Endstation Baltrum - Ulrike Barow - E-Book

Endstation Baltrum E-Book

Ulrike Barow

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Nur noch vier Wochen bis Ostern - Birgit Ahlers, die mit ihrem Mann Henning auf der Nordseeinsel Baltrum das Hotel »Sonnenstrand« betreibt, bereitet sich auf den ersten Urlauberansturm des Jahres vor. Dass die alte Nachbarin Grete überraschend Besuch von ihrem Sohn und der künftigen Schwiegertochter bekommt, ist eine willkommene Abwechslung. Dass die zänkische Tante am nächsten Morgen blutend und bewusstlos in ihrem Haus liegt, ist aber zu viel der Aufregung. Auf Baltrum sind immer alle Türen offen und es gilt die Devise: Wenn der Besuch merkt, dass keiner zu Hause ist, geht er eben wieder weg. Hat jemand das ausgenutzt? Das beschauliche Inselleben gerät aus den Fugen.

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Seitenzahl: 280

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Ulrike Barow

Endstation Baltrum

INSELKRIMI

Zum Autor

Ulrike Barow wuchs in Gütersloh auf und machte eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Danach zog es sie zum Lieblingsurlaubsort ihrer Kindheit, der kleinen Nordseeinsel Baltrum. Dort lernte sie ihren Mann kennen und arbeitete im Einzelhandel sowie im familieneigenen Vermietungsbetrieb. Nebenbei verfasste Ulrike Barow Artikel für die Lokalzeitung. Vor einigen Jahren griff sie die Idee auf, Baltrum-Krimis zu schreiben. Viele Kurzgeschichten sind seitdem ebenfalls entstanden. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie nicht nur auf der Insel, sondern auch in der schönen ostfriesischen Stadt Leer.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

(Originalausgabe erschienen 2008 im Leda-Verlag)

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © © haiderose/adobe.stock.com

ISBN 978-3-8392-6430-0

1

Als das Telefon klingelte, stand Birgit Ahlers auf der Leiter und versuchte, die Kuppel der Badezimmerlampe abzunehmen. Ein paar Fliegen hatten auf der Suche nach Wärme die Gefahr hoffnungslos unterschätzt und ihre ausgetrockneten Kadaver warteten darauf, von der Hausfrau entsorgt zu werden.

»Mist, verdammter … Je höher die Leiter, desto entfernter das Telefon!«, schimpfte sie laut. Von Henning war weit und breit nichts zu sehen, also blieb ihr nichts anderes übrig, als selbst ranzugehen. Es konnte ja eine Zimmeranfrage sein.

»Hotel Sonnenstrand, Baltrum, mein Name ist Ahlers, guten Tag.« In ihrem Volkshochschulseminar Behandele den Gast als Freund hatte Birgit zwar gelernt, man solle auch noch »Was kann ich für Sie tun?« hinterdreinschieben, aber das schien ihr etwas gewöhnungsbedürftig.

»Hallo, Birgit, hier ist Grete. Ich wollte eben fragen, ob du wohl heute Nachmittag zum Tee kommst, so gegen vier Uhr. Peter ist gerade angekommen, auf Tagesfahrt, mit seiner neuen Lebensgefährtin, so sacht man da wohl zu. Dann kannst du sie dir ja mal angucken.«

Birgit unterdrückte ein Seufzen. »Ja, mach ich, Tant‹ Grete. Bis dann.«

Nachbarin Grete, Insulanerin von altem Schlag, war ein schwieriger Mensch, pingelig und rechthaberisch. Aber Birgit kannte Tante Grete seit ihrer Kindheit, erledigte manchmal Einkäufe für sie und brachte ihr hin und wieder eine warme Mahlzeit rüber. Sie hatte sich in den vielen Jahren damit abgefunden, dass selten ein Hauch von Dankbarkeit über Gretes Lippen kam. Henning bezeichnete Grete oft als »altes Schrapnell«, aber auch er half, zum Beispiel, wenn wieder mal eine Sicherung in dem betagten Insulanerhaus ausgefallen war.

Gretes Sohn Peter war Lehrer auf dem Festland. Die erste Frau war ihm vor einiger Zeit abhandengekommen. Ihr Verhältnis zur Schwiegermutter war antarktismäßig gewesen, mit nicht einmal dem Ansatz einer schmelzenden Polkappe. So hatte auch Peter seine Mutter immer seltener besucht. Jetzt wollte er ihr also seine neue Flamme vorstellen. Ein neuer Anfang heute …

Birgit stellte Leiter und Putzutensilien zur Seite. Bald würde auf der Insel der Trubel wieder losgehen. Nur noch vier Wochen bis Ostern, und erst nächste Woche stand ihr Margit, ihre rechte Hand und langjährige Hilfe, wieder zur Seite, als erste von vielen Saisonmitarbeitern. Ostern war früh in diesem Jahr, schon Ende März. Danach würde Baltrum bis zum Mai noch einmal in einen tiefen Winterschlaf fallen.

Unten schlug eine Tür. Vermutlich hatte die innere Uhr ihres Mannes Mittagessen signalisiert.

