche wieder zu. »Ich werde mal rumtelefonieren. Wie schaut’s aus? Holst du die Leiter?«

Ein Gast, der vor einigen Tagen durch die Dünen gewandert war, hatte ihm berichtet, dass ein paar Dachpfannen verrutscht wären. Jörg Weber hatte umgehend seinen Jagdkollegen angerufen. Der kannte sich mit so etwas aus. Ein geborener Handwerker. Petri war bei der Gemeindeverwaltung beschäftigt und hatte sich sofort bereit erklärt, sich um die Ziegel zu kümmern. Zumal er selbst Jäger war.

Die kleine Hütte am Ostende der Insel in den Dünen war ein beliebter Anlaufpunkt. Ob es die Hundezüchter mit ihren Weimaranern, die Falkner oder ganz normale Jagdgesellschaften waren, alle empfanden die Herbstjagden auf der Insel als etwas Besonderes.

Reinhart Petri nickte nur. Er war ein Stiller. Nicht reden – machen. Nach dieser Devise lebte und handelte er. Sehr zur Freude seiner Jagdfreunde. Jörg Weber erinnerte sich noch gut an den Tag, als die Tür der Jagdhütte dem Alter erlegen war und sich aus den Angeln gelöst hatte. Sofort war Reinhart zur Stelle gewesen, um zu helfen. Man kannte seine Einstellung zum Leben und nahm sie hin. Dass der Mann, wenn er sich tatsächlich mal zu einer Meinung hinreißen ließ, nicht immer auf positives Echo stieß, damit konnte der leben. »Du gehst aufs Dach?«

Reinhart Petri holte die Leiter aus dem Schuppen, stellte sie an der Regenrinne an und stieg hinauf. Dann schob er die Pfannen wieder an den richtigen Platz.

»Sind alle Pfannen in Ordnung? Oder müssen wir kaputte austauschen?«

Jörg Weber bekam keine Antwort. Reinhart hielt seine rechte Hand als Schutz vor der Sonne über die Augen und starrte in die Ferne.

»Hallo, Kollege, was ist mit dir?« Langsam wurde Jörg Weber ungeduldig. Außerdem war ihm kalt.

»Gib mal ein Fernglas.«

Der Jagdpächter wusste, dass es keinen Zweck hatte, zu fragen, warum Reinhart Petri es brauchte. Er ging zurück in die Hütte und holte das alte Zeiss, das noch von seinem Großvater stammte, aus dem Schrank. »Hier. Bin gespannt, was du mir berichten wirst.«

Reinhart Petri nahm das Fernglas und richtete seine Aufmerksamkeit auf ein Ziel vor den letzten Dünen am Ostende. Zumindest deutete der Jagdpächter diese Richtung so, wenn er dessen Blicken folgte.

»Da liegt was Größeres. Und Möwen und Krähen kreisen darüber. Schätze, das sollten wir uns mal ansehen«, sagte Reinhard Petri bedächtig.

»Ein Reh? Konntest du nichts Genaues erkennen?«

Reinhart Petri schüttelte den Kopf. »Kein Reh. Es sei denn, es wäre ein Reh mit Klamotten an.« Seelenruhig stieg er die Leiter herunter.

»Was sagst du da?!« Das durfte nicht wahr sein. »Nun sag schon, was ist los?« Jörg Weber war versucht, seinen Kumpel an der Jacke die letzten Stufen nach unten zu ziehen. Wie konnte der Mann nur so ruhig bleiben, während womöglich jemand in den Dünen lag und Hilfe brauchte? Um diese Jahreszeit würde es sich bestimmt nicht um ein verliebtes Pärchen handeln, das Freiluftübungen machte.

»Da liegt jemand. Wir sollten nachsehen«, sagte Reinhart Petri nur, aber da hatte sich Jörg Weber schon auf den Weg gemacht.

Reinhart Petri folgte ihm gemächlich.

