Bei den wilden Kerlen - Dave Eggers - E-Book

Bei den wilden Kerlen E-Book

Dave Eggers

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Beschreibung

*Der Klassiker von Maurice Sendak als herrlich anarchischer Romanp.Bei den wilden Kerlen, der hinreißende All-Age-Roman von Dave Eggers, entstand auf Wunsch von Maurice Sendak, dem Autor des Bilderbuch-Klassikers Wo die wilden Kerle wohnen. Eggers' Roman wurde von Spike Jonze fürs Kino verfilmt. Roman und Film wurden von der Kritik gefeiert und sind ein anhaltender Publikumserfolg. Der achtjährige Max, Sohn getrennter Eltern, frech, wild und sensibel zugleich, rennt nach einem Streit mit seiner Mutter von zu Hause fort und kommt nach langer Fahrt übers Meer zur Insel, wo die wilden Kerle wohnen: riesige, launenhafte Wesen, die ihn bald zu ihrem König machen. Ein phantastisches Abenteuer beginnt, das Max im Innersten verändert.

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Seitenzahl: 290

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Dave Eggers

Bei den wilden Kerlen

Roman

Nach dem Kinderbuch»Wo die wilden Kerle wohnen«von Maurice Sendak und dem Drehbuch»Wo die wilden Kerle wohnen«von Dave Eggers undSpike JonzeDeutsch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Dave Eggers

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Danksagung
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Für Maurice Sendak, einen ungemein mutigen und wunderbaren Mann

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Kapitel 1

Ebenso atemlos wie Stumpy jagte Max seinen wolkenweißen Hund japsend oben über den Fluyr, die Holztreppe hinunter und in die kalte Diele. Max und Stumpy tollten und balgten oft so durchs Haus, obwohl Max’ Mutter und Schwester, die beiden anderen Hausbewohner, den wilden Krach gar nicht leiden konnten. Max’ Dad wohnte in der Stadt und rief mittwochs und sonntags an, aber manchmal auch nicht.

Max stürzte sich auf Stumpy, verfehlte ihn, knallte gegen die Haustür und riss den Korb vom Türknauf. Dieser Korb war ein kleines geflochtenes Ding, das Max bescheuert fand, aber Max’ Mom wollte es unbedingt am Knauf der Haustür hängen haben, als Glücksbringer. Der Korb taugte in erster Linie dazu, runtergerissen zu werden und auf dem Fußboden zu landen, wo man leicht drauftrat. Und so riss Max den Korb runter, und Stumpy trat prompt drauf, das heißt, glatt durch den geflochtenen Boden hindurch, der dabei ein unseliges Korbreißgeräusch von sich gab. Max erschrak kurz, doch sein Schrecken verflog gleich wieder, als er sah, wie Stumpy versuchte, mit einem Korb am Bein durchs Haus zu laufen. Max kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen. Jeder normale Mensch hätte das lustig gefunden.

»Willst du die Spastinummer den ganzen Tag abziehen?«, fragte Claire, die plötzlich vor Max stand. »Du bist erst seit zehn Minuten zu Hause.«

Seine Schwester Claire war vierzehn, fast fünfzehn, und sie interessierte sich nicht mehr für Max, jedenfalls nicht durchgängig. Claire ging jetzt auf die Highschool, und alles, was sie immer gern zusammen gespielt hatten – einschließlich Herr und Wolf, ein Spiel, das Max immer noch toll fand –, war jetzt unter ihrer Würde. Sie hatte sich einen ständig unzufriedenen und gereizten Tonfall zugelegt, mit dem sie alles quittierte, was Max machte, und so gut wie alles, was auf der Welt vor sich ging.

Max überging Claires Frage; jede Antwort wäre problematisch. Wenn er »Nein« sagte, bestätigte er damit, dass er sich wie ein Spasti aufgeführt hatte, und wenn er »Ja« sagte, hieß das, dass er nicht nur zugab, sich wie ein Spasti aufgeführt zu haben, sondern auch noch vorhatte, sich weiterhin wie einer aufzuführen.

»Du machst dich mal besser rar«, sagte Claire, eine Lieblingsformulierung von ihrem Dad. »Ich krieg nämlich Besuch.«

Eigentlich hätte Claire wissen müssen, dass Max sich erst recht bemerkbar machen wollte, wenn man ihm sagte, er solle sich rar machen, und dass er auf Teufel komm raus dableiben wollte, gerade weil sie Besuch erwartete. »Kommt Meika auch?«, fragte er. Meika mochte er am liebsten von Claires Freunden, die anderen waren alle dämlich. Meika beachtete ihn, redete richtig mit ihm, stellte ihm Fragen, war einmal sogar in sein Zimmer gekommen, um mit ihm Lego zu spielen und das Wolfskostüm zu bestaunen, das an seiner Schranktür hing. Sie hatte nicht vergessen, was Spaß machte.

»Geht dich gar nichts an«, sagte Claire. »Lass uns einfach in Ruhe, okay? Frag ja nicht, ob sie mit dir und deinen Bauklötzen spielen oder irgendwas anderes Beknacktes machen wollen.«

Max wusste, dass es mit jemand anderem zusammen lustiger wäre, Claire und ihre Freunde zu beobachten und zu ärgern, deshalb ging er nach draußen, stieg auf sein Fahrrad und fuhr die Straße runter zu Clay. Clay war neu in der Siedlung. Er wohnte in einem der neu gebauten Häuser am Ende der Straße. Und obwohl er blass war und einen zu großen Kopf hatte, gab Max ihm eine Chance.

