Baltrumer Wattenschmaus - Ulrike Barow - E-Book

Baltrumer Wattenschmaus E-Book

Ulrike Barow

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Tim Seebald, der Totengräber auf Baltrum, staunt nicht schlecht, als er auf dem Friedhof Knochen ausgräbt. An sich gehören sie dahin, sollten jedoch in einem Sarg liegen. Schnell stellt sich heraus, dass es die Überreste einer jungen Frau sind, die vor einigen Jahren in Bremen verschwunden ist. Kurz nach dem Fund ereignet sich auf der sonst so beschaulichen Nordseeinsel ein weiterer Todesfall. Ob beide Fälle zusammenhängen? Nun ist es an der Zeit, dass Kollegen aus Aurich und Bremen dem Inselpolizisten zur Seite stehen.

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Seitenzahl: 359

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Ulrike Barow

Baltrumer Wattenschmaus

Kriminalroman

Zum Buch

Inselmorde Tim Seebald, der Totengräber auf Baltrum staunt nicht schlecht, als er auf dem Friedhof Knochen ausgräbt. An sich gehören sie dahin, sollten jedoch in einem Sarg liegen. Schnell stellt sich heraus, dass es die Überreste einer jungen Frau sind, die vor einigen Jahren in Bremen verschwunden ist. Kommissar Herbert Pankok aus Bremen versucht, Licht in den Fall zu bringen. Gleichzeitig wird Elmar Diesterweg, der auf der Insel Kochseminare gibt, verdächtigt, im geschützten Nationalparkgelände Enten und Gänse für seinen Kochtopf zu fangen. Die öffentlichen Anschuldigungen nehmen kein Ende und bald eskaliert die Situation.

Inselpolizist Michael Röder und Anika Frederik, seine Kollegin aus Barsinghausen, die ihm für ein paar Wochen zur Seite steht, bekommen weitere Unterstützung vom Festland. Mit dabei ist auch Arndt Kleemann, Röders bester Freund, der nach einem Jahr Auszeit wieder als Ermittler tätig ist. Er kennt sich mit den Gegebenheiten auf der Insel gut aus. Allein, dass die Einsätze mangels Autos mit dem Fahrrad bewältigt werden müssen, ist für manchen Kollegen eher gewöhnungsbedürftig.

Ulrike Barow wuchs in Gütersloh auf und machte eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Danach zog es sie zum Lieblingsurlaubsort ihrer Kindheit, der kleinen Nordseeinsel Baltrum. Dort lernte sie ihren Mann kennen und arbeitete im Einzelhandel sowie im familieneigenen Vermietungsbetrieb. Nebenbei verfasste Ulrike Barow Artikel für die Lokalzeitung. Vor einigen Jahren griff sie die Idee auf, Baltrum-Krimis zu schreiben. Viele Kurzgeschichten sind seitdem ebenfalls entstanden. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie nicht nur auf der Insel, sondern auch in der schönen ostfriesischen Stadt Leer.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Baltrumer Dünengrab (2019)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Stephan Sühling / stock.adobe.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6246-7

1

»Was ist mit dem Rosenstrauch? Willst du den mitnehmen?« Tim Seebald machte einen letzten Spatenstich und hielt gleich darauf die Pflanze hoch. Trockener Sand rieselte herab.

»Nee, lass man«, winkte Bernd Bohlen ab. »Ich würde gerne, aber bei uns in den Garten passt nichts mehr rein.«

Tim Seebald lachte. »Du hast auch schon genug von diesem heiligen Fleckchen Erde mitgehen lassen.«

»Immerhin helfe ich dir kostenlos«, protestierte Bohlen, »dafür darf ich wohl …«

»Klar. Wird sowieso bald ein Ende haben. Der Friedhof wird immer leerer. Die Gräber werden nach der Ablaufzeit aufgelöst – so wie das vom alten Volkers hier, und neue werden kaum noch angelegt.« Er zeigte auf die Stele, die im hinteren Teil des Friedhofes stand. »Was von den Menschen übrigbleibt, ist lediglich ein kleines Metallschild mit Namen derer, die auf See bestattet wurden. Mehr bleibt nicht.«

»Wem sagst du das?«, bestätigte Bohlen, »meine Schwester wollte auch unbedingt eine Seebestattung. Sie ist an Krebs gestorben. Mein Schwager hat ihren Wunsch erfüllt. Aber manchmal vermisst er doch einen Ort zum Trauern, hat er mir neulich erzählt.«

»Manche Orte – wie Harlesiel – haben einen Platz geschaffen, wo Hinterbliebene auf das Meer schauen und an ihre Liebsten denken können. Er heißt ›Brücke der Erinnerung‹ und ist genau auf das Beisetzungsgebiet zwischen Spiekeroog und Wangerooge ausgerichtet. Vielleicht wäre etwas Ähnliches auch für hier eine Idee«, überlegte Tim Seebald. »Aber nach Harlesiel kommt man schnell mal mit dem Auto, wenn man am Festland wohnt. Der Weg auf die Insel ist aufwendiger. Die Frage ist, wieviel Leute das in Anspruch nehmen würden.«

»Das weiß man nicht. Hat man heute überhaupt noch Zeit zum Trauern in dieser hektischen Welt?«, sinnierte Bernd.

»Vielfach sicher nicht. Und zum Pflegen der Gräber fehlt erst recht Lust oder Zeit.« Tim Seebald deutete auf ein Grab in der nächsten Reihe. »Die Seibolds wohnen auf der Insel. Trotzdem ist das Fleckchen Erde mit Muscheln belegt. Da muss man sich nicht mehr kümmern, meinen die Leute. Dabei sollte man nicht verkennen, dass auch dieser Belag hin und wieder Pflege erfordert. Aber darüber haben wir uns schon so oft unterhalten. Wir werden die Beerdigungsrituale nicht mehr zurückdrehen können.« Tim Seebald zuckte mit den Schultern. »Ich hätte es gerne, wie es früher war – mit bunten Blumen überall auf den Gräbern. Hier bei den Kramers sieht man zwar Grün, aber es ist einfach nicht gepflegt. Das Unkraut wuchert.« Er machte einen Schritt auf das Nachbargrab zu, bückte sich, hob etwas auf und zeigte es Bernd. »Das sieht fast aus wie ein Fingerknochen.«

Bernd Bohlen nahm das Teil, drehte es hin und wieder her, dann sagte er: »Quatsch. Das kann gar nicht sein. Die Toten liegen hier in Särgen. Wie soll denn ein Finger da …«

»Keine Ahnung. Wir sollten die Erdschicht entfernen und nachsehen, ob sich weitere Knochen dort befinden«, schlug Tim vor, doch Bernd schüttelte heftig den Kopf. »Auf keinen Fall. Das können andere machen.«

»Mensch, reg dich nicht auf.« Tim wischte sich den Schweiß von der Stirn und hinterließ ein paar dunkle Streifen. »Ich bin selbst nicht sicher, was es ist. Es war nur so ein erster Gedanke. Wahrscheinlich hat sich jemand einen Scherz erlaubt und einen Hühnerknochen dort hingeworfen. Oder eine Möwe hat ihn fallengelassen.«

»Du hast recht. Wir können uns nicht um alles kümmern. Also lass uns hier weitermachen«, schlug Bernd vor.

