Das flandrische Siegel - Marie Cristen - E-Book

Das flandrische Siegel E-Book

Marie Cristen

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Beschreibung

Brügge im 15. Jahrhundert. Christina, einzige Tochter im Handelshaus Contarini, weigert sich standhaft, eine Vernunftehe einzugehen. Hals über Kopf flieht sie mit ihrem jüdischen Geliebten und gerät auf ein Schiff, dessen Mannschaft durch eine rätselhafte Seuche dahingerafft wird. Vierzig Tage lang ist sie an Bord gefangen – ein Alptraum, der aus dem ungestümen Mädchen eine klarsichtige junge Frau macht, gerüstet für ein Schicksal voller Überraschungen ... Das flandrische Siegel von Marie Cristen: historische Romane im eBook!

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Marie Cristen

Das flandrische Siegel

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Für Christoph, weil sein [...]PrologBrügge, am letzten Tag des Jahres 1411Erster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. KapitelZweiter Teil10. KapitelDritter Teil11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. KapitalVierter Teil17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. KapitelFünfter Teil23. KapitelSechster Teil24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. KapitelSiebter Teil37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. KapitelAchter Teil41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. KapitelAnhangDank

Für Christoph, weil sein Start ins Leben auch mein Aufbruch zu neuen Zielen war.

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Prolog

Freiheit ist der Schlüssel zum Glück

und Mut der Schlüssel zur Freiheit.

Perikles

Brügge, am letzten Tag des Jahres 1411

Christina konnte es nicht begreifen. Wie sollte ihr Leben weitergehen?

Großvater lag stumm in dem großen Alkoven. Die Familie hatte sich um sein Bett versammelt. Niemand achtete auf sie. Langsam zog sie sich aus dem Raum zurück, um der bedrückenden Stille zu entgehen. Sie verließ das Haus und ging ziellos durch das Portal auf den Hof.

Kein Sonnenstrahl erreichte sie mehr. Alles um sie herum war in einen grauen Nebel getaucht. Warum musste Großvater sterben? Er war der Einzige, der immer ein offenes Ohr für sie gehabt hatte. Geschichten und Träume, große und kleine Nöte, alles vertraute sie nur ihm an. Wenn sie aufgeregt in sein Kontor stürzte, nahm er sie zu jeder Zeit liebevoll in die Arme, um sie zu beruhigen. »Mein lieber kleiner Feuerkopf, in der Ruhe liegt die Kraft. Und nun erzähle mir schön eins nach dem anderen. Wo drückt dich der Schuh? Ich glaube, wir werden eine Lösung finden.«

Er fand sie immer.

»Großvater, wie kannst du mich alleinlassen!«, schrie es in ihr. »Du weißt, wie sehr ich dich brauche.«

Christina war völlig in Gedanken versunken. Sie verließ den Hof so blind, wie sie ihn betreten hatte. Erst im Kontor ihres Großvaters nahm sie ihre Umwelt wieder wahr. Sie sah ihn im Geiste in seinem Armstuhl sitzen; lebendig, spöttisch, streng und nachgiebig zugleich.

In dem vertrauten Raum verlor das Bild des Fiebernden, der um jeden Atemzug kämpfte, ein wenig von seinem Schrecken. Sie umklammerte die Lehne des hohen Stuhls. SEINES Stuhles. Ihre Augen flogen über den Tisch. Alles stand bereit, wie er es wünschte. Das Tintengefäß und die Federn neben der Münzwaage, Siegelwachs und Kerze, die Schreibtäfelchen für schnelle Notizen, ein rechteckiger Kasten mit kostbaren Papierbögen. Das gewohnte Bild, aber das Wichtigste fehlte. ER.

»Christina! Da bist du ja. Endlich habe ich dich gefunden.«

Keine Regung verriet der Mutter, ob sie gehört worden war.

»Warum hast du dich entfernt? Dein geliebter Großvater ist gestorben. Ich weiß, wie sehr du leidest, aber du musst der Wahrheit ins Auge sehen.«

Sie löste die Hände des Kindes gewaltsam vom Schnitzwerk des Stuhls. Christina in Bewegung zu bringen brachte sie außer Atem. Es wurde ihr warm dabei, denn das Mädchen war mit elf Jahren schon fast so groß wie ihre Brüder. Mit hölzernen Schritten stolperte Christina neben der Mutter zur Todeskammer zurück. Sie hörte nicht ihre Stimme, sie vernahm nur die ihres Großvaters.

»Beherrsche deine Gefühle, Feuerkopf. Folge der Stimme deines Herzens, aber gebrauche auch deinen Verstand. Nur so kannst du deine Ziele im Leben erreichen.«

Wozu, Großvater? Wozu brauche ich Erfolg, wenn du nicht länger da bist, um stolz auf mich zu sein.

»Bete für deinen Großvater«, forderte ihre Mutter sie auf. »Der Herr hat ihn von seinen Leiden erlöst. Er ist in Frieden gegangen.«

Gebete. Als ob sie etwas bewirken konnten. Nie zuvor hatte sie so viel gebetet wie in den vergangenen Tagen. Christina schluckte hart.

Die gesenkten Köpfe ihrer Brüder und die Miene ihres Vaters sprachen für sich. Jeder von ihnen bekämpfte Trauer und Schmerz auf seine Weise. Simon Contarini stand wie versteinert. Matthis, sein Ältester, ahmte ihn nach. Lucas trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Von ihnen konnte sie keinen Trost erwarten. In diesem Augenblick nicht einmal von Großmutter, die sie, wie ihren Großvater, über alles verehrte und liebte.

Christina wandte sich verzweifelt an den Menschen, der für immer schweigend vor ihr lag. Seine Hände ruhten still über dem Herzen gefaltet.

Sie kannte sie nur in ständiger Bewegung, die Worte beim Reden unterstreichend, an ihren roten Zöpfen ziehend oder auf ihrer Schulter liegend. Seine Ratschläge, so zahllos wie die Glocken von Brügge, wirbelten durch ihre Gedanken. Ihre Augen brannten. Sie machte einen Schritt auf den Alkoven zu und küsste seine Hände.

»Großvater, ich verspreche dir, deine Ratschläge nie zu vergessen.«

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Erster Teil

Die Flucht

1. Kapitel

Brügge, 30. August 1419

Die Liebenden fuhren erschrocken auseinander.

Das Bild brannte sich in Christinas Augen. Lucas und seine Mädchen. Sie machten es ihm stets leicht. Ein Lächeln, ein Scherz und sie waren sein. Hier also fanden seine Eroberungen statt.

Die Decke auf dem Diwan funkelte in allen Farben des Orients. Ihre Seidenfransen fielen bis auf den gefliesten Boden. Obwohl das große Gartenfenster die Sonne hereinließ, brannten überall Kerzen und Öllampen. In ihrem Schein wirkten die Brüste, die Schultern und das Gesicht des Mädchens wie aus Elfenbein geschnitzt. Sie war nackt. Nackt wie Eva im Paradies, und Lucas war ihr Adam.

Christina schwankte zwischen Entrüstung und Faszination. Sie waren schön in ihrer Nacktheit. Leidenschaftlich. Unerhört. Verführerisch.

»Bist du von Sinnen? Was tust du hier?«

Ihr Bruder fasste sich als Erster und zog die Decke über seine Männlichkeit. Nicht schnell genug, denn Christinas Pupillen weiteten sich in unverhohlenem Erstaunen. Lucas fluchte unterdrückt. »Deine Neugier wird dich eines Tages umbringen, Schwester. Woher weißt du von diesem Haus?«

»Großmutter schickt mich zu dir.«

Lucas hatte sich fern vom Hause Contarini eine Zuflucht geschaffen, die nicht nur ein Liebesnest, sondern auch eine Bilderwerkstatt war. Sein Vater hatte ihm das Hantieren mit Farben und Kreiden zu Hause, nach dem letzten Streit, strikt untersagt. Hier fand Christina die Schweinsblasen voller Farben, die Töpfchen mit Pigmentstaub, die bauchigen Ölflaschen, Pinsel, Holzleisten und Leinwandballen wieder, die er auf Befehl des Vaters fortgebracht hatte. Simon Contarini erwartete, dass sein Sohn die Familientradition fortsetzte und Kaufmann wurde. Dass Lucas hinter seinem Rücken sein Ziel weiterverfolgte, Bildermacher zu werden, überraschte Christina keineswegs.

In diesem Moment entdeckte sie auch das angefangene Porträt auf der Staffelei. Bekleidet erkannte sie die Frau auf Anhieb. Sie hatte sie oft genug gesehen. Auf Festen, Turnieren, Empfängen, Banketten …

»Madame«, hauchte sie verlegen und versank in einen verspäteten Hofknicks. So nahe hatte sie der künftigen Herzogin von Flandern nie kommen wollen.

Michelle von Frankreich, die Schwiegertochter des Herzogs Johann von Burgund, dem die Kaltblütigkeit im Umgang mit seinen Feinden den Beinamen Ohnefurcht eingetragen hatte, schlüpfte mit Lucas’ Hilfe hastig in ihre Kleider. Sie stieß einen Seufzer aus.

