Turm der Lügen - Marie Cristen - E-Book

Turm der Lügen E-Book

Marie Cristen

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Beschreibung

Frankreich im Jahre 1313. Die junge Séverine wächst auf einer Burg fernab vom Königshof auf und weiß nicht, dass sie blutsverwandt ist mit den drei Schwiegertöchtern Philipps des Schönen. Als zwei der jungen Frauen schließlich des Ehebruchs überführt werden – ein beispielloser politischer Skandal –, gerät Séverine unversehens in das Ränkespiel der höchsten Kreise, das auch sie den Kopf kosten könnte … Ein packender historischer Roman um einen authentischen Skandal des Mittelalters. Turm der Lügen von Marie Cristen: als eBook erhältlich!

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Marie Cristen

Turm der Lügen

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Inhaltsübersicht

Drei Dinge lassen sich [...]PrologBurg von Dourdan, 11. November 1297Erstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelAnhangPersonenverzeichnisMahaut, Gräfin von ArtoisRobert III. von ArtoisBlanche von Burgund, Gräfin von MarcheJeanne von Burgund, Gräfin von PoitiersIsabelle von Frankreich, Königin von EnglandMarguerite von Burgund, Königin von NavarraSalisches GesetzDer Fluch und der Schatz der TemplerDie JudeninselVincennesDank

Drei Dinge lassen sich nur bei drei Gelegenheiten erkennen:

Die Kühnheit in Gefahr, die Vernunft im Zorn und die Freundschaft in der Not.

 

(Französisches Sprichwort)

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Prolog

Burg von Dourdan, 11. November 1297

Die Abstände zwischen den Wehen wurden kürzer. Jeder Erschütterung des Reisewagens folgte ein Stoß des Kindes. Mahaut knirschte mit den Zähnen. Wenn der Schmerz nachließ, folterte sie der Durst. Sie wagte nicht, um eine Rast zu bitten. Die Zeit drängte. Das Tageslicht schwand bereits, Regen und Sturm taten ein Übriges.

In ihrer Erinnerung lag die Burg viel näher. Würde sie dieses Kind im Straßengraben gebären müssen? War ihr Plan zum Scheitern verurteilt, noch ehe sie Dourdan überhaupt erreichte?

»Öffnet das Tor für Madame Mahaut, die Pfalzgräfin von Burgund! Sie erbittet Gastfreundschaft und Quartier für die Nacht.«

Endlich. Auf Hugec von Flavy war Verlass. Er hatte ihr versprochen, dass er sie beizeiten nach Dourdan bringen würde, und er hielt sein Wort. Die Antwort auf seinen Ruf ging im Toben des Unwetters unter, aber die Räder setzten sich wieder in Bewegung. Sie knirschten über die Bohlen einer Zugbrücke, rollten unter die Wölbung des Torhauses. Der Wind und das Prasseln des Regens brachen jäh ab.

Sie waren am Ziel.

»Gott steh uns bei …«

Die Worte endeten mit einem Jammerlaut. Mahaut runzelte die Stirn. Erst jetzt wurde ihr wieder bewusst, dass sie nicht allein im Wagen saß. Neben ihrer engsten Vertrauten Odette kauerte, in zwei Umhänge gehüllt, Lise in der gegenüberliegenden Ecke. Am Ende ihrer Kräfte, hätschelte die Kammerfrau dennoch das Bündel, das sie unter diesen Umhängen an ihre Brust presste. Es ging ihr offensichtlich schlechter als Mahaut.

»Still!«, befahl sie ihr kurzatmig, da sie alle Kraft aufbieten musste, nicht ebenfalls zu stöhnen. »Wir sind da. Reiß dich zusammen. Loup wird dir sofort helfen.«

Mahaut verabscheute nutzloses Lamentieren. Es galt, dem Plan besonnen und genau zu folgen. Dieses Mal wollte sie kein Risiko eingehen. Dieses Mal hatte sie an alles gedacht. Vorgesorgt.

Sie tauschte einen Blick mit Odette, während Hugec dem Burghauptmann ihre späte Ankunft erklärte.

»Das vermaledeite Wetter hat unsere Reise immer wieder verzögert. Wir hofften, Paris heute zu erreichen, aber der Zustand der Straßen macht es unmöglich …«

Er öffnete die Tür des Wagens und half Mahaut mit eigener Hand heraus. Sein Auftreten machte dem Burghauptmann, der die Festung von Dourdan für den König von Frankreich befehligte, wortlos klar, dass er es bei ihm mit einem Seigneur aus edelstem Blut zu tun hatte. Mahauts Titel und der Rang ihres Gemahls als Pair von Frankreich verunsicherten ihn zusätzlich.

Ganz darauf konzentriert, seinem hohen Gast Reverenz zu erweisen, entging ihm, dass dieser sich Halt suchend nachdrücklicher auf Hugecs Arm stützte, als es nach einem Reisetag für eine Edeldame ihres Alters nötig gewesen wäre.

Ihre Gewänder, und nicht zuletzt der pelzgefütterte Reiseumhang, verbargen beim Aussteigen die Umrisse ihrer Figur. Die Fackeln neben dem Eingang zum Haupthaus flackerten im Wind und spendeten kaum Licht. Sie dankte dem Burghauptmann für seine Freundlichkeit, lehnte es aber ab, mit ihm zu speisen. Sie musste ihm keine Erschöpfung vorspielen, sie war am Ende ihrer sonst so grenzenlosen Energie. Nur eiserne Selbstbeherrschung hielt sie aufrecht. Von Odette gestützt, erreichte sie schließlich ihr Gemach.

Erleichert klammerte sie sich an einen der Bettpfosten des großen Alkovens, in dem König Philippe von Frankreich schlief, wenn er in den Wäldern von Dourdan auf die Jagd ging.

»Himmel, ich dachte, er hört nicht mehr zu reden auf«, ächzte sie. »Lös mir das Gewand, Odette. Ich bitte dich. Mein Rücken bricht auseinander …«

»Gleich wird es leichter, meine Kleine.« Odette verfiel in den vertrauten Singsang, der Mahaut schon als Kind getröstet hatte. »Alles wird gut.«

»Alles muss gut werden.« Einer von Mahauts Fingernägeln brach. Die Schnitzerei aus Lindenholz widerstand ihrem Griff. »Ich darf mir keinen dritten Fehler erlauben.«

Vorsicht und Furcht zwangen sie, jede Einzelheit noch einmal zu prüfen. »Was hast du den Mägden gesagt?«

»Dass wir heißes Wasser benötigen, damit sich meine Herrin waschen kann. Dass sie nicht gestört werden will und allein meiner Dienste bedarf.«

»Gut. Wir können keine Zeugen gebrauchen. Wo ist Lise?«

»Der Bogenschütze weicht nicht von ihrer Seite. Er ist außer sich vor Sorge um sie. Das Fieber steigt unaufhaltsam.«

Mahaut schwankte. Sie war stolz auf ihre Fähigkeit, folgerichtig zu denken. Unter diesen Umständen fiel es ihr jedoch zunehmend schwerer.

»Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen«, warnte Odette.

Mahaut empfand kein Mitgefühl für ihre Kammerfrau. Gebären war Frauenpflicht, die Folgen davon Frauenschicksal. Indem Lise die Frau des Bogenschützen Loup Gasnay geworden war, hatte sie dieses Los auf sich genommen. Loup gehörte zu Hugecs Männern. Wenn er zum Problem werden sollte, würde Hugec wie üblich zur Stelle sein. Sie hatte gelernt, sich auf ihn zu verlassen.

»Flavy?« Die Wehe überfiel Mahaut mit solcher Wucht, dass sie nur die beiden Silben über die Lippen brachte.

»Keine Sorge, der Baron weiß Bescheid.«

Odette ahnte, was in ihr vorging. Sie war Mahauts Amme gewesen und bis zum heutigen Tage in ihren Diensten geblieben. Niemand wusste besser als sie, was die Frau antrieb, die mit purer Willenskraft das eigene Los gestalten wollte.

»Der Seigneur von Flavy hat die Wache vor deiner Tür übernommen. Und was Lise angeht, sie schläft. Ich habe ihr Mohnsaft gegeben, damit sie Ruhe findet.«

Das Drängen in ihrem Leib entlockte Mahaut einen unterdrückten Schrei.

»Es beginnt, Odette. Heilige Mutter Gottes, steh mir bei! Habe Erbarmen mit mir. Schenke mir den Sohn, den mein Gemahl von mir fordert!«

Es klang mehr nach Befehl als nach Gebet. Odette bekreuzigte sich fromm.

»Schscht! Man erteilt den himmlischen Mächten keine Befehle.«

* * *

Das Kind schlief. Bis zur Nasenspitze in feinstes Leinen gehüllt, ruhte es in Mahauts Arm. In ihren Augen funkelte Triumph. Aufrecht gegen die Kissen des Alkovens gestützt, empfing sie ihre Besucher.

Hugec ließ dem Burghauptmann den Vortritt. Der Graubart schwankte erkennbar zwischen Bestürzung und Ehrerbietung. Die Tatsache, dass die Pfalzgräfin von Burgund ausgerechnet in seiner Festung einem Kind das Leben geschenkt hatte, versetzte ihn nachträglich in Angst und Schrecken. Wieso hatte er erst davon erfahren, als alles schon vorbei war?

»Dem Himmel sei Dank, dass Ihr diese Geburt ohne Schaden hinter Euch gebracht habt. Ich wage nicht zu denken … Ihr hättet doch … Wieso habt Ihr nichts gesagt?«, rang er um Worte.