Max kurvte in Schlangenlinien über den Bürgersteig und malte sich aus, was er und Clay mit Claires Freunden alles spielen oder, falls das nicht ging, mit ihnen anstellen könnten. Es war Dezember, und der Schnee, der noch vor ein paar Tagen trocken und pulvrig gewesen war, schmolz jetzt, sodass die Straßen und Bürgersteige matschig waren und die Rasenflächen aussahen wie ein Flickenteppich.

Irgendetwas ging in Max’ Siedlung vor sich. Die alten Häuser wurden abgerissen, und an ihrer Stelle wuchsen neue, größere und lautere Häuser. Auf seiner Straße standen vierzehn Häuser, und sechs davon, allesamt ziemlich kleine einstöckige Bungalows, waren in den letzten zwei Monaten abgerissen worden. Jedes Mal war es nach dem gleichen Muster abgelaufen: Die Besitzer waren weggezogen oder an Altersschwäche gestorben, und den neuen Besitzern gefiel zwar die Lage, aber sie wollten an der Stelle lieber ein wesentlich größeres Haus haben. Somit war in ihrer Gegend jetzt ständiger Baulärm an der Tagesordnung, und Max konnte sich über einen schier endlosen Vorrat an ausrangierten Materialien freuen – Nägel, Holz, Draht, Dämmplatten und Fliesen. Daraus hatte er sich eine Art eigenes Haus zusammengeschustert, in einem Baum, im Wald am See.

Am Ziel angekommen, ließ Max sein Fahrrad fallen und klopfte an die Tür von Clay Mahoney. Er bückte sich, um seine Schuhe zuzubinden, und als er mit der Schleife am linken Schuh fertig war, flog die Tür auf.

»Max?« Clays Mutter ragte vor ihm auf. Sie trug eine enge schwarze Hose und ein kleines weißes T-Shirt – TODAY! YES!, stand vorne drauf – über einem schwarzen Lycra-Top. Sie sah aus wie eine Abfahrtsläuferin. Hinter ihr war ein Fitnessvideo im Fernseher auf Pause gestellt. Auf der Mattscheibe reckten drei muskulöse Frauen die Arme nach schräg rechts oben, zum Äußersten entschlossen und mit verzerrter Miene griffen sie nach irgendwas weit außerhalb des Bildes.

»Ist Clay da?«, fragte Max und richtete sich auf.

»Nein, tut mir leid, Max, der ist nicht da.«

Sie hatte einen großen silbernen Behälter mit schwarzem Henkel in der Hand – eine Art Kaffeebecher –, und während sie einen Schluck trank, ließ sie den Blick über die Veranda schweifen.

»Bist du allein?«, fragte sie.

Max dachte kurz über die Frage nach, suchte nach einer zweiten Bedeutung. Natürlich war er allein.

»Ja«, sagte er.

Max war aufgefallen, dass sie ein Gesicht hatte, das immerzu überrascht wirkte. Ihre Haltung und Stimme sollten Scharfsinn ausdrücken, aber ihre Augen sagten, Tatsächlich? Was? Wie ist das möglich?

»Wie bist du hergekommen?«, fragte sie.

Noch so eine komische Frage. Max’ Fahrrad lag keine zwei Meter hinter ihm, unübersehbar. Konnte sie es nicht sehen?

»Mit dem Rad«, sagte er und deutete mit dem Daumen über die Schulter.

»Allein?«, fragte sie.

»Ja«, sagte er. Menschenskind, dachte Max.

»Allein?«, wiederholte sie. Ihre Augen waren groß geworden. Der arme Clay. Seine Mom war durchgeknallt. Max wusste, dass er aufpassen musste, was er zu einer Verrückten sagte. Sollte man Verrückte nicht ganz besonders vorsichtig behandeln? Er beschloss, sehr höflich zu sein.

»Ja, Mrs Mahoney. Ich … bin … allein.« Er sprach die Worte langsam und bedächtig aus und hielt die ganze Zeit Blickkontakt.

»Deine Eltern lassen dich mutterseelenallein mit dem Fahrrad herumfahren? Im Dezember? Ohne Helm?«

Die Frau hatte eindeutig ein Problem, das Offensichtliche zu schnallen. Max war offensichtlich allein und er war offensichtlich mit dem Fahrrad gekommen. Und er hatte nichts auf dem Kopf, womit sich die Frage nach dem Helm erübrigte. Jetzt hatte sie auch noch Wahnvorstellungen. Oder litt sie vielleicht unter funktioneller Blindheit?

»Ja, Mrs Mahoney. Ich brauche keinen Helm. Ich wohne ja gleich dahinten. Ich bin auf dem Bürgersteig gefahren.«

Er zeigte die Straße hinunter auf sein Haus, das von ihrer Tür aus zu sehen war. Mrs Mahoney legte eine Hand an die Stirn und kniff die Augen zusammen wie eine Schiffbrüchige, die den Horizont nach einem Rettungsboot absucht. Sie ließ die Hand sinken, richtete die Augen wieder auf Max und seufzte.