»Keine Angst, sie wird schweigen«, hörte Christina Lucas beschwörend raunen. »Wenn es einen Menschen gibt, auf dessen Verschwiegenheit man sich verlassen kann, dann ist es meine Schwester.«

Was die junge Prinzessin flüsternd antwortete, konnte sie zwar nicht verstehen, aber dass sie sich sorgte, lag auf der Hand. Ihr Gemahl, Philipp von Burgund, Graf von Charolais, war der Statthalter seines Vaters Johann Ohnefurcht in Flandern. Obwohl Philipp seine Frau laufend betrog, erwartete er von ihr bedingungslose Treue. Umso mehr, als ihre Ehe bislang kinderlos geblieben war. Sollte ruchbar werden, dass sie ihn mit einem Patriziersohn aus Brügge hinterging, würde das einen Skandal entfachen, der schwerwiegende Folgen am burgundischen und französischen Hof, bis hin zu den Geschäften des Hauses Contarini haben würde.

»Ihr müsst fort.« Christina entsann sich endlich ihres Auftrags. »Vater ist auf dem Weg hierher. Du weißt, dass er deine Malerei für Zeitverschwendung hält. Kannst du dir vorstellen, was er sagt, wenn er dich zudem in solcher Gesellschaft antrifft? Auch musst du das Bild von der Staffelei verschwinden lassen.«

Lucas riss die Leinwand aus dem Rahmen, während er gleichzeitig mit einem Fuß nach seinem Schuh angelte.

»Von wem weiß Vater, wo ich bin? Wer hat mich verraten? Matthis? Seit er Hendrik van der Molen seinen Freund nennt, ist ihm nicht mehr zu trauen.«

Christina konnte ihren ältesten Bruder nicht anschwärzen. Wenn Hendrik van der Molen den Contarinis schaden wollte, dann war dies ihre Schuld und nicht die von Matthis.

»Großmutter hat zufällig erfahren, dass Vater hierherkommen will. Ich weiß nicht, von wem. Er darf dich hier auf keinen Fall finden. Sie hat mich geschickt, dich zu warnen.«

Sie half Michelle, den schmucklosen Kapuzenumhang zu schließen, und mied dabei ihren Blick. Stattdessen flogen ihre Augen zum offenen Skizzenbuch des Bruders, das neben dem Diwan auf dem Boden lag. Mit präzisen Strichen hatte Lucas die zarten Züge und das verträumte Lächeln der Königstochter festgehalten. Das Haar gelöst, die Schultern bloß. Niemand, außer dem eigenen Gemahl, durfte sie so sehen. Schon gar nicht ein Kaufmannssohn, dem eine Laune des Schicksals das Talent eines Künstlers verliehen hatte, das er nicht gebrauchen durfte.

»Schenkt mir das Blatt«, bat Michelle, nahm es und faltete es sorgsam zusammen. »Es wird mich immer an diese Stunden erinnern.« Sie tauschte einen innigen Blick mit Lucas, der Christina ausschloss.

War das Liebe? Wie typisch, dass er sich in eine solche Leidenschaft verstrickte. Im Gegensatz zu Matthis tat er nie das Erlaubte, das Statthafte. Er strebte nach dem Idealen, dem Schönen, und versuchte es in Skizzen und Bildern festzuhalten. Dass er die bezaubernde, empfindsame Gräfin anbetete, konnte sie verstehen. Ihr Vater jedoch würde die Sache anders beurteilen.

Sie drehte sich noch einmal um, während ihr Bruder Michelle hinausgeleitete.

Im Gegensatz zu ihrem Vater bewunderte Christina die Arbeiten ihres Bruders. Sie hätte gerne mehr Zeit gehabt, all die Zeichnungen genauer zu betrachten.

Das Fenster öffnete sich auf einen Kanalarm der Reie hin. Es ließ so viel Licht ein, dass Lucas bei jedem Wetter malen konnte. Die Wände waren über und über mit Skizzenblättern bedeckt. Sie hingen an Schnüren, waren mit Nägeln befestigt oder rollten sich bereits in der feuchten Luft: Porträts seiner Freunde, seiner Familie, von Kranmännern und Bootsleuten. Ländliche Szenen am Kanal und Aktskizzen von angewinkelten Armen, Beinen in vollem Lauf. Er musste unendlich viele Stunden für alles aufgewandt haben.

»Christina, wo bleibst du?«

Lucas hielt ihr ungeduldig die Hoftür auf. Michelle saß in dem Kahn, der soeben vom Kanalufer ablegte. Christina bemerkte erleichtert, dass es sich um eine Barke mit geschlossenem Heckaufbau handelte. Auch trug der Mann am Ruder keinerlei Livrée. Die Prinzessin war außer Gefahr.

Was man von Lucas weniger sagen konnte.

»Hast du nicht schon genügend Schwierigkeiten?«, machte sie ihrem Herzen empört Luft. »Alle Mädchen von Brügge sind hinter dir her. Musst du ausgerechnet die Gräfin von Charolais umwerben? Du bringst dich um Kopf und Kragen mit dieser Liebschaft.«

»Wie könnte ich ihr widerstehen? Du hast sie gesehen. Sie muss nur lächeln, und man tut alles, was sie sich wünscht. Sie will von mir gemalt werden.«

»Du bist ein Narr, Lucas Contarini«, schalt Christina und betrachtete den Bruder. Wie Matthis war er blond und blauäugig. Aber im Gegensatz zum Älteren hatte er ein so strahlendes Lächeln, dass er auch den letzten Griesgram damit gewinnen konnte. »Schlag dir die Gemahlin des Herzogssohnes ein für alle Mal aus dem Kopf. Sag mir lieber, wie wir von hier wegkommen, ohne dass wir unserem Vater direkt in die Arme laufen.«

Lucas deutete auf die Mauer zum Nachbargrundstück und war schon halb hinüber, ehe Christina die Röcke raffen konnte. Dank eines Apfelbaums mit tief herabhängenden Ästen gelangte auch sie problemlos in den Gemüsegarten des Nebenhauses. An der Seite ihres Bruders hastete sie durch die anschließenden Hinterhöfe, an Ställen und Verschlägen vorbei, ehe sie in das Netz verwinkelter Gassen tauchten, die in ein noch schäbigeres Viertel der Stadt führten.

Es blieb Christina kaum der Atem für ihre bruchstückhaften Erklärungen, mit denen sie gestand, dass sie der eigentliche Grund des väterlichen Zornes war, der nun auch Lucas treffen sollte.

»Du hast dich geweigert, Hendrik van der Molen zu heiraten?«, wunderte sich Lucas schwer atmend. »Warum nur? Der Mann ist reich, sieht gut aus und wird von allen hofiert. Was passt dir nicht an ihm? Irgendwann und irgendwen musst du schließlich heiraten. Du kannst nicht alle Freier zum Teufel schicken.«

»Vermutlich«, entgegnete sie knapp. »Aber Hendrik van der Molen wird es bestimmt nicht sein, den ich mir zum Mann nehme. Ich bin mir sicher, dass er und sein habgieriger Erzeuger ihren Einfluss geltend gemacht haben, um Vaters Kandidatur für den Vorsitz im Schöffenrat im letzten Augenblick zu verhindern. Winkelzüge dieser Art passen zu ihm. Er ist ein Ränkeschmied, und er führt etwas im Schilde.«

»Sei vorsichtig mit solchen Verdächtigungen. Die van der Molens sind mächtig und einflussreich.«

»Meinetwegen. Es wird mich trotzdem nicht daran hindern, einen Wolf im Schafspelz bei seinem richtigen Namen zu nennen.«

»Hendrik ist völlig vernarrt in dich, das weiß inzwischen halb Brügge. Wenngleich ich nicht verstehe, was er mit einer rothaarigen Hopfenstange will, die einen Mund so groß wie ein Scheunentor und eine spitze Zunge wie ein Stilett hat.«

Christina japste und grinste zugleich. Der Spott verletzte sie nicht, denn ihre Eitelkeit hielt sich in Grenzen. Die Tatsache, dass sie fast alle Frauen Brügges überragte, kümmerte sie ebenso wenig wie ihre Haarfarbe. Die Freier, die um ihre Hand anhielten, kamen wegen ihrer Mitgift, und sie wären ihrer Meinung nach auch erschienen, wenn sie als Zwergin zur Welt gekommen wäre. Sie hatte keine besonders hohe Meinung von ihnen.

»Spar dir deine Luft für das Gespräch mit Vater«, riet sie Lucas trocken. »Er ist wütend über unseren Ungehorsam und nicht länger bereit, unsere sogenannten Eskapaden zu dulden. Dem Unfug mit deiner Malerei will er ebenso ein Ende bereiten wie meinem Trotz. Großmutter hat versucht, Einfluss auf ihn zu nehmen, aber er wollte nichts davon hören. Nachdem er herausgefunden hatte, dass sie dir den Schlüssel für das Weberhaus überlassen hat, hat sie mich eilig zu dir geschickt.«

Lucas wurde auf der Stelle wieder ernst.

»Schwesterherz, lass dich küssen. Ich werd es dir nie vergessen, dass du mich gewarnt hast.« Er sah sich besorgt über die Schulter um. »Lass uns schneller gehen. Es kommt mir vor, als würden wir von irgendwelchen Galgenvögeln verfolgt. In dieser Gegend trifft sich der Abschaum Brügges.«

Seine Mahnung zur Vorsicht, weckte nur Christinas Neugier. Sie fasste die Häuser, deren Dächer so eng gegeneinandergeneigt waren, dass kaum Tageslicht auf die Gasse fiel, näher ins Auge. Es gab nicht viele Ecken in Brügge, wo sich Schmutz und Armut so ungehindert ausbreiten konnten. Aber irgendwo mussten wohl auch untätige Weber, verletzte Fuhrknechte und zwielichtige Gauner ihren Unterschlupf finden. Gestank und Lärm schlugen über ihnen zusammen. In den Hütten und Absteigen johlten Betrunkene, Frauen kreischten schrill, und Kinder stritten miteinander.