Ohne dass Mahaut eine Miene verzog, schien die Atmosphäre im Raum spürbar kühler zu werden. Dem Burghauptmann stieg das Blut zu Kopf. Zu spät biss er sich auf die Zunge. Man machte der Pfalzgräfin von Burgund keine Vorwürfe.

»Habt Dank für Eure guten Wünsche und Eure Gastfreundschaft«, erwiderte sie gelassen. »Seid gewiss, dass wir sie nicht über Gebühr beanspruchen werden. Mein Gemahl wird nicht versäumen, Euch dafür zu belohnen, dass sein Sohn und Erbe unter dem Dach von Dourdan zur Welt gekommen ist.«

Sie ließ seine verspäteten Beteuerungen über sich ergehen, ehe sie ihn mit der Versicherung, dass es ihr wohl erginge und dass sie ihm nicht gram sei, wenn er unverzüglich zu seinen Aufgaben zurückkehre, entließ. Odette geleitete ihn aus der Kammer.

Hugec blieb im Raum. Er wartete und beobachtete die junge Mutter und den Säugling. Mahaut ließ die Augen nicht von ihrem Sohn. Die Eindringlichkeit ihres Blickes bewies ihm, dass die Strapazen der Geburt für sie bereits der Vergangenheit angehörten. Im Gesicht des Kindes suchte sie die Zukunft.

Würde der winzige Knabe ihre Erwartungen erfüllen?

Es lag fünfzehn Jahre zurück, seit ihm Dame Amicia seinen Sohn Adrien geschenkt hatte. Aber er erinnerte sich an ein schreiendes Neugeborenes, dessen Finger die seinen kraftvoll umklammerten. Dieses Wickelkind hingegen war so bleich und steif wie die Stoffbinden, die seinen Körper gerade hielten.

»Ist er wohlauf? Gesund?«, rutschte es ihm heraus.

»Ich nähre ihn selbst«, antwortete Mahaut ebenso freimütig wie bestimmt. »Meine Kraft und mein Blut werden ausgleichen, was bei der überstürzten Geburt an Schaden geschah.«

»Dann ist es nicht vonnöten, eine Nährmutter in Dourdan zu suchen?«

»Nicht für mich, Flavy. Aber meine Kammerfrau, die, wie Ihr wisst, ebenfalls vor drei Tagen niedergekommen ist, leidet am Kindbettfieber. Ich sorge mich um sie. Ihre … Tochter soll keine Not leiden.«

Das unmerkliche Zögern traf Hugec wie ein Schwertstreich. Es genügte, die Vermutungen in Gewissheit zu verwandeln. Seit Mahaut so kurz vor der Geburt ihres Kindes darauf bestanden hatte, dass es in Paris zur Welt kommen sollte, ahnte er, was sie im Schilde führte. Seitdem lag er im Kampf mit dem eigenen Gewissen. Er bewunderte die Pfalzgräfin und hatte sich freiwillig in ihre Dienste begeben. Nun ihr Mitwisser zu werden bedeutete, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten.

»Kann ich mich auf Euch verlassen, Hugec von Flavy?«

»Müsst Ihr das fragen, Madame?« Im Bann ihrer Augen traf er eine Entscheidung, die nichts mit Vernunft und nichts mit Ehre zu tun hatte. »Ich bin Euer Ritter. Befehlt und ich handle danach.«

Ich würde alles für Euch tun.

Mahaut vernahm auch die stummen Worte. Sie nickte zufrieden. Sie streckte ihm die Rechte zum Kuss entgegen. Ihre Finger waren warm, fast heiß, und drückten beschwörend die seinen, um den Pakt zu schließen.

Hugec wusste, dass er manipuliert wurde, aber das Bild seiner eigenen Gemahlin verblasste neben der Amazone, die ihn mit ihrem Vertrauen auszeichnete.

»Zweifelt nicht daran, dass ich Treue und Loyalität zu belohnen weiß«, fügte sie nun hinzu und zog ihre Hand sacht zurück.

Ganz die Verkörperung von Mütterlichkeit und Sorge, neigte sie sich nun über den Sohn und Erben.

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Erstes Kapitel

Er gab die Zügel frei.

Linkerhand der Seine, die unter einem rauchigen Band aus dünnem Morgennebel strömte, sprengte er nach Südwesten. Die Stadt lag hinter ihm. Adrien von Flavy atmete erleichtert auf.

Nach der Enge, dem Lärm und dem Gestank von Paris überkam ihn ein berauschendes Gefühl von Weite und Freiheit. Sein Kopf, der noch unter den Folgen des Burgunders litt, den König Philippe von Frankreich in so überreichem Maße hatte ausschenken lassen, begann klar zu werden.

Das Beste war ihm gerade gut genug gewesen zum Pfingstfest des Jahres 1313 und zur Feier der Schwertleite seiner drei Söhne. Hochämter, Turniere, Festbankette, Jagden, Empfänge und Umzüge hatten einander abgewechselt.

Die königliche Prachtentfaltung hatte einen schalen Geschmack bei Adrien hinterlassen. Sein Magen rebellierte gegen die Fülle von Phrasen, die höfischen Lügen und die zur Schau gestellten falschen Freundschaften. Er wusste nur zu genau, was sich hinter der Fassade der Wohlanständigkeit verbarg. Die königlichen Brüder wahrten die Form, belauerten und bekämpften sich dabei umso arglistiger.

Louis, mit vierundzwanzig Jahren der Älteste, war seit dem Tod seiner Mutter vor acht Jahren König von Navarra und Graf der Champagne. Er drängte seinen Vater, Flandern mit kriegerischen Mitteln in die Schranken zu weisen. Seine angeborene Streitlust hatte ihm bereits den Beinamen ›der Zänker‹ eingetragen. Seit acht Jahren mit Marguerite von Burgund verheiratet, war er der künftige König Frankreichs. Er war von schwankendem Charakter. Den eigenen Wutausbrüchen ausgeliefert, neigte er zu Selbstüberschätzung, Boshaftigkeit und Rachsucht.

Philippe, zwei Jahre jünger, aber von imposanterer Statur, nannte man ›den Langen‹. Ihm wurden mehr Sympathien entgegengebracht als Louis.

Charles, eben erst 18, hatte das gute Aussehen des königlichen Vaters in die Wiege gelegt bekommen. Schon jetzt trug er den Beinamen ›der Schöne‹. Neben ihm kam sich Louis stets farblos und ungeschickt vor.

Philipp und Charles waren mit Marguerites Cousinen verheiratet, mit den Schwestern Jeanne und Blanche von Burgund.

Der Morgennebel hatte sich gelichtet. Ein Erpel stieg kreischend aus dem Ufergestrüpp des Flusses und riss den Reiter aus seinen Gedanken. Die Seine glitzerte nun im ersten Sonnenschein. Wolken und Ufersäume spiegelten sich in ihr.

Nur mit der Hilfe Philippes des Langen war es Adrien gelungen, seinem Vater die wenigen Wochen in Faucheville abzuringen. Dieser, der Baron von Flavy, legte großen Wert darauf, in der Nähe des Königs zu sein und seinen Sohn Adrien am Hofe in die richtige Position zu bringen. Er konnte es nicht verstehen, dass Adrien viel lieber in Faucheville geblieben wäre.

»Am besten vergessen wir meinen Herrn Vater und die Machtspiele des Hofes, was meinst du dazu, Alter?« Adrien beugte sich vor und tätschelte den Rappen, der mit einem Schnauben antwortete. »Fürs Erste bin ich froh, dem Narrenhaus entkommen zu sein.«

Eine Person bei Hof wollte ihm jedoch nicht aus dem Sinn gehen: Mahaut von Artois, die Pfalzgräfin von Burgund. Sie spielte sich als Königin auf, weil ihre Töchter Jeanne und Blanche mit Philippe und Charles verheiratet waren und der König nach dem Tod seiner Gemahlin nie den Wunsch geäußert hatte, sich je wieder zu verheiraten. Adrien hasste Mahaut. Dass ausgerechnet sie so viel Einfluss auf seinen Vater besaß, empörte und besorgte ihn zu gleichen Teilen. Seine Vermutung, dass beide ein schmutziges Geheimnis teilten, war längst zur Gewissheit geworden.

Mit gespitzten Ohren schien Adriens Pferd Spaß an den Selbstgesprächen des Reiters zu bekunden, und da Adrien für die Reise einen leichten Harnisch und keine vollständige Rüstung gewählt hatte, kamen sie schnell voran. Sie würden Faucheville am frühen Nachmittag erreichen, falls der Rappe nicht ein Eisen verlor oder sich andere Hindernisse in den Weg stellten.

Die Seine im Rücken, tauchten Ross und Reiter unter das schattige Dach der Wälder. Die Jagdreviere des Königs erstreckten sich weit über sanfte Hügel und versteckte Täler, nur von wenigen Lichtungen und Dörfern unterbrochen. Adrien brachte das Pferd erst zum Stehen, als endlich wieder Sonne seine Schultern wärmte. Inzwischen war es Mittag. Sein knurrender Magen erinnerte ihn daran, dass er in der Eile vergessen hatte, Proviant mitzunehmen.

Während er am Ufer eines versteckten Wasserlaufs den Rappen trinken ließ, tauchte er die Hände in den Bach und kühlte sich das Gesicht. Er strich sich die hellen Haare aus der Stirn, verschränkte die Finger im Nacken, ließ sich zurücksinken und blinzelte in den Maienhimmel.