Nach gut zehn Minuten Fußmarsch empfing sie am Rand der Dünen ohrenbetäubender Lärm, als sie sich einer Senke näherten. Vor ihnen flogen wohl zwanzig Vögel auf, drehten eine kleine Runde, nur um sich gleich danach, wütend krächzend ob der Störung, wieder der Nahrung zuzuwenden.

»Edith«, flüsterte Jörg Weber fassungslos und zog sein Handy aus der Tasche.

*

»Michael? Kannst du bitte mal kommen?«

Hauptkommissar Michael Röder schreckte auf, als er die Stimme seiner Frau hörte. Nicht zum ersten Mal dachte er darüber nach, dass es nicht immer von Vorteil war, seinen Arbeitsplatz direkt neben der Wohnung zu haben.

Er hatte sich vor gut einer Stunde in die kleine Wache zurückgezogen. Es war ruhig auf der Insel, so hatte er sich mit Papierkram beschäftigt, im PC herumgeblättert und nachgedacht. Zum Beispiel über ihren großen Einsatz im letzten Sommer. Ein Toter hatte im Rosengarten gelegen und sie hatten die Aufgabe gehabt, den Täter zu finden. Sie – das waren unter anderem sein Freund, Hauptkommissar Arndt Kleemann und Marlene Jelden, Kommissarin aus Esens, gewesen. Marlene. Die Frau, die sein Leben durcheinandergewirbelt hatte und monatelang keinen vernünftigen Gedanken in seinem Hirn zugelassen hatte. Nach dem Einsatz hatte sie die Insel verlassen.

Sie hatten sich danach noch einige Male am Festland getroffen. Besser war’s dadurch nicht geworden. Nach einem schönen Abend, den sie gemeinsam in Papenburgverbracht hatten, hatte er die Beziehung beendet. Er konnte es nicht mehr ertragen. So zwischen den Welten. Marlene hatte nie eine Entscheidung gefordert. Er hatte trotzdem eine getroffen. Zumindest nach außen. Er fuhr nicht mehr öfter als notwendig ans Festland. Erfand keine Ausreden mehr für seine Frau.

Und doch saß er in manchen Stunden an seinem Schreibtisch und fühlte sich in einer völlig fremden Welt. Der Polizist sprach mit keinem darüber. Schon gar nicht mit seinem Freund Arndt. Der war überzeugt davon, dass man Berufliches und Privates nicht miteinander mischen sollte. Wenn der wüsste! – Nee, besser nicht.

Langsam, mit den Monaten, gewann er Abstand. Sein ständiges Mantra, dass so alles besser sei, begann zu wirken. Schließlich war es nicht so, dass er Sandra nicht liebte. Im Gegenteil. Er war eben einfach nur in die Scheißsituation geraten, zwei Frauen zu lieben. Und diese Situation wünschte er seinem ärgsten Feind nicht. Er knallte den Kugelschreiber auf den Schreibtisch. Egal. Was soll’s. Anderes Thema. Heute Nacht würde er wieder einmal losziehen. Sperrstundenkontrolle.

Als das Telefon klingelte, hatte sich seine Laune kaum gebessert. »Polizeistation Baltrum. Röder.«Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Kaum ein Jahr war vergangen, und nun sollte schon wieder eine Leiche auf der Insel liegen?! Beinahe am äußersten östlichen Zipfel. Sollte er erst allein rausfahren und schauen, was sich hinter Jörg Webers Geschichte verbarg? Blödsinn. Der Mann war Jäger. Der wusste, ob er Tote oder Lebende vor sich hatte. Egal, ob bei Mensch oder Tier.

Röder telefonierte mit der Leitstelle in Wittmund, die für Notfälle in beinahe ganz Ostfriesland zuständig war. Es würde auf jeden Fall ein Feuerwehrfahrzeug mit Allradantrieb mit ausrücken müssen. Der Kranken­wagen hätte es schwer, falls sie tiefer in die Dünen mussten.