Unvermittelt teilte sie Lucas’ Unbehagen. Das war nicht die Stadt, die sie kannte.

»Erschlagt das Judenpack!«

»Christusmörder! Ungläubige!«

»Brunnenvergifter!«

Über das normale Geschrei erhoben sich plötzlich diese Beschimpfungen. Gebrüll, das schnell näher kam. Lucas griff beschützend nach Christinas Arm und schaute erschrocken um sich. In welche Richtung sollten sie flüchten?

Zu spät. Die Meute strömte bereits in ihre Gasse. Ein paar junge Männer verfolgten ein Paar, das sich in Sicherheit bringen wollte. Wurfgeschosse aller Art prasselten ihnen hinterher. Steine. Torfstücke. Holzscheite. Abfall. Pferdekot.

Ein Stein traf die Frau mit solcher Gewalt in den Rücken, dass sie stolperte und in die Knie brach. Ihr Begleiter versuchte vergeblich, sie wieder hochzuzerren, aber auch er schien am Ende seiner Kräfte. Dennoch trat er vor sie, erkennbar bereit, es mit dem johlenden Pöbel aufzunehmen, um sie zu schützen.

Lucas’ Entscheidung fiel in Gedankenschnelle.

»Ohne Hilfe wird ihn das Pack in der Luft zerreißen. Kümmere dich um das Mädchen.«

Christina wich geschockt vor der Flutwelle aus Gewalt und Hass zurück, die ihr entgegenbrandete. Ihre Beine zitterten, der Wunsch, einfach davonzurennen, wurde übermächtig. Auch zu dritt hatten sie keine Chance gegen diesen Pöbel. Dennoch beeilte sie sich, dem Mädchen auf die Beine zu helfen.

»Bist du verletzt? Stütz dich auf mich, komm schon …«

In ihrem Rücken vernahm sie Lucas’ Flüche und das Klatschen seiner Fäuste. Der dumpfe Aufprall weiterer Steine jagte ihr Angst ein, aber der brüderliche Schrei »He, Freunde, helft mir!« ließ auf Verstärkung schließen.

Sie schaute sich nicht um. Ihre Aufgabe war es, das Mädchen in Sicherheit zu bringen. Die zierliche Person bebte am ganzen Körper, aber als sie endlich den Kopf hob, entdeckte Christina hinter den aufgelösten Haaren vertraute Züge.

»Hannah? Du lieber Gott, Hannah, du? Was hast du mit diesen Verrückten zu schaffen?«

Hannah Salomon, ihre vertraute Freundin schon aus Kindertagen, fand keine Worte. Sie schluchzte und klammerte sich in solchem Schrecken an sie, dass sie Christina um ein Haar ebenfalls zu Boden gerissen hätte. Um sie herum tobte eine Prügelei, wie sie keine von ihnen je erlebt hatte.

Lucas’ Ruf hatte eine Gruppe Patriziersöhne alarmiert, die sich, ohne Fragen zu stellen, für ihn in die Schlacht warfen. Was hatten sie in diesem Viertel zu suchen? Aufregung, Abenteuer, Gefahr? Die meisten von ihnen machten den Eindruck, als seien sie betrunken.

»Steh auf, ich bitte dich.« Obwohl Hannah einen guten Kopf kleiner und feingliedriger war, hatte Christina Mühe, sie aufzurichten. »Reiß dich um Gottes willen zusammen, Hannah. Mut. Wir … Oh!«

Schmerz und Zorn verschlugen ihr gleichermaßen den Atem. Ein Stein hatte sie hart an der Hüfte getroffen. Sie wankte, aber zwei kräftige Arme verhinderten ihren Sturz in einen Kehrichthaufen. Sie nahm den Geruch einer übelkeiterregenden Mischung aus Bier und Männerschweiß wahr, doch die Berührung mit ihrem Helfer verriet feinsten Florentiner Samt, und im Grunde überraschte es sie schon nicht mehr, dass sie beim Aufsehen in die wasserblauen Augen von Hendrik van der Molen blickte. Gab es eigentlich einen Tag, an dem er ihr nicht über den Weg lief?

»Lasst Euch helfen, Demoiselle Contarini.«

Er gab sich besorgt, putzte vermeintlichen Staub von ihrem Kleid und nutzte die Gelegenheit, sie dabei viel zu vertraulich zu berühren.

»Helft lieber Lucas und seinen Freunden«, befahl sie kratzbürstig und trat beim Versuch, sich ihm zu entziehen, mitten in den Unrat. Sie quittierte die beschmutzten Rocksäume mit einem herzhaften »Verdammt!« und registrierte, dass Hendrik erkennbar wütend abzog. Er kämpfte sich zu Lucas durch. Von dort grinste er noch einmal frech zurück, ehe er sich wieder in die Schlacht warf. Christina würdigte ihn keines Blickes.

Hannah schluchzte indes hemmungslos. Sie war völlig außer sich, und keines von Christinas Worten erreichte sie in ihrer blinden Panik. Ihr blieb nur eine Möglichkeit, sie aus diesem Zustand zu reißen. Sie schlug ihr heftig auf die Wange.

»Hör auf zu kreischen und zu heulen, Hannah! Komm zu dir.«

»Seid Ihr närrisch? Was tut Ihr?«

»Einen panischen Anfall gewaltsam beenden«, erwiderte Christina aufgebracht und sah Hannahs Begleiter direkt in die Augen. Der Gebetsschal unter seinem Wams verriet ihn als Juden. Seine glattrasierten Wangen und die kurzen braunen Haare zeigten, dass er als solcher nicht gleich erkannt werden wollte. Er trug keine Kopfbedeckung, und Christina fragte sich, ob er den Judenhut verloren oder nie einen getragen hatte. Sein rechtes Auge schwoll unter der Folge eines Fausthiebes an, aus einer Schramme an seiner Schläfe tropfte Blut, doch die Entstellungen beeinträchtigten die ausgeprägten Züge seines Gesichts nicht. Vom ersten Blick an war Christina bewegt. Wie unter einem seltsamen Bann, erwiderte sie sein entrüstetes Starren ohne die geringste Scheu.

»Daniel!« Hannah hatte sich tatsächlich etwas beruhigt. »Bring mich fort von hier. Bitte«, flehte sie ihren Begleiter an.

»Eine gute Idee«, stimmte Christina aufatmend zu. »Ihr hättet gar nicht erst in diese Gegend kommen sollen.«

Daniel warf einen Blick auf das Schlachtfeld in der Gasse, auf dem Lucas, Hendrik und die anderen Patriziersöhne langsam, aber sicher die Überhand gewannen. Es schien, dass sie Spaß an der Prügelei hatten. Sie lachten, johlten und schlugen sich in gegenseitiger Anerkennung auf die Schultern.

Mit einem Mal wurde es jedoch ganz still. Alle Blicke gingen in eine Richtung. Zu Boden.

Alarmiert trat Christina näher.

»Das ist Jan van der Buerse …«, murmelte sie tonlos, während die jungen Patrizier entsetzt zurückwichen. Einer der Ihren lag bewegungslos im Staub. »Was ist mit ihm?«

»Lucas’ Messer steckt in seinem Rücken. Erkennt Ihr es nicht?«, murmelte eine Stimme kaum hörbar an ihrem Ohr. Hendriks Stimme.

Erst jetzt sah sie das Blut. Ein rotes Rinnsal drang unter Jans Leib hervor und wurde zusehends größer.

»Wie ist das passiert?«

Vor Christinas Augen drehte sich alles. Die Mauern rückten enger zusammen, ihre Nerven drohten ihr zu versagen.

»Holt die Stadtwache!«

Die Forderung riss sie aus ihrer Benommenheit. Ausgerechnet Lucas wollte die Büttel alarmieren. Die anderen versuchten ihn davon abzuhalten. Alle redeten zugleich auf ihn ein. Nur Hendrik sagte nichts. Er bückte sich, um den leblosen Körper auf den Rücken zu drehen. Mit einem Ruck entfernte er dabei das Messer aus der Wunde. Blut tropfte von der Scheide. Langsam richtete er sich auf und betrachtete den Rubin, der den Griff der Waffe zierte.

Großvater hatte Lucas diesen Dolch geschenkt. Christina hatte das kostbare Andenken stets bewundert. Doch jetzt: Ihr wurde übel, danach eiskalt. Lucas ein Mörder? Nein und nochmals nein. Nicht einmal in der Hitze der größten Prügelei würde er eine andere Waffe als seine Fäuste gebrauchen. Trotzdem hatte sie mit eigenen Augen gesehen, wie Hendrik das Mordwerkzeug aus dem Rücken des Opfers zog. Ihr Verstand weigerte sich, daraus die einzig möglichen Schlüsse zu ziehen.

»Dein Messer.« Hendrik hielt Lucas den Dolch entgegen.

Ihr Bruder wich entsetzt zurück. Seine Hand tastete nach der Scheide an seinem Gürtel.

»Das ist unmöglich …«

Seine Hand fand nur eine leere Hülle.