Er sah sich am Tisch des Königs sitzen, nah genug, um in die versteinerte Miene Isabelles blicken zu können. Sie hatte Paris als dreizehnjährige Prinzessin verlassen, um König Edward von England zu heiraten. Aus dem klugen, schönen, ehrgeizigen Kind war seitdem eine unglückliche Königin geworden, die ihren drei Schwägerinnen das heitere Leben neidete, das sie an der Seite ihrer Brüder führten. Sie hatte der englischen Krone einen Erben geschenkt, und ihr Stolz und ihre Ehre litten darunter, dass der König statt der eigenen Ehefrau wechselnde Günstlinge in sein Bett holte. Und alle Welt wusste es. Blanche hatte mit einer törichten Bemerkung auch noch Salz in die Wunde gestreut. Welch ein Glück, dass Charles nur Augen für mich hat, hatte sie gestichelt, Euer Gemahl, liebste Isabelle, betrachtet ihn auf eine Art, die mich sonst in Sorge versetzen würde.

Bei Gott – er war froh, allen den Rücken gekehrt zu haben. Auch Isabelle, die er einmal sehr verehrt hatte, war ihm fremd geworden. Sie war jetzt achtzehn, und von ihrer einst fröhlichen Kindlichkeit war nichts geblieben.

Das gemächliche Kauen seines Rappen wirkte einschläfernd auf Adrien. Seine Gedanken wanderten voraus nach Faucheville. Wie stand es um die Aussaat? Hatte der Burgvogt den Wassergraben bereits reinigen lassen? Gab es möglicherweise schon die ersten Kirschen? Wie viele Fohlen waren geboren worden?

Séverine würde ihm jede Frage beantworten können.

Séverine. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, ohne dass er sich dessen bewusst war. Wie alt war sie wohl inzwischen? Jünger als die überspannte Blanche, aber sicher kein Kind mehr. Eine Jungfer, über deren Zukunft man sich Gedanken machen musste. Wie lange hatte er schon nicht mehr an Séverine gedacht? Sein letzter Besuch in Faucheville lag Jahre zurück. Würde sie sich noch an ihn erinnern?

Augenblicklich drängte es ihn, den letzten Teil des Weges hinter sich zu bringen. Ein prüfender Blick zum Himmel zeigte ihm, dass sich der Horizont mit grauen Regenwolken säumte. Dieser Frühling brachte mehr Regen als irgendeiner in den Jahren zuvor. Hoffentlich wurde der Sommer besser. Der Boden war überreich mit Feuchtigkeit gesättigt, und die keimende Saat würde ertrinken, wenn es so weiterging.

Adrien schüttelte die düsteren Gedanken ab. Sein Pfiff rief den Rappen. Er schwang sich in den Sattel. Es war an der Zeit, sich ein Aufatmen zu gönnen. Faucheville würde ihm den Kopf frei machen. Im festen Glauben daran trieb er sein Pferd über zunehmend vertrautere Wege vorwärts, bis schließlich die Mauern der Burg in der Ebene vor ihm auftauchten.

Mit donnernden Hufen, ohne sich um die verblüfften Blicke der Bauern auf den Feldern zu kümmern, jagte er auf Faucheville zu. Die herabgelassene Zugbrücke unter dem quadratischen Torturm gab den Weg über den Burggraben frei. Nirgendwo waren Wachen zu entdecken. Der Friede des fruchtbaren Landstrichs, nördlich von Étampes und Morigny, hatte die Vorsicht des Burgvogts offensichtlich einschlafen lassen. Während er in den weiten Burghof sprengte, nahm sich Adrien vor, den Mann zur Rede zu stellen. Eine gutgeführte Burg sollte sich nie in falscher Sicherheit wiegen.

Eine Magd, die ein Holzbrett mit frischen Broten vom Backofen ins Haus trug, geriet bei seinem Anblick ins Stolpern. Ein Teil der Laibe rutschte ihr vom Holz zu Boden. Adrien musste lachen. Das verdatterte Gesicht des Mädchens war zu komisch.

Das Wappen an seiner Satteldecke verschaffte ihm Respekt.

»Seigneur, wir haben Euch nicht erwartet.«

»Das sehe ich.«

Adrien sprang aus dem Sattel. Er warf dem Stallknecht die Zügel zu und streifte die schweren Reithandschuhe ab. »Führ den Rappen herum, damit er sich abkühlt. Danach versorgst du ihn und hütest ihn wie dein Augenlicht.«

Eilig wandte er sich dem Haupthaus zu. Die große Halle nahm mit ihren schmalen Bogenfenstern nahezu das gesamte erste Stockwerk des zweistöckigen Bauwerkes ein. Eine Frauengestalt stand neben dem Kamin. Sie wandte ihm den Rücken zu und mühte sich, einen Arm blühender Weißdornzweige in einem Kupferkrug zu arrangieren. Ein bescheidenes Wollkleid ließ die mädchenhafte Gestalt erkennen. Offene, helle Haare, von einem bestickten Band gehalten, verrieten, dass es sich nicht um eine Magd handelte. Derlei Schmuck leisteten sich nur Mädchen aus guter Familie.

»Séverine! Lass dich umarmen!«

Er ließ den Worten so blitzschnell die Tat folgen, dass er das Mädchen schon im Arm hielt, als er in ihr fassungsloses Gesicht sah. Auf der Stelle gab er sie frei und trat zurück.

»Wer bist du? Ich habe dich verwechselt. Wo ist Séverine?«

»Manon, Seigneur. Ich bin Manon, die älteste Tochter des Burgvogts«, antwortete das Mädchen so leise, dass er es kaum verstand.

»Nun also«, räusperte sich Adrien. »Gott zum Gruße, Manon. Wo steckt dein Vater und wo Séverine? Tür und Tor stehen offen. Jeder hat ungehinderten Einlass.«

»Alle gehen ihrem Tagwerk nach, Seigneur. Mein Vater ist mit seinen Männern auf der Jagd. Die meisten Knechte sind bei der Schafschur. Séverine findet Ihr entweder bei den Pferden oder in der Küche. Gestern war Schlachttag, da ist jede Menge Arbeit angefallen.« Zunehmend selbstbewusster lächelte Manon und besann sich auf die guten Sitten. »Ihr seid sicher hungrig und durstig. Ich werde Euch gleich auftragen.«

»Mach dir keine Mühe. Ich esse, wenn für alle aufgetragen wird.« Adrien nickte dem Mädchen zu und verließ mit langen Schritten die Halle.

Bei den Pferden oder in der Küche?

Adriens Instinkt trieb ihn zu den Pferden. Er kam eben rechtzeitig, um die Geburt des staksigen Fohlens zu erleben, das vom Stallmeister und seinem Jungen mit einem Freudenschrei begrüßt wurde. Blut und Nachgeburt missachtend, umfing der geschmeidige Junge den Hals der Stute und lobte sie für ihre Leistung.

Seine Stimme ließ Adrien mitten in der Bewegung aufhorchen. Sie war hell und heiter, keine Jungenstimme. Und der armdicke, fest geflochtene, dunkelgoldene Zopf, dessen Ende im Wams des vermeintlichen Jungen verschwand?

»Séverine.«

Obwohl er den Namen nur murmelte, hatte sie ihn gehört.

»Es kann nicht sein! Adrien!«

Sie war es wirklich. Bevor er es richtig fassen konnte, lag sie in seinen Armen. Sie reichte ihm bis zur Schulter, das goldene Funkeln in den hellbraunen Augen unverändert, ihre Spontaneität und Lebensfreude ungebrochen.

Überschwenglich lachend hing sie an seinem Hals. Sie war nicht mehr das schmale Kind, von dem er sich verabschiedet hatte. Er spürte die wohlgeformten Brüste, während er ihre Taille noch immer mit beiden Händen umspannen konnte.

»Du erdrosselst mich, Séverine«, japste er und umfasste ihre Handgelenke, damit sie ihn freigab.

»Du warst ganze Ewigkeiten nicht mehr zu Hause. Ich dachte schon, du hättest uns vergessen. Dies ist ein Tag zum Feiern. Du bist wieder da, und Étoile hat das herrlichste Fohlen zur Welt gebracht, das je in diesem Stall gestanden hat. Ein kleiner Hengst. Wie findest du ihn? Meinst du, dass der Vogt mir erlaubt, ihn aufzuziehen und auszubilden? Du könntest ein gutes Wort für mich einlegen. Ist dein Vater auch mitgekommen? Wie ist es dir in all der Zeit ergangen? Wie lange kannst du bleiben?«

Die Worte überstürzten sich. Adrien fiel es schwer, Séverine Einhalt zu gebieten. Es war ihm noch nie gelungen, ihrer außergewöhnlichen Fröhlichkeit zu widerstehen.

Schon das winzige Kleinkind hatte ihn bezaubert. Fast sechzehn Jahre lag das zurück, und doch hatte er alles vor Augen, als sei es gestern gewesen. Er hatte Séverine unter seinem Reiterumhang verborgen, um das Kind warm zu halten. An seiner Brust hatte es geschlafen während des ganzen Rittes von Dourdan bis nach Faucheville, und nicht einen einzigen Laut hatte es von sich gegeben.

Jetzt sprach sie so ungestüm, dass er laut werden musste, um sich bemerkbar zu machen.