Er zog seine Jacke an, als seine Frau den Kopf durch die Tür steckte.

»Michael, schläfst du? Ich habe dich gerufen. Ich brauche deine Hilfe.«

»Tut mir leid. Ich habe einen Notfall. Kann später werden.«

Sie schaute ihn aufmerksam an. »Was Ernstes?«

Er nickte. »Edith. Sie soll mit einem Loch in der Stirn in den Dünen liegen.« Er konnte es ihr ruhig erzählen. Sie würde nichts weitergeben.

Sandra Röder wurde blass. »Edith Oligs? Wie …«

»Ich muss los.« Er verließ die Wache und schnappte sich sein Fahrrad. Als er am Inselmarkt vorbeifuhr, kam von der Turnhalle her ein metallisches Scheppern. Dann noch eins. Die Kollegen vom Rettungsdienst hatten die Tore geöffnet. Er hörte den Motor des Krankenwagens anspringen. Sie würden vermutlich eher als er auf seinem in die Jahre gekommenen Dienstfahrrad die Einsatzstelle erreichen. Jörg Weber hatte versprochen, Reinhart Petri zum Katastrophenweg zu schicken, um die Einsatzkräfte zum Fundort der Leiche zu dirigieren.

Tatsächlich, als er den Friedhof erreicht hatte, wurde er vom Krankenwagen überholt. Maik Bernhard, der Fahrer, bremste neben ihm, fuhr ganz langsam weiter und ließ sich von Michael Röder die neuesten Informationen geben. »Sollen wir dich mitnehmen?«, fragte Bernhard zum Schluss. »Dann lass dein Rad hier stehen und steig ein.«

Der Inselpolizist war versucht, das Angebot anzunehmen. Besser schlecht gefahren als gut gestrampelt. Aber dann winkte er ab. »Wer weiß, wo ich das Rad brauche. Und wenn ihr einen weiteren Einsatz habt, darf ich womöglich zu Fuß zurücklaufen. Nein, vielen Dank. Fahrt los. Ich bin gleich da.« Er wusste, dass das mit dem ›gleich da‹ ziemlich übertrieben klang, aber irgendwie musste er sich Mut machen. Außerdem hatte er es gar nicht so eilig, an den Einsatzort zu kommen. Er hatte bereits einmal erlebt, was Möwen und Krähen mit einem Toten anrichten können.

Er fuhr am BK-Heim vorbei, dann am Gelände des Niedersächsischen Turnerbundes. Als er auf den Katastrophenweg einbog, registrierte er zufrieden, dass der fest und leicht befahrbar war. Jahre zuvor hatte diese Zuwegung zum Osten der Insel ihrem Namen alle Ehre gemacht. Ausgekolkt und hügelig war sie eine Herausforderung für Mensch und Maschine gewesen.

Ganz am Ende sah er den Krankenwagen. Er legte noch einen Tritt zu. Hinter ihm wurde das Brummen des Feuerwehrfahrzeuges lauter. Er oder ich, dachte Röder. Für zwei reicht die Breite hier kaum. Doch kurz bevor der Landrover ihn eingeholt hatte, sah er Reinhart Petri am Wegesrand stehen.

Michael Röder schnaufte, als er vom Fahrrad stieg. War doch ganz schön anstrengend.

»Sie liegt da vorne.« Petri zeigte auf etwas, das ungefähr hundert Meter vom Katastrophenweg entfernt sein musste. Genau dort, wo Röder auch Ellen Neubert in einer Senke verschwinden sah. Er atmete noch einmal tief durch, dann rannte er los. Er musste aufpassen, überall hatten Kaninchen ihre Höhleneingänge ins Erdreich gebuddelt. Manche Löcher waren sehr offensichtlich, mit einem Haufen Erde davor, manche mit den Jahren bereits überwachsen und leicht zu übersehen.