Außerhalb der Saison durfte Birgit ihn gelegentlich bekochen, im Sommer stand Henning selbst am Herd und zauberte seinen Gästen maritime Leckereien. Dabei war er einer der wenigen, die sich weigerten, mit dem Werbeschild Heute frische Kutterscholle die Inselgäste von der Straße ins Restaurant zu locken. Er sagte immer: »Wie soll die Scholle denn wohl sonst aus dem Wasser kommen als mit Kutter und Netz? Geangelt wird sie schließlich nicht, ist ja kein Schellfisch!« Das Schild Heute leckerer Angelschellfisch fand vor seinen Augen natürlich ebenfalls keine Gnade. Die Worte frisch und lecker auf solchen Schildern jagten ihm sowieso Angst ein. »Sollte etwa der Rest auf der Speisekarte …?!«

»Ich habe die Post mitgebracht.« Henning legte seine dicke Winterjacke auf den Rezeptionstisch. »Mensch, Birgit, was ist das kalt draußen! Der Ostwind pfeift durch alle Ritzen. Sollte mich wundern, wenn das Abendschiff fahrplanmäßig fahren würde. Heute Morgen hat noch alles gut geklappt, aber da fuhren sie ja auch genau bei Hochwasser.«

»Wenn du so durchgefroren bist, kann wahrscheinlich nur eine große Portion aufgeschmorte Kartoffeln mit ordentlich Eisbein helfen?«

»Wie gut du mich kennst, mein Inselhase!« Henning grinste und rieb sich voller Vorfreude den Bauch.

Inselhase …! Birgit ging mit dem Vorsatz in die Küche, als nächstes Seminarthema Kosenamen und deren praktische Anwendung vorzuschlagen.

2

Am Nachmittag ging sie zu Tante Grete hinüber. Grete Habkea Peters war bereits hoch in den Siebzigern und lebte seit dem Tod ihres Mannes allein in dem Häuschen, das genau wie sie von Alterserscheinungen nicht verschont geblieben war. Ihr Garten war ihr ganzer Stolz gewesen, solange sie ihn noch selbst hatte pflegen können. Seit zwei Jahren machte ihr die Gicht das Laufen schwer, sie ging nur noch selten vor die Tür. Der Garten verwilderte langsam, aber Grete weigerte sich standhaft, fremde Hilfe anzunehmen. »Die machen das ja doch nicht richtig, reißen mir nachher noch die ganzen Blumen raus, nee, dat will ik nich!« Wer »die« waren, wurde nie so recht klar, aber »die« wollten auf jeden Fall auch die Welt- sowie die Inselpolitik bestimmen, Tante Grete um ihr Gespartes bringen, ihre Gesundheit ruinieren und auch ihren Ruf zerstören. »Als Frau wird einem ja leicht was nachgesagt, doar mutt man heel vörsichtig sein.« Sie hatte wohl bislang übersehen, dass ihre biologische Uhr für ein Techtelmechtel mit dem schnuckeligen Surflehrer längst abgelaufen war.

Tante Gretes Meckerei potenzierte sich, wenn ihre beste Freundin Frieda Albers mit von der Partie war. Frieda war noch etwas besser auf den Beinen, so fanden die konspirativen Sitzungen meist in Gretes Insulanerhaus statt. Über das große Grundstück hinweg bot sich für die beiden freier Ausblick über das Baltrumer Geschehen. Kein Nachbar blieb unbeobachtet, nichts unkommentiert.

Drohte ihnen doch mal der Gesprächsstoff auszugehen, fielen sie eben übereinander her, holten uralte Kamellen aus der Kiste und gifteten sich an. Allerdings waren sie zum Ende der Teezeit meistens wieder ein Herz und eine Seele.

Sollte mich nicht wundern, wenn Frieda auch zum Tee erscheint, dachte Birgit, als sie Gretes Haustür öffnete. Aber Frieda war bereits da. Birgit konnte ihre Stimme aus dem Gewirr, das aus dem Wohnzimmer drang, leicht heraushören, als sie in den Flur mit der dunklen Kommode und dem hölzernen Garderobenständer trat, der bei jedem Jackeaufhängen das Gleichgewicht zu verlieren drohte.

Birgit klopfte und schob die Wohnzimmertür auf. Ihr bot sich ein Bild wie aus einem Film der fünfziger Jahre. Auf dem Zweiersofa saßen Peter und seine Freundin, links davon thronte Tante Grete in ihrem verschlissenen Lieblingsohrensessel, und rechts wurde das Paar von Frieda flankiert, die gerade triumphierend zum Besten gab, dass sie ja ihr Lebtag glücklich verheiratet gewesen wäre. Birgit hörte Tante Grete gerade noch murmeln »Und warum hest du ihn dann mit dien Keiferei unter die Erde gebracht?«

»Moin miteinander!«, sagte sie laut.

Peter lächelte. »Hallo, Birgit, darf ich dir Sabine Heller vorstellen? Ich habe sie auf einem Lehrerseminar in St. Andreasberg kennen gelernt. Sabine, dass ist Birgit Ahlers, meine Uraltfreundin. Sie und ihr Mann Henning sind die Chefs vom Hotel Sonnenstrand nebenan.«

Sabine gab ihr die Hand. Sie war Birgit sofort sympathisch.

»Ach, Fräulein Sabine, wenn jetzt alle da sind, können Sie wohl eben Tee machen, steht schon alles in der Küche bereit.« Tante Grete schaute Sabine auffordernd an.

Was soll das denn jetzt für ein Spiel werden, dachte Birgit verblüfft. Der ultimative Hausfrauentest? »Komm, Sabine, ich gehe mit. Ich kenne mich hier aus.«

Die beiden verschwanden in der Küche und hörten aus dem Wohnzimmer lebhaftes Wortgewimmel. Peter wurde in die Zange genommen.