»Wie soll ich deine Fragen beantworten, wenn du mir keine Gelegenheit dazu gibst? Halt ein, Séverine. Und sag mir bitte: Wie siehst du aus? Sind das die Kleider einer jungen Dame? Der graue Kittel eines Stallburschen und die schmutzigen Beinlinge?«

»Ich sehe so aus, weil ich Étoile beistehen musste. Es war ihre erste Geburt. Aber sie hat es doch fabelhaft gemacht, oder? Ist es nicht ein Wunder? Wir müssen einen Namen für das Fohlen finden. Hilfst du mir dabei? Es soll den Namen eines Sterns bekommen, damit man auch seine Mutter nie vergisst.«

»Antares«, antwortete Adrien, ohne nachzudenken. »Der hellste Fixstern im Bild des Skorpions.«

»Antares«, wiederholte Séverine und sprach den Namen aus, als wolle sie ihn kosten. Sie neigte den Kopf zur Seite, betrachtete das rotbraune Hengstfohlen, das von Étoile sorgsam gereinigt wurde, und nickte. »Antares, das gefällt mir. Es beginnt mit A wie Adrien.«

Ist das wichtig?, wollte er sie necken, aber dann unterließ er es. Sie war außer sich vor Freude. Er fühlte es und bemerkte erst jetzt, dass er noch immer ihre Handgelenke umspannte. Einen Schritt zurücktretend, gab er sie frei.

»Was sagt eigentlich dein Vater dazu, dass du den Stallburschen spielst? Es kann unmöglich in seinem Sinn sein?«

Eine Spur von Unsicherheit flackerte in ihren Augen, ehe sie unbekümmert mit den Schultern zuckte. »Es kümmert ihn weniger denn je, wie ich meine Tage verbringe. Du kennst ihn, er ist ein Eigenbrötler und will nichts von anderen wissen. Lass uns lieber von dir reden. Wir haben von dem prächtigen Fest gehört, das der König für den englischen Besuch und seine Söhne gegeben hat. Erzähl mir davon. Wer hat das große Turnier gewonnen?«

»Kein Wort erfährst du, Naseweis. Ich spreche nur mit Damen, die saubere Kleider tragen und den Pferdegestank in der Badestube abgewaschen haben. Wir sehen uns beim Essen, dann werde ich deine Fragen beantworten.«

Séverine kicherte vergnügt und verließ die Pferdeställe, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Étoile und Antares sie nicht länger brauchten.

Adrien sah ihr nach.

»Kann es sein, dass sie mehr in den Ställen ist als im Haus?«, wandte er sich an den Stallmeister.

»Das hängt ganz davon ab, wie viel Zeit Elvire ihr dafür lässt.«

»Elvire?«

»Die Köchin, Seigneur. Unter ihrer Obhut steht sie doch.«

Adrien antwortete nicht. Hinter seiner Stirn überschlugen sich die Gedanken. Obwohl er wie ein großer Bruder mit ihr aufgewachsen war, wurde ihm erst heute in aller Konsequenz bewusst, dass sie nicht das Leben führte, das ihrer Herkunft angemessen war. Was sollte aus ihr werden? Es war an der Zeit, sie zu verheiraten und ihre Zukunft zu planen. Warum tat das keiner?

Loup schien sich nicht um sie zu kümmern. Séverine benötigte augenscheinlich einmal mehr seinen Schutz. Dieses Mal jedoch nicht gegen die Bauernkinder aus dem Dorf oder gegen die rauhen Scherze der Burgknechte. Es galt, den Mann zur Verantwortung zu ziehen, der in Faucheville für ihren Vater gehalten wurde.

»Kümmere dich nicht darum«, tat Séverine seine Fragen ab, während in der Halle zur Feier der Heimkehr des jungen Seigneurs mit Leinen gedeckt wurde. Normalerweise aß man an blanken Holztischen.

»Wo steckt dein Vater?«

Adrien warf einen suchenden Blick durch die Halle. Séverines Zopf glänzte feucht, ihr Gesicht leuchtete. Ihre Röcke fielen peinlich sauber, wenn auch zu kurz, nach unten. Die Leinenbluse spannte über Schultern und Busen. Warum hatte man ihr kein passendes Gewand anfertigen lassen? Ihr Anblick fachte seinen schwelenden Zorn auf Loup Gasnay weiter an.

»Ich bin froh, dass er nicht zur Tafel kommt«, antwortete Séverine knapp. »Wenn er so betrunken ist, wie er es heute Mittag war, kann man nichts mit ihm anfangen. Dann lamentiert er und redet dummes Zeug. Mir ist es lieber, wenn er das in seiner Kammer tut.«

»Was für dummes Zeug?«, hakte Adrien nach. Sie hörte sich betrübt an. Das war so ungewöhnlich für sie, dass es ihm ans Herz ging. »Komm schon, Séverine, es bleibt unter uns.«

Sie wich seinem Blick aus und fuhr mit dem rechten Fuß, der in einer einfachen Holzpantine steckte, die Fugen des Bodens nach. »Er mag mich nicht. Er nennt mich Kuckucksei und sagt, ich solle ihm aus den Augen gehen. Er hätte lieber einen Sohn gehabt, den er im Waffenhandwerk unterweisen und den er das Bogenschießen lehren kann. Ich habe ihm den Sohn gestohlen, sagt er. Er gibt mir die Schuld am Tod seiner Frau. Je mehr er trinkt, umso wirrer werden seine Erzählungen. Es ist besser, wenn ihn dann niemand hört. Sie lachen ihn nur aus.«

»Er kränkt dich mit diesem Gerede.«

Es war nur eine Vermutung, aber sie schüttelte auf der Stelle den Kopf. »Das kann er nicht. Ich merke ja, wenn er betrunken ist. Ich habe gelernt, ihm dann aus dem Weg zu gehen.«

Sie weigerte sich, vor einem Betrunkenen, der sie mit Beleidigungen überhäufte, zu kapitulieren. Adrien bewunderte sie dafür, denn es hörte sich an, als gäbe es nur wenige Tage, an denen sich Loup Gasnay nicht betrank.

»Schau nicht so finster.« Ihre feste Hand stahl sich in die seine, sie zog ihn zum Tisch. »Elvire hat in aller Eile das Beste aus Küche und Keller für dich bereitet. Alle sind beglückt über deinen Besuch.«

Sie war frohgemut und guter Dinge, daran gab es keinen Zweifel. Sie strahlte von innen heraus und geleitete ihn zum Kopfende des Tisches, ehe sie selbst ihren Platz weiter unten, eben noch oberhalb des Gesindes, einnahm. In der Rangfolge des Haushaltes war sie, als Mündel seines Vaters und Tochter eines Waffenknechtes, kaum über dem Status einer Magd plaziert. Adrien unterdrückte den Impuls, sie an seine Seite zu rufen.

»Ihr hättet Euren Knappen vorausschicken sollen, damit alles zu Eurem Empfang bereit ist«, hörte er Laurel Bagon, den Burgvogt seines Vaters, zum wiederholten Male brummen. »Faucheville kommt Euch sicher bescheiden vor, nach allem, was über die Pracht der Pfingstfeiern sogar bis in unsere Abgeschiedenheit gedrungen ist.«

»Mein Knappe ist anderweitig in meinen Diensten unterwegs. Außerdem interessiert mich Faucheville tausendmal mehr als der Königspalast«, entgegnete Adrien trocken. »Sagt mir, wie steht es um die Aussaat? Wie hoch ist die Anzahl der Jungtiere in den Ställen? Welchen Gewinn habt Ihr für die gebalgten Felle der Herbstjagden erzielt? Was wisst Ihr über die einzelnen Hofstellen des Dorfes? Sind die Leibeigenen gesund und die Jährlinge für den Pferdemarkt bereit?«

Der Vogt zog den Kopf ein und manövrierte sich, so gut es ging, durch die Antworten. Adriens Vater, der Baron, interessierte sich am fernen Königshof nur für die Einkünfte des Lehens. Er machte ihm weder Vorschriften, noch wollte er Einzelheiten wissen. Bagon kam ob so vieler Fragen ins Schwitzen.

Adrien entging das nicht. Ihm war klar, dass sein Vater die Zügel zu locker ließ. Er betrachtete Bagon eindringlich, bevor er den Blick auf Manon richtete, die jetzt ein Festkleid und einen hauchfeinen Schleier trug. Sie saß neben ihrer Mutter und nahm eine Stelle ein, die auch Séverine zugestanden hätte.

»Ich nahm an, das Mündel meines Vaters unter der Obhut Eurer Gemahlin anzutreffen«, wandte er sich erneut an Bagon. »Wer unterrichtet Séverine in den Tugenden einer künftigen Gemahlin und Mutter?«

»Je nun.« Der Vogt weitete mit dem Finger seinen enggeschnürten Hemdkragen. »Das ist Elvires Aufgabe. Schließlich hat sich die Köchin schon immer des Mädchens angenommen. Sie hat ihr die Mutter ersetzt, und bei ihr ist sie gut aufgehoben. Ich wollte nicht, dass meine Tochter und sie zusammen aufwachsen. Loup ist ein Säufer, und ihre Mutter war eine Kammermagd.«

»Und warum, verdammt noch mal, sorgt Ihr nicht dafür, dass Loup zu saufen aufhört?« Adrien schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Er steht unter dem Schutz des Barons, und der hat ihm freie Kost und Logis zugesagt. Ich habe nicht das Recht, ihm Vorschriften zu machen.«

Die Kräuterfüllung des knusprig gebratenen Täubchens verwandelte sich in Adriens Mund zu Stroh. Immer wieder stieß er auf die Anweisungen seines Vaters. Immer wieder rannte er gegen eine Wand, sobald er versuchte, eigene Anordnungen durchzusetzen. Aber hier ging es nicht um ihn, es ging um Séverine.

* * *

Loup Gasnay lag schnarchend auf dem Rücken, die Arme von sich gestreckt, den Mund mit den gelblichen Zahnstummeln halb offen. Bettstatt, Kleider und Kammer stanken, wie Adrien es nur von den billigsten Schenken der Hauptstadt kannte. Er stieß die vorgelegten Läden auf und musterte den ehemaligen Waffenknecht verächtlich.