»Michael, hierher!« Jörg Weber winkte. Er wirkte angespannt. »Sie ist erschossen worden.«Die Tote sah nicht so schlimm aus, wie Röder befürchtet hatte. Die Vögel hatten natürlich ihre Spuren an Gesicht und Händen hinterlassen, trotzdem war das Einschussloch in der Stirn noch gut zu erkennen.

»Nun geht der Krieg in eine neue Runde.«

Röder drehte sich um und sah Gemeindebrandmeister Axel Meinders mit seinen Leuten ankommen. »Was willst du uns damit sagen?«, fragte der Inselpolizist.

»Na, hör mal, das dürfte doch an dir nicht vorbeigegangen sein, was sich in den letzten Wochen, nein, Monaten auf Baltrum aufgebaut hat. Wer sich da mit wem beharkt. Und Edith war eine der Schlimmsten«, erklärte der Gemeindebrandmeister.

»Das ist wohl wahr«, bestätigte der Jagdpächter eifrig. »Da ist sie jemandem zu sehr auf den Schlips getreten.«

»Hallo, Leute, ein bisschen mehr Respekt bitte. Noch wissen wir gar nichts«, versuchte Röder sie zu beruhigen. Aber auch er glaubte nicht, dass Edith Oligs sich selbst erschossen haben könnte.

Dr. Neubert hob den Kopf der Toten an. »Schau mal, Michael. Dort ist das Geschoss wieder ausgetreten.« Sie zeigte auf eine blutverschmierte Stelle am Hinterkopf. »Das Projektil könnte hier noch irgendwo rumliegen, wenn es der Schütze nicht mitgenommen hat.«

»Wir werden uns gleich das Gelände näher ansehen. Die Kollegen von der Feuerwehr helfen sicher.« Michael Röder sah Axel Meinders nicken. »Aber zuerst spreche ich mit Aurich. Dann können die Kollegen dort schon mal ihre Köfferchen packen. Und natürlich muss Ediths Tochter in Hamburg benachrichtigt werden. Scheißaufgabe.«

*

Tino Middelborg schaute fassungslos auf die geschlossene Bürotür. So, als ob dort des Rätsels Lösung zu finden wäre. Das war nun schon der zehnte Anruf besorgter Gäste, die sich erkundigten, ob es auf der Insel noch sicher sei. Er hatte zwar das Gefühl, dass er bis jetzt die meisten Befürchtungen hatte entkräften können, doch das letzte Telefonat hatte ihn Nerven gekostet. Der Mann hatte doch tatsächlich wissen wollen, ob man den Insulanern nicht alle Schuss­waffen wegnehmen könnte. Damit so was nicht wieder passiere. Man habe schließlich als Stammgast große Sorge, dass Mensch und Tier auf der Insel in absehbarer Zeit ausgerottet würden, wenn das so weiterginge. Und was denn mit den Rehen sei? Ob die ebenfalls auf der Abschussliste stünden?

Der Bürgermeister hatte mit Engelszungen auf den Mann eingeredet und dann Thea Holle, sein bestes Stück im Vorzimmer, gebeten, in den nächsten Stunden keinen Anruf mehr durchzustellen. Dabei war das sonst nicht seine Art. Bürgernähe war sein oberstes Gebot. Aber er musste selbst erst einmal seine Gedanken klar bekommen. Unglaublich, wie schnell sich der Tod von der Oligs rumgesprochen hatte. Sogar bis ans Festland. Dank sozialer Netzwerke war das kein Problem mehr. Dabei brachte die beginnende Saison auch ohne Todesfälle genügend Arbeit mit sich. Alles musste aus dem Winterschlaf geholt, die Turnhalle wieder zum Haus des Gastes umfunktioniert werden. Das hieß putzen, Stühle aufstellen und die Bühne aufbauen. Das Kinderspielhaus musste für die kleinen Gäste aufgehübscht werden. Dazu kam der Streit um die Kaninchen, der immer groteskere Formen annahm. Vornehmlich zwischen den selbsternannten Rettern der Pflanzenwelt und den Proniggels. Inzwischen wurde dieser Krach nicht mehr inselintern ausgetragen, sondern Medien hatten sich darauf gestürzt und ein Horrorszenario von toten Tieren an die Wand gemalt. Die Baltrumer Jäger, die sich bis jetzt erstaunlich zurückhaltend gezeigt hatten, wurden langsam sauer. Denn auch sie standen im Fokus der Öffentlichkeit.

Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte man die Sprecherin und selbsternannte Vorsitzende der Proniggels mit einem Kopfschuss – ihm kam das Wort ›erlegt‹in den Sinn – in den Dünen gefunden.

Seine Vorgängerin im Amt hatte ihm ein ganz schönes Pfund hinterlassen, als sie im letzten Herbst die Segel gestrichen hatte und nach Jamaica ausgewandert war. Es war ihm immer klar gewesen, dass der Job als Bürgermeister und Kurdirektor nicht einfach sein würde, obwohl die Insel klein war. Aber solch einen Saisonbeginn hatte er sich nicht träumen lassen.

Er schaute auf die alte braune Bürouhr, die sicher schon unter vielen Bürgermeistern gedient hatte. Es wurde Zeit, zum Schiff zu gehen und Werner Gronewald abzuholen.

Das Telefon klingelte. Hatte er nicht …? Egal. Es musste wichtig sein, wenn Thea Holle durchstellte. »Middelborg.« Er lauschte einen Moment, dann erklärte er: »Ich bin ebenfalls gleich am Hafen. Dann können wir reden.«

Gerade als er beim Nationalparkhaus links abbiegen wollte, hörte er seinen Namen. Ingeborg Opitz stand mitten auf der Straße und winkte ungestüm. »Herr Middelborg, Herr Middelborg, halten Sie an.«

Nicht die Opitz. Die reichte ihm schon zu normalen Zeiten. Aber es nützte nichts. Wenn er weiterfuhr, würde sie ihn bis zum Hafen verfolgen und dann gab es kein Entkommen. Es sei denn, er würde sich ins Hafenbecken stürzen und nach Norderney rüber­schwimmen. Was schwierig war. Und um diese Jahreszeit ein wenig zu kalt!

Er bremste und sprang vom Rad. Das Schiff sah er gerade an der Ostspitze der Nachbarinsel vorbeifahren. Ihm blieb also ein wenig Zeit, bis es anlegte. »Ich grüße Sie, Frau Opitz.« Er bemühte sich um größtmögliche Freundlichkeit. »Was kann ich für Sie tun?«

»Machen Sie dem Röder Dampf. Der soll sich um meinen Zaun kümmern!«

»Sie meinen Michael Röder? Der ist meines Wissens hier Polizist und kein Handwerker.«

»Mein Gott ja, darum geht es doch!«, antwortete sie scharf. »Jemand hat meinen Zaun zerstört. Das ist eine Straftat.«

»Ich bin sicher, dass er sich Ihren Zaun ansehen wird. Doch im Moment hat er vielleicht Wichtigeres zu tun.« Er merkte, dass sein Erklärungsversuch einfach an dieser Frau abprallte. »Sie werden gehört haben, dass …«

»Natürlich. Aber Edith ist tot. Fertig. Also kann er sich jetzt auch …«

Es widerte ihn an. »Er wird sich schon kümmern«, sagte er knapp und machte, dass er wegkam.

»Herr Middelborg. Warten Sie! Unverschämtheit!«, begleitete ihn ihre gehässige Stimme fast bis zum Reedereigebäude.

Sie würde ihm ziemlich sicher folgen. Er musste unbedingt Michael Röder warnen. Er blickte sich um und sah ihn neben dem Wartehäuschen stehen. »Hallo, Herr Röder. Bevor Sie etwas sagen – gerade hat …«

Zu spät. Ingeborg Opitz hatte ihn eingeholt und bremste mit quietschenden Reifen.