»Van der Buerse ist tot. Du hast in der Hitze des Kampfes den Kopf verloren«, hörte Christina Hendrik voller Verständnis sagen. »Du hast dich bedroht gefühlt, in die Enge getrieben. Du musstest deine Schwester beschützen und ihre Freundin dazu. Jeder von uns versteht das.«

»Nein!« Lucas schüttelte den Kopf. »Nein«, wiederholte er. »Ich weiß, dass ich das Messer nicht gezogen habe. Die Stadtwache wird das klären, bestimmt …«

»Bist du noch zu retten?« Hendrik dämpfte die Stimme, aber seine Worte klangen drängend. »Wie willst du die Anwesenheit deiner Schwester in diesem Viertel erklären? Der Bunte Hahn dort vorne ist die übelste Kaschemme von Brügge. Willst du Christinas Ruf für immer ruinieren? Die beiden Frauen müssen hier verschwinden und der Jude am besten auch, sonst läuft er Gefahr, dass man ihn des Mordes an van der Buerse beschuldigt …«

»Mein Name ist Katz, Daniel Katz, und ich bin ein unbescholtener freier Bürger von Gent«, warf Hannahs Begleiter wütend ein. »Ich habe diesen Mann noch nie gesehen. Wieso bringt Ihr mich mit dem Mord in Verbindung?«

»Wie dem auch sei«, tat Hendrik den Einwand arrogant ab. »Ihr seid Jude, und ein Jude ist allemal ein gutes Opfer für den Volkszorn, wenn sich sonst niemand findet. Noch dazu ein Jude, der aus Gent stammt. Die Bürger von Brügge mögen die Genter nicht besonders, wie Ihr sicher wisst, und die van der Buerses werden auf strengster Bestrafung des Schuldigen bestehen.«

Christina schnappte entsetzt nach Luft. Hendriks unerträgliche Art änderte wenig am Wahrheitsgehalt seiner Worte.

Lucas blickte düster von seiner Schwester zu Hannah. Er kannte die Enkelin Abraham ben Salomons, der ein Freund seines Großvaters gewesen war. Beide Mädchen waren zu seinen Lebzeiten gemeinsam erzogen worden. Auch wenn sich die Familien danach ein wenig entfremdet hatten, so war ihm Hannah doch wie eine zweite Schwester, denn Christina hatte von ihrer Freundin nie abgelassen.

»Was er sagt, hat Hand und Fuß«, räumte er ein und erstickte Christinas Protest mit einer Geste. »Ihr müsst fort, alle drei, und zwar schnell.«

»Und du?«, fragte Christina angsterfüllt. Sie mied den Blick auf den Toten. Bei Festen hatte sie mit ihm gescherzt und getanzt. Noch immer konnte sie es nicht fassen. Dieser Mord würde Brügge in helle Aufregung versetzen. Wer hatte ihn begangen? Wie sollten sie Lucas’ Unschuld beweisen? Von den Patriziern zog sich einer nach dem anderen bereits zurück. Sie ließen Lucas im Stich.

»Wir werden das Rätsel gemeinsam lösen. Lauft. Fort mit euch!« Hendrik war als Einziger an Lucas’ Seite geblieben. Er lächelte Christina zu, und sie war so erstaunt von seiner überraschenden Parteinahme für ihren Bruder, dass sie sein Lächeln dankbar erwiderte.

Hannah und Daniel zogen sie hastig mit sich. Sie konnte sich gerade noch ein letztes Mal umsehen, ehe sie die nächste Ecke erreichten. Etwas an der Art, wie Hendrik sich zu Lucas beugte und auf ihn einredete, wollte ihr nicht gefallen. Sie fühlte sich bestätigt in ihrem Misstrauen.

Erst heute Vormittag hatte sie seinen Antrag abgelehnt. Er trug sogar noch das übertrieben gezaddelte Wams nach neuester Mode, mit dem er vergeblich versucht hatte, sie zu beeindrucken. Dass er nur wenige Stunden später ihrem Bruder selbstlos zur Seite stand, war durch und durch ungewöhnlich.

Was trieb ihn an? Hendrik steckte Niederlagen nicht ohne Rache ein. Dass er Lucas aus reiner Nächstenliebe beistand, entsprach keineswegs seinem Charakter.

Christina erinnerte sie sich an seine letzten Worte, als er sie nach dem abgelehnten Antrag verlassen hatte.

»Das wird dir noch leidtun, Christina Contarini!«

2. Kapitel

Brügge, 30. August 1419

Haltet still, wie sonst soll ich Euch helfen?«

Christina tupfte achtsam Blut und Schmutz von Daniels Schläfe. Sie legte einen tiefen Riss frei. Kein Wunder, dass er so unruhig auf dem Hocker hin und her rückte. Dass dies freilich weniger auf den Schmerz als auf ihre Nähe zurückzuführen war, kam ihr nicht in den Sinn.

Obwohl es ihnen gelungen war, das Haus Salomon ungesehen durch die Hintertür zu betreten und allen Fragen zu entgehen, wusste sie, dass ihr nur eine vorübergehende Atempause vergönnt sein würde. Sie sorgte sich um ihren Bruder. Mein Gott, wie würde ihr Vater reagieren? Er war ohnehin nicht gut auf sie beide zu sprechen. Simon Contarini liebte seine Kinder, aber er erwartete Gehorsam und Respekt von ihnen.

Lediglich Matthis erfüllte diese Erwartung mühelos. Gegensätzlicher als er und Lucas konnten kaum zwei Brüder sein. Der Ältere gewissenhaft und ruhig, ganz dem Handel und dem Bankgeschäft verschrieben. Der Jüngere leichtfüßig und rebellisch. Ein Ärgernis für den Vater, weil er seine Pflichten im Handelshaus versäumte und sich stattdessen in den Werkstätten der Bildermacher herumtrieb.

Hannah hatte sich inzwischen ausgebürstet, die verlorene Haube ersetzt und das Gesicht gewaschen. Sie sah fast wie gewohnt aus. Lediglich in ihren Augen, deren leicht schräge Mandelform und helles Braun ihr so besonderen Reiz verliehen, stand noch der Schrecken.

»Willst du mir nicht erzählen, wie ihr in diesen Tumult geraten seid?« Christina wollte es von Hannah wissen, während sie Daniels Wunde mit einer grünlich schillernden Paste bedeckte, für die das Rezept noch von Hannahs Großvater mütterlicherseits stammte. Sein Ruf als Arzt hatte ihn weit über Brügges Grenzen hinaus bekanntgemacht. »Ich traute meinen Augen nicht, als ich dich erkannte.«

»Eigentlich wollte ich Daniel nur den Belfried zeigen«, murmelte Hannah unglücklich.

»Der Turm des Tuchhauses steht am Rand des großen Marktes und nicht neben dem Bunten Hund«, warf Christina ein. Sie kannte ihre Freundin gut genug, um sie zu durchschauen. Sie hatte den Umweg bestimmt nicht gewollt, aber sie wollte Daniel keinesfalls belasten.

Wer war eigentlich dieser Daniel? Zu Hannahs Verwandtschaft zählte er nicht. Die kannte sie fast vollzählig.

»Was führt Euch nach Brügge?«, fragte sie ihn ohne Scheu.

Als sie keine Antwort erhielt, nahm sie ihn zum ersten Mal genauer in Augenschein. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Welche Ähnlichkeit! Schmutz und Blut hatten das bislang verborgen.

Das schmale Gesicht, die feurigen schwarzen Augen, das kurze Haar, schimmernd wie Kohle, und der dunkle Teint waren ihr in Erinnerung. Der Unterschied zum Aussehen ihrer Brüder und dem aller Männer ihres Standes war wie … ja, wie einst der ihres venezianischen Großvaters zu dem der blonden Flamen, die Brügge beherrschten.

Christina konnte die Augen nicht mehr von ihm abwenden.

»Ist dir nicht gut?« Das Schweigen beunruhigte Hannah. »Entschuldige, ich sollte euch endlich miteinander bekannt machen. Das ist Daniel Katz aus Gent, Christina. Mein Vater hat ihn eingeladen, unter unserem Dach zu wohnen. Er ist nach Brügge gekommen, um beim Rabbi unserer Gemeinde die Schriften des Talmud zu studieren.«

Ein Heiratskandidat?, fragte sich Christina.

Zwar gaben sich auch im Hause Salomon die vielversprechenden jungen Männer die Klinke in die Hand, aber bisher hatte Hannahs Vater noch jede Verbindung abgelehnt. Töchter wurden feilgeboten wie Stoffe oder exotische Gewürze. Wer den besten Preis bot, erhielt den Zuschlag. Die jüdische Gemeinde in Gent war reich. Christina bezweifelte nicht, dass auch das Haus Contarini Geschäfte mit einem Geldwechsler namens Katz machte. Sein Sohn war eine glänzende Partie. Früher hätte sie ihren Großvater fragen können, um sich Sicherheit zu verschaffen, aber ihr Vater weigerte sich, solche Dinge mit ihr zu besprechen.

»Daniel trägt keine Schuld an dem, was passiert ist.« Christinas Wortkargheit machte Hannah ungewohnt mitteilsam. »Er hat sich nur eingemischt, als eine Gruppe von Tagedieben am Minnewaterhafen einem der Botenjungen meines Vaters den Weg verstellte. Sie hänselten ihn und wollten ihm die Schläfenlocke abschneiden. Danach geriet alles außer Kontrolle. Ich wusste nicht, dass Menschen so sein können. In Brügge werden doch keine Juden verfolgt …« Ihre Stimme versagte.

Christina atmete tief ein. Sie versuchte ihre Gefühle zu ordnen. Erst als sie Daniel den Rücken zukehrte, gelang es ihr einigermaßen.

Er studierte die Schriften, wollte er etwa Rabbi werden? Hannah und er gingen freundschaftlich um miteinander, aber sie kamen ihr nicht wie ein verliebtes Paar vor. Sie verspürte den dringlichen Wunsch, Daniel näher kennenzulernen, mehr über ihn zu erfahren. Einfach alles wollte sie von ihm wissen.