Die untätigen Jahre hatten ihn fett werden lassen, und niemand wäre auf den Gedanken gekommen, er könne einmal ein angesehener Kämpfer gewesen sein. Ein prächtiges Mannsbild, dem es sogar gelungen war, eine der Kammerfrauen der Mahaut von Artois für sich einzunehmen und zu ehelichen.

»Hoch mit dir, Loup.«

Ohne sich um die Folgen zu kümmern, kippte Adrien den Rest aus der Weinkanne über dem Gesicht des Schlafenden aus.

Mit einem Wutschrei schoss Gasnay hoch und sank, die Hände jammernd vor die Augen gepresst, sogleich wieder zurück.

»Seigneur«, krächzte er kaum verständlich. »Habt ein Einsehen mit mir. Das Licht tut meinen Augen weh.«

»Dir tut gleich weit mehr weh, wenn du nicht unverzüglich auf die Beine kommst, du versoffenes Wrack.«

Bei Hofe hatte Adrien seinen schneidenden Tonfall vervollkommnet. Die vor der Brust verschränkten Arme und sein eisiger Blick taten ein Übriges. Loup sah den Baron vor sich, zu dessen besten Männern er einmal gezählt hatte. Er hatte dem Sohn die blauen Augen und das Selbstbewusstsein vererbt.

Ächzend rappelte Loup sich in eine sitzende Haltung und versuchte so, auf die Beine zu kommen. Er schwankte wie ein Kranker und rieb sich den nassen Bart.

»Wir müssen reden«, begann Adrien kalt. »Reiß dich zusammen. Es müssen Entscheidungen über Séverines Zukunft getroffen werden. Wieso hast du dich nicht besser um das Mädchen gekümmert? Ich nahm an, ich würde eine wohlerzogene Jungfer vorfinden, und was wartet auf mich? Ein halber Stallknecht. Eine Küchenmagd. Ein Kobold ohne jede Erziehung. Ein Kind, das nicht die geringste Ahnung von den Pflichten einer künftigen Ehefrau und Mutter hat.«

»Was geht’s mich an.« Loup fluchte heiser. »Ich hab nichts mit dem Weibsstück zu schaffen, und ich will nichts von ihr hören.«

»Hast du den Verstand verloren, Loup Gasnay? In den Augen der Welt ist Séverine deine Tochter. Was glaubst du, warum du auf Faucheville lebst wie die Made im Speck? Du bist hier, damit Séverine in Ehren aufwachsen kann. Damit kein Makel auf ihren Namen fällt.«

»Sie ist eine Mörderin«, schrie Loup so wütend, dass seine Stimme kippte. »Sie hat den Tod meines Sohnes auf dem Gewissen. Hätt’ ich ihn behalten dürfen, er wäre noch am Leben. Er wäre der Trost meines Alters, die Freude meiner Augen.«

»Du weißt nicht, was du da redest, Loup. Du bist nicht nüchtern.« Erschrocken blickte Adrien zum Fenster. Hatte Loups Ausbruch Ohrenzeugen? Er sprach Dinge laut aus, die er selbst bisher nur zu denken gewagt hatte. »Beruhige dich, Mann.«

Besänftigend auf ihn einredend, begriff Adrien, dass es sinnlos war, wenn nicht sogar gefährlich, Loup mit Vorwürfen an seine Verantwortung zu erinnern. Ohnehin nicht der Hellste, war längst auch der Rest seines Verstandes dem Wein zum Opfer gefallen.

Der kurze Anflug von Energie, der ihn auf die Beine gebracht hatte, ging vorüber. Er sackte in sich zusammen, begann zu jammern, schließlich zu greinen und wie ein Schwachsinniger nach dem Sohn zu rufen, den er in seinem beschränkten Geist zum Ziel aller Hoffnungen machte. Unter Druck würde er das Geheimgehaltene, von dem er wusste, schneller ausplaudern, als ihnen allen lieb sein konnte. Es musste ohne ihn einen Weg geben, Séverine zu helfen.

Adrien rief nach einer Magd und ließ sie Loups Weinkanne füllen. Er goss einen Becher ein.

»Trink«, befahl er knapp.

Loup zitterte mittlerweile so sehr, dass Adrien ihm den Becher führen musste. Er stürzte hastig und gurgelnd den Inhalt hinunter. Nach dem zweiten Becher wurde das Zittern schwächer. Adrien betrachtete ihn aufmerksam. Er kannte Schwächlinge wie ihn. Sie suchten Vergessen in Wein oder Bier. Wenn man ihm nicht Einhalt gebot, würde er sich freiwillig zu Tode saufen. Vielleicht wäre das für sie alle die beste Lösung, auch wenn es seine Pläne über den Haufen werfen würde, dachte Adrien. Er verließ ihn in der Gewissheit, dass er nichts mehr ändern konnte.

Abgestoßen und gleichzeitig schuldbewusst erinnerte sich Adrien an Loup, den kräftigen Soldaten, der vor fast sechzehn Jahren nach Faucheville gekommen war. In tiefer Trauer um die Mutter seines Kindes hatte er sich dem Willen der skrupellosen Mahaut gebeugt, künftig in Faucheville zu leben. Wahrscheinlich konnte er nur so sein Leben retten.

Die schreckliche Mahaut. Alle Welt nannte sie hinter ihrem Rücken so. Sie stammte väterlicherseits von König Louis dem Heiligen ab und war mit Othon, dem Pfalzgrafen von Burgund, verheiratet worden. Nach der Geburt zweier Töchter war der langersehnte Sohn und Erbe in Dourdan zur Welt gekommen.

Von wenigen Getreuen umsorgt – Adriens Vater war einer von ihnen gewesen – brachte sie das Kind auf dem Weg von Orléans nach Paris in der Burg von Dourdan zur Welt. Vermutlich hatte sie die Reise wohlweislich zu diesem Zeitpunkt angetreten. Fern von Paris war es leichter, den kühnen Betrug durchzuführen, falls sie wieder mit einem Mädchen niederkommen sollte.

Tage vor Mahauts Niederkunft hatte ihre Kammermagd Lise, Loups Gemahlin, ebenfalls ein Kind zur Welt gebracht. Einen Sohn, wenn man Loup glauben wollte. Sie war an Kindbettfieber gestorben, so dass ihre Herrin offensichtlich auf keinerlei Widerstand traf, als sie die Kinder vertauschte.

Die Vermutung, dass in Dourdan nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war, hatte Adrien von Anfang an gehegt. Zunächst hatte es ihm geschmeichelt, dass sein Vater seine Begleitung auf einem Ritt nach Dourdan wünschte. Dass jener dort eine Amme aufsuchte und ein mutterloses Kind an sich nahm, riss ihn jedoch aus seiner Ahnungslosigkeit. Hugec von Flavy war nicht der Mann, der sich um Säuglinge kümmerte. Auch erklärte die Amme auf Adriens Frage, dass sie keine Ahnung habe, wessen Kind sie stille. Sein Vater hatte das Gespräch rüde unterbrochen, der Frau ihren Lohn überreicht und den Sohn aus dem Haus gedrängt. Das winzige Mädchen mit den goldenen Augen auf dem Arm, musste Adrien ihm einen feierlichen Eid leisten, niemals über diesen Ritt und die Herkunft des Kindes zu sprechen.

»Das Mädchen heißt Séverine Gasnay. Niemand wird es je anders nennen. Ich habe geschworen, gut für das Kind zu sorgen, falls es die schwierigen ersten Monate übersteht. Man wird sehen.«

Mehr war nie gesagt worden.

Séverine hatte auf Faucheville dann ein warmherziges Willkommen in den Armen der Burgherrin gefunden, die damals noch am Leben war. Als Adriens Mutter starb, litt Séverine genauso wie er unter dem Verlust. Sie hatten sich gegenseitig getröstet.

Loup hatte sich unter Zwang darauf eingelassen, Séverines Vater zu sein. Sie sollte ehrenhaft bei ihm aufwachsen. Erst als er wieder zur Besinnung kam, durchschaute er, dass Mahaut ihn an einen Ort verbannt hatte, von dem es kein Entkommen für ihn gab. Von da an vernachlässigte er seine Aufgabe sträflich, und für Mahaut schien ihre dritte Tochter nicht länger zu existieren.

Der vertauschte Sohn war schon Monate nach seiner Geburt gestorben. Mahaut hatte Jahre später Robert geboren, der heute ihr ganzer Stolz war. Nach dem Tod des Pfalzgrafen, der in einer der zahllosen flandrischen Schlachten gefallen war, blieb sie Witwe. Inzwischen setzte sie ihren ganzen Ehrgeiz darein, Robert einmal zum mächtigsten Manne des Königreiches zu machen. Über ihre Nichte und ihre beiden Töchter besaß sie großen Einfluss. Mit einer perfiden Intrige hatte sie zudem ihren Neffen Artois, der ebenfalls Robert hieß, um seine Grafschaft betrogen, so dass sie nun den Namen Mahaut von Artois trug. Inmitten dieses raffiniert geknüpften Netzes von Einfluss und Macht fühlte sie sich sicher und unangreifbar.

»Den Versager Loup soll Gott strafen, doch der Teufel soll dieses Weib Mahaut holen«, grollte Adrien erbittert und schlug im Vorbeigehen mit der Faust gegen die Wand. »Sie kann sie doch nicht vergessen haben. Sie hat sie geboren. Ich muss diesem Unrecht ein Ende setzen.«

»Wem zürnst du so sehr, dass du gegen die Mauern schlägst und Flüche murmelst?«

Séverine trat aus dem Durchgang zum Hauptturm und sah ihn strahlend an.

Adrien fuhr zusammen. Hatte sie ihn verstanden? Nein. Sie sah völlig unbeschwert aus. Frische Grasflecken auf ihrem Rock deuteten darauf hin, dass sie eben erst von draußen kam.