»Tja, Clay ist beim Quilt-Kurs«, sagte sie. Max wusste nicht, was ein Quilt-Kurs war, aber es hörte sich nach erheblich weniger Spaß an, als mit Eiszapfenspeeren nach Vögeln zu werfen, was Max vorgeschwebt hatte.

»Ja also, okay dann. Danke, Mrs Mahoney. Sagen Sie ihm, dass ich da war«, sagte er. Er winkte Clays verrückter Mom zum Abschied, drehte sich um und stieg auf sein Rad. Er hörte, wie die Tür der Mahoneys zufiel, als er losfuhr. Doch als er wieder auf den Bürgersteig Richtung zu Hause bog, ging Mrs Mahoney plötzlich neben ihm her, mit entschlossenen Schritten, ihren silbernen Trinkbehälter noch in der Hand.

»Ich kann dich nicht allein fahren lassen«, sagte sie, während sie im flotten Gang mit ihm Schritt hielt.

»Danke, Mrs Mahoney, aber ich fahre jeden Tag allein«, sagte er, wobei er vorsichtig in die Pedalen trat und wieder bewusst Blickkontakt hielt. Ihre Verrücktheit hatte sich verdreifacht, und sein Herz schlug doppelt so schnell.

»Aber heute nicht«, sagte sie und griff nach Max’ Sattel.

Jetzt kriegte er es mit der Angst. Die Frau war nicht bloß irre, die verfolgte ihn auch noch, wollte ihn packen. Er erhöhte das Tempo. Er schätzte, dass er mit dem Rad schneller war als sie zu Fuß, und das würde er ihr beweisen. Er stand jetzt auf den Pedalen.

Sie beschleunigte ihre Schritte – noch immer gehend! Ihre Ellbogen flogen links und rechts, ihr Mund ein rascher entschlossener Schlitz. Lächelte sie etwa?

»Ha!«, kicherte sie. »Das macht Spaß!«

Die verrücktesten Leute lächelten immer, während sie die verrücktesten Sachen machten. Die Frau hatte einen absoluten Oberknall.

»Bitte«, sagte er und strampelte jetzt so schnell er konnte. Fast hätte er einen Briefkasten gerammt, den von den Chungs, an dem ein großes Peace-Zeichen prangte, das in der Siedlung ganz schön für Wirbel gesorgt hatte. »Lassen Sie mich doch einfach fahren«, bettelte er.

»Keine Bange«, schnaubte sie, jetzt im flinken Trab. »Ich weiche dir nicht von der Seite.«

Wie konnte er sie abschütteln? Würde sie ihm bis ins Haus folgen? Bestimmt lauerte sie auf die Chance, mit ihm allein zu sein, im Haus, damit sie ihm irgendwas antun konnte. Mit diesem Kaffeeding könnte sie ihm eins überbraten. Oder vielleicht würde sie sich ein Kissen schnappen, ihn zu Boden drücken und ersticken? Das schien eher ihr Stil zu sein. Sie hatte den klarsichtigen, tüchtigen Blick einer mordlustigen Krankenschwester.

Jetzt ertönte Gebell. Max drehte sich um und sah, dass der Hund der Scolas neben ihnen herrannte, Mrs Mahoney anbellte und ihr in die Knöchel zwickte. Mrs Mahoney beachtete ihn kaum. Ihre Augen waren größer denn je. Die Anstrengung machte sie anscheinend noch beschwingter.

»Endorphine!«, trällerte sie. »Danke, Max!«

»Mrs Mahoney, bitte«, sagte er. »Was haben Sie mit mir vor?« Es waren noch knapp zehn Häuser bis zu seinem.

»Dich beschützen«, sagte sie, »vor dem Ganzen hier.«

Sie schwenkte den Arm, deutete auf die Siedlung, in der Max geboren und aufgewachsen war. Es war eine ruhige Straße mit hohen Ulmen und Eichen, und sie endete in einer Sackgasse. Am Ende der Sackgasse fing ein Wald an, dann kam der See. Nichts Grässliches oder auch nur Bemerkenswertes war je auf dieser Straße geschehen, auch nicht in der Stadt, nicht mal im Umkreis von vierhundert Meilen.

Max machte plötzlich einen Schwenker, verließ den Bürgersteig und schoss über die Bordsteinkante auf die Straße.

»Die Straße!«, keuchte Mrs Mahoney, als hätte er sein Rad in einen flüssigen Lavastrom gesteuert. Die Straße war leer, wie eigentlich immer. Doch gleich darauf war Mrs Mahoney direkt hinter ihm, rannte jetzt, griff wieder nach seinem Sattel.

Max entschied, dass es dumm wäre, nach Hause zu fahren, weil sie ihn ja genau da haben wollte. Er säße in der Falle, und sie würde ihn ganz sicher erledigen. Seine einzige Chance zu entkommen war der Wald.

Er erhöhte wieder das Tempo, bis er genügend Abstand hatte, um umzukehren, dann wendete er blitzschnell und fuhr zurück Richtung Sackgassenende, hoffte, es in den Wald zu schaffen.

»Wo willst du denn hin?«, jammerte sie.

Max hätte fast losgelacht. Sie würde ihm ja wohl nicht in den Wald folgen, oder? Er sah nach hinten, und obwohl sie etwas zurückgefallen war, dauerte es nicht lange, und sie sprintete wieder los. Mann, war die schnell! Er war kurz vor dem Ende der Straße, schon fast an den Bäumen.