»Da habe ich genau die Richtigen«, begann sie lauthals, doch Middelborg fiel ihr ins Wort.

»Frau Opitz! Nicht jetzt.« Middelborg bemerkte große Aufmerksamkeit in den Gesichtern der Umstehenden. »Wenn Sie etwas mit mir zu besprechen haben, dann kommen Sie in mein Büro. Sollten Sie mit Herrn Röder reden wollen – er ist später auf der Wache zu finden.« Ob es die Hausmeister der Hotels waren, die junge Frau vom Kutschenbetrieb oder der eine oder andere Vermieter, alle hatten sich zu ihnen umgewandt und warteten gespannt, wie die Auseinander­setzung weiterging. Es war ihm egal. Man kannte ihn als ausgleichend, freundlich. Aber in diesem Fall versagte seine Freundlichkeit.

»Sie wollen mir doch nicht vorschreiben, was ich zu tun habe«, fuhr Ingeborg Opitz ihn an. »Wer sind Sie überhaupt? Erst ein halbes Jahr hier und schon wollen Sie wissen, wie der Hase läuft. Von Insulanern haben Sie doch keine Ahnung. Und ich Idiot habe Sie auch noch gewählt.«

Zu dieser Argumentation fiel ihm nun gar nichts mehr ein. Als sie ihn gewählt hatte, war ihr doch klar gewesen, dass er kein Insulaner war, sondern vom Festland kam. Warum hatte sie ihr Kreuz bei ihm gemacht? Dann hätte sie besser ihre Wahl zwischen den beiden Inselkandidaten treffen können. Vielleicht würde er sie mal danach fragen. Irgendwann. Wenn sich die Lage beruhigt hatte.

»Ingeborg, Du solltest dich jetzt besser zurückhalten.« Michael Röder hatte sich vor der erbosten Frau aufgebaut. »Natürlich werde ich mich um deinen Zaun kümmern. Immer und immer wieder. Genau, wie ich es gestern nach deinem Anruf gemacht und die Anzeige aufgenommen habe. Aber jetzt muss ich erst meine Kollegen vom Festland abholen. Prioritäten setzen nennt man so etwas. Und wenn du das nicht verstehst, kann ich dir auch nicht helfen.«

Mit einem Ruck zog Ingeborg Opitz ihr Fahrrad zur Seite. Im Umdrehen fauchte sie: »Wie schön, dass du noch Vorgesetzte hast, lieber Michael. Die werden sehr interessiert registrieren, was ich denen zu sagen habe.« Mit Schwung bestieg sie ihr Fahrrad und ließ zwei kurzzeitig sprachlose Männer zurück.

»Wechseljahre.« Thomas Claaßen nickte bedeutungsvoll. »Ich sage nur: Wechseljahre. Kenne ich von meiner Helma.«

Middelborg hatte ihn gar nicht näherkommen sehen. Er wunderte sich. Als Gemeindemitarbeiter sollte Claaßen eigentlich damit beschäftigt sein, in der Mehrzweckhalle die restlichen Strandkörbe fit für die Saison zu machen. Aber offensichtlich führte dieser Mann in seiner Arbeitszeit ein Eigenleben. Diese Leute muss ich unbedingt besser in den Griff kriegen, nahm er sich vor. Doch nicht jetzt. Nicht noch ein Drama. Der Tag war bis jetzt der anstrengendste in seiner jungen Laufbahn als Bürgermeister gewesen. Der musste nicht mit einer dienstlichen Diskussion in aller Öffentlichkeit gekrönt werden. Aber ein: »Na, schon Feierabend?«, konnte er sich nicht verkneifen.

»Wie man’s nimmt«, war Claaßens Antwort. »Überstundenabbau. Muss Gäste abholen.«

Wenn der Mann auch viel konnte: In ganzen Sätzen sprechen offensichtlich nicht. Das mit den Überstunden würde sich Middelborg genau ansehen. Er hegte leichte Zweifel.