»In Gent wäre so etwas nie passiert«, behauptete er soeben entrüstet. »Seit Philipp von Burgund, der Graf von Charolais, hier ist, unterdrücken die Stadtbüttel jede Art von Aufruhr. Auch an Juden oder jüdischem Gut vergreift sich deswegen kein Mensch.«

Christina fuhr so heftig herum, dass Daniel innehielt.

»Ihr versteht nicht?«, fragte er.

»Ihr Name ist Christina – Contarini«, holte Hannah auch diese Vorstellung nach. »Meine christliche Freundin aus Kindertagen. Lass dich nicht in eine Debatte mit ihm ein, Christina. Er argumentiert bereits wie ein Talmudgelehrter. Am Ende weißt du nicht mehr, ob der Mond von oben oder von unten scheint.«

»Du tust mir Unrecht, Hannah Salomon«, verwahrte sich Daniel. »Dieser Ausbruch sinnloser Gewalt, ausgelöst durch Vorurteile und unbewiesene Gerüchte, zeigt schließlich, wie wichtig es ist, die Juden zu schützen. Die Suche nach der ewigen Wahrheit ist gewichtiger als das Zinsgeschäft unserer Väter.«

»Ach, Daniel.« Hannahs Tonfall verriet deutlich, dass sie ein Gespräch dieser Art nicht zum ersten Mal führten. Es missfiel ihr.

Obwohl Christinas Gedanken inzwischen abgeschweift waren, sich wieder ihrem Bruder zuwenden wollten, beantwortete sie Daniels Frage.

»Ich verstehe gut, Daniel Katz. Ich verstehe die Gefühle der Juden. Da Hannahs und mein Großvater befreundet waren, habe ich viele Gespräche und Diskussionen schon als Kind mitbekommen. Auch ich halte es für ungerecht, dass Juden nirgendwo richtig Fuß fassen können, für vieles Schreckliche auf der Welt zu Unrecht verantwortlich gemacht werden und dafür sogar mit dem Leben bezahlen. Heute jedoch kann ich mit Euch darüber nicht diskutieren. Meinem Bruder soll ein Mord in die Schuhe geschoben werden, ausschließlich das bewegt mich.«

»Vielleicht könnt Ihr gerade in dieser Situation nachempfinden, wie es ist, wenn man zu Unrecht beschuldigt wird.«

»Hört auf!« Hannah mischte sich ärgerlich ein. »Wollt ihr jetzt über Glaubensdinge debattieren und Unrecht gegen Unrecht abwägen? Ein Mensch ist getötet worden, und Lucas wird verdächtigt, der Mörder zu sein. Wir wissen, dass er es nicht ist, dass es absurd ist, ihn zu verdächtigen. Er ist nicht fähig einer Fliege etwas zuleide zu tun. Jemand muss ihm seinen Dolch entwendet haben. Ich bin sicher, Lucas und Hendrik werden den Schuldigen finden. Sorge dich nicht, Christina.«

Christina nahm den Kopf in beide Hände und starrte vor sich hin. Auch Hannah verstummte. Aber später, als Daniel sich mit steifer Höflichkeit verabschiedet und die Kammer verlassen hatte, legte sie ihre Zurückhaltung ab.

»Sie erzählen sich in der Stadt, dass du Hendrik van der Molen zum Mann nehmen wirst. So steht er also auf der Seite von Lucas? Bisher waren die van der Molens keine Freunde der Contarini.«

»Mein Vater sähe meine Verbindung mit Hendrik schon deshalb nur zu gerne, aber ich habe seinen Antrag abgelehnt. Doch reden wir nicht von ihm. Erzähl mir lieber von Daniel. Wirst du ihn heiraten?«

»Gewiss nicht, und er will es ebenso wenig.« Sie waren unter sich, aber Hannah dämpfte trotzdem die Stimme. »Unsere Familien sähen es gerne, doch Daniel ist lediglich nach Brügge gekommen, um den Talmud zu studieren. Sein Vater erwartet, dass er seine Studien so schnell wie möglich beendet und sich um das Geschäft kümmert. Er hingegen will nicht das Leben eines Geldwechslers führen.«

»Und was will er stattdessen?«, fragte Christina neugierig.

»Du hast ihn erlebt. Ihn beschäftigen ausschließlich philosophische und religiöse Fragen. Er lebt in seiner eigenen Welt, und ich kann mir gut vorstellen, dass er seinen Vater zur Verzweiflung bringt.«

»Er ist klug und faszinierend, findest du nicht? Wenn er mich ansieht, kommt es mir vor, als würde ich ihn schon lange kennen …«

Hannahs Augen weiteten sich vor Überraschung.

»Christina. Verstehe ich dich richtig? Fängst du an, dich in Daniel zu verlieben?«

Christina fühlte Hitze in ihre Wangen steigen und beeilte sich den Kopf zu schütteln. »Natürlich nicht.«

»Denk daran, er ist Jude.«

»Das sollte kein Hindernis sein.«

»Du träumst, Christina. Wach auf.«

Ihre Blicke trafen sich. Hannahs flehentlicher Blick spiegelte die Angst um Christina. Doch es widerstrebte ihr, die Probleme aufzuzählen, die Christina erwarteten. Die Freundin kannte sie alle.

 

Lucas schob den vollen Bierkrug angeekelt von sich. Dass er tatsächlich Hendrik gefolgt war und den Toten in seinem Blut hatte liegenlassen, hielt er mittlerweile für einen kapitalen Fehler. Was suchte er in dieser Gassenschenke, auf dieser Bank? Er wühlte missmutig in seinen Haaren.

»Ruhig Blut.« Hendrik setzte seinen Krug leer ab und wischte sich den Mund mit dem Handrücken trocken. »Die anderen halten dicht. Du hast keinen Grund, mit dir zu hadern. Es war ein Missgeschick.«

»Wir hätten auf die Stadtwache warten müssen«, antwortete Lucas vorwurfsvoll. »Wenn es ein Unfall war, hätte er auf der Stelle geklärt werden müssen.«

»Wie denn? Wir waren beteiligt und wissen auch nicht genauer, was geschehen ist. Es war ein einziges Höllendurcheinander. Nimm Vernunft an, Lucas. Die van der Buerses werden Zeter und Mordio schreien. Jan van der Buerse war zwar der Taugenichts der Familie, aber jetzt wird er zum Heiligen werden. Wer weiß schon, wie sie auf die Tatsache reagieren, dass du in die Sache verwickelt bist. Hat nicht das Haus Contarini erst in diesem Frühjahr den van der Buerses vorgeworfen, dass sie Wucherpreise für ihre Maklerdienste verlangen?«

Dem konnte Lucas wenig entgegensetzen. Zwischen den Handelshäusern der Stadt herrschte stets eine gewisse Rivalität. Man stand lediglich zusammen, wenn Gefahr von außen drohte. Bot sich indes die Gelegenheit, einem Konkurrenten zu schaden und sein Geschäft zu übernehmen, zählte der Gewinn meist mehr als jede Zunftbrüderschaft.

Die Ereignisse der vergangenen Stunde hatten ihn geradewegs aus dem Himmel in die Hölle katapultiert. Er wusste nicht mehr, was er tun sollte und wo ihm der Kopf stand. Eines jedoch war ihm völlig klar. »Ich habe dieses verdammte Messer nicht zwischen den Fingern gehabt. Irgendeiner muss es mir im Verlauf des Kampfes entwendet haben.«

»Möglich.« Hendrik betrachtete zufrieden den Boden-satz in seinem Bierkrug. »Aber wie willst du das beweisen?«

»Ich kann mein Wort darauf geben. Und die anderen werden bezeugen, dass ich nur mit meinen Fäusten gekämpft habe. Ich habe zugeschlagen, nicht zugesto…«

»Still.« Hendrik legte blitzschnell die Hand auf Lucas’ Arm, obwohl in der überfüllten Schenke keiner den anderen beachtete. »Lass uns von anderen Dingen reden, ehe du zu viel sagst, mein Freund. Es gäbe da eine Sache, bei der du mir behilflich sein könntest.«

Lucas richtete sich alarmiert auf. Im Gegensatz zu seinem Bruder Matthis zählte er weder zu Hendriks Freunden, noch hatte der ihn jemals um etwas gebeten.

»Wie du weißt, beabsichtige ich, deine Schwester zur Frau zu nehmen. Sie sträubt sich, aber ich bin mir sicher, dass sie ihre Haltung überdenken wird, wenn ihr der Bruder zu dieser Verbindung rät, nicht wahr?«

Lucas schluckte trocken. Er begriff, in welcher Falle er steckte. »Du erpresst mich?«

»Welch hässliches Wort. Ich baue auf deine Hilfe, so wie ich dir geholfen habe. Ist es denn falsch, dass ich verhindern möchte, dass die Familie meiner Braut in Skandale verwickelt wird?«

»Gleich mehrere?« Lucas rettete sich in Spott, aber es klang eher betroffen als zynisch. »Was wirfst du uns noch alles vor?«

»Ich bin deiner Schwester gefolgt, als sie heute Nachmittag das Haus verließ. Ich weiß über jeden ihrer und deiner Schritte Bescheid. Was denkst du, warum wir so schnell zur Stelle waren, als ihr in Gefahr wart, mitsamt den beiden Juden im nächsten Kanal zu landen?«

Michelle von Frankreich! Wenn Hendrik die Wahrheit sagte, musste er auch sie gesehen haben, als sie in die Barke stieg. War es möglich, dass er sie trotz des Kapuzenumhangs erkannt hatte?