»Ich lass dich nicht aus den Augen!«, rief sie mit Fistelstimme. »Keine Sorge!«

Er schoss wieder über die Bordsteinkante – was Mrs Mahoney ein entsetztes Heulen entlockte – und rumpelte über das harte Gras und den Schnee. Gleich darauf tauchte er unter die ersten niedrigen Äste der großen Kiefern mit ihren weißen Schnurrbärten, schlängelte sich zwischen den Stämmen hindurch.

»MAAAAAX!«, schrie sie. »Nicht in den Wald!«

Er verschwand in den Wald und fuhr Richtung Schlucht.

»Kinderschänder! Drogen! Obdachlose! Spritzbestecke!«, kreischte sie.

Die Schlucht war nicht weit entfernt, etwa sechs Meter tief und dreieinhalb Meter breit. Einen Monat zuvor hatte er aus Sperrholz eine breite Brücke darübergebaut. Wenn er es bis zur Schlucht und über die Brücke schaffte und das Brett dann rechtzeitig wegziehen könnte, wäre er vielleicht in Sicherheit.

»Halt an!«, schrie sie.

Er schwang sein Rad unter sich hin und her. Er war noch nie so schnell gefahren. Selbst der Hund von den Scolas hatte Mühe mitzukommen; er kläffte noch immer die Fersen der Frau an.

»Pass auf!«, kreischte sie. »Die Wie-nennt-ihr-sie-noch-mal! Die Schluuucht!«

Blöde Gans, dachte er. Er schaffte es zur Brücke, und wieder erscholl ein Schrei unermesslichen Entsetzens. »Neiiiiiin!«

Er polterte rasch über das Brett. Auf der anderen Seite bremste er schlitternd ab, ließ sein Rad fallen und packte die Planke. Sie war fast bei ihm, als er das Brett wegzog. Die Brücke fiel in die Schlucht und schlug krachend unten auf die Felsen.

Sie blieb abrupt stehen. »Verdammt!«, schrie sie. Sie verharrte eine Sekunde, die Hände in die Hüfte gestemmt, und japste nach Luft. »Wie soll ich dich beschützen, wenn du auf der anderen Seite bist?«

Max hätte ein paar pfiffige Antworten auf die Frage parat gehabt, sagte aber lieber nichts. Er stieg wieder aufs Rad, für den Fall, dass Mrs Mahoney auf die Idee käme, über die Schlucht zu springen. Sie war wesentlich stärker und schneller, als er gedacht hätte, daher konnte er das nicht ganz ausschließen.

In diesem Augenblick entschloss sich der Hund der Scolas, der in vollem Tempo angeflitzt kam, an Mrs Mahoney vorbei über die Schlucht zu springen, zu Max. Er flog mühelos rüber und landete auf Max’ Seite. Er drehte sich zu Mrs Mahoney um, blickte dann mit einem zähnebleckenden Grinsen und glücklichen Augen zu Max hoch, als hätten sie zwei beide gerade einen gemeinsamen Feind bezwungen. Max lachte, und als der Hund anfing, die Frau anzubellen, die vornübergebeugt am Rand der Schlucht stand, bellte Max auch. Sie bellten beide und bellten und bellten.

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Kapitel 2

»Hey, Claire!«, brüllte Max ins Haus. Keine Antwort.

Er brannte darauf, ihr das mit der irren Mrs Mahoney zu erzählen. Claire interessierte sich nicht immer für das, wofür Max sich interessierte, aber Geschichten über verrückte Leute fand sie immer lustig. Die hier würde sie glatt umhauen.

»Irgendwer zu Hause?«, fragte er, hoffte aber eigentlich nur auf seine Schwester. Der Freund seiner Mom, Gary, mit einem Kinn so weich wie Kuchen, kam manchmal früh von der Arbeit und machte ein Nickerchen auf der Couch. Er besudelte jeden Raum, in den er sich ergoss.

»Claire?«

Max schaute in der Küche nach, im Wohnzimmer, im Keller. Keine Spur von Claire. Er ging nach oben, und schließlich hörte er sie.

»Ich hab’s ihm nicht gezeigt. Das ist es ja eben«, sagte sie gerade.

Sie war am Telefon, als Max in ihr Zimmer kam, die ersten Worte seiner Geschichte schon auf der Zunge. Doch ehe er etwas sagen konnte, fixierte sie ihn mit einem bitterbösen Blick. Er verzog sich schnell wieder.

»Aber wieso erzählt sie dann so was? Das ist voll gelogen!«

Er wartete draußen vor der Tür. Wenn sie fertig war, würde er ihr die ganze Sache mit Mrs Mahoney und seinem Triumph erzählen, und zusammen würden sie sich irgendeinen Streich überlegen, den sie der Irren spielen konnten.

Aber andererseits, wieso warten? Claire würde es sofort erfahren wollen, das wusste Max, und sie würde ihm danken – weil er es ihr ersparte, das lästige Gespräch weiterzuführen, und ihr stattdessen ein weitaus besseres bot –, sobald sie Max’ Geschichte gehört hatte. Er ging zurück in ihr Zimmer und –

»Raus, verdammt noch mal!«, kreischte sie.