»Kommen Sie«, wandte er sich an Michael Röder. »Da hinten ist es ruhiger. Sie meinten eben am Telefon, Sie hätten Neuigkeiten?«

Der Inselpolizist folgte ihm einige Meter Richtung Pegelanlage zur der Stelle, wo normalerweise das Ausflugsschiff Baltrum III anlegte. Das allerdings schien unterwegs zu einer Fahrt rund um die Insel zu sein. Die große Fähre, die Baltrum I, bog gerade in die Hafeneinfahrt.

»Wer kommt gleich?«, fragte er Röder.

»Die Spurensicherung und meine Kollegen aus Aurich. Dazu mein Hilfssheriff, Eilert Thedinga aus Grotegaste. Der wird sich wundern, was hier los ist. Und was ich Ihnen sagen wollte: Ich habe zwei herren­lose Fahrräder an den Hintereingang vom Rathaus gestellt. Für das Fundbüro.«

»Alles klar. Kümmere ich mich drum.« Als Bürgermeister dieser kleinen Insel war er offensichtlich für alles zuständig. Ob Strandkörbe, herrenlose Fahrräder ….

»Ich habe übrigens wegen der Fahrräder den Leiter des Fundbüros anrufen wollen. Der war aber nicht da.«

»Schon gut, ich gebe es weiter.« Tino Middelborg blickte den Polizisten freundlich an. »Gibt es sonst was Neues?«

»Wegen der Toten?« Michael Röder schüttelte den Kopf. »Nach erstem Anschein ist sie erschossen worden. Aber letztendlich können uns nur die Mediziner in Oldenburg nach einer genauen Untersuchung etwas sagen.«

»Na ja, sie wird nicht gleichzeitig vergiftet und erschossen worden sein«, erwiderte Middelborg.

»Hat es alles schon gegeben. Obwohl ich das nicht glaube, werde ich mich hüten, eine Aussage dazu zu machen«, erklärte Röder. »Warten wir es also gelassen ab.«

»Sie sind gut. Gelassen!« Middelborg erzählte dem Polizisten, wie bei ihm die Telefone heißliefen. »Am besten wäre es, wenn wir bei allen Insulanern eine gründliche Hausdurchsuchung machen und alles beschlagnahmen würden, was auch nur ansatzweise wie ein Mordinstrument aussieht.«

»Da würde sich meine Sandra aber ganz schön bedanken, wenn sie in Zukunft ohne Küchenmesser auskommen sollte.« Michael Röder lächelte. »Ich möchte im Moment echt nicht mit Ihnen tauschen. Das ist bestimmt nicht einfach. Ich hoffe mal, dass wir schnell Ergebnisse haben.«

Werner Gronewald kam als Erster vom Schiff. Middel­borg hatte ihn im Herbst bereits einmal getroffen. Bei der Deichschau. Kurz nachdem er seinen Bürgermeisterposten angetreten hatte.

»Schön, dass Sie da sind«, begrüßte er ihn freundlich. »Gehen wir zu mir nach Hause. Im Büro haben wir keine ruhige Minute.« Er berichtete Gronewald kurz, was auf der Insel passiert war.

Werner Gronewald deutete auf eine Gruppe, die zielstrebig auf den Inselpolizisten zulief. »Habe mir schon gedacht, dass etwas passiert sein muss. Die Herren sehen so offiziell aus. Gar nicht wie Urlauber. Besonders der mit der schwarzen Aktentasche. Kennen Sie die?«

»Nein. Der letzte Mordfall war vor meiner Amtszeit«, sagte Middelborg.

»Aber Sie denken nicht im Ernst, dass hier so eine Art – wie soll ich es nennen – ›Mörderischer Kaninchen­krieg‹ ausgebrochen ist?«, fragte Gronewald.