»Sei unbesorgt. Ich bin ein Mann, der Geheimnisse zu wahren weiß, Lucas Contarini.«

Wenn es dir dient, ja, stimmte Lucas stumm zu und wich Hendriks Blick aus. Er griff nach dem Bierkrug und schüttete den Inhalt in sich hinein. Es schmeckte wie aufsteigende Galle, und beinahe hätte er sich übergeben. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn.

Hendrik blieb ungerührt. »Sprich mit deiner Schwester. Bring sie zur Vernunft. Sag ihr, dass ich bereit bin, ihren unseligen Auftritt von heute Morgen zu vergessen, wenn sie mir die Hand reicht.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Ziehst du das wirklich in Betracht?« Hendrik stand auf, kam auf Lucas’ Seite und stemmte eine Hand auf den Tisch. Danach beugte er sich so nahe an sein Ohr, dass sein Atem ihm die Schläfenhaare bewegte. »Ich habe das Messer, mit dem Jan van der Buerse abgestochen wurde. Jeder, der heute Nachmittag mit uns gekämpft hat, wird vor dem Magistrat einen heiligen Eid darauf schwören, dass es dir gehört.«

Er wartete. Als er keine Antwort erhielt, warf er ein paar Münzen auf den Tisch und klopfte Lucas gönnerhaft auf den Rücken.

»Ich bin sicher, du weißt, was du zu tun hast, mein Freund. Wenn die Feste zu Ehren des Eintreffens der Flanderngaleeren stattfinden, möchte ich deine Schwester als liebende Braut an meiner Seite wissen.«

»Warum ausgerechnet sie?« Lucas kämpfte mit Zorn und Verzweiflung zugleich. »Sie wird dir nur Ärger bereiten. Lohnt das die Mitgift?«

»Ich denke schon.« Hendrik zog sich eitel das Wams glatt und schüttelte die Zaddeln an Ärmeln und Saum auf, ehe er zum Gruß an die Kante seiner Federkappe tippte. »Lass dir gesagt sein: mit dem größten Vergnügen werde ich Contarinis Feuerkopf in meinem Bett zähmen. Grüße sie von mir.«

Lucas starrte ihm erschüttert nach. Christina hatte recht. Hendrik van der Molen war eine Ratte.

3. Kapitel

Brügge, 2. September 1419

Was ist das?«

Christina blickte kopfschüttelnd auf das Blatt, das ihr Vater ihr gegeben hatte. Ein Dutzend Männernamen las sie. Etwa die Hälfte davon kannte sie, die andere Hälfte war ihr fremd.

»Die Heiratskandidaten, Christina. Alle sind vielversprechende junge Männer aus Brügge, Gent und Antwerpen. Unter ihnen wirst du bis zum fünfzehnten Tag dieses Monats deinen künftigen Gemahl wählen. Entscheide dich klug.«

»Ich verstehe nicht«, gab sie vor. Ihr war sehr wohl klar, welches Dilemma sich hier auftat. Sie sollte zu einer Heirat gezwungen werden. Das Blatt in ihrer Hand begann wie von selbst zu zittern.

»Führe es auf meine väterliche Gutmütigkeit zurück, dass ich dir wenigstens eine Wahl lasse, Tochter. Ich könnte auch einen von ihnen einfach bestimmen. Lionel van Liewe beispielsweise, den Reedersohn aus Antwerpen, oder Albinus van der Molens Sohn Hendrik. Er hätte den Vorteil, dass du auch künftig in Brügge leben würdest.«

Ein erstickter Laut drang aus Christinas Kehle, aber Contarini ließ sich nicht unterbrechen. Viel zu lange hatte er seiner Meinung nach Geduld bewiesen.

»Deine Verlobung wird in der darauffolgenden Woche verkündet, und die Heirat wird ihr auf dem Fuße folgen.«

Es war ihm bitterernst. Christina hatte den Bogen überspannt.

»Was geschieht, wenn ich mich weigere«, wagte sie trotzdem zu fragen.

»Dann werd ich den Mann bestimmen, den du heiratest. Es ist Zeit, dass du erwachsen wirst. Besinne dich auf deine Pflichten als Tochter, Frau und Teil dieser Familie. Du solltest längst Kinder haben, die dich davon abhalten, deinen Hirngespinsten nachzujagen.«

Hirngespinste sind es also, wenn ich im Kontor zur Hand gehen will, schoss es Christina durch den Kopf, wenn ich schneller als Matthis rechnen kann und bessere Ideen für das Handelshaus habe als mein Bruder. Von mir will er nur eines: Enkelkinder. Womöglich noch von Hendrik van der Molen. Der Himmel bewahre mich vor diesem Schicksal. Lieber vergrabe ich mich für immer bei den Beginen.

»Weiß Großmutter davon?«

Aimée Contarini war die oberste Instanz des Hauses, obwohl sie diese Macht nur noch selten in die Waagschale warf.

»Erwarte nicht, dass sie mich umstimmt«, durchschaute ihr Vater den Grund für diese Frage. »Du weißt, dass ihr Herz schwach geworden ist. Wir müssen sie schonen. Wenn du ihre Zuneigung dafür missbrauchen willst, deine Torheiten mir gegenüber zu rechtfertigen und sie sich dabei aufregt, so ist das rücksichtslos.«

Christina hätte ihn gerne daran erinnert, dass er selbst seine Mutter vor wenigen Tagen bedrängt hatte, Lucas’ Versteck preiszugeben. Ein Rest von Vernunft hielt sie davon ab. Sie kannte ihren Vater gut genug, um ihn in einer solchen Unterredung nicht herauszufordern.

»Du schuldest deinen Eltern Gehorsam«, setzte er seine Rede ungerührt fort. »Und nun geh. Überleg dir genau, was du tust und wen du wählst. Du beschließt damit über dein zukünftiges Leben.«

Christina verließ die Kaminstube ohne Gruß. Das Blatt mit den Namen ließ sie zurück. Doch als sie Stunden später in ihre Kammer kam, lag es mitten auf dem Tisch vor dem Fenster. Eine Mahnung, unübersehbar und bedrohlich.

Sie war versucht, die Liste im nächsten Feuer zu verbrennen. Aber zum einen brannte an diesem milden Septembertag kein Feuer in ihrem Kamin, und zum anderen löste sie damit nicht das eigentliche Problem.

Ich werde keinen dieser Männer heiraten! Wenn ich mich mit Haut und Haaren einem Mann ausliefere, dann einem, den ich liebe, einem der mich liebt.

Ist das zu viel verlangt?

 

In der Burg der Grafen von Flandern herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Die Torwachen bewahrten nur mit Mühe den Überblick. Niemand hielt Lucas auf, als er, einen Stoffballen auf der Schulter, die privaten Gemächer der Gräfin von Charolais aufsuchte. Die Kammerfrau, der er im Vorzimmer in die Arme lief, machte indes Anstalten, ihn nicht einzulassen. Ihr Leibesumfang und ihre Autorität hinderten ihn daran, einfach an ihr vorbeizuschlüpfen.

»Madame Michelle hat jetzt keine Zeit für solche Dinge, guter Mann. Liefert den Stoff nach Gent.«

Lucas schenkte ihr sein umwerfendstes Lächeln. »Ihr werdet Ärger bekommen. Eure Herrin sucht ebendiesen aquamarinblauen Stoff für eine neue Robe. Sie hat darum gebeten, dass man ihn unverzüglich liefert, sobald er in Brügge eintrifft. Sie wartet darauf.«

Die Hörnerhaube der Kammerfrau geriet ins Schwanken, als sie die Arme in die Hüften stemmte. Sie hüllte Lucas mit dieser Bewegung in eine Wolke aus Schweiß und Rosenöl. Sein Lächeln wurde starr.

»Wir sind mitten im Packen, junger Mann«, schnaufte sie unwillig. »In Gent wird Madames Anwesenheit dringend erwartet.«

Seit wann legte der Graf von Charolais solchen Wert auf die Gesellschaft seiner Ehefrau? Lucas wusste wie jedermann, dass dort eine Maitresse für seine Zerstreuung sorgte. Eine Spur von Beunruhigung veranlasste ihn, diplomatischer vorzugehen.

»Dann wisst Ihr sicher nicht, wo Euch vor lauter Arbeit der Kopf steht«, sagte er. »Lasst Euch von mir keine Zeit stehlen. Weist mir einfach eine Kammer an, wo ich auf Eure Herrin warten kann, und sagt ihr, dass ich untertänigst warte, bis sie die Zeit findet, den Stoff zu begutachten.«

»Nun denn, ich werde sehen, was ich für Euch tun kann.«

Einmal mehr hatte sein Charme gesiegt.

Die Kammerfrau schob ihn durch eine Tür. Sie walzte davon, während Lucas seine Last auf einer Kleidertruhe ablegte und sich umsah. Man hatte die Wandteppiche bereits abgenommen und das Bettzeug aus dem Alkoven geholt. Michelles Bett? Er kämpfte noch mit seinen Gefühlen, als sie eintrat. Hinter ihr wippte die Hörnerhaube. Somit verbot sich jedes private Wort.

»Gott zum Gruße, Herr Contarini«, sagte sie, ehe er auch nur eine Silbe über die Lippen brachte. »Zeigt mir die mitgebrachte Herrlichkeit, für die ich alles stehen- und liegengelassen habe.«

Du selbst bist die Herrlichkeit, dachte Lucas und verneigte sich tief. Die Anmut ihrer Bewegungen, ihr Geschick, sich modisch zu kleiden, ihr ganzes Wesen entflammten wieder und wieder sein Malerauge. Die meisten Farben hatte er nur für seine Bilder von ihr gemischt, wobei der Alabasterton ihrer Haut die größte Herausforderung an die Herstellung des Inkarnats stellte. Nur mit einwandfrei gebleichtem Leinöl hatte er die schwierige Farbe nach mehreren Versuchen gewonnen. Am Auripigment, mit dem er die Lichter in ihr Haar setzen wollte, die ihm sein natürlicher Glanz vorgab, arbeitete er noch immer.