»In Ordnung«, erwiderte Tim, »der alte Grabstein muss wie üblich hinter die Hecke. Die Firma aus Norden, die den abholt, wird nächste Woche hier sein.«

Die beiden wuchteten den schweren Stein auf die Schubkarre und fuhren den Inhalt auf das Gelände neben dem Friedhof. Dort lagen bereits zwei weitere Grabsteine und mehrere Einfassungssteine von aufgelösten Gräbern. Dann gingen sie zurück, warfen die ausgegrabenen Blumen bis auf den Rosenstock in die Karre und brachten alles zum Komposthaufen. Von dort nahmen sie Erde mit und schaufelten sie dorthin, wo sich das Grab vom alten Volkers befunden hatte.

»So, und nun den Rasensamen rein, gießen und fertig.« Tim sah Bernd nicken, hatte aber das Gefühl, dass der Mann, der ihm netterweise immer half, wenn es Schweres zu erledigen galt, nicht ganz bei der Sache war. Wieder und wieder schaute der Mann hinüber zu dem Familiengrab der Kramers. Wahrscheinlich hatte Bernd Angst, dass der Rest des Skeletts plötzlich und unerwartet auftauchte. Er musste grinsen. Das wäre echt ein Ding. So konnte man natürlich auch Beerdigungskosten sparen, dachte er. Aber zugleich war ihm klar, dass ein anonymes Verscharren auf dem Friedhof mit Sicherheit aufgefallen wäre. Abgesehen davon, dass er sich häufig hier aufhielt, um alles in Schuss zu halten, kamen auch immer wieder Besucher, um sich die Namen auf den Steinen anzusehen. Im hinteren Bereich lagen Gräber von Soldaten, die bei der Explosion ihres Minensuchbootes ums Leben gekommen waren. Das Schiff war kurz nach dem Krieg vor der Insel auf eine Mine gefahren. Gleich neben den Gräbern waren Steine als Erinnerung an alte Insulanerfamilien aufgestellt worden.

»Bernd, wo ist die Tüte?«

Bernd Bohlen zuckte zusammen und nahm den Rasensamen aus der Vorratskiste. »Ich, du, ich, ach was!«

»Was möchtest du mir damit sagen?« Tim ahnte schon, was Bernd wollte. Nämlich weg. Möglichst schnell weg. Er war erstaunt, wie nahe seinem Freund der Fund des Knochens ging.

»Moin. Na, fleißig?«

Tim drehte sich um. Er konnte ein Stöhnen kaum unterdrücken. Nicht Martha. Auch sie war häufig auf dem Friedhof anzutreffen. Fast noch häufiger als er. Sie war eine der wenigen Insulanerinnen, die sich intensiv um ein Grab kümmerten. Und immer wollte sie sich unterhalten, wenn sie auf dem Weg zum Grab ihres Mannes bei ihm vorbeikam.

»Natürlich, Martha.«

»Ihr löst Volkers Grab auf? Sind denn schon wieder 25 Jahre rum? Tied vergeiht, hätte mein Geerd jetzt gesagt. Is so. Dat sall woll ook nich mehr lang dauern, bis ik min Beenen unnert Gras liegen hebb. Und wer kümmert sick dann?«

Oh, Mann, das ewig gleiche Geleier. Neulich hatte er es gewagt, ihr vorzuschlagen, sie solle sich doch seebestatten lassen. Da war er allerdings auf Granit gestoßen.

»Dat meenst du nich in Ernst?«, hatte sie fassungslos gesagt. »Ik sall mien Geerd hier alleen liegenlaten? We hebben im Leben binanner gelegen und dat sall ok im Dod so sein.«

»Martha, ich kümmere mich!« Martha und ihr Mann Geerd hatten keine Kinder. Also hatte er der alten Frau mindestens schon zum zehnten Mal versprochen, die Pflege zu übernehmen. Warum auch nicht? Ob er es wirklich tat, konnte sie dann schließlich nicht mehr überprüfen.

Martha nickte nur und schlurfte langsam weiter.

»Martha, ich habe einen Rosenstock. Willst du ihn haben?«, rief er hinter ihr her.

»Nee, dat lot man. Geerd het immer seggt, wat we bruken, kopen wir uns.« Sie zeigte auf einen Korb mit bunten Blumen. »Heb ik bi Anke holt.«

Na, dann eben nicht. Wenn Geerd es so wollte. War ja nur ein Angebot.

»Was ist nun? Gibt es noch etwas, oder machen wir Schluss für heute?« Bernd schaute ihn bittend an.

»Nein. Gönnen wir den Toten die Grabesruhe. Ich muss nach Hause. Das Abendessen wartet«, beschloss Tim mit einem Blick auf die Uhr.

Sie verstauten die Spaten, die Harke und den Eimer im Gartenhaus, luden den Rosenstock auf die Wippe und verließen den Friedhof. Die schwere Pforte quietschte beim Öffnen.

»Am Öl kann’s nicht liegen. Is’ keins dran«, murmelte Bernd, als er sein Rad aus dem Ständer hob.

»Danke für’s Helfen. Ich melde mich bei Bedarf wieder«, verabschiedete Tim ihn.

»Immer gerne«, erwiderte Bernd und bog links ab ins Ostdorf.

Tim fuhr am Hotel »Dünenschlösschen« und am Sportplatz vorbei und dann geradeaus. Zu Hause angekommen, wurde ihm wie fast jeden Abend schmerzlich bewusst, dass vielleicht ein Abendessen, jedoch keiner auf ihn wartete, mit dem er es zusammen genießen konnte. Wie gerne hätte er jetzt eine fröhliche Begrüßung vernommen, aber es blieb ruhig. Wie jeden Abend. Caroline war nicht mehr da. Seine Lebensgefährtin hatte ihn vor vier Monaten verlassen, seitdem war Stille eingekehrt. Er hatte bis heute keine Ahnung, warum Line – er hatte sie nie Caroline genannt – ein Leben auf dem Festland vorgezogen hatte. Natürlich hatte seine Freundin ihm zu erklären versucht, warum sie gehen würde, aber Tim hatte sich bis heute geweigert, es verstehen zu wollen. An diesem Abend hatte die Kälte des Januars in seinem Haus Einzug gehalten und war, obwohl der Frühling viele warme Tage gebracht hatte, nicht wieder verschwunden.