Auf der Anrichte standen das Geschirr mit der Ostfriesischen Rose, Kluntje, Teesahne und Tee bereit. Das Wasser dafür musste in einem altmodischen Flötenkessel auf dem auch nicht mehr ganz neuen Herd erhitzt werden. Sie nutzten die Zeit für ein erstes Beschnuppern.

»Peter und ich sind ja jetzt schon ein paar Monate zusammen, und so wollte ich endlich mal seine Mutter und sein früheres Zuhause auf Baltrum kennen lernen.« Sabine nahm die Teekanne, um Teeblätter einzufüllen. »Oh, Mann, ist die dreckig … ganz dunkelbraun von innen!« Fassungslos starrte sie hinein. »Weißt du, wo hier Scheuermilch oder so etwas steht?«

Birgit nahm ihr die Kanne aus der Hand. »Also, erste Einführung in altinsulare, sprich ostfriesische Lebensart: Teekanne niemals ausschrubben, sonst vergeht der Geschmack. Vor Einfüllen der Teeblätter mit heißem Wasser ausspülen, dann pro Tasse einen Löffel Tee und für die Kanne einen extra, drei bis fünf Minuten ziehen lassen, fertig.«

Sabine lächelte. »Da habe ich als Nichtostfriesin mit deiner Hilfe ja wohl gerade die schwierigste Klippe dieses gemütlichen Beisammenseins umschifft.«

Das hoffte Birgit auch, aber als sie mit dem Tablett voll Teegeschirr ins Wohnzimmer zurückkamen, saß Peter mit hochrotem Kopf auf dem Sofa. Er war als ruhiger Vertreter seiner Gattung eher dem Vater nachgeraten und hatte schon immer Schwierigkeiten mit dem bestimmenden Naturell seiner Mutter gehabt.

»Mutter, ob und wie viele Kinder wir in die Welt setzen, ist ganz allein unsere Sache. Du hast auch nicht deine Mutter gefragt, bevor du mit mir schwanger geworden bist, und dass ich keine Geschwister habe, liegt sicher nicht daran, dass es dir deine Familie verboten hat.«

Tante Grete war zusammengezuckt und schwieg. Sabine und Birgit verteilten die Teetassen auf dem Tisch. Birgit übernahm vorsichtshalber das Einschenken, denn auch dieses Ritual nach Ostfriesenart war Peters Freundin sicher noch nicht geläufig.

Langsam kam das Gespräch wieder in Gang. Die beiden Festländer wurden im Laufe des Nachmittags mit Inselneuigkeiten versorgt. Peter blieb jedoch still und zurückhaltend. Auch Tante Grete war ruhiger als sonst.

Kurz vor sechs stellte Peter mit einem Blick auf die Uhr fest, dass es Zeit sei, aufzubrechen. »Das Schiff fährt um halb sieben.«

Birgit wollte sich auch auf den Weg machen, da sie noch zwei Vertreter mit Abendessen versorgen musste, die in ihrem Hotel übernachteten. Aber da kam ihr Mann hereingestapft.

»Das Schiff fährt heute nicht mehr«, meldete Henning. »Hat die Reederei gerade bekannt gegeben. Der Ostwind ist zu stark, das Eis ist viel dicker geworden auf dem Watt, da ist das Fahren in der Dunkelheit nicht möglich. Nächste Abfahrt ist morgen um zehn Uhr.«

Peter und Sabine gefror das Lächeln, mit dem sie Henning begrüßt hatten, auf dem Gesicht.

Tante Grete verlernte auch in diesem Moment das Sticheln nicht. »Tja, dann müssen wir wohl Peters altes Schlafzimmer und das kleine Gästezimmer fertig machen. Mach wohl ein bisschen feucht sein da drin, is schon lange nich geheizt worden. Mich ist ja schließlich auch ewig keiner mehr besuchen gekommen.«

Tante Frieda nutzte die Gelegenheit, ein triumphierendes »Selbst schuld!« draufzusetzen.

»Die beiden können bei uns im Hotel schlafen«, entschied Birgit. »Die Zimmer sind sauber, die Betten bezogen. Henning, geh du schon mal rüber und mach in Zimmer sechs die Heizung an. Ich komme gleich mit den beiden nach. – So, das wäre geregelt, keine Widerrede. Um sieben Uhr gibt es Abendessen.«

Tante Frieda grinste, Peter und Sabine lächelten wieder. Nur Tante Grete sah aus, als hätte sie ein unerwartetes, kostbares Geschenk ebenso unerwartet wieder verloren.

Plötzlich tat Birgit die alte Frau leid. »Willst du auch mit rüberkommen, Tante Grete?«

»Nein, lat man, mien Beenen wollen auch nich mehr so richtig, und ik hab hier auch wohl noch nen Happen to eeten. Aber bis zu’n Abendbrot könnt de Kinners doch noch eben bei mi sitten bleiben. Frieda het seker to Huus noch wat to doon un Birgit mut ihre Gäste versörgen.« Womit Tante Grete exakt definiert hatte, wer bleiben und wer gehen durfte.

3

In der Hotelküche war Henning schon damit beschäftigt, Brot, Aufschnitt und Käse zu schneiden. Einen deftigen Heringssalat hatte er vorhin bereits zubereitet, und eine Gulaschsuppe köchelte auf dem Herd.