»Wo bist du gewesen, Naseweis?«

»Im Wald«, entgegnete sie fröhlich. »Ich habe die ersten reifen Erdbeeren gefunden. Elvire wird sie dir mit frischer Sahne übergießen. Sie sind köstlich. Freu dich darauf.«

»Du warst allein unterwegs?«

Séverine nickte. »Wer sollte mich schon begleiten?«

»Manon zum Beispiel.«

»Manon?« Séverine lachte herzlich. »Da geht eher die Sonne im Westen auf. So etwas käme ihr nie in den Sinn. Sie hält sich für eine feine Dame und rümpft die spitze Nase, wenn sie mich sieht. Aber das macht nichts. Ich mag sie auch nicht. Sie ist albern und dumm.«

Sevérines Lachen und ihre Fröhlichkeit entwaffneten Adrien. Wie konnte er sie tadeln?

»Komm mit auf die Mauern«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Wir haben einiges miteinander zu bereden.«

Glücklich darüber, dass er seine Zeit mit ihr verbringen wollte, änderte Séverine unverzüglich ihre Pläne. Sie stellte keine Fragen, sondern lief neben ihm her. Die Plattform des Torturmes erreichte sie jedoch vor ihm, denn sie hatte wie gewohnt immer zwei Stufen auf einmal genommen. Sie barst förmlich vor Unternehmungslust.

Sie ist wie eine Quelle, die sich zwischen Felsen und Moos gegen alle Hindernisse ihren Weg bahnt, ging es Adrien durch den Kopf. Was ist sie doch für ein lebendiges Wesen.

Unter freiem Himmel, in dem ein Schwarm von Schwalben seine Kreise zog, breitete sie die Arme aus und deutete über die Felder zum Waldrand hinüber. »Pierrot, der Jäger, hat mir gesagt, dass er auf der Lichtung beim Römerhügel junge Füchse gesehen hat. Willst du mit mir kommen, sie beobachten?«

»Bist du eigentlich je im Haus?«, antwortete er mit einer Gegenfrage, die Séverine kurz verwirrte.

»Natürlich bin ich das. Wenn Elvire meine Hilfe braucht, gehe ich ihr in der Küche zur Hand.«

»Und in der großen Halle?«

»Was sollte ich da tun?«

»Was Frauen eben machen. Sticken, spinnen, weben, nähen, miteinander plaudern und die Mägde beaufsichtigen. Was ein Hausstand so erfordert.«

Séverine gluckste vor Vergnügen. »Damit hab’ ich nichts zu schaffen. Zum Glück. Ich habe wenig Geschick für Nadelarbeiten, und beim Spinnen reißt immer wieder mein Faden. Ich bin lieber im Stall oder im Küchengarten. Oder beim Beerensuchen. Warte nur, bis du siehst, wie viele Erdbeeren ich gefunden habe.«

Er dachte nach, während er ihrem Geplauder lauschte. Mit sechzehn war sie im besten Heiratsalter. Aber wer sollte sie heiraten? Ein Bauer, ein Handwerker, ein Kriegsknecht? Undenkbar, bei ihrer Herkunft. Aber auch ein Ritter, ein Hofbeamter oder ein ländlicher Würdenträger würde sie als Braut nicht heimführen und sie zur Mutter seiner Kinder machen wollen. Sie erwarteten eine wohlerzogene, gehorsame und fromme Jungfer, die ihrem Hauswesen vorstand und ihnen ein Zuhause bereitete, in dem sich alle wohl fühlten. Séverine besaß augenscheinlich nicht eine einzige der Eigenschaften, die dafür erforderlich waren.

»Hast du je über deine Zukunft nachgedacht?«, rutschte es ihm heraus. »Wie stellst du dir dein Leben vor?«

Séverine unterbrach ihren munteren Redeschwall, der sie über die Erdbeeren zur bevorstehenden Kirschenernte und zum Pferdemarkt in Étampes gebracht hatte. Verblüfft drehte sie das lockige Ende ihres Zopfes um den Zeigefinger, um Zeit zu gewinnen.

»Mein Leben?« wiederholte sie. »Mein Leben ist Faucheville. Elvire meint, ich soll irgendwann ihre Nachfolgerin werden, aber das gefällt mir nicht so. Lieber würd ich dem Stallmeister zur Hand gehen und mich um die Pferde kümmern. Er sagt, ich habe eine gute Hand mit den Tieren. Auch weiß ich viel besser als er, was ihnen fehlt, wenn sie nicht fressen wollen oder Koliken bekommen.«

»Du bist kein Stallknecht«, widersprach Adrien. »Und die Arbeit einer Köchin ist viel zu schwer für eine halbe Portion wie dich.«

Séverine schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Zopf wieder nach hinten flog. »Ich habe sehr wohl Kraft. Ich kann deinen Sattel so gut heben wie jeder Stallknecht. Außerdem weiß ich so gut wie Elvire, welche Menge Getreideschrot in eine vernünftige Grütze gehört, und kann mit schweren Töpfen und Kesseln bestens hantieren.«

»Es kann nicht immer nach deinem Kopf gehen«, wandte Adrien ein. Die unbeschwerte Selbstsicherheit, mit der sie die eigenen Fähigkeiten anpries, zeigte ihm, dass sich niemand nach dem Tod seiner Mutter die Mühe gemacht hatte, Einfluss auf sie zu nehmen.

»Denkst du noch an meine Mutter?«, fragte er schließlich.

»An die Baronin Amicia? Aber sicher. Zu jedem Feiertag lege ich einen Wiesenstrauß auf ihr Grab. Ich schließe sie täglich in meine Gebete ein.«

Adrien gratulierte sich zu seinem Einfall. Im Gedenken an seine Mutter würde sie seine Einwände ernster nehmen.

»Sie hätte nicht gewünscht, dass du ein Pferdeknecht wirst oder deine Tage in der Küche zubringst. Sie liebte dich wie eine Tochter.«

»Aber ich bin nicht ihre Tochter«, antwortete Séverine nüchtern. »Ich ehre ihr Andenken, und auch ich liebte sie sehr, wie du weißt. Ihre Kleider fühlten sich stets weich und wundervoll an und dufteten nach Blüten, wenn sie mich in den Arm nahm. Ich war noch sehr jung, als sie starb, aber ich erinnere mich an alles.«

»Wenig über neun Jahre«, nickte Adrien.

»Du hast mich getröstet.« Dankbarkeit schimmerte in Séverines Augen. »Du warst immer für mich da, bis heute. Ich bin glücklich darüber.«

In grenzenlosem Vertrauen hob sie den Blick zu ihm. Sie schien zu spüren, dass er etwas auf dem Herzen hatte und nicht die richtigen Worte fand.

»Wolltest du wirklich nur über deine Mutter sprechen?«, fragte sie sanft.

»Würdest du nicht gerne leben wie sie? Die Herrin eines eigenen Hausstandes sein? Einen Mann und Kinder haben? Loup verlassen und nie wieder sein betrunkenes Gebrabbel hören müssen?«

»Loup verlassen hieße Faucheville verlassen. Nie will ich das.« Vehemente Ablehnung färbte ihre Worte. »Außerdem brauche ich keinen Mann. Ich habe doch dich.«

Die Unschuld dieser Antwort wurde lediglich von der Naivität ihrer Weltsicht übertroffen. Beides zwang ihm einen Entschluss auf. Er würde ihr Vertrauen einer Zerreißprobe unterziehen und dafür sorgen, dass ihr Gerechtigkeit widerfuhr. Sie würde ihre gewohnte Umgebung verlassen und ein völlig neues Leben beginnen müssen.

Ein Plan, der auf Widerstand stoßen würde. Vonseiten Séverines ebenso wie vonseiten seines Vaters. Wie gut, dass der Faucheville noch seltener besuchte. Ob er den Anblick des Mädchens scheute, das er hier um sein Leben betrog, weil Mahaut es so beschlossen hatte?

Die Versäumnisse, die bei Séverines Erziehung gemacht worden waren, zu korrigieren, stellte allerdings ein schweres Stück Arbeit dar. Allein, wer sollte diese Aufgabe übernehmen? Wer besaß sowohl die Geduld wie die Fähigkeit dazu?

»Mir gefällt nicht, was du denkst«, sagte Séverine mit ihrem unfehlbaren Gespür für das, was in ihm vorging. Den Kopf eine Spur zur Seite geneigt, die goldbraunen Augen halb von den Lidern bedeckt, glich sie so sehr ihrer ältesten Schwester, dass sich Adrien die Lösung des Problems mit einem Schlag aufdrängte.

Jeanne. Jeanne von Burgund. Wenn es einen Menschen in diesem Königreich gab, der es wagte, der eigenen Mutter die Stirn zu bieten, dann war sie es. Bestärkt von Philippe an ihrer Seite, ihrem Mann, dem Königssohn, war sie die Einzige, die Mahaut von Artois in ihre Schranken weisen konnte. Ihre Güte, ihre Mildtätigkeit und ihr angenehmes Wesen trugen ihr allgemeine Sympathie ein. Wieso war ihm die bestechende Ähnlichkeit zwischen Jeanne und Séverine nie zuvor aufgefallen?

»Was hast du vor?«, hörte er Séverine eine Spur drängender fragen. Sie spürte, dass er schwieg, weil ihr seine Antwort nicht gefallen würde.

»Gemeinsam mit dir zu Antares zu gehen«, lenkte er sie ab.

Sie akzeptierte die Ausrede mit der Ergebenheit, die sie ihm stets entgegengebracht hatte. Wenn er seine Gedanken für sich behalten wollte, dann respektierte sie das, auch wenn sie sie noch so gerne gekannt hätte.