Er koppelte die Wippe vom Fahrrad und stellte den Rosenstrauch in einen Eimer. Es war nicht das erste Mal, dass er Blumen mitgenommen hatte. Sie waren voller Leben, warum also sollte er sie wegwerfen? Da gab er sie lieber anderen Insulanern. Auch wenn der Aberglaube besagte, dass man vom Friedhof nichts mitnehmen dürfe, weil das Unglück bringe. Aber er war sich sicher, dass dieser Glaube nur ausgestreut worden war, damit die Räuber nicht mit Blumen, die sie unerlaubt von den Gräbern mitgehen ließen, ihr Wohnzimmer schmückten. Sein Basecap und die Arbeitshandschuhe warf er auf das Regal im Flur. Das ging jetzt, seitdem Line weg war. Sie hatte immer darauf bestanden, dass die Arbeitssachen in den Schuppen gehörten. Warum konnte es nicht noch immer so sein?

Tim warf sich in den Sessel. Der Appetit, den er auf dem Friedhof gespürt hatte, war ihm vergangen. Jedes verdammte Teil, der leere zweite Sessel, die grüne Kuscheldecke mit den Fransen, die sie ihm zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte, alles, verdammt alles erinnerte ihn an die Frau, die er so liebte.

Er musste raus an die frische Luft, konnte nicht drinnen bleiben. Beinahe rannte er, zog die Tür hinter sich zu ohne abzuschließen und ging zurück dorthin, wo er sich zurzeit am wohlsten fühlte. Auf den Friedhof.

Ich glaube, ich bin verrückt, dachte er, als er die metallene Pforte öffnete, die auf der einen Seite ein Segelschiff und auf der anderen die Inschrift »Christ Kyrie, komm zu uns auf die See« trug. Was soll ich hier? Natürlich gibt es immer etwas zu tun, aber nicht um 19 Uhr. Da wollten selbst die Toten ihre Ruhe.

Langsam schlenderte er an den Gräbern vorbei. Um einige kümmerte er sich, andere wurden von den Angehörigen gepflegt. Wie das von den Kramers. Er blieb stehen und musste beinahe lachen bei dem Gedanken an Bernds Gesicht nach dem Knochenfund.

Er bückte sich und schob vergilbte Narzissenblätter zur Seite. Auch Krokusse, die vor zwei Monaten den beginnenden Frühling begrüßt hatten, ließen nun schlaff die Köpfe hängen. Kramers hätten hier wirklich mal Ordnung reinbringen können, dachte er. Aber das mussten sie selbst wissen. Er war dafür nicht zuständig. Er wollte gerade weitergehen, da fiel ihm doch etwas auf. Ein toter Zweig einer kleinen Birke, der über das Grab hinausragte, störte seinen Ordnungssinn. Aber das Problem war keines. Er griff danach und riss ihn ab. Zumindest wollte er es, musste jedoch feststellen, dass er nicht nur den Zweig, sondern das ganze Bäumchen mit dem weißen Stamm in der Hand hielt. Sand flog hoch und landete auf seiner Jacke. Tim erschrak. Was hatte er da veranstaltet? Er legte den Baum neben das Grab und ließ sich auf die Knie fallen. Hoffentlich tauchten nicht gerade die Kramers auf, bevor er alles wieder hergerichtet hatte. Das würde ein schönes Geschrei geben.

Sicher war es am besten, die Birke wieder einzugraben. Und zwar sofort. Natürlich hatte er in dem kleinen grünen Gartenhäuschen eine Schaufel liegen, aber der Schlüssel lag neben seinem Basecap auf dem Regal. Also hieß es mit den Händen ein Loch zu graben, das groß genug war, die Wurzeln des kleinen Baumes aufzunehmen. Es ging erstaunlich leicht. Die Erde war nicht so fest, wie er befürchtet hatte. Plötzlich spürte er einen Stich an seinem linken Zeigefinger. Eine rostige Haarspange hatte den Schmerz verursacht. Er legte sie neben das Grab. Er würde sie später entsorgen.

Vorsichtig vergrößerte er das Loch und starrte auf das, was sich unter seinen Händen zeigte. Ein Knochen, dann ein zweiter schob sich ihm entgegen. Erst ein kleiner, dann einer, der aussah, wie eine Unterarmspeiche, dann ein dickerer mit einem Knubbel daran. Er schob wie unter Zwang weitere Erde vom Grab und hörte erst auf, als ihn eine Stimme in die Wirklichkeit zurückholte.

»Machst du eigentlich nie Feierabend? Dein Job ist es doch, Menschen zu vergraben, nicht auszubuddeln.« Bodo, sein Nachbar, stand vor ihm und schaute neugierig zu ihm herunter.

»Ruf Michael an«, krächzte Tim. »Hier stimmt was nicht.«

»Wieso? Das ist ein Friedhof. Da dürfen …«

»Ruf ihn an! Sofort!« Einen weiteren Satz würde er nicht herausbringen.

Bodo hatte offensichtlich verstanden. Er zog sein Handy aus der Tasche, wechselte ein paar Worte und steckte es wieder ein. »Er ist auf dem Weg. Wir sollen nichts weiter anfassen.«

»Darauf kann er sich verlassen«, stöhnte Tim und versuchte aufzustehen. Doch erst, als Bodo ihm unter die Arme griff, kehrte Kraft in seine Beine zurück.

»Nun sag mal, was ist passiert? Wieso wusstest du …?«

Tim winkte ab. »Warte, bis Michael da ist. Dann muss ich nicht alles zwei Mal erzählen.«

2

Röder zog seine leichte Dienstjacke an und holte sein Rad aus dem Gartenhäuschen. Der Maiabend zeigte sich recht kühl und der kräftige Westwind schob dunkle Wolken vor sich her. Er war gespannt, was ihn auf dem Friedhof erwartete. Bodo Kehler hatte sich bei seinem Anruf recht kurzgehalten.

Es waren nicht viele Menschen unterwegs, als er beim Hotel »Seehof« auf die D-Straße und gleich darauf am Hotel »Fresena« durch das Deichschart fuhr. Auch am Spielteich brauchte er nur ein, zwei Überholmanöver, dann stellte er sein Rad vor dem Friedhof ab. Hinten auf der Bank sah er Tim Seebald sitzen. Selbst aus der Ferne konnte man ihm ansehen, dass es ihm nicht gutging.

Bodo stand in der Mitte des Friedhofs an einem Grab und wedelte mit den Armen. »Die verdammten Möwen«, schrie er. »Dabei gibt es hier nichts zu holen.«

»Was habt ihr gefunden?«, rief er ihm zu.