»War das ein Nachmittag!« Birgit ließ sich auf einen Küchenstuhl plumpsen und atmete tief aus. »Ich hoffe, Tante Grete benimmt sich den beiden gegenüber einigermaßen gesittet. Schließlich ist es ihr Sohn, und nur garstig kann man doch nicht durchs Leben gehen.«

Henning schaute sie an. »Ich weiß auch nicht, warum alte Menschen manchmal so verbittert werden. Natürlich steckt oft Krankheit dahinter, ein nicht erfüllter Lebenstraum oder finanzielle Not. Aber das Leben sollte sie eigentlich gelehrt haben, dass sich vieles mit ein bisschen Humor und Gelassenheit wesentlich leichter ertragen lässt. Gut, Tante Grete hat mit ihrer Gicht zu kämpfen, aber sie kann sich zum großen Teil noch selber versorgen, und Geldsorgen hat sie auch keine, soweit ich weiß. Ihr Mann hat ihr doch eine vernünftige Rente hinterlassen, sie wohnt im eigenen Häuschen, und anspruchsvoll ist sie auch nicht. Wer weiß, was in ihrem Kopf herumspukt.« Henning rührte gedankenverloren den Heringssalat um und schmeckte ihn noch einmal ab. »Probier mal.« Er schob Birgit einen Löffel voll in den Mund.

»Mhhh, lecker, da werden sich unsere Gäste wieder alle Finger nach lecken.«

»Ich decke mal eben schnell die Tische ein, die Herrschaften werden bestimmt gleich auf der Matte stehen.«

Einige wenige Gäste waren auch außerhalb der Saison meistens im Haus – Handwerker, die auf der Insel zu tun hatten und während der Woche blieben, Vertreter, die von Haus zu Haus gingen, und hin und wieder auch mal ein Gast, der Baltrum im Winter kennen lernen wollte. Mittagessen gab es für sie in der Gaststätte Zum Seehund, und wenn der Seehund Ruhetag hatte oder winterfrei machen wollte, erklärte sich meist ein anderer Gastronom bereit, sein Restaurant zu öffnen. Meistens …

So mancher, der sich im Winter unangemeldet auf die Insel gewagt hatte, völlig zu Recht in der Annahme, dass fast alle Häuser und damit auch alle Betten leer standen, hatte sich schon verwundert erklären lassen, warum dann trotzdem kaum ein Insulaner bereit war, sein Haus für Gäste zu öffnen. »Sie wissen ja, die Heizkosten …!«

Falls denn der arme Gast bei seinem Irrweg auf Zimmersuche überhaupt jemanden fand, der ihm irgendwelche Tatsachen erklärte. Oft konnten sich diese armen Menschen nur glücklich schätzen in dem Glauben, dass abends eine Fähre Richtung Neßmersiel ablegte. Allerdings war das bei der tidenabhängigen Fährverbindung nicht immer der Fall.

Zum Glück gab es aber einige Insulaner, die in der Winterzeit ihre Türen öffneten. Dazu gehörten Birgit und Henning Ahlers.

Birgit ging in den kleinen Raum, der für Frühstück und Abendessen genutzt wurde. Es dauerte nicht lange, da stand Hans Ottovordemgentschenfeld in der Tür, Wurstfabrikant in der dritten Generation und ein Meter fünfundsechzig geballte Lebensfreude. Er hieß wirklich so. Viele Ostwestfalen hießen so oder so ähnlich. Besonders in seiner Heimatstadt Verl.

Sein Werbeslogan lautete: Es gibt die beste Wurst der Welt bei Ottovordemgentschenfeld! Er belieferte die Insulaner mit Portionsware für das Frühstück und hatte nicht nur Wurst-, sondern auch Butter-, Marmeladen-, Honig- und Schwarzbrotportionen im Programm. Nebenbei lieferte er für fast alle insularen Feste die leckere Bratwurst, die als Spezialität seiner Firma galt.

Schon sein Vater war jedes Jahr im Winter aus dem kleinen Ort bei Gütersloh, dem Stammsitz seiner Wurstfabrik, auf die Insel gereist, hatte sich bei Birgits Eltern einquartiert und mit den Insulanern Geschäfte gemacht. Damals hatten die Vermieter noch Warenmengen für eine ganze Saison bestellt.

In den Sechzigern und Anfang der siebziger Jahre war das Festland wesentlicher umständlicher zu erreichen gewesen als jetzt. Die Fährverbindung nach Norddeich hatte eindreiviertel Stunden gedauert. So war an den meisten Tagen nur eine Fahrt möglich gewesen; wer damals an Land einkaufen wollte, musste eine Übernachtung einplanen. Die wenigsten Insulaner hatten zu dieser Zeit schon Führerschein und Auto, und so war die nächste Hürde das Fortkommen von Norddeich. Da war es kein Wunder, dass sich zu Beginn jeder Saison viele Vertreter auf den Weg nach Baltrum gemacht hatten, um den Insulanern alles anzubieten, was diese für sich und ihre Gäste brauchen würden.

Heutzutage lief das alles anders. Die Überfahrt war kurz, die Insulaner mobil und kaum noch einer legte große Vorräte an.

»Guten Abend, Birgit – ich sehe, mein wohlverdientes Abendessen nach solch einem kalten Tag steht schon auf dem Tisch. Hoffentlich kommen die anderen Gäste auch bald, damit wir nicht mehr so lange warten müssen.« Hans rieb sich die Hände. »Wie wär’s mit einem lütten Aufwärmer, um die Zeit zu verkürzen?«

Ehe Birgit antworten konnte, ging die Tür wieder auf und Wilfried Stark, Vertreter für Bett- und Tischwäsche, Hand- und Badetücher, Vorleger und so weiter füllte mit seinen 130 Kilo den Raum. Der Mitarbeiter der Firma Wäsche Meier kam ebenfalls seit vielen Jahren auf die Insel und kannte jeden Alteingesessenen.