Er blieb einen Moment wie angewurzelt stehen, konnte sich vor Schreck weder bewegen noch etwas sagen. So hatte er sich das ganz und gar nicht vorgestellt.

»Raus!«, schrie sie wieder, doppelt so laut wie zuvor, und trat ihm die Tür vor der Nase zu.

 

Seine Wut war bodenlos und richtete sich mit all ihrer fürchterlichen Macht gegen Claire. Was hatte er denn getan? Er war in ihr Zimmer spaziert. Er hatte mit ihr reden wollen. Es war weder richtig noch fair von ihr, ihn so zu behandeln, und das wusste sie auch.

Und jetzt würde sie dafür bezahlen.

Es lag noch genug Schnee, um gut damit bauen zu können, und so beschloss er, aus der Schneewehe auf der anderen Straßenseite ein Fort mit allen Schikanen zu bauen. Und wenn Claires Freunde auftauchten, wäre Max bereit und würde seine Rache nehmen. Es würde grausam werden, aber sie hatte es nicht anders gewollt.

Er zog seine Schneesachen an und lief über die Straße. Mit der Gartenschaufel seiner Mom grub er sich tiefer und tiefer in die Schneemasse hinein und hatte schon bald die Hauptkammer fertig. Sie war groß genug für ihn und vielleicht noch eine weitere Person seiner Größe, und die Decke war so hoch, dass er aufrecht drin sitzen konnte. Mit der Schaufel meißelte er ein langes tiefes Regal in die innere Wand der Höhle, als Ablage für Schneebälle und vielleicht für Essenssachen oder Bücher. Wenn er eine Verlängerungsschnur auftreiben konnte, die lang und strapazierfähig genug war, so überlegte er, könnte er einen Fernseher aufstellen. Aber das hatte noch Zeit.

In die Wand zum Haus hin schnitt er einen schmalen Sehschlitz. Jetzt hatte er einen ausgezeichneten Blick auf die Einfahrt und die Haustür. Er würde bereit sein, wenn Claires Freunde kamen und wie üblich in der Einfahrt rumstanden, quatschten und so taten, als wüssten sie, wie man Tabak kaut, und dann braunen Saft in den grauen Schnee spuckten und sabberten.

Max sah auf die Uhr. Es war Viertel nach vier, was bedeutete, dass er wahrscheinlich noch fünfzehn Minuten hatte, bis sie kamen. Claires Freunde kamen – wenn sie kamen, manchmal kamen sie nämlich nicht, obwohl sie gesagt hatten, sie würden kommen – jeden Tag so gegen halb fünf, weil einer von den Jungs, der immer dabei war, ein Typ mit wilder Mähne namens Finn, jeden Tag des Jahres in der Schule nachsitzen musste. Wer würde so einen vom Nachsitzen abholen, nur um mit ihm zusammen zu sein? Claire und ihre beknackten Freunde. Die warteten an der Schule auf diesen Penner Finn, und dann kamen sie aus irgendwelchen Gründen zu Max nach Hause.

Max nutzte die Zeit, um ein gewaltiges Arsenal anzulegen. Der Schnee war genau richtig, gerade nass genug, um schön pappig zu sein. Er brauchte nur eine Handvoll Schnee zu nehmen, und schon war ein Schneeball fertig – Schneebälle, die sich fast wie von selbst machten. Jeden einzelnen drückte er von allen Seiten fest zusammen, strich ihn glatt, drückte ihn erneut zusammen, strich ihn noch einmal glatt und legte ihn auf das Regal. Nach zehn Minuten hatte er einunddreißig Schneebälle und keinen Platz mehr auf dem Regal.

Also baute er noch ein Regal.

In den verbleibenden fünf Minuten befand Max, dass er oben auf seinem Fort eine Flagge brauchte. Er verließ die Höhle und ging in den nahen Wald, wo er nach einem Stock suchte. Er fand einen, der über einen Meter lang war und so gerade wie ein Flaggenmast. Ihn steckte er ins Dach und band dann seine Mütze daran. Er trat ein Stück zurück und stellte zufrieden fest, dass es echt fast wie eine Flagge aussah – eine Flagge, die für eine große Nation und vor einer glorreichen und moralisch notwendigen Schlacht gehisst wurde.

Um halb fünf war er wieder in der kühlen Behaglichkeit seines Forts, wo er durch den Sehschlitz spähte und das Haus beobachtete. Nein, kalt war ihm nicht. Man möchte meinen, dass einem Jungen, der so lange draußen im Schnee war, kalt wäre, aber nicht Max. Ihm war warm, einerseits, weil er mehrere Schichten anhatte, und andererseits, weil Jungen, die teils Wolf und teils Wind sind, nicht frieren.

 

Um vier Uhr 38 fuhr ein Kombi in die Einfahrt. Max kannte den Wagen gut – ein alter roter Kombi, den einer von den Jungs, die immer vorbeikamen, fuhr. Zwei Jungs und ein Mädchen stiegen aus. Einer der Jungs war der mit der wilden Mähne namens Finn. Der andere trug immer Schwarz; das war Carlos. Das Mädchen hieß Meika, und Max liebte sie grenzenlos.

Max konnte Gesprächsfetzen verstehen, als sie in sein Haus gingen.