»Ich nichts«, antwortete der stabile Mann mit der Halbglatze und deutete auf Tim Seebald. »Der da. Schau dir das an.«

Als Röder das Grab erreicht hatte, sah er Knochen. Und etwas, was wie die Reste einer Jacke aussah. Ihm war in diesem Moment nicht ganz klar, ob es ein ganz normaler Vorgang war, in einem Grab Knochen zu finden. Natürlich war er sich sicher, dass Tote in einem Sarg beerdigt wurden. Und das viel tiefer. Aber konnte es nicht durch Regen und andere Umstände passieren, dass Knochen zutage traten? Er schaute zu Tim, der sich immer noch nicht rührte. Dort saß der Fachmann. Und er war sich sicher, dass diese Situation nicht normal war, sonst hätte der Herr der Gräber anders reagiert.

»Wenn du bitte auf die Fundstelle aufpassen würdest? Ich muss mit Tim reden«, bat er Bodo.

Der nickte. »Was ist mit ’ner Folie oder so?«, brummelte er.

»Machen wir gleich.«

Er berührte Tim leicht an der Schulter, dann setzte er sich neben ihn. »Erklär mir, was los ist.«

»Ich war heute mit Bernd hier. Volkers’ Grab auflösen. Da hat Bernd auf dem Nachbargrab einen Knochen gefunden. Wir haben unseren Spaß gehabt, weil wir dachten, eine Möwe hätte den verloren. Ist ja nicht aus der Welt geholt der Gedanke. Heute Abend bin ich noch mal auf den Friedhof …«

»Warum?«, unterbrach Röder ihn.

»Ist doch egal. War eben hier«, winkte Tim ab. »Ich habe einen abgestorbenen Ast an der kleinen Birke auf Kramers Grab bemerkt und wollte ihn abreißen. Leider kam der ganze Baum raus, und als ich ein Loch buddelte, um den Baum wieder einzupflanzen, sah ich das Elend.«

»Dass die Knochen hochkommen, ist nicht normal, oder?«, fragte Röder.

Tim Seebald hob den Kopf und schaute Röder ungläubig an. »Wie soll das denn passieren? Meinst du, der Sarg öffnet sich von allein? Nee, mein Guter. Da hat jemand eine weitere Leiche mit reingepackt.« Er schlug die Hände vor das Gesicht. »Welcher Idiot macht nur so etwas? Und wann? Das muss doch jemand gemerkt haben! Im Sommer spazieren hier auf der Hellerstraße immer Leute vorbei. Die müssen mitbekommen haben, wenn hier nachts gegraben wurde.«

»Bis jetzt wissen wir nicht, wann was genau passiert ist. Ich werde erst einmal veranlassen, dass die Überreste aufs Festland zur Untersuchung geschafft werden, und mit Kramers Kontakt aufnehmen.«

»Das dürfte auch besser sein. Vielleicht könntest du mein Zutun beim Finden der Leiche verschweigen.«

Röder schaute ihn überrascht an. »Wie soll ich das verstehen?«

»Na ja, ich kann mit denen nicht so gut. Und wenn die hören, dass ich an der Birke herumgezupft habe, sind die bestimmt sauer. Geht mich auch eigentlich nichts an, was die mit ihrem Grab machen.«

»Mal schauen, was ich tun kann«, sagte Röder, »aber zunächst muss ich die Kollegen vom Festland benachrichtigen.«

»Kann ich nach Hause gehen?«, fragte Tim.

»Wenn es dir nichts ausmacht, bleibe einen Moment. Falls Fragen sind. Immerhin kennst du dich hier am besten aus.« Röder schaute in den Himmel. Die Wolken waren bedrohlich näher gekommen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Tropfen fielen. Das konnte er jetzt am wenigsten gebrauchen. Er rief Axel Meinders, den Gemeindebrandmeister, an, und der versprach, mit ein paar Mann, einer großen Plane und einem Zelt anzurücken.

Mit seinem Chef Müller in Aurich verabredete er, dass die Spurensicherung am nächsten Morgen auf die Insel kommen und die Reste des oder der Toten zur genauen Untersuchung mitnehmen würde. Zur Vorsicht würde er auch die Pastorin anrufen. Er vermutete, dass auch sie keine Erklärung für den Leichnam in Kramers Grab hatte, aber sicher war sicher.

»Und du hast wirklich keine Idee? Weißt du denn, wann der letzte Tote hier begraben wurde?«, fragte Röder.

Tim Seebald zeigte auf den Grabstein. »Da steht es. Es ist ein Familiengrab. Der Vater von Klaus Kramer ist über 90 geworden und im Februar vor zwei Jahren beerdigt worden. Seitdem haben sich die Kramers aber kaum um ihr Grab gekümmert. Sieht ziemlich verkommen aus. Zur Pflege haben die keine Lust. Zumindest habe ich die auf dem Friedhof nur ganz selten gesehen. Selbst das Belegen mit Muscheln ist bei Kramers noch nicht angekommen. Aber was sage ich immer: Die Dinger gehören an den Strand.«

»Der Lauf der Zeit«, bestätigte Röder. »Und wenn man bedenkt, dass es nicht einmal Baltrumer Muscheln sein dürfen …«

»Genau«, schaltete sich Bodo ein, »ich habe vielleicht einen auf den Sack bekommen, als ich am Strand Muscheln gesammelt habe und mir zufällig einer vom NLWKN in die Quere gekommen ist. Ich Blödmann habe auch noch frank und frei erzählt, dass die Muscheln für das Grab meiner Großmutter seien. Da durfte ich die Wippe sofort wieder ausleeren und den Inhalt zu dem Riesenhaufen von einer Million anderer Muscheln zurück in den Sand kippen. Ich habe dann Muscheln aus Holland bestellt. Tja, das ist deutsche Gesetzgebung. Völlig verrückt!«

Röder wusste, dass es verboten war, Muscheln vom Strand mitzunehmen, aber auch er fand diese Regelung ziemlich absurd. Strandschutz war wichtig. Klar. Aber so viele konnte man gar nicht entnehmen, dass der Strand einer Gefährdung ausgesetzt war. Zumindest den Insulanern sollte es erlaubt sein, die Gräber oder auch den Vorgarten zu schmücken. Wobei er allerdings auch wieder an Sandras Argumentation denken musste. Sie hatte, seit sie auf dem Hof seines Freundes Arndt Kleemann gewesen war, ihre Liebe zu den Bienen entdeckt und wünschte sich nichts mehr, als dass jedes Grab und jeder Vorgarten wieder bepflanzt würden.