»Na, hast du die Insel schon mit Bettvorlegern eingehüllt?«, begrüßte Hans seinen Kollegen.

»Wenn’s man so wäre! Alle bitten mich herein, bieten mir Tee und Kuchen an, wollen die Neuigkeiten hören, die ich beim vorherigen Kunden erfahren habe, und dann ist der Bauch voll, aber das Auftragsbuch ziemlich leer. Es gibt halt so viele Möglichkeiten inzwischen, den Bedarf zu decken. Versandhäuser, Internet … Aber wem sag ich das.« Stark wuchtete seine Leibesfülle an den Abendbrottisch. »Wir gehören mit unserer Ansicht, dass gute Qualität und fachkundige Beratung so manches Sonderangebot ersetzen können, wohl zu einer aussterbenden Spezies.«

»Genau so sieht es aus! Meine Bratwurst ist ein Spitzenprodukt, hat natürlich ihren Preis, und was sagen mir die Leute? ›Im Großmarkt in Aurich kostet die Bratwurst zwanzig Cent weniger das Stück. Schmeckt auch! Und für Gäste langt die allemal …‹Da kannst du doch nur hilflos mit den Schultern zucken. Ich muss mir wirklich überlegen, ob ich nächstes Jahr wiederkomme. Aber Spaß macht es ja auch, die alten Gesichter zu begrüßen.« Hans setzte sich zu Wilfried Stark an den Tisch. »So, Birgit, nun lassen Sie doch mal die Luft aus den Gläschen. Oh, heute noch zwei neue Gäste unter uns? Auch Kollegen?« Neugierig schaute er zum ebenfalls eingedeckten Nachbartisch.

»Nein, der Sohn von unserer Nachbarin übernachtet mit seiner Lebensgefährtin bei uns.« Birgit nahm die Schnapsflasche aus dem Tiefkühlschrank und schenkte den Vertretern ein. »Prost, meine Herren, der geht aufs Haus. Zu einem Teller Gulaschsuppe wird auch keiner von Ihnen Nein sagen, oder?« Bevor sie in die Küche ging, zapfte sie noch schnell zwei Pils an, denn die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass damit oft ein gemütlicher Abend begann.

Die alte Standuhr mit dem geschnitzten Segelschiff im Hotelfoyer schlug gerade sieben, als Sabine Heller und Peter Peters eintrafen.

Birgit kam gerade mit zwei Tellern dampfender Suppe aus der Küche. »Ich bringe das hier nur kurz weg, dann zeige ich euch das Zimmer. Ihr könnt natürlich auch zwei Einzelzimmer haben.« Sie grinste über das ganze Gesicht.

Peter grinste zurück. »Bei dieser Kälte ist gegenseitiges Wärmen umweltfreundlicher und preisgünstiger. Gib uns man das Doppelzimmer.«

Birgit trug die Suppe in den Gastraum.

»Das ist ja echt nett, dass die uns hier so freundlich aufnehmen«, hörte sie Sabine sagen.

»Birgit und ich kennen uns schon seit der Kindheit«, erklärte Peter. »Außerdem ist dies nun mal ein meteorologischer Notfall, da hilft man eben aus.«

Birgit servierte den beiden Vertretern ihre Suppe. Dann zeigte sie Sabine und Peter das Zimmer sechs. »Aber erst könnt ihr gleich wieder mit runterkommen«, sagte sie. »Das Abendessen steht schon auf dem Tisch. – Na, wie ist es euch denn in der letzten Stunde ergangen? Hat Tante Grete sich einigermaßen benommen?«

»Davon kann überhaupt keine Rede sein«, sagte Peter, während sie die Treppe wieder hinuntergingen. »Sie wollte uns partout von der Bösartigkeit der gesamten Menschheit überzeugen. Ihre Fallbeispiele nahmen kein Ende und machten auch vor uns nicht halt. Meine Mutter weiß von Sabine nur, dass sie Ende dreißig, unverheiratet und berufstätig ist, aber schon ist sie sicher, dass Sabine keine Kinder gebären kann – und das, wo uns der Staat heute angeblich alles hinterherwerfen würde. Darüber schien sie besonders sauer zu sein. Sie hätte vor fünfundvierzig Jahren schließlich nichts gekriegt und mich trotzdem bekommen, sagt sie, trotz aller finanzieller Not. Vater hätte doch nichts nach Hause gebracht und sie den Buckel krumm gehabt vom Bettenmachen und Putzen bei anderen Leuten.«

»Vielleicht mag sie mich einfach nicht leiden«, wandte Sabine ein.

»Das glaube ich nicht«, sagte Birgit. »Ich denke, sie hätte jede andere Frau an deiner Stelle genauso behandelt. Mütter befinden sich immer im Liebeskonkurrenzkampf mit den Gattinnen, Lebensgefährtinnen und Freundinnen ihrer Söhne.«

»Ich glaube nicht, dass es daran liegt«, widersprach Peter. »Und allein mit dem Alter kann das bei ihr auch nichts zu tun haben. Ich bin echt verblüfft, wie sich ein Mensch in kurzer Zeit so verändern kann. Als ich Weihnachten hier war, war sie genau wie immer – zwar rechthaberisch und zickig, aber doch nicht so ohne Kompromiss negativ wie heute! Als ob sie irgendwie den Glauben an die Menschheit verloren hätte.« Peter schüttelte leicht den Kopf. »Es kann sein, dass ich nachher noch mal kurz bei ihr reinschaue.«

»Was wollt ihr trinken?«, fragte Birgit, als sie die Tür zum Gastraum öffnete.