»Hat Tonya dir erzählt, sie war’s nicht?«, fragte Meika.

»Ja, hat sie«, sagte Carlos.

»Deshalb glauben wir ihr noch lange nicht«, sagte Finn.

Die Haustür öffnete sich, und Claire erschien.

»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Carlos.

»Was?«, sagte Claire, und sie lachten alle.

Claire tat so, als würde sie mitlachen, und dann marschierten sie hintereinander an ihr vorbei ins Haus. Eine Minute später tauchten sie wieder auf. Wahrscheinlich wollten sie Tabak kauen, und Claire hütete sich, das im Haus zu erlauben. Ihre Mom merkte das immer, noch Stunden oder Tage später. Als die Jungs und auch Claire mit ihrem ekelhaften Gehuste und Gespucke anfingen, wusste Max, dass der ideale Zeitpunkt gekommen war. Er wusste, was er zu tun hatte. »Okay. Okay«, sagte er zu sich. »Okay.«

Er schlich zum Eingang des Forts hinaus, ganz vorsichtig, damit ihn keine von den vier Zielscheiben gegenüber entdeckte. Er blieb auf der anderen Straßenseite stehen und beobachtete Claire und ihre Freunde genau, bis er sicher war, dass er unentdeckt geblieben war. Dann griff er nach hinten ins Fort und nahm seine Munition. Behutsam schob er so viele Schneebälle wie möglich in alle verfügbaren Taschen. Als die Taschen voll waren, verstaute er weitere Schneebälle kängurumäßig vorn in seiner Jacke. Zwanzig Schneebälle ließ er im Fort, für den Fall, dass er später Nachschub brauchte.

Jetzt musste er näher ran. Er musste über die Straße und im Nachbargarten in Position gehen. Dort wäre er durch einen Zaun vor feindlichem Feuer geschützt. Doch der Weg über die Straße war lang, und sie würden ihn ganz bestimmt laufen sehen, gerade mal zwölf Meter entfernt.

Dann hatte er eine Idee.

Er nahm einen seiner kleineren Schneebälle und warf ihn so weit er konnte. Er konnte weit werfen – er konnte einen Baseball mit einer Geschwindigkeit von vierundvierzig Meilen die Stunde werfen, laut dem Radardingsbums an den Schlagkäfigen –, und so segelte der Schneeball, ein kleiner, über die Köpfe von Claire und ihren Freunden und in den Garten des Nachbarn auf der anderen Seite. Als er landete, machte er ein lautes Kratzgeräusch, und die vier Teenager drehten alle die Köpfe, um nachzusehen, woher das Geräusch gekommen war. Während sie abgelenkt waren, flitzte Max über die Straße und hechtete hinter den Zaun des anderen Nachbarn.

Der Plan funktionierte. Max war schlauer, als er ertragen konnte. Er rückte rasch vor.

Jetzt war er nur knapp sechs Meter vom Feind entfernt, der durch den Zaun des Nachbarn verdeckt wurde. Die vier Teenager waren mit Tabakkauen beschäftigt, die Jungs steckten ihn sich in den Mund, die Mädchen sagten: »Das Zeug ist ekelig«, und dann sagten sie noch andere Sachen, die doof waren und überflüssig. Die ganze Zeit über hatte keiner von ihnen auch nur den leisesten Schimmer, dass ihnen ein vernichtender Angriff bevorstand.

Max ließ alle seine Schneebälle vor sich auf den Boden fallen und legte eine Reihe Munition auf dem unteren Balken des Zauns zurecht. Sieben Schneebälle behielt er in seinen diversen Taschen, für den Fall, dass er gegen den Feind vorrücken musste, um ihm den Rest zu geben.

Schließlich war er so weit. Er holte tief Luft, stieß so etwas wie Drachendampf aus und legte los.

Er feuerte eine Salve von fünf Schneebällen ab, einen nach dem anderen, warf sie schneller, als selbst er es für möglich gehalten hätte. Sein Arm war eine Art Maschine, wie eine Ballmaschine beim Tennis.

Wumm!

Wumm!

Wumm!

Einer traf den Typen mit der wilden Mähne an der Brust. Das Geräusch war unglaublich, ein hohles Plopp gegen seine wattierte Jacke.

»Scheiße!«, brüllte er.

Ein weiterer knallte Meika gegen den Oberschenkel.

»Aua! Mann!«, keuchte sie.

Einer krachte auf die Windschutzscheibe des Kombis; auch das Geräusch war toll. Zwei verfehlten ihr Ziel komplett, aber egal – Max schoss bereits eine weitere Salve ab. Vier weitere flogen von seinem Kanonenarm, und sie trafen Claires Schulter, das Dach und die Tür des Wagens und Carlos, direkt in den Schritt. Er krümmte sich. Fantastisch.

»Wer ist das?«, schrie Claire.

Max duckte sich hinter dem Zaun, doch zu spät, die Jungs hatten Max bereits als Angreifer ausgemacht. Sie hatten seine Position entdeckt. Max hatte sich erneut Munition zurechtgelegt, doch als er wieder über den Zaun lugte – »Da ist der kleine Scheißer!«, sagte einer –, traf ihn eine regelrechte Schneelawine, die ihm mit gewaltiger Wucht und Geschwindigkeit auf Kopf und Rücken fiel. Die Jungs waren flink gewesen und kippten eine Ladung Schnee über den Zaun auf Max. Die Schlacht ging schneller von einem Artilleriegefecht in den Nahkampf über, als Max erwartet hatte.