Motorengeräusch holte ihn aus seinen Gedanken. Alex und seine Leute rückten an. Er verabschiedete Bodo und Tim fürs Erste, nicht ohne die Bitte an den Totengräber, sich am nächsten Morgen auf dem Friedhof einzufinden. Seine Hilfe konnte beim Abtransport der sterblichen Überreste nötig sein. Dann half er den Feuerwehrleuten, den Schutz aufzubauen. Zusätzlich sicherten sie die Fundstelle mit Flatterband. Röder war sich zwar nicht ganz sicher, ob das Band eine Hilfe war, oder in dem einen oder anderen erst recht den Wunsch weckte, einmal in das Zelt hineinzuschauen. Er hatte jedoch keine Lust, die Nacht auf dem Friedhof zu verbringen, und sein neuer Hilfssheriff, der ihm in den Sommermonaten zur Seite stand, würde erst in zwei Tagen seinen Dienst antreten.

Er schaute auf die Uhr. War es schon zu spät, um bei Kramers an die Tür zu klopfen? 21 Uhr. Ging noch. Er verließ den Friedhof und fuhr los. Weit kam er jedoch nicht, da setzte prasselnd der Regen ein. Bevor er das Deichschart bei der »Teestube« erreicht hatte, war er völlig durchnässt. Wie gut, dass ich meine Regenjacke zu Hause am Garderobenhaken gelassen habe, dachte er. So wird sie wenigstens nicht nass! Nein, er konnte Kramers nicht zumuten, dass er so bei ihnen auftauchte. Er würde erst nach Hause fahren, sich um- und diesmal wetterfest anziehen.

Jetzt nichts wie rein. Beinahe warf er sein Rad an den Zaun und öffnete fast gleichzeitig die Tür zur Dienstwohnung.

»Zieh die Klamotten im Bad aus!«, hörte er Sandra aus dem Wohnzimmer.

Er zog das kleine Stück Reißverschluss wieder zu. Sie sollte ihren Willen haben. War auch besser so. Der Regen hatte ihn bis auf die Haut durchnässt, so klebte selbst das Unterhemd an seinem Rücken.

»Willst du einen Tee zum Aufwärmen?« Sandra stand in der Tür und schaute ihn mitleidig an, als er mühsam seine Füße von den Socken befreite.

»Nein. Nur etwas zum Anziehen. Ich muss wieder los.« Während er sich trockenrubbelte, erzählte er ihr, was der Grund für seine Aktivitäten war. »Ich bin echt gespannt darauf, was sich aus dem Leichenfund ergibt.«

»Ich auch. Das muss ja gruselig ausgesehen haben.«

»War nicht so schlimm. Es waren nur Knochen übrig. Es war kein Fleisch mehr dran und auch keine Haut. Außerdem sah man die Reste eines dunklen Stoffs.«

»Warten wir also auf die Ergebnisse der Rechtsmedizin. Ist denn hier mal jemand vermisst worden? Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Sandra.

»Ich habe auch nichts auf dem Plan. Wenn es sich um einen Inselbewohner handeln würde, wäre mir der Vorgang sicher bekannt.« Er wischte sich ein letztes Mal mit dem Handtuch über den Bauch.

»Es schüttet doch ganz schön«, gab Sandra zu bedenken. »Würde es nicht reichen, wenn du Kramers anrufst?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich möchte die Reaktion sehen. Wir kennen wie gesagt keine Zusammenhänge. Es nützt nichts. Ich muss los.«

Röder hatte das Gefühl, dass selbst Amir, ihrer beider Heidewachtel, ihn bedauernd anschaute, als er die Haustür hinter sich schloss. Es regnete immer noch und der Wind hatte zugenommen. Von dem lauen Maiabend, der Sandra und ihn gestern zu einem späten Strandspaziergang eingeladen hatte, war nichts mehr zu spüren. Er sah kaum einen Menschen auf der Straße.

Er fuhr die Düne hoch zu Kramers Haus und klingelte. Nichts rührte sich. Er versuchte es ein zweites Mal. Dann öffnete sich die Tür.

»Wer will da was von uns zu später Stunde?«, brummte Klaus Kramer mit tiefer, vom regelmäßigen Alkoholkonsum verdunkelter Stimme.

»Ich bin es. Michael. Darf ich reinkommen?«

Wortlos machte ihm Klaus Kramer Platz. Im Wohnzimmer sah Röder Elli sitzen. Sie drückte den Ton des Fernsehers weg. »Was führt dich zu uns?«

Ein zweites Mal erzählte er an diesem Abend von dem Fund und sah, wie die beiden ihn immer ungläubiger anschauten.

»Unser Grab?«, fragte Elli fassungslos. »Im Grab von unseren Eltern?«

»Von meinen Eltern«, warf Klaus ein.

»Ja, ist gut«, wischte Ella seine Worte genervt weg. »Ich will sie dir nicht nehmen.«

»Die letzte Beerdigung hat vor zwei Jahren stattgefunden, richtig?«, fragte der Inselpolizist.

»Ja, da ist sein Vater gestorben.« Ella zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf ihren Mann, der seinen breiten Körper im Sessel versenkte. »Seitdem haben wir uns allerdings nie mehr so richtig um das Grab gekümmert. Mal eine Blume drauf gepflanzt, wenn wir im Garten was übrighatten, das war es auch schon.«

Er stand auf. »Die Leiche wird morgen früh abgeholt. Ich bitte darum, dort keine Spuren zu zerstören.«

»Wenn du damit sagen willst, dass du denkst, dass wir die Knochen heute Nacht bereits aus dem Grab entfernen, hast du dich getäuscht. Außerdem, wer bezahlt uns eigentlich das Wiederherrichten des Familiengrabes?« Klaus Kramer schaute den Polizisten vorwurfsvoll an.

»Klaus. Halt die Klappe!« Energisch schob Ella sich aus dem Sessel und beugte sich drohend über ihren Mann. »Als ob Michael nichts Wichtigeres zu tun hätte!«

Tatsächlich. Hatte er. Und wenn es nicht der Fall gewesen wäre, hätte er in diesem Moment wichtige Aufgaben erfunden. Er wollte nichts wie raus, sich zu Sandra ins Wohnzimmer setzen und ein Glas Rotwein genießen.

»Ich gehe dann mal«, sagte er knapp und verließ das Haus, ohne eine Antwort abzuwarten.

3

Aus dem einen Glas Rotwein waren drei geworden. Das merkte Röder am nächsten Morgen, als in aller Frühe sein Telefon klingelte.

»Paul Abarth hier«, meldete sich der Leiter der kleinen Baltrumer Inselschule. »Hätten Sie Zeit für mich? Wir wollten über die Fahrradkontrolle sprechen.«

»Natürlich. Wann? In einer halben Stunde?«, antwortete Röder.

»Nein. Vielleicht heute Mittag. Ich rufe nur jetzt schon an, weil gleich der Unterricht beginnt. Wie wäre es um zwei bei mir im Büro?«

»Dann um zwei bei Ihnen.« Es passte auch Röder ganz gut in den Kram. Er würde sich in Kürze mit seinen Kollegen vom Festland erst einmal um das Grab kümmern müssen.