»Ach, so ein Bierchen kann wohl nicht schaden«, erwiderte Peter.

Die beiden waren von der Atmosphäre, die der Raum ausstrahlte, sichtlich gefangen genommen. Einige alte Stücke aus vergangenen Zeiten, die auf dem Regal hinter der Theke standen, verbreiteten Seefahrerromantik, und an den Wänden hingen Aquarelle des Inselmalers Arend Schröder.

Hans Ottovordemgentschenfeld, der Unternehmer und Würstchenfabrikant, und Wilfried Stark, der Handelsvertreter in Wäsche, schauten von ihrem reich gedeckten Tisch auf und begrüßten die beiden Neuankömmlinge. Hans zeigte mit einer einladenden Geste auf den Nachbartisch, ganz so, als ob er der Hausherr wäre. »So wird man auch als Insulaner hin und wieder von Wetter überrascht, nicht wahr? Birgit hat uns schon berichtet. Aber glauben Sie mir, wenn Sie erst einmal voll des köstlichen Abendessens sind, werden Sie dem Ostwind nicht mehr böse sein. Wie wär’s mit einem kleinen Schnäpschen zur Begrüßung?«

Birgit holte noch zwei Teller Suppe und nahm dann ihren Platz hinter der Theke ein. Normalerweise übernahm Henning die abendliche Bewirtung der Gäste mit Getränken. Aber in dieser Woche war sein Feuerwehrdienst von Dienstag auf den heutigen Freitag verschoben worden, weil ein Kreisausbilder vom Festland über neue Entwicklungen bei Strahlrohren referierte. Hinterher würden die Feuerwehrleute sicher noch gemütlich beisammensitzen.

Henning hatte seinen Mitgliedsantrag bei der Baltrumer Feuerwehr vor vielen Jahren in derselben Nacht unterschrieben, in der die gut ausgebildeten und ausgerüsteten Männer das Hotel Sonnenstrand vor einer Katastrophe bewahrt hatten. Ein Gast hatte im Bett geraucht und war dabei eingeschlafen. Damals war es noch nicht üblich gewesen, in jedem Zimmer einen Rauchmelder zu installieren. So war der Schwelbrand nur zufällig von einem spät nach Hause kommenden Gast entdeckt und die Feuerwehr gerade noch rechtzeitig alarmiert worden, um unter schwerem Atemschutz den bereits ohnmächtigen Brandverursacher aus seinem Zimmer zu retten, während ein zweiter Trupp den Schwelbrand löschte. Henning war seither einer der Eifrigsten in der Wehr und oft auf Lehrgängen in der Landesfeuerwehrschule in Loy, um sein Wissen zu vervollständigen. Inzwischen war er Gruppenführer und rückte bei jedem Einsatz mit aus, wenn er nicht gerade mit Hochdruck in der Küche seinen Mann stehen musste.

4

Birgits Gäste blieben nach dem Essen gesättigt und zufrieden zusammen sitzen. Die Vertreter erzählten, was ihnen im Laufe des Tages mit ihrer Kundschaft widerfahren war, Sabine hatte sich eine Zigarette angesteckt, und Peter wirkte zum ersten Mal heute etwas entspannt.

»Was machen wir denn bloß, wenn das Schiff morgen auch nicht fährt?« Hans schaute träumerisch Richtung Theke, hinter der sich Birgit mit dem Anzapfen neuer Biere beschäftigte. »Das glauben uns unsere Frauen ja nie, dass unser Aufenthalt hier dann wirklich unfreiwillig wäre. Schließlich schwärme ich zu Hause in Verl jedes Mal von der guten Küche und unserer netten Wirtin.«

»Das wird wohl alles gut gehen morgen«, sagte Birgit. »Sie können froh sein, dass das Watt noch nicht vollständig zugefroren ist, denn das kann schnell passieren bei dieser Kälte. Auch wenn die Besatzung der Baltrum III alles versucht, um nach Neßmersiel durchzukommen, können ihnen die Eisschollen in der Fahrrinne schnell einen Strich durch die Rechnung machen. Genießen Sie Ihren letzten Abend hier, und morgen geht es wieder heim zu Muttern.«

Sie sah, wie Peter auf die Uhr schaute. »Willst du noch rüber zu Tante Grete, Peter? Sie ist bestimmt noch wach. Sabine und ich werden uns schon gut miteinander unterhalten – oder willst du mitgehen, Sabine?«

Sabine schüttelte den Kopf, und Peter lachte. »Sabine hat eine geballte Ladung Grete Peters für heute gereicht. Nee, ich gehe allein. Bis gleich!«

Die beiden Herren sahen seinen Abgang mit Freude und übertrumpften sich gegenseitig in dem Versuch, Sabine das Inselleben näherzubringen. Oder zumindest das, was sie für das Inselleben hielten. Schnell waren sie beim vertrauten Du angelangt. Wilfried Stark, der inzwischen das vierte Bier und den dritten Korn verkostet hatte, versuchte Sabine davon zu überzeugen, dass Bettwäsche von Wäsche Meier die beste sei, die der Markt zu bieten hätte, und Hans Ottovordemgentschenfeld versprach, Sabine ein Paket mit seinen überaus leckeren Würstchen zukommen zu lassen, sobald er wieder zu Hause im Ostwestfälischen wäre.