Obwohl er sich darüber im Klaren war, dass er mit der Geduld eines Jägers auf der Pirsch vorgehen musste, gefiel ihm sein Vorsatz auf Anhieb. Was konnte befriedigender sein, als Séverine zu ihrem Recht zu verhelfen? Gleichzeitig würde es das nagende Schuldgefühl lindern, das ihn immer stärker quälte. Was hatte ihn so lange davon abgehalten, Séverines Partei zu ergreifen? Ichsucht? Respekt vor dem Vater? Gedankenlosigkeit? Wie hatte er dieses Unrecht über Jahre hinweg dulden können?

Gleichzeitig bot er Jeanne eine Aufgabe, die ihr gefallen würde, und zwang Mahaut von Artois, für eine Schurkerei geradezustehen, die sie längst vergessen glaubte. Zuvor musste er jedoch genauer darüber nachdenken, wie sein Plan in die Tat umzusetzen war.

* * *

Die Reiter preschten am Obstgarten vorbei. Unter den Hufen der Pferde spritzte der Schlamm, die Hunde hechelten kläffend hinterher.

Niemand warf einen einzigen Blick auf die Apfelbäume, wo Séverine, im frischen Laub verborgen, auf einem Ast kauerte. Mit ungewohnt ernster Miene blickte sie den Jägern nach.

Adrien hatte strikt untersagt, dass sie ihn auf dieser Jagd begleitete. Dass sie in den vergangenen Jahren in diesem Wald mehr Hasen und Fasane erlegt hatte als er … hatte ihn nur in seiner Haltung bestärkt.

»Wenn du einmal jagst, dann wirst du es mit dem Falken tun, wie es sich für eine Dame gehört. Pfeil und Bogen gehören der Vergangenheit an«, hatte er gesagt.

Sie wiederholte im Stillen Adriens Aussage, ohne sie enträtseln zu können. Sie war keine Dame. Sie war die Tochter eines Waffenknechtes und einer Kammerfrau. So sehr sie Adrien von Flavy bewunderte, schätzte und liebte, sie wusste, dass nur der Umstand, dass sie in Faucheville lebte und zu seinen Leuten zählte, ihr einen Platz in seinem Leben sicherte. Weil das ritterliche Ideal vom Herrn, der die ihm anvertrauten Menschen schützte und versorgte, ihm in Fleisch und Blut übergegangen war.

Séverine zählte nicht zu den Leibeigenen, die es auch auf Faucheville gab, aber sie fühlte sich als Adriens Besitz. Sie gehörte ihm, sie diente ihm.

Nie hatte sie über ihre Gefühle nachgedacht. Sie war sich ihrer sicher. An diesem Morgen jedoch geriet sie ins Grübeln. Adrien hatte etwas mit ihr vor. Er dachte über ihre Zukunft nach. Nur, in welche Richtung gingen seine Gedanken? Zum ersten Mal verspürte sie eine tiefe Unruhe.

Das Jubeln einer Lerche, die auf der anderen Seite des Weges senkrecht aus dem hohen Gras stieg, riss sie aus ihren Betrachtungen. Sie sah dem Vogel nach, bewunderte sein Geschick und ließ sich nur zu gerne ablenken. Warum sich den Kopf über Dinge zerbrechen, die sie ohnehin nicht beeinflussen konnte?

Dennoch musste sie auch an ihr Gespräch mit Elvire denken, das sie heute schon gehabt hatte.

»Nimm dich in Acht, Séverine«, hatte sie gewarnt. »Der Seigneur scheint gewillt, das ganze Lehen auf den Kopf zu stellen. Er prüft die Bücher, gibt dem Vogt neue Anweisungen und kontrolliert vom Weinkeller bis hin zum Saatgut alle Vorräte. Vielleicht steht uns eine Hochzeit ins Haus, weil ihm gar so viel daran liegt, dass alles auf das Beste gerichtet ist.«

»Eine Hochzeit?«, hatte sie gefragt.

»Denk nach. Der Seigneur hat das dreißigste Lebensjahr überschritten. Es ist höchste Zeit, dass er sich eine Frau sucht, die ihm Söhne schenkt. Wenn das Lehen ohne Erben bleibt, fällt es nach seinem Tod in den Besitz des Königs zurück. Seit vor sieben Jahren seine Verlobte so unglücklich gestorben ist, war nie wieder von einer Hochzeit die Rede.«

Adriens Braut war demselben Fieber zum Opfer gefallen, das auch das Leben seiner Mutter beendet hatte.

»Er hat nichts davon gesagt, dass er eine Frau nehmen will.«

»Das wird er dir nicht auf die Nase binden, Séverine. Solche Dinge werden bei Hofe entschieden. Da hat der König ein Wörtchen mitzureden und der Baron natürlich auch. Wirst schon sehen, dass ich recht habe.«

Plötzliche Unruhe trieb Séverine vom Baum. Sie ging an den Karpfenteich, wo eine Entenmutter mit ihren Küken ihre Aufmerksamkeit fesselte. Als Adrien von der Jagd zurück an den Teich kam, hatte sie ihr seelisches Gleichgewicht wiedergefunden.

Sie strahlte ihn an, als habe es die morgendliche Absage nie gegeben. Das Haar zerzaust, den Kittel an den Ärmeln nass und schmutzig, glich sie einem heiteren Waldgeist. In der gefältelten Schürze trug sie eine Kräutersammlung aus frischen Minzeblättern, Angelikawurzeln und Fenchelstengeln. Der würzige Duft umfing Adrien und verstärkte das gute Gefühl, das er bei ihrem Anblick empfand.

»Was tust du hier so allein? Du solltest die Burg nicht ohne Begleitung verlassen«, rief er sie aus Pflichtbewusstsein dennoch zur Ordnung.

»Weshalb nicht?« Mit einer höchst anmutigen Bewegung neigte sie den Kopf zur Seite und bedachte ihn mit einem selbstbewussten Blick. »Ich kenne die Wege und Wälder besser als deine Jäger.«

»Aber es gehört sich nicht.« Da er selbst hörte, wie engstirnig und herrschsüchtig das klang, fügte er sanfter hinzu: »Du setzt deine Sicherheit aufs Spiel. Das Pfingstfest in Paris hat nicht nur den Adel des ganzen Landes, sondern auch Landstreicher und Galgenvögel angezogen. Nach dem Ende der Feiertage sind sie überall unterwegs.«

»Ich könnte mich mit meinen Kräutern freikaufen.«

»Du nimmst mich nicht ernst.«

Ihr Lächeln sagte mehr als jeder Widerspruch, und Adrien fühlte sich wieder einmal geschlagen. Eine lange Zeitspanne herrschte Schweigen zwischen ihnen, dann schaute sie ihn erwartungsvoll an. Er entdeckte nichts als Zuneigung in ihrem Blick. Grenzenloses Vertrauen. Durfte er sie wirklich aus dieser Welt herausreißen?

Aber es geht doch um ihre Zukunft, besänftigte er das eigene Gewissen. Viel zu lange schon hatte er sich darauf verlassen, dass sein Vater oder Loup sich um ihr Schicksal kümmerte. Séverine verdient einen Fürsprecher.

»Die Feierlichkeiten in Paris hätten dir gefallen«, setzte er die Unterhaltung fort. »Die Damen des Hofes gleichen in ihren bunten Kleidern den Frühlingsblumen. Sicher hast du dir schon einmal heimlich gewünscht, auch so schöne Kleider wie meine Mutter zu tragen.«

»Nein. Warum?«

Die Kürze ihrer Antwort entwaffnete ihn.

»Frauen lieben schöne Kleider, Juwelen und prächtige Stoffe«, erwiderte er. Aber noch während er sprach, sah er, dass sie nicht begriff, was er sagen wollte. »Stört es dich nicht, dass du die Kleider einer Magd trägst?«

»Ich bin eine Magd.«

»Das bist du nicht!«

Séverine stieß einen überraschten Laut aus, als Adrien ihre Oberarme mit festem Griff umspannte und sie schüttelte. »Mein Vater, Loup und die Umstände haben dich in dieses Leben versetzt, aber es ist nicht das deine. Du verdienst Besseres. Eine Zukunft, einen Mann, ein Leben, das deinem Rang entspricht.«

»Meinem Rang? Was redest du?«

Gebannt vom Zorn, der aus seinen Worten sprach, starrte Séverine ihn an. Das Bild von Adrien, das sie über all die Jahre hinweg in ihrem Herzen getragen hatte, entsprach nicht mehr der Wirklichkeit. Der Freund ihrer Kindertage war ein Mann geworden. Beeindruckend, aber auch einschüchternd, gebieterisch und dem Widerspruch entgegentretend. Das blonde Haar war nicht mehr so hell wie noch vor Jahren, um die tiefblauen Augen und von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln zogen sich Spuren strenger Falten. Zum ersten Male wich sie eingeschüchtert vor ihm zurück.

»Du kannst nicht in Faucheville bleiben«, kam er auf direktem Wege zur Sache.

»Ich soll fort?« Sie riss sich vollends aus seinem Griff. »Faucheville ist mein Zuhause. Ich kenne kein anderes und ich will auch kein anderes. Warum tust du mir das an? Was habe ich getan?«

»Du musst die Regeln eines richtigen Frauenlebens lernen. Du hast aufgrund deiner Herkunft ein angeborenes Recht auf ein Dasein, das deiner Geburt entspricht. Beruhige dich, Séverine, und vertraue mir. Was geschieht, ist zu deinem Besten. Ich gebe dir mein Wort: Es geht um deine Zukunft.«

Sie zwang sich dazu, seine Worte genau zu überdenken, ehe sie antwortete. Nie hatte er ihr Grund gegeben, ihm zu misstrauen.