Ein Blick aus dem Fenster sagte ihm, dass er an diesem Morgen seine Regenklamotten getrost zu Hause lassen konnte. Im Osten der Insel stand die Sonne bereits am Himmel. In einer halben Stunde würde der Hubschrauber mit den Leuten vom Kriminaldauerdienst landen.

Er räumte die Reste des Frühstücks weg und setzte sich in sein Dienstzimmer. Die Büroarbeit hörte nicht auf. Er sortierte ein paar Unterlagen, schaute nach, ob wichtige E-Mails angekommen waren, und machte sich auf den Weg zum Flugplatz. Gerade landete eine Maschine. Der Pilot stieg aus und packte ein paar Pakete neben die Landebahn. Aha, der Zeitungsflieger, überlegte Röder. Der kam in der Saison jeden Morgen um 8.30 Uhr. Die Mitarbeiter der entsprechenden Geschäfte warteten bereits. Zügig beluden sie ihre Wippen und verließen den Platz. Röder stellte sein Rad ab und klopfte an die Tür des Towers.

»Komm rein«, hörte er Melanies Stimme. »Habe dich schon gesehen.«

»Ich wollte nur sagen, dass gleich ein Hubschrauber landet«, teilte er der Frau mit, die an diesem Morgen Dienst in dem kleinen Tower tat.

»Die Besatzung hat sich bei mir angemeldet«, erklärte sie. »Ist etwas passiert?«

Röder überlegte. Sollte er …? Warum nicht? Kramers, Tim Seebald und auch die Feuerwehrleute wussten von den Knochen. Also wussten es bereits Dreiviertel der Insulaner. Da war er sich ziemlich sicher.

»Nichts Spektakuläres«, winkte er ab, »nur ein seltsamer Knochenfund, der untersucht werden muss. Daher kommen die Kollegen vom Festland, nehmen den Fundort unter die Lupe und alles Relevante mit.«

In der Ferne hörte er bereits das dumpfe Schlagen der Rotoren. Er schloss die Tür, kurz darauf landete der Hubschrauber.

Martin Brinkmann und ein weiterer Mann kamen ihm lächelnd entgegen.

»Darf ich vorstellen: Lars Haltegrund. Er wollte unbedingt mal auf einer Insel Spuren sichern«, erklärte Brinkmann. »Ist es mal wieder soweit?«

»So sieht es aus«, erwiderte Röder. »Laden wir eure Sachen ein und gehen zum Friedhof. Auf dem Weg dorthin berichte ich, was euch erwartet.«

Brinkmann nahm einige Kisten aus dem Hubschrauber und lud sie in die Polizeiwippe. »Hat es hier gestern auch so sehr geregnet?«

»Ziemlich.« Röder erzählte von seiner durchnässten Kleidung. »Aber die Fundstelle ist abgesichert.«

Als sie den Friedhof erreicht hatten, sah Röder einige Menschen, die um das abgesperrte Areal standen.

»Was ist mit Kramers Grab?«, rief ihm eine der Frauen zu.

»Eine Ermittlung steht an«, gab er knapp Antwort. »Bitte verlassen Sie das Gelände.«

Nur langsam löste sich die interessierte Gruppe auf. Nur Tim Seebald blieb abwartend neben dem Zelt stehen.

»Gut, dass du da bist«, begrüßte der Inselpolizist den Totengräber.

»Braucht ihr einen Sarg und die Totenkutsche?«, fragte Tim.

»Warte ab. Ich denke nicht. Meine Kollegen werden die Grabstätte zunächst in Augenschein nehmen.«

Die Männer schoben das Zelt zur Seite und entfernten die Folie.

»Wo sind denn die Knochen?«, wunderte sich Brinkmann.

»Da. Im Grab.« Röder deutete auf das Viereck.

Haltegrund machte Fotos, während Brinkmann eine kleine Schaufel aus einer Metallkiste nahm. »Und wie tief?«, fragte er, als er Schicht für Schicht der trockenen Erde beiseiteschob.

Tatsächlich, je tiefer sie gruben, desto mehr Knochen holten sie aus der Erde. Sogar den Schädel fanden sie. »Das ist bestens«, sagte Brinkmann und hielt ihn hoch. »Wir haben, sehr gut erhalten, das Gebiss. Wenn die Person offiziell als vermisst gemeldet wurde, können wir mit ein bisschen Glück sehr schnell herausfinden, um wen es sich handelt. Die Knochen sind meines Erachtens ausgewachsen.«

Röders Telefon meldete sich. Hoffentlich eine gute Nachricht, dachte er und wurde belohnt. Es war sein Hilfssheriff. Genau genommen diesmal eine Kollegin, die ihn in den nächsten Wochen unterstützen und bereits am späten Nachmittag auf die Insel kommen würde. Er fragte sich kurz, ob es eine weibliche Form von Sheriff gäbe, aber es wollte ihm nichts einfallen. Anika Frederik. Interessanter Name. Er war gespannt auf die Kollegin.

»Also, wie geht es weiter?«

Martin Brinkmann deutete auf eine Metallkiste. »Hier hinein legen wir die Knochen und nehmen sie mit zur weiteren Untersuchung. Du bekommst so bald wie möglich Bescheid, wenn wir Neues haben. Wie es mit den Ermittlungen weitergeht, solltest du mit Müller besprechen.«

Lars Haltegrund hatte den Deckel der Kiste geöffnet. Sie war mit dickem Vlies ausgelegt. Dorthin platzierte er vorsichtig Knochen für Knochen. Dann zeigte er auf ein Stück Stoff. »Das befand sich auch im Grab. Wir nehmen es mit zur Untersuchung. Ach ja, es könnte sein, dass du die Besitzer des Grabes zur DNA-Probe bitten musst. Nur, damit wir sichergehen können, dass es sich nicht um jemanden aus der Familie handelt. Aber das kannst du mit Müller besprechen. Bei dem werden alle Informationen auf dem Schreibtisch zusammenlaufen.«

»Darf ich fragen, was hier vor sich geht?« Röder drehte sich um und sah die Pastorin, Nadja Recknagel, hinter sich auftauchen. Er hatte ganz vergessen, sie von dem Vorfall zu unterrichten. Das holte er nun nach. »Es ist sicher, dass hier nicht noch ein Familienmitglied beerdigt wurde?«, fragte er zum Schluss.