»Moin, mit’nanner!« Die Tür zum Gastraum hatte sich geöffnet, und Wendt Redenius brachte einen Schwall kalter Luft mit herein. Er redete immer in einer Phonstärke, als kämpfe er mit Wind und Wellen, aber vermutlich war er es als Lehrer einfach gewohnt, laut und akzentuiert zu sprechen. »Ist Henning da, Birgit? Ich wollte nur eben fragen, ob er mir morgen seine Bohrmaschine ausleihen kann. Ein paar der großen Schüler haben sich bereit erklärt, auf dem Schulhof den Basketballständer zu reparieren, der Bauhof der Gemeinde kommt nicht dazu. – Ach, wenn ich schon mal hier bin, kann ich auch gleich ein Bier trinken. Brauch ja nicht mehr mit dem Auto zu fahren, ha, ha!«

Dieser Uraltwitz entschuldigte auf dem autofreien Eiland so manches Saufgelage.

Er grüßte zu den beiden Vertretern in Wäsche und Wurst rüber, setzte sich an die Theke und wandte sich dann neugierig Sabine zu.

»Das ist Sabine Heller, Lebensgefährtin von Tante Gretes Peter«, erklärte Birgit, »und das ist Wendt Redenius, Schulleiter der Baltrumer Schule. – Henning ist beim Feuerwehrdienst«, sagte sie. »Aber er wird sicher nichts dagegen haben, dass ihr morgen die Bohrmaschine holt. Ich weiß natürlich, dass Lehrer meist zwei linke Hände haben, aber du hast ja fixe Jungs und Mädels aus der zehnten Klasse dabei. Die machen das schon.«

Unter dem Gelächter der anderen Gäste nahm Wendt Redenius einen großen Schluck aus seinem Bierglas. »Immer diese Vorurteile … Meine Frau sagt auch immer, ich könnte keinen Nagel in ein Pfund Butter hauen. Dabei habe ich so viele andere Vorzüge. Was wäre das Leben ohne Kultur, Literatur, Geschichte und Kunst. Da kenne ich mich aus!«

Hans lachte lauthals. »Einen Zaun bekommen Sie damit aber nicht repariert, lieber Herr Oberlehrer, damit können Sie höchstens das Loch besingen, aber ob das hilft?«

»Herr Ottovordemgentschenfeld …« Redenius war der Einzige, der diesen Namen auf Baltrum fehlerfrei aussprechen und aufschreiben konnte, »… nur weil wir uns schon so viele Jahre kennen, und weil ich zum Schulfest Ihre Würstchen wieder zum Sonderpreis kaufen möchte, lasse ich Ihnen diesen Einwand durchgehen. Frau Heller, darf ich fragen, was Sie beruflich machen, ob von Ihrer Seite Unterstützung zu erwarten ist?«

»Sie dürfen. Ich bin auch Lehrerin«, sagte Sabine. »Allerdings für Sport und Physik. Und nachmittags arbeite ich in einer Tischler AG mit meinen Schülern alte Möbel auf. Zwei linke Hände wären da wohl nicht das passende Rüstzeug.«

Birgit schaute ab und zu auf die Uhr, während sie sich mit ihren Gästen unterhielt. Es dauerte eine ganze Weile, bis Peter zurückkehrte. Er wirkte abgespannt und fahrig, als er sich neben Sabine setzte, und schien unsicher, ob er der unbeschwerten Stimmung, die ihm entgegenschlug, gewachsen war.

Redenius achtete gar nicht darauf. »Mensch, Peter, altes Haus, du hast uns deine neue Freundin viel zu lange vorenthalten. Hast wohl Angst gehabt, dass wir sie dir ausspannen? Birgit, mach Peter mal ein Bier. Wie geht’s dir denn, hab dich ja ewig nicht gesehen.«

Die Tür zum Gastraum öffnete sich erneut. Carsten Spohle trat mit einem kurzen »Moin« ein und setzte sich an das äußerte Ende der Theke. Spohle war Mitarbeiter der Gemeindeverwaltung. Seine Familie lebte am Festland, seine Frau von ihm getrennt. So war die Theke seine Familie. Jeden Abend war er bei einem der insularen Wirte zu Gast, hörte und sah viel, verschloss aber alles ohne Kommentar in seinem Inneren und machte sich seine Gedanken. Im Laufe des Abends wurde er für die anderen Gäste fast unsichtbar. Die Wirte tauschten sein leeres Bierglas wortlos in ein neues volles, bis er mit einem kurzen Winken seines Bierdeckels zu verstehen gab, dass er den Heimweg antreten wollte.

Peter wandte sich seinem alten Schul- und Studienfreund Redenius zu. »Ich wollte Sabine zu Hause vorstellen, aber meine Mutter war heute so garstig und mäkelig …« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe das Gefühl, dass sie irgendetwas bedrückt, aber als ich sie eben fragte, meinte sie nur: ›Lass man gut sein, min Jung, dat is schon alnns so richtig, as dat is.‹ Dauerte trotzdem nicht lange, bis wieder ein böser Seitenhieb von ihr kam: ›Annere Kinner kümmern sück um ihre Mütter, aber du bist da ja zu beschäftigt zu, musst dich um anner Lü Kinner kümmern‹.« Peter schüttelte den Kopf. »Was soll ich denn machen, Wendt? Für mehr als sechs Lehrer ist auf Baltrum doch kein Platz und für mich mit meinen Hauptfächern Latein und Griechisch schon gar nicht. Und das Leben am Festland ist meiner Mutter viel zu laut und fremd geworden. Als ich Weihnachten bei ihr war, sagte sie noch: ›Niemand kriegt mich ut min Hus herut, es sei denn mit de Pooten toerst.‹ Gott sei Dank gibt es hier nette Gemeindeschwestern, einen kompetenten Pflegedienst und Nachbarn, die sich rührend kümmern.« Er blickte Birgit an. »Das ist nicht selbstverständlich, und ich finde es schön, dass die Hilfe untereinander hier so gut funktioniert. Wenn Mutter dafür auch nur einen Funken Einsicht zeigen könnte, wäre ich schon sehr zufrieden. Immerhin hat sie gesagt, wir sollen morgen, bevor das Schiff fährt, kurz noch bei ihr vorbeikommen. Vielleicht ist sie nach dem Nachtschlaf ja besser gelaunt.«