An der Haltung ihrer Schultern konnte er bereits erkennen, dass sie nachgab, noch ehe sie nickte. »Ich weiß, dass du es gut mit mir meinst, auch wenn ich nicht verstehe, warum ich nicht in Faucheville bleiben darf. Wird mein Vater mich denn überhaupt gehen lassen?«

»Mach dir da keine Sorgen.« Adrien entschied sich, nicht mit Lügen auszuweichen. »Er hat kein Recht, über dein Leben zu bestimmen. Er hat seine Pflicht getan, und er hat sie nicht einmal gut getan.«

»Was willst du damit sagen?« Argwohn schimmerte in ihren Augen.

»Loup ist nicht dein leiblicher Vater. Lediglich um neugierige Fragen zu vermeiden, wurde er dazu bestimmt.«

»Dann ist er also im Recht, wenn er mich Kuckucksei nennt?«

Der bedrückte Unterton reizte Adrien und schärfte seinen Ton.

»Vergiss Loup Gasnay. Er hat das Vertrauen enttäuscht, das mein Vater in ihn gesetzt hat.«

»Und meine Mutter? War Loups Frau überhaupt meine Mutter, wenn er nicht mein Vater ist?«

Was konnte er antworten, ohne den Schwur zu verraten, den er vor sechzehn Jahren geleistet hatte? Keine Lüge. Die Zeit der Lügen war zu Ende.

»Nein.« Adrien griff nach ihren Händen und drückte sie sanft. »Bitte stell mir keine weiteren Fragen, ich müsste dich nur enttäuschen. Ich kann sie nicht beantworten, denn ein Eid bindet mich. Ich muss dich um dein Vertrauen und deinen Gehorsam bitten. Doch ich schwöre dir, du sollst es nicht bereuen.«

Séverine war zu verwirrt, um weiter zu insistieren. Ihr ganzes Dasein wurde mit einem Schlag auf den Kopf gestellt. »Ich will dir vertrauen, Adrien. Aber ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll. Du versprichst mir eine Zukunft und nimmst mir gleichzeitig den Vater, die Mutter und den Namen. Wer bin ich?«

»Séverine. Meine Séverine.«

Es klang traurig und beruhigend zugleich. Er nahm sie in den Arm. Augenblicklich fühlte sie sich getröstet. Neuer Mut erfüllte sie. Vielleicht war gar nicht Faucheville ihre Kraftquelle, sondern Adrien. Wenn sie bei ihm bleiben konnte, würde alles gut sein.

»Wirst du mir helfen, all das Neue zu ertragen? Wirst du bei mir sein und meine Schritte begleiten?«

»Du hast mein Wort.«

* * *

Das Holzgestell am Sattel war mit Leder verkleidet, die Decke trug das Wappen der Seigneurs von Flavy. Séverine rutschte unruhig auf der gepolsterten Fläche hin und her, während sie mit der Fußspitze nach dem Steigbügel suchte. Es war ihr ein Rätsel, warum sie auf diese unbequeme Weise reiten sollte, wenn es doch viel leichter war, aufzusitzen wie es auch die Männer taten. Aber Adrien hatte nicht mit sich reden lassen. Er wollte weder etwas davon hören, dass sie wie ein Junge ritt, noch dass sie sich jemals wieder wie einer kleidete. Das Wort Gehorsam kam ihm neuerdings etwas zu oft über die Lippen, fand Séverine. Dennoch protestierte sie nicht. Sie hatte Gehorsam versprochen.

Sie reckte die Schultern gerade und drückte den Rücken durch. Aus den Augenwinkeln sah sie Elvire, die sich mit der Schürze die Tränen wischte. Manon stand mit einer Miene neben ihrer Mutter, als habe sie zum Frühstück Senfkörner in der Mandelmilch gefunden. Beide verstanden nicht, warum Adrien Séverine mit sich nahm. Manon stand der Neid ins Gesicht geschrieben, Elvire der Trennungsschmerz.

Auch Séverine war den Tränen nahe. Angst saß ihr im Nacken. Die Umrisse der Menschen von Faucheville, die ihrem Herrn und seiner Begleiterin gute Reise wünschten, verschwammen ihr vor den Augen. Sie wagte nicht, sich umzusehen, während die Hufe der Pferde über die Zugbrücke polterten. Den Blick starr auf die beiden Ohren ihres Pferdes gerichtet, folgte sie Adrien, der in mäßigem Tempo vorausritt.

Er spürte, welchen Kampf sie mit sich austrug. Seit zwei Tagen hatte sie nicht mehr gelacht. Wie ein Häufchen Elend mutete sie ihn an. Wenn er sie mit seiner Entscheidung brechen würde, könnte er es sich nicht verzeihen.

In seine Gedanken versunken, entging ihm, dass sie zusehends aus ihrer Erstarrung erwachte. Der morgendliche Regenguss, der ihren Aufbruch verzögert hatte, war drückender Schwüle gewichen. Der Horizont verschwamm, und das frische Grün wurde von Dunstschleiern gedämpft. Jeder Atemzug beschwerte die Lungen. Dennoch, gefesselt von den neuen Eindrücken, verdrängte Séverine den Abschiedsschmerz und die Unbequemlichkeit des Damensattels. Sie hatte nicht geahnt, dass die Wälder des Königs so endlos waren, die Bäche und Flüsse so zahlreich, die Dörfer so abwechslungsreich.

Bis zur Mittagsrast hatte Séverine ihr fröhliches Gleichgewicht wiedergefunden. Voller Appetit grub sie die Zähne in Elvires Brot und warf dem kleinen Zaunkönig, der sie vom untersten Ast einer Buche beäugte, ein paar Krumen hin. »Iss, mein Freund. Du siehst so verhungert aus wie die Bewohner des Dorfes, das wir am Fluss hinter uns gelassen haben.«

»Die Ernte des vergangenen Jahres war in der ganzen Provinz schlecht«, bemerkte Adrien. »Wer keine Vorsorge getroffen hat, büßt jetzt dafür.«

»Was ist mit ihrem Lehnsherrn? Wenn es in Faucheville knapp zugeht, gibt der Vogt Getreide aus.«

»Auch Faucheville leidet unter den Missernten, und nicht nur darunter«, entgegnete Adrien. »Die Schatztruhen des Königs sind leer, und die Krone hält sich schadlos an den Rittern. Steuern und Sonderabgaben häufen sich. Jeder Ritter, der nicht eine bestimmte Anzahl Bewaffneter für den König stellen kann, muss stattdessen eine Ablöse zahlen. Auch mein Vater war dazu gezwungen. Das Gold wird uns fehlen, zumal bereits abzusehen ist, dass auch die Ernte dieses Jahres aufgrund des Regens geringer ausfallen wird.«

»Aber warum müssen Bewaffnete gestellt werden, wir führen doch keinen Krieg.«

»Wenn es nach dem Thronfolger geht, wird sich das bald ändern. Er versucht, seinen Vater mit allen Mitteln davon zu überzeugen, dass Flandern endgültig unterworfen werden muss. Sollte er sich bei ihm durchsetzen …«

»Müsstest auch du in die Schlacht ziehen und kämpfen, Adrien?«

»Noch ist es nicht so weit, Séverine. Vergiss, was ich gesagt habe. Iss auf, ich möchte die Stadt vor Sonnenuntergang erreichen, damit du sie gleich in ihrer ganzen Pracht erblickst. Paris ist überwältigend, du wirst sehen, dass ich dir nicht zu viel verspreche.«

Schon bald veränderte sich die Landschaft. Die Wälder wichen zugunsten bebauter Felder zurück, die Pfade wurden zu Wegen und schließlich zu einer richtigen Landstraße. Reiter, Karren, Lastenträger, Bewaffnete, Handwerker und Bauern machten sich gegenseitig den Platz streitig. Geschrei, Räderknarren und Pferdegetrappel vereinten sich zu einem Lärm, wie Séverine ihn nicht kannte. Glücklicherweise verhinderte die hohe Luftfeuchtigkeit, dass der Staub über Pferdehöhe stieg.

Wo zunächst Adriens mächtiger Destrier noch dafür sorgte, dass man ihnen respektvoll auswich, wurden Ross und Reiter im Gedränge vor dem Stadttor des heiligen Honoré doch gezwungen, sich einzuordnen. Adrien griff Séverine in die Zügel. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie abgedrängt wurde. Seit der gezackte Saum der Türme und Dächer von Paris, von einem Ende des Horizonts zum anderen sich erstreckend, vor ihrem Auge erschienen war, war sie vom Sehen und Wundern völlig vereinnahmt.

Adrien musste sie bis in die Stadt am Zügel geleiten. Überfordert von den vielfältigen Eindrücken, konnte sie nur noch staunen.

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Zweites Kapitel

Ihr seid zurück, Seigneur! Der Himmel muss Euch geschickt haben.«

Ein Junge, schmutzig, frech und unbekümmert, grinste Adrien an, der Séverines Pferd noch am Zügel hielt. Sein schmales, langes Gesicht erinnerte Séverine an die Windhunde des Barons.

»Der Teufel soll dich holen, Julien. Wie siehst du aus, und was hast du hier zu suchen? Wolltest du nicht deine Familie besuchen?«

»Ich brauche Eure Hilfe, Seigneur. Wir brauchen Eure Hilfe.«

Nach einem kurzen prüfenden Blickwechsel befahl Adrien Julien, vorauszugehen. Er nahm Séverines Pferd noch enger, während der Junge blitzartig um eine Ecke und in einem Toreingang verschwand.