Tim Seebald lachte auf. »Michael, wenn es so wäre, hätte ich dir davon berichtet. Schließlich bin ich der Totengräber. Mir entgeht nichts.«

»Aha, wenn das so ist, dann kennst du die Umstände, wie und warum die Knochen hier lagen.«

»Ach, ich meine doch die offiziellen, also die richtigen …«, stotterte Tim, »ach was, du weißt schon, die Beerdigungen mit Pastorin und so.«

»Nun lassen Sie den armen Mann in Ruhe«, mischte sich Nadja Recknagel ein. »Er hat keine Ahnung und ich auch nicht. Auch wenn ich zugebe, dass ich schon gern wüsste, wer hier die Totenruhe gestört hat.«

»Ich hoffe, die Experten am Festland finden es heraus.« Röder deutete auf die beiden Männer, die Kisten und Taschen auf der Wippe verstauten. Zuletzt nahmen sie mit Tims Hilfe die längliche Metallkiste mit den Knochen darin und trugen sie zu den anderen Sachen. »Die Knochen gehen nach Oldenburg zur Untersuchung.«

»Dann braucht ihr die Totenkutsche also nicht?«, fragte Tim.

Röder überlegte, dann meinte er: »Ich denke nicht. Es ist meines Erachtens nicht respektlos, wenn wir die Überreste zügig und ohne großes Aufsehen zum Flugplatz bringen. Oder was denken Sie, Frau Recknagel?«

»Gehen Sie. Das ist schon in Ordnung«, erwiderte die Pastorin knapp. »Die schnelle Aufklärung der Sache ist viel wichtiger, um dem oder der Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«

»Der Hubschrauber ist unterwegs. Kommst du mit, Michael?«, fragte Brinkmann.

»Natürlich. Bin gleich soweit.« Er klärte mit Axel Meinders ab, dass die Feuerwehr das Zelt abholen sollte, aber das Grab weiterhin mit der Folie abgedeckt und gesichert bleiben möge, und bat Tim, auf das Eintreffen der Feuerwehr zu warten. Dann rief er bei Kramers an und unterrichtete sie davon, dass das Grab vorerst nicht wieder herzurichten sei, da die Polizei gegebenenfalls noch einmal den Zugriff brauchte. Dass er wegen der Probe bei ihnen vorbeikommen würde, verschwieg er. Klaus Kramer schien ihm an diesem Morgen bereits nicht mehr ganz nüchtern zu sein. Er wollte keinen sinnlosen Streit riskieren. Er schaute auf die Uhr. Gleich zwölf. Da hatte er genug Zeit bis zu seinem Treffen mit dem Schulleiter.

»Ich bin in Kürze wieder vor Ort«, rief er der Pastorin und dem Totengräber zu, die in ein Gespräch vertieft waren, dann verließen die Ermittler den Friedhof.

»Liebe Güte, was für ein Krach«, bemerkte Lars Haltegrund, als sie auf die Straße zum Flugplatz abbogen.

»Ringelgänse, Möwen, Austernfischer – alle reagieren ungehalten, wenn sich ein Fluggerät nähert«, erklärte Röder. »Aber wir befinden uns im Nationalpark. Da läuft nichts mit Abschießen. Auch wenn die Menge der Flattertiere ständig zunimmt.« Er zeigte auf die Hellerfläche, auf der sich die Vogelschwärme wie eine weiße oder graue Decke über das Grün gelegt hatten.

»Das sollte den Gästen, deren Schlafzimmer zum Heller hinzeigen, besser vor der Anreise klargemacht werden. Ich könnte bei der Lautstärke kein Auge zutun«, überlegte Haltegrund.

»Ginge mir ähnlich«, bestätigte Martin Brinkmann. »Und soweit ich weiß, geht das Geschnatter auf dem Heller den ganzen Sommer über, oder?«

»Die Vögel kommen im Frühjahr und fliegen ab Mitte Juli weiter. Einige Arten bleiben sogar inzwischen. Schaut mal«, Röder zeigte auf einen weißen Vogel mit einem löffelartigen Schnabel, »ein Löffler. Gibt es nicht sehr häufig und noch gar nicht lange hier.«

»Scheint mir aber recht zutraulich zu sein«, wunderte sich Brinkmann.

Und tatsächlich: Der große Vogel erhob sich erst in die Luft, als sich der Hubschrauber mit lautem Getöse näherte.

Sie luden alles ein und die Männer verabschiedeten sich. Röder fuhr zurück zum Friedhof und sah, dass die Feuerwehr das Zelt abgebaut hatte. Somit war alles geregelt. Die Pastorin war bereits gegangen, auch Tim und der Inselpolizist verließen den Friedhof.

Er fuhr zurück in die Wache und räumte ein paar Papiere auf dem Schreibtisch zusammen. Die neue Kollegin sollte nicht gleich den Schreck ihres Lebens bekommen, wenn sie ihre Arbeitsstätte für die nächsten Wochen sah.

Dann ging er in die Küche der Dienstwohnung und machte sich einen schnellen Kaffee. Es war ruhig in der Wohnung. Weder Sandra noch Amir waren da. Hatte sie etwas gesagt, wohin sie …? Ach ja. Er musste sich erst an den Gedanken gewöhnen, dass seine Frau tagsüber oft nicht da war. Sie hatte zusammen mit ihrer Freundin einen Bioladen auf der Insel aufgemacht. Gemüse und Obst bekamen sie vom Hof seines Freundes Arndt Kleemann und seiner Frau Wiebke. Seit zwei Monaten war der Laden geöffnet, und die beiden Frauen hatten gleich gut zu tun gehabt. Er setzte sich ins Wohnzimmer, genoss die Stille und dachte über den Fund auf dem Friedhof nach. Er war gespannt, ob sich herausstellen würde, wer der oder die Tote war und welche Ermittlungsarbeit auf der Insel es nach sich ziehen würde. Aber zunächst musste er sich anhören, was der Schulleiter zu sagen hatte.

Er stand auf, spülte seine Tasse aus und fuhr los. Es war immer noch trocken, auch wenn sich gegen Westen ein paar dunkle Wolken sammelten.

Er fuhr an der Volksbank vorbei und bog am Hotel »Seehof« links ab. Gleich darauf stellte er sein Rad in den Ständer an der Schule. Hoffentlich nimmt es keiner mit, dachte er. Ohne Rad war er aufgeschmissen. Er erinnerte sich an einen Sommer vor ein paar Jahren. Da waren einige Fahrräder der Kinder während des Unterrichts plötzlich verschwunden. Später stellte sich heraus, dass Gäste die Räder mitgenommen hatten, weil sie glaubten, dort sei ein kostenloser Fahrradverleih. Netterweise wurden die Räder zurückgegeben.

Paul Abarth stand in der Tür und begrüßte ihn freundlich.