»Das hoffe ich für euch«, sagte Birgit. »Es wäre schade, wenn euer Besuch in Unfrieden enden würde.« Sie versorgte gerade die beiden Vertreter mit Bier und Korn, als ihr auffiel, dass Peters Pulli auf der linken Seite einen großen braunen Fleck aufwies. »Peter, hast du schon gesehen …?«

»Ja, ist Sabine auch schon aufgefallen …« Er wischte ärgerlich mit der Hand darüber. »Ich habe eben bei Mutter noch Tee gemacht und die Hälfte verschüttet, einen Teil davon auf meinen Lieblingspulli. – So, mach uns man noch ein Feierabendbier, und dann könnte ich mich wohl mit der Matratze vertraut machen.«

»Sie können gerne gehen, Herr Peters, aber Ihre liebe Sabine lassen Sie uns man noch ein bisschen hier«, bestimmte Wilfried Stark. »Schließlich müssen wir morgen wieder an den heimischen Herd, da tut ein wenig Abwechslung vorher, in allen Ehren natürlich, sehr gut. Und der Herr Schullehrer hat sicher auch nichts dagegen, dienstliche Erfahrung auszutauschen, nicht wahr, Herr Redenius?«

»So gern ich bleiben würde«, sagte Redenius, »ich muss morgen fit sein für die Basketballtoraktion, und wer morgen das Schiff um zehn Uhr bekommen will, kann auch nicht so sehr lange ausschlafen. Und dann gibt es da außerdem ja noch so eine klitzekleine Formel über den Abbau von Alkohol und die Fahrtüchtigkeit.« Diesen kleinen Hieb konnte sich der Schulleiter beim Anblick der beiden inzwischen gut angenebelten Vertreter für Wäsche und Wurst offenbar nicht verkneifen.

»Akademiker können richtige Spielverderber sein«, maulte Hans, schob aber Birgit seinen Bierdeckel zum Abrechnen rüber. Wilfried Stark schloss sich ihm an, und auch Carsten Spohle bedeutete mit einem leichten Kopfnicken, dass er den Abend als beendet betrachtete. Da zu dieser Jahreszeit kein weiterer Wirt seine Türen geöffnet hatte, würde er wohl den kurzen Fahrradweg zu seinem kleinen Appartement in der Alten Schule antreten.

»Frühstück gibt es ab acht Uhr«, rief Birgit ihren Gästen nach, brachte die Theke auf Hochglanz und machte es sich dann in ihrem Wohnzimmer im Anbau des Hotels bequem. Sie wollte auf Henning warten und noch eine Runde mit ihm reden, aber nur, wenn er nicht zu spät kam. Schließlich musste sie morgen früh um halb sieben wieder raus, Frühstücksvorbereitungen für ihre Gäste treffen.

Ihre Gedanken kehrten zum Nachmittag bei Tante Grete zurück. Auch sie hatte das Gefühl, dass die alte Frau ungnädiger als sonst gewesen war. Sie musste dringend mal mit Tante Frieda darüber sprechen. Vielleicht machten der Nachbarin ja nur die zunehmenden Altersbeschwerden zu schaffen. Da würde auf Peter noch ganz schön was zukommen, wenn Tante Grete ein Pflegefall werden sollte.

Birgit schaute auf ihre Uhr. Schon halb zwölf. Die Unterrichtsinhalte in der Freiwilligen Feuerwehr wurden wieder einmal sehr ausführlich und eindringlich behandelt. Birgit beschloss, den Partnerplausch auf den nächsten Tag zu verschieben.

5

Birgit war am Morgen gerade dabei, den Frühstückskäse für die Gäste zu schneiden, als sie vom Flur vor der Hotelküche lautes Rufen hörte.

»Birgit, wo bist du? Komm schnell, Mutter ist … Sie liegt… Oh mein Gott …« Die Küchentür öffnete sich und Peter stand kreidebleich, mit wirren Haaren und blutbeflecktem Anorak vor ihr.

»Mensch Peter, geht es auch etwas genauer? Jetzt beruhig dich erst mal. Was ist denn los?«

»Du musst sofort mit rüberkommen, ich weiß auch nicht, in der Küche …«

Birgit drückte den völlig verwirrten Mann auf einen Stuhl, wählte die Nummer des Rettungsdienstes und bat die Leitstelle Aurich, über Funk die Ärztin zu benachrichtigen. Das war der kürzeste Weg, sie zu erreichen; morgens um halb acht war sie gewiss noch nicht in ihrer Praxis.

Birgit rannte zu Zimmer sechs hinauf und klopfte energisch an die Tür. »Sabine, komm bitte sofort runter und kümmere dich um Peter. Er sitzt in der Küche. Mit Tante Grete ist etwas passiert.« Dann lief sie Henning wecken. Der lag noch mit Sondergenehmigung der Hausherrin in der Waagerechten. Aber nun nützte es nichts, er musste für das Frühstück der anderen Gäste sorgen.