»Na, wie fühlt sich das an, du Fuzzi?«

»Du Idiot hast mich in die Eier getroffen.«

Wenn Max es über die Straße schaffte, wäre er in Sicherheit. Selbst wenn sie ihm über die Straße folgten, sie würden sein gut verstecktes Fort nie im Leben finden, erst recht nicht in seine Verteidigungsanlage eindringen können. Er sprintete los.

»Renn, kleiner Grashüpfer! Renn!«, riefen sie.

»Sieh dir an, wie der flitzen kann!«

Im Laufen schleuderte Max einen letzten Schneeball, in einem so hohen Bogen, dass er in die Sonne hinein verschwand, ehe Max sehen konnte, wo er landen würde.

Er rannte und war schon über die Straße, bevor die Jungs überhaupt reagieren konnten. Im Zickzack flitzte er durch die Kiefern, um eventuelle Verfolger abzuschütteln, und dann hörte er den letzten Schneeball mit einem eisigen Klatsch landen.

»Max, du Spasti!«, konnte er Claire rufen hören. »Du hast Meika ins Gesicht getroffen!«

Das tat ihm leid, denn Meika war die Einzige, die er nicht hatte treffen wollen. Würde sie ihn vielleicht für kräftiger halten, weil er sie ins Gesicht getroffen hatte? Lief das so? Er dachte, vielleicht. Max grinste, als er den Eingang des Forts erreichte. Vielleicht würde Meika ihm einen Kuss geben und ihn am Hals berühren, weil er ihr Schnee ins Gesicht geschmissen hatte.

Er spähte durch seinen Sehschlitz und sah, wie Claire Meika half, die weinte, das Gesicht rot und wund. Wieso weinte jemand, weil er von einem Ball aus Eis und Schnee, der vom Himmel gefallen war, nachdem er fast die Sonne berührt hatte, ins Gesicht getroffen worden war?

Max war enttäuscht von ihr. Mädchen waren solche Mädchen. Schon bald würde sie ständig weinen, wegen allem, genau wie Max’ Mom. Vor einigen Jahren hatte Max noch gesagt, »Was hast du denn?« und »Nicht weinen, Mom«, aber inzwischen brachte das auch nichts mehr.

»Wo ist er hin?«, sagte einer der Jungs. Max konnte die Stimme hören, konnte aber durch den Sehschlitz nicht erkennen, von wo sie kam.

»Moment. Sieh mal da, die Flagge«, sagte der andere Junge.

Max nahm sich vor: nächstes Mal keine Flagge.

Er hörte die Schritte der beiden Jungs ganz nah bei seinem Fort. Mann, waren die schnell. Jetzt waren sie hinter ihm. Er drehte sich um und konnte ihre Füße genau vor dem Eingang zur Höhle sehen.

»Er ist da drin«, sagte einer. »Ich kann seine blöden Schuhe sehen.«

»Hey, Kleiner, bist du da drin?«, fragte der andere.

»Er ist da drin«, sagte der Erste wieder. »Die Schuhe, Alter.«

»Komm raus oder wir holen dich.«

Max machte sich ernsthaft Sorgen. Sie hatten sein Fort entdeckt und wussten, dass er drin war. Er saß in der Falle, wenn er im Fort blieb, und würde wahrscheinlich niedergemetzelt, wenn er es verließ. Ihm blieb nicht viel übrig.

Jetzt war eine Hand im Innern des Forts. Einer von den Jungs hatte einen Arm durchs Dach gerammt. Wie hatte er das gemacht? Max trat fest dagegen, und der Arm wurde zurückgezogen.

»Aua! Jetzt bist du dran, Kleiner«, sagte eine Stimme.

Dann wurde es einen Moment sehr still.

Und Max konnte ihre Füße nicht mehr sehen.

Er hörte Gekicher, dann Getuschel.

Dann wurde es einen sehr langen Moment still.

Plötzlich Schritte auf dem Dach. Schneestaub rieselte von der Decke. Aber Max fühlte sich sicher, wusste er doch, dass zwischen dem Dach und seiner Kammer viele Schichten fest gepresster Schnee lagen. Sie stapften und stapften. Na und, dachte Max. Stapft, so viel ihr wollt.

Dann sprangen sie.

Es war ein Geräusch wie ein tiefes, lautes Husten.

Sie sprangen erneut.

Mehr Schneestaub rieselte von der Decke. Das Dach senkte sich auf Max’ Kopf. Er machte sich kleiner, lag schließlich flach. Doch die Decke sackte immer tiefer.

Das Knirschen von Erde, die Erde verschlang.

Sie sprangen noch einmal.

Dann weiß. Alles war weiß.

Und die Kälte, die Kälte! Sie war in seiner Jacke, in seinen Augen, seiner Nase, seiner Hose. Er konnte nicht atmen. Er konnte fast nichts hören. Er ertrank.

Dann hörte er das Lachen. Die Jungs lachten.

»Tolles Fort«, sagte einer.

»Komm raus«, sagte der andere.

Max konnte sich nicht bewegen. Er wusste nicht, ob er noch am Leben war.