»Urteilt selbst«, sagte er heiser und befreite sich aus seiner Verzückung. Er löste das Leinen und wickelte eine Länge des darunter verborgenen Stoffes ab.

»Erlaubt.«

Kühn warf er das Gewebe von hinten über ihre Schultern und raffte es in Taillenhöhe mit dem Geschick eines Mannes, der Stunden damit verbracht hatte, Faltenwürfe zu studieren und sie zu schattieren.

»Oh, Madame«, schnaubte die Kammerfrau. Es blieb unklar, ob sie damit die Verletzung der Etikette rügte oder den Effekt bewunderte, den das Blau der Seide bei ihrer Herrin bewirkte.

Es war Michelles Farbe. Lucas hatte es bereits gewusst, als er den Ballen im Lager entdeckt hatte. Es brachte ihre Haut zum Leuchten und ihre Augen zum Strahlen. Es machte die Prinzessin aus ihr, die sie von Geburt war.

»Welch herrliches Gewebe.«

Sie strich bewundernd darüber und berührte dabei seine Hand.

Lucas hätte nichts lieber getan, als diese Hand zu halten. Aber da war die doppelhörnige Kammerfrau, die dem Schlagfluss geneigt schien. Sie mussten sie loswerden.

»Rigoberta, seid so gut und lasst Euch vom Haushofmeister einen Beutel Silber geben, damit wir Herrn Contarinis Seide bezahlen können. Ich möchte bei meiner Abreise keine Schulden in Brügge hinterlassen.«

Michelle fügte ihrer Bitte eine Bewegung in Richtung Tür hinzu, die kein Zögern zuließ. Kaum war sie allein mit Lucas, lagen sie sich in den Armen.

»Dem Himmel sei Dank, dass du gekommen bist«, flüsterte Michelle und berührte sein Gesicht zärtlich mit den Fingerspitzen. »Wie geht es dir? Ich habe Nachricht in das Haus geschickt, aber ich wusste nicht, ob du sie erhalten hast. Konntest du deinen Vater beruhigen? Ich kann nicht länger in Brügge bleiben. Mein Mann hat mich nach Gent zurückbeordert.«

»Seit wann legt er Wert auf deine Gesellschaft?«

»Das frage ich mich auch, vielleicht möchte er bei den Feiern zum Erntedankfest die Form wahren. Dass er mir Rigoberta geschickt hat, stimmt mich jedoch bedenklich. Vielleicht lässt er mich ausspionieren.«

»Kann es sein, dass er von uns weiß?«

Michelle erwiderte mit einem innigen Kuss: »Nein, wir waren wohl vorsichtig genug. Aber wir dürfen kein neues Risiko eingehen. Du wirst mein Bild nie fertigmalen können.«

»Ich trage es in meinem Herzen.«

Sie wich zurück und fasste sich nur mit Mühe.

»Ich wünschte …«, begann sie, aber ein Geräusch an der Tür unterbrach sie.

Rigoberta segelte herein, erkennbar außer Atem. Obwohl ihre Augen kritisch von Michelle zu Lucas wanderten, fand sie keine Bestätigung für Unschicklichkeiten. Michelle stand inzwischen neben dem Fenster, Lucas faltete die Seide sorgsam wieder auf den Ballen.

»Ich hoffe, es ist ausreichend, Herr Contarini.« Die Kammerfrau ließ einen Beutel mit Münzen gönnerhaft neben die Seide fallen.

Michelle ignorierte Rigobertas herablassende Geste. Ihre Blicke umfingen Lucas. Wie unter einem Zwang hielt sie ihm die Hand zum letzten Kuss entgegen.

Er beugte sich respektvoll darüber. Sie nicht küssen zu dürfen stellte seine Selbstbeherrschung auf eine unerträgliche Probe.

»Gott sei mit Euch, mein Freund«, vernahm er ihre leisen Worte, ehe sie die Kammerfrau noch bat, die Seide in ihre Truhen zu packen. Sie war fort, bevor er sich wieder gesammelt hatte.

Eine Weile verharrte Lucas wie angewurzelt im Raum, unfähig, irgendetwas zu tun. Die Kammer schien ihm völlig leer. Lediglich ein leiser Duft erinnerte an Michelle. Er befestigte mechanisch die Börse mit den Silberstücken am Gürtel, ohne sich um Inhalt oder Gewicht zu kümmern, dann verließ er die Burg.

Sie hatten beide gewusst, dass es ein kurzes Glück sein würde. Dass sie dem Schicksal nur eine Handvoll davon abtrotzen können würden und dass ihnen auch das in Wirklichkeit nicht zustand. Dennoch, der Abschied verwundete ihn, ließ ihn den ganzen Schmerz des Verzichts spüren.

 

»Contarini, auf ein Wort.«

Lucas sah irritiert über die Schulter. Hendrik löste sich von einer Säule in der Eingangshalle der Burg. Verfolgte er ihn schon wieder?

»Ich bin in Eile«, antwortete er schroff. Ihm war klar, dass Hendrik nach dem Gespräch im Bunten Hund auf eine Antwort von ihm wartete.

»Kein Problem, ich begleite dich.« Hendrik blieb an seiner Seite, als wären sie die besten Freunde.

»Wie ich sehe, macht das Haus Contarini immer noch Geschäfte mit den Fürstenhäusern«, schwadronierte er. »Was war es dieses Mal? Stoffe? Edelsteine? Duftelixiere? Es hält ein Handelshaus am Leben, wenn seine Herren es verstehen, die geheimen Wünsche der hohen Herrschaften zu erfüllen, nicht wahr? Wohin bist du unterwegs? Hast du schon Ersatz für deine Zuflucht im Weberviertel gefunden? Jeder Mann braucht einen Ort, an den er sich zurückziehen kann.«

»Was willst du?«, unterbrach Lucas ungehalten das Geschwätz.

»Mit dir plaudern«, entgegnete Hendrik. »Hast du schon gehört, dass die Familie van der Buerse eine Belohnung für die Ergreifung von Jans Mörder ausgesetzt hat? Fünf Goldstücke wollen sie für den richtigen Hinweis geben.«

Natürlich. Hendrik hatte ihm aufgelauert um die Schlinge enger zu ziehen. Lucas blieb unvermittelt stehen und maß ihn mit einem abschätzigen Blick. »Was erwartest du? Dass ich dir meine Schwester mit gebundenen Händen ins Haus liefere? Sogar wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Sie soll nicht für meine Fehler büßen. Dafür muss ich schon selbst einstehen.«

»Wie ehrenhaft«, lobte ihn Hendrik, übertriebene Bewunderung heuchelnd, ehe er sich für die Abfuhr rächte. »Vergiss aber über deiner edlen Gesinnung nicht, wohin das für dich führen kann. Du solltest in Ruhe nachdenken, ehe du Entscheidungen triffst. Vielleicht an deinem Fluchtort. Ich bin sicher, dass dein Edelmut noch auf eine harte Probe gestellt sein wird. Aber du weißt ja, wo du mich dann findest.«

Sie wechselten keinen Gruß. Jeder ging in eine andere Richtung. Lucas kämpfte mit sich. Sein Scharfsinn sagte ihm, dass er die Gefahr nicht unterschätzen durfte.

Hendriks Fingerzeig auf das Haus im Weberviertel war besonders hinterhältig. Seit dem Nachmittag mit Michelle war er nicht mehr dort gewesen. Er hatte gehofft, der Zorn seines Vaters würde sich schneller legen, wenn er es mied.

Doch jetzt plötzlich verspürte er ein fast irrationales Verlangen nach diesem Refugium. Er wechselte die Richtung und beschleunigte die Schritte. An der Einmündung zu seiner Gasse musste er einer Gruppe von Schweinen und einem Ochsenfuhrwerk ausweichen. Das Fuhrwerk zog eine Wolke von Staub hinter sich her, die sich auch nicht lichtete, als es längst vorbeigerattert war.

Der Staub nährte sich aus einer anderen Quelle.

Die letzten Schritte rannte Lucas, doch er kam zu spät.

4. Kapitel

Brügge, 3. September 1419

Nachts lag Christina im Bett und grübelte über ihre Zukunft nach. Keinen von der Liste ihres Vaters wollte sie zum Mann nehmen.

»Schwester!«

Christina fuhr aus den Kissen. Sie blinzelte verstört in die Flamme einer Kerze, die jemand über ihrem Lager in die Höhe hielt.

»Lucas. Hast du den Verstand verloren? Du hast mich zu Tode erschreckt. Was ist los?«

Sie strich sich die Haare aus der Stirn. Scharf stieg ihr der Geruch von Bier, gemischt mit dem von Körperausdünstungen, die die Kleider des Bruders verströmten, in die Nase. Ohne Fragen zu stellen, verließ sie das Bett, hüllte ihren Körper in einen Hausmantel und entzündete noch weitere Kerzen. Erst dann wandte sie sich zu Lucas um, der mitten im Raum stand, als hätten ihn die Dämonen der Hölle berührt.

Sein Anblick verursachte Christina einen Schock. Bleich wie der Tod, das Haar wirr und vor Schmutz starrend, sah er aus, als wäre er zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage in eine Prügelei geraten.