»Kommen Sie rein.«

Er folgte dem Schulleiter ins Büro. »Also, wie sind die Pläne?«

»Setzen Sie sich.« Abarth deutete auf einen Bürostuhl, der vor dem Schreibtisch stand. »Wir sprachen ja schon einmal über die Fahrradkontrolle. Wir haben uns nun gedacht, dass wir den erhobenen Zeigefinger weglassen und stattdessen eine fröhliche Schulparty veranstalten, bei der alle mitmachen. Sie kommen und kontrollieren die Räder. Wir haben schon jemanden, der bei Bedarf kleine Reparaturen ausführen kann. Dazu machen wir ein tolles Programm und wollen vorbeifahrende Insulaner anhalten und sie fragen, ob wir deren Räder auf Sicherheit kontrollieren dürfen. Die Kinder helfen Ihnen und können so ihr neuerworbenes Wissen anwenden.«

Röder musste lachen. »Da bin ich aber gespannt, welcher Einwohner auf die Bremse tritt. Aber gut, ich bin gerne dabei. Wie wäre es in 14 Tagen? So können Sie in Ruhe mit Ihren Schutzbefohlenen alles vorbereiten, und meine Kollegin und ich stoßen dann zu Ihnen.«

»Wunderbar.« Abarth zögerte. »Wo Sie gerade Schutzbefohlene sagen. Ich muss etwas loswerden. Ist wahrscheinlich völlig unwichtig, aber dann können Sie mal hören, womit wir uns auseinandersetzen müssen. Wilko, der Junge von Antje und Hans Jessen, sagte neulich: ›Wer leben will, muss töten!‹ Der Knabe ist erst elf und dann solche Sprüche!«

»Haben Sie nachgefragt, was er damit meinte?«

»Natürlich. Aber er hat nur den Kopf geschüttelt und geschwiegen. Er und seine Schwester Meta, sie ist acht, sind eigentlich sehr fröhliche, aufgeschlossene Kinder. Doch seit einiger Zeit werden sie immer stiller und beteiligen sich kaum am Unterricht. Das berichten alle Lehrer. So etwas passiert immer mal wieder. Hat mit der Entwicklung zu tun und gibt sich meistens. Aber bei Wilko fällt mir neuerdings auf, dass er ab und zu seltsame Sprüche loslässt. Zum Beispiel diesen hier: ›Ich kann nicht. Ich hab’s ihm versprochen. Ich muss zu ihm.‹ Das war, als ich ihn darauf hinwies, dass wir nachmittags gegen eine Mannschaft vom Turnerbund auf dem Schulsportplatz Fußball spielen wollten. Dann drehte er sich um und war verschwunden.«

»Wissen Sie, wer ›ihm‹ ist?«

»Keine Ahnung.«

»Sie werden ihn im Auge behalten«, bat Röder den Schulleiter. »Reden Sie mit den Eltern. Sollte sich Neues ergeben – Sie wissen, wie Sie mich erreichen.«

Paul Abarth nickte. »Ich rufe gleich bei den Jessens an und bitte um ein Gespräch. Ich unterrichte Sie, wie sich das Ganze entwickelt.«

Michael Röder stand auf. »Gut. So verbleiben wir.«

»Danke.«

Der Inselpolizist verließ die Schule mit dem Gedanken, froh zu sein, dass es diesmal eine Kollegin war, die zu seiner Unterstützung auf die Insel kam. Sollte ein Kontakt zu den Kindern oder den Eltern nötig sein, würde sie bestimmt die passenden Worte finden. Zumindest hoffte er es. Noch kannte er sie nicht.

4

Anika Frederik spielte gedankenverloren mit dem Bändchen ihres Notizbuches. Gleich war die halbe Stunde Überfahrt, die sie vom Festland trennte, vorbei und sie würde ins Inselleben eintauchen. Sie hatte sich die Stelle nicht ausgesucht, sondern ihr Chef hatte ihr dringend dazu geraten. »Sie bleiben in Ihrem Job, aber es ist ein völlig anderes Arbeitsgebiet. Ruhig und beschaulich. Trunkenheit am Zügel – das war’s.«

Sie hatte lachen müssen. Dabei war es gar nicht der Job gewesen, der sie belastet hatte. Zum zehnten Mal auf dieser Schifffahrt zog sie ihre Geldbörse mit dem Bild aus der Tasche und steckte sie wieder ein. Am Ostende von Norderney gewahrte sie jede Menge Seehunde, die sich in ihrer Ruhephase nicht einmal von dem vorbeifahrenden Schiff stören ließen. Auch ein kleines Motorboot, das mit aufheulendem Motor an der Sandbank vorbeirauschte, schreckte die Tiere nicht auf.

Die »Baltrum I« querte die Wichter Ee, das Fahrwasser zwischen den Inseln, und bog in den Baltrumer Hafen ein. Es dauerte nicht lange, da verband der heruntergelassene Landgang das Schiff mit der Pier. Sie warf den leeren Kaffeebecher in den Mülleimer und verließ das Schiff. Auf zu neuen Ufern. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ihr Kollege wartete schon. Er sah nett aus. Schlank, Ende 40. So schätzte sie ihn zumindest ein. Er begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln. Sie holten ihr Gepäck aus dem Container und luden es auf den Fahrradanhänger.

»Ich habe dir ein Rad mitgebracht. So geht es zügiger«, sagte der Mann, der sich als Michael Röder vorgestellt hatte.

Das war gut. So mussten sie sich wenigstens nicht endlos unterhalten. Sie wollte erst einmal ankommen. Alles Weitere würde sich morgen bei Dienstantritt ergeben.

Als sie an der Dienstwohnung ankamen, nahm sie sogleich ihren Koffer und folgte dem Inselpolizisten.

»Soll ich dir alles zeigen?«, fragte er. »Die Wache ist gleich hier unten.«

»Geht das bitte auch morgen? Von mir aus ganz früh. Ich möchte erst einmal den Koffer auspacken und einen Spaziergang machen. Damit ich weiß, wo ich mich befinde«, bat sie. »Hast du einen Ortsplan?«

»Liegt auf dem Tisch. Aber eigentlich reicht es zu wissen, dass du dich hier im Westdorf befindest und, wenn du immer geradeaus gehst, irgendwann im Ostdorf landest«, erklärte Röder. »Verlaufen passiert nicht. Zumindest nicht für jemanden aus unserer Zunft. Morgen besorge ich dir einen Prospekt. Dann hast du mehr Informationen. Ansonsten – wenn du weitere Fragen hast, Sandra, meine Frau, und ich wohnen gleich links auf der anderen Seite. Falls dich Hunger überfällt – es gibt jede Menge Lokalitäten hier. Das Fahrrad kannst du bei Nichtgebrauch ins Gartenhäuschen stellen. Auch links.«

»Danke. Wann beginnt der Dienst morgen?«

»Sei um acht Uhr da. Ich habe einiges zu erzählen.« Damit war der Mann sehr zu ihrer Beruhigung verschwunden.