»Aufstehen, kleiner Grashüpfer«, sagte eine Stimme.

Max konnte sich nicht bewegen. War er am Leben?

»Ach du Scheiße«, sagte eine Stimme.

Grabegeräusche. Hektisches Gekratze über ihm.

Das Gewicht auf Max’ Rücken wurde leichter, und auf einmal wurde er aus dem Weiß gehoben. Die Jungs zogen ihn hoch, und dann war er wieder in der Luft, atmete die leichte Luft. Aber er hatte keine Kraft. Er konnte nicht stehen. Er fiel zu Boden wie eine Puppe.

Er lag auf dem Schnee und hustete und hustete. Seine Augen waren verquollen, seine Haut wund. Die Augen versagten den Dienst, der Mund wollte sich nicht öffnen. Seine Lunge hob und senkte sich, seine Kehle brannte.

»Alles okay mit dir?«, fragte einer von ihnen.

Max rappelte sich hoch, kam auf die Knie, aber er konnte nicht sprechen. Er würgte Schnee und Schleim aus. Sein Herz hatte sich anscheinend gespalten, war nach Norden gewandert und schlug ihm jetzt in beiden Ohren.

Wo war Claire? Sie müsste doch jetzt bei ihm sein. Ihm einen Arm um die Schultern legen. Den Hals reiben. Die Hände auf seine Ohren drücken, heiße Luft pusten, um ihn aufzuwärmen, wie sie es vor einem Jahr gemacht hatte, als er nach dem Schneesturm in den zugefrorenen Bach eingebrochen war.

Aber Claire war nicht bei ihm. Max stand auf, und der Schnee in seiner Jacke rutschte ihm den Rücken herunter. Er fröstelte und zitterte. Er sah zu seiner Schwester hinüber, aber sie kümmerte sich um Meika und sah aus, als wäre es ihr egal, ob Max, ihr Bruder, mitten an diesem farblosen Nachmittag im Dezember starb.

 

»Geht’s wieder, Kleiner?«, fragte einer der Jungs. Der andere war schon zurück zu seinem Wagen gegangen.

Die Hupe ertönte. Jetzt zuckte der zweite Junge die Achseln, ließ Max stehen und lief zum Wagen. Claire zögerte kurz in der Einfahrt und blickte in Max’ Richtung. In dem kurzen Moment hatte Max die Hoffnung, dass sie zu ihm kommen würde, dass sie ihn ins Haus bringen, ihm ein Bad einlassen, bei ihm bleiben und über die Jungs schimpfen und sie nie wiedersehen würde. Dass sie wieder seine Schwester wäre.

»Dein Bruder ist ganz schön empfindlich, was?«, sagte ein Gesicht am offenen Fenster des Wagens. Es war Finn, der Typ mit den wilden Haaren.

»Und wie«, sagte Claire. Sie wandte sich von Max ab, kletterte auf die Rückbank und schloss die Tür. Der Wagen setzte zurück auf die Straße und fuhr davon.

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Kapitel 3

Max hatte keine Schwester mehr.

Er ging zurück ins Haus, und ehe er recht wusste, was er da eigentlich tat, war er schon in der Küche, wo er unter die Spüle schaute und einen großen Eimer hervorholte. Er drehte den Eimer auf den Kopf und kippte die Reiniger, Sprays und Bürsten aus. Dann ging er mit dem Eimer nach oben in das Badezimmer, das er sich mit Claire teilte.

Er drehte den Hahn in der Badewanne auf und stellte den Eimer darunter. Während der Eimer volllief, sah Max sich im Badezimmerspiegel. Er war klatschnass, jeder Teil seines Körpers war nass, und sein Gesicht war rot, verwildert. Es gefiel ihm, wie er aussah.

Der Eimer war voll, und er wollte ihn hochheben. Zu schwer, also goss er ein Drittel ab. Dann nahm er den Eimer, in dem es schwappte und platschte, und trug ihn in Claires Zimmer.

Es war ein Zimmer im Wandel. Sie hatte immer ein plüschiges Bett in Rosa und Taubenblau gehabt, darüber einen Baldachin, doch jetzt war es unter einer hässlichen Häkeldecke verschwunden, die sie auf dem Parkplatz bei irgendeinem Konzert in der Stadt gekauft hatte.

Ehe er länger drüber nachdachte, kippte er seinen Eimer auf dem Bett aus, wo das Wasser sich mit einem lauten Platsch augenblicklich über die ganze Matratze verteilte.

Max ging zurück ins Bad, wo das Wasser noch lief. Er füllte den Eimer erneut, kehrte zurück in Claires Zimmer und kippte den Inhalt diesmal auf den Boden, wo der Teppichboden das Wasser im Nu aufsaugte. Es war sehr befriedigend, machte aber auch Lust auf mehr. Er füllte den Eimer wieder und wieder und schüttete ihn wieder und wieder aus, überschwemmte Claires Kommode, ihren Schrank – jeden Teil ihres Zimmers. Auf diese Weise leerte er sieben Eimer, goss Wasser über den Stuhl, wo sie ihre Klamotten hinwarf, über ihre geliebte Puppen- und Kuscheltiersammlung und ihre Feldhockeysachen, über ihre Pinnwand, an die sie Bilder von sich und ihren nichtsnutzigen Freunden geheftet hatte.