»Um Gottes willen, was ist mir dir?« Christina hielt eine Kerze zur Tür hinaus, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand gefolgt war. Erst dann wagte sie ihre Befürchtungen auszusprechen. »Geht es um den Mord an van der Buerse? Hat dich jemand beschuldigt? Musstest du fliehen?«

Lucas schüttelte stumm den Kopf, stellte seinen Leuchter ab und ließ sich auf einen Hocker sinken. Die Hände auf den Knien, die Schultern müde gebeugt, starrte er auf den Boden. Seine Kleidung war völlig zerrissen und staubig. Erst nach einer Weile fühlte er sich in der Lage zu antworten. Seine Stimme klang monoton.

»Wusstest du, dass Vater das Haus am Kanal verkauft hat?«

»Deine Werkstatt? Das kann er nicht. Das Haus gehört Großmutter.«

»Er kann sehr wohl. Er hat es dem alten van der Molen in den Rachen geworfen. Es wurde abgerissen. Die ganze Straßenzeile gehört jetzt Albinus van der Molen. Er will dort neue Häuser für seine Weber bauen.«

»Abgerissen? Heute?« Christina begriff.

»Heute.« Er sah sie mit Augen an, in denen jedes Leben erloschen war. »Alles, woran mein Herz hing, ist weg. Farben, Leinwände, Skizzen. Ich habe nur noch Steine und Trümmer vorgefunden.«

Stumm legte Christina ihm eine Hand auf die Schulter. Sie wusste, dass ihn keine Worte trösten konnten. Die Konsequenz, mit der ihr Vater seine Drohungen in die Tat umsetzte, war furchteinflößend.

»Ich wollte nicht glauben, dass er mir den Raum zum Leben nimmt. Er hat mich beordert, morgen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang im Kontor zu sein. Er … er nimmt mir die Luft zum Atmen, aber das ist ihm egal. Ein Contarini darf nur atmen, wenn er es erlaubt.«

Der Bruder beschrieb ihre eigene Lage. Auch sie hatte der Vater gewarnt. Er würde sein Wort wahrmachen und sie gegen ihren Willen verheiraten. Dass er sie damit für ein ganzes Leben lang unglücklich machte, zählte nicht.

»Was willst du tun? Gehorchen?«

»Bleibt mir eine andere Wahl?«, fragte Lucas.

Ihr Herz stockte. Woher sollte sie den Mut nehmen, sich den väterlichen Befehlen zu widersetzen, wenn sogar Lucas resignierte?

»Man hat immer eine Wahl«, entgegnete sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Und sei es nur die zwischen ja und nein.«

»Ach ja?« Lucas lachte, aber es klang entsetzlich. »Sag mir, Schwester, wozu hast du dich entschieden? Wirst du Hendrik van der Molen zum Gemahl nehmen? Vater hält ihn für eine gute Partie.«

»Er ist allenfalls einer für eine Frau, der man jede Spur von Selbstachtung und Stolz ausgetrieben hat«, zischte sie aufbrausend.

»Ich fürchte, einer Ehe wirst du trotzdem nicht entrinnen können.« Lucas erhob sich schwerfällig. »So wenig, wie ich den Folgen einer Tat entkommen kann, die ich nicht begangen habe. Wenn Vater davon erfährt, wird er mich im Kontor anketten, falls ich nicht zuvor auf den Richtplatz geführt werde.«

»Sag nicht solche Dinge«, beschwor ihn Christina leidenschaftlich. »Du bist kein Mörder! Ich weiß es ebenso sicher wie du selbst.«

»Aber wir können es nicht beweisen.« Lucas rieb sich die zerschundenen Hände.

»Man redet davon, dass der Tote seinen Mörder im Bunten Hund getroffen hat. Niemand bringt auch nur den Hauch eines Verdachts gegen dich ins Spiel. Von denen, die es besser wissen, hat keiner den Mund aufgetan. Deine Freunde stehen loyal zu dir.«

Lucas verzog das Gesicht. Sie hatte den Eindruck, er wollte etwas sagen und nähme im letzten Augenblick davon Abstand.

»Machst du dir Sorgen wegen Hannah und Daniel? Das musst du nicht. Sie werden nicht sagen, was geschehen ist. Du weißt, wie sehr Hannah dir zugetan ist, und Daniel ist ein kluger Kopf.«

»Lob für einen Mann aus deinem Mund? Wie kommt’s? Was ist mit dir geschehen, Schwester?«

Ungewohnt verlegen mied sie seinen Blick. »Dort ist die Waschschüssel. Du solltest dich lieber säubern, statt alberne Vermutungen anzustellen. Was hast du eigentlich mit deinen Händen gemacht?«

»Den übriggebliebenen Schutt nach meinen Sachen durchwühlt. Umsonst. Sie haben sogar die Herdstelle beseitigt und den Steintisch zerschlagen, den ich aufstellen ließ, um meine Farben zu reiben.«

Lucas wusch sich die Hände und warf sich Wasser ins Gesicht. Er rieb sich die Wangen und die Stirn, als wolle er von ihr die Erinnerung an die Zerstörung spülen.

»Keine Skizze, kein Entwurf, nichts ist mir von Michelle geblieben.«

»Was hast du von Michelle gehört?«, fragte sie nach.

Der Versuch, ihn auf andere Gedanken zu bringen, war erfolgreich. Lucas trocknete sein Gesicht und die Hände, während er berichtete.

»Ich habe ihr einen Ballen Seide aus der Lieferung verkauft, die gestern aus Florenz eintraf. Aquamarinblau. Der Stoff wird sie wenigstens an mich erinnern, wenn sie einmal unsere Herzogin ist.«

»Noch ist sie es nicht. Johann Ohnefurcht regiert und er wird es noch viele Jahre tun, wenn er nicht vorzeitig auf dem Schlachtfeld zu Tode kommt. Bis dahin ist sie lediglich die Gemahlin des Statthalters von Flandern.«

Christina verfolgte die politischen Geschehnisse, wie ihr Großvater es sie gelehrt hatte. Jeder gute Kaufmann müsse seine Geschäfte mit Blick auf die Mächtigen des Landes führen, war seine Rede gewesen. Ihre Kriege, ihre Feste und ihre Pläne seien das Brot des Handels. Von ihrem Vater jedoch erntete sie meist unwillige Blicke, wenn sie Fragen stellte und mehr wissen wollte.

Sie drängte ihre abschweifenden Gedanken zurück und nahm ihrem Bruder das nasse Handtuch ab. Er strich sich die feuchten Haare aus der Stirn und suchte ihre Augen.

»Nun, Schwester, was denkst du sollten wir tun? Resignieren?«

Christina schwieg, aber Schulterhaltung, Blick und Gesichtsausdruck sagten eindeutig NEIN.

»Kann es sein, dass du dir Daniel Katz in den Kopf gesetzt hast?« Lucas kam auf die Frage zurück, die sie ihm nicht beantwortet hatte. »Wie gedenkst du das unserer Mutter klarzumachen? Es fehlt ihr an der Toleranz, die unsere Großmutter in so reichem Maße besitzt. Wobei ich bezweifle, dass sie in diesem Fall einverstanden wäre.«

Christina konnte ihm nicht widersprechen.

»Ich habe mir niemanden in den Kopf gesetzt«, sagte sie schließlich. Weniger aus Überzeugung, sondern weil sie nicht länger darüber reden wollte.

»Versuch nicht zu lügen, Schwester. Du konntest es noch nie, man sieht es dir an.«

Christina schüttelte unwirsch den Kopf. Was sollte sie sagen?

Innerhalb weniger Tage war ihr Daniel auf eine Weise ans Herz gewachsen, die sie selbst beunruhigte. Die Zeit verging wie im Flug, wenn sie bei Hannah mit ihm sprach. Wenn sie ihm zuhören und ihn sehen konnte. In seiner Gegenwart leuchteten die Farben heller, und sie atmete leichter. Sie empfand eine Freude am Leben, die neu und berauschend für sie war. Kein Mann hatte je solche Empfindungen in ihr geweckt.

»Zum Donner, Christina! Du träumst mit offenen Augen.« Lucas fasste sie an den Schultern und drehte sie wieder zu sich herum. »Komm zu dir, Schwester! Der Mann ist Jude. Es ist völlig ausgeschlossen, dass aus euch beiden etwas wird. Es liegen Welten zwischen euch, ganz zu schweigen von den Verboten.«

»Musst ausgerechnet du mir einen Vorwurf daraus machen, dass ich mein Herz an den falschen Mann hänge?«, verlor sie die Fassung. »Kannst du so einfach aufhören, Michelle zu lieben?«

Sie nahm ihm den Wind aus den Segeln. Beide sahen sich an und wussten nicht weiter.

»Es gibt keinen Ausweg, weder für dich noch für mich«, stellte Lucas nüchtern fest. »Vater ist das Familienoberhaupt, und du siehst, was geschieht, wenn man sich ihm widersetzt. Sein Einfluss reicht so weit, dass mich keine Bilderwerkstatt in ganz Flandern je aufnehmen wird. Ich habe die Wahl, auf der Straße zu verhungern oder zu gehorchen. Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst, Schwester. Schon gar keine, die irgendetwas mit Daniel Katz zu tun haben. Auch wenn sein Vater ein reicher Mann ist, so ist doch für ihn die Verbindung seines Sohnes mit einer Contarini so undenkbar wie für dich eine mit einem Katz.«

»Sei’s drum. Ich lasse mich nicht von meinem Vater wie einen Handelsposten an den meistbietenden Freier versteigern«, widersprach sie erbittert. Sie befreite sich aus seinem Griff und holte die Liste vom Tisch. »Da sieh. Welchen der Herren möchtest du mir für die Übung in Gehorsam empfehlen?«