Bis an die Grenze - Dave Eggers - E-Book

Bis an die Grenze E-Book

Dave Eggers

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Beschreibung

Eine Mutter auf der Flucht – ein Roadtrip ans Ende der Zivilisation »Bis an die Grenze« ist ein berührender, warmherziger Roman, in dessen Zentrum Josie steht, eine alleinerziehende Mutter, die mitsamt ihren beiden Kindern aus den Zwängen ihres Vorstadtlebens flieht und sich in der Wildnis Alaskas neu zu finden sucht. Dave Eggers Porträt einer Frau, die hin- und hergerissen ist zwischen dem Wunsch nach Konformität und nach Freiheit, ist hochkomisch, wahrhaftig und ungemein aktuell. Josie, eine Zahnärztin, die ihre Praxis hat schließen müssen, bekommt Panik, als ihr Exmann darum bittet, die gemeinsamen Kinder seiner neuen Verlobten vorstellen zu dürfen. Sie packt die Kinder und flieht mit ihnen an den entlegensten Ort, der für sie ohne Pass erreichbar ist: Alaska. Die Reise in dem angemieteten, abgetakelten Wohnmobil durch die Wildnis rüttelt die Familie durcheinander. Der achtjährige Paul übernimmt die fürsorgliche Vaterrolle in der Familie, während die fünfjährige Ana Chaos und Zerstörung magisch anzieht. Was sich zunächst wie ein Abenteuerurlaub am Ende der Welt anfühlt, wird schnell zur verzweifelten Flucht, nicht zuletzt vor einem Lauffeuer, das in der Region ausgebrochen ist. Doch nicht nur das Feuer scheint Josie auf den Fersen zu sein, sie kämpft auch gegen die imaginären sowie realen Geister ihrer Vergangenheit und muss dafür bis an ihre Grenze gehen.

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Seitenzahl: 566

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Dave Eggers

Bis an die Grenze

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Dave Eggers

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

I. KapitelII. KapitelIII. KapitelIV. KapitelV. KapitelVI. KapitelVII. KapitelVIII. KapitelIX. KapitelX. KapitelXI. KapitelXII. KapitelXIII. KapitelXIV. KapitelXV. KapitelXVI. KapitelXVII. KapitelXVIII. KapitelXIX. KapitelXX. KapitelXXI. KapitelXXII. KapitelXXIII. KapitelXXIV. KapitelDanksagungÜber den Autor
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I.

Es gibt das stolze Glück, ein Glück, das guter Arbeit am hellen Tag entspringt, jahrelanger lohnender Schufterei, und hinterher ist man müde und froh und umgeben von Familie und Freunden, zutiefst zufrieden und bereit für die wohlverdiente Ruhe – Schlaf oder Tod, es wäre einerlei.

Dann gibt es das Glück des eigenen privaten Elends. Das Glück, allein zu sein und angesäuselt von Rotwein auf dem Beifahrersitz eines uralten Wohnmobils, das irgendwo in Alaskas tiefem Süden parkt, in ein Gekritzel schwarzer Bäume zu starren, nicht schlafen zu wollen aus Angst, irgendwer könnte jeden Moment das Spielzeugschloss an der Wohnmobiltür knacken und dich und deine zwei kleinen Kinder, die oben schlafen, umbringen.

Josie blinzelte in das schwache Licht eines langen Sommerabends auf einem Rastplatz in Südalaska. Sie war an diesem Abend glücklich, mit ihrem Pinot, in diesem Wohnmobil in der Dunkelheit, umgeben von unbekannten Wäldern, und wurde mit jedem neuen Schluck aus ihrer gelben Plastiktasse ein bisschen weniger ängstlich. Sie war zufrieden, obwohl sie wusste, dass es sich um eine flüchtige und künstliche Zufriedenheit handelte, wusste, dass alles falsch war – sie sollte nicht in Alaska sein, nicht so. Sie war Zahnärztin gewesen und war nun keine mehr. Der Vater ihrer Kinder, ein rückgratloser, häufig an Durchfall leidender Mann namens Carl, ein Mann, der Josie erklärt hatte, eine standesamtliche Heirat sei Heuchelei, die Urkunde überflüssig und einengend, hatte achtzehn Monate, nachdem er ausgezogen war, eine andere Frau gefunden, die ihn heiraten wollte. Er hatte eine andere Person kennengelernt, eine Person aus Florida, und würde sie – es war unglaublich, unmöglich – heiraten. Es würde im September stattfinden, und Josie hatte alles Recht der Welt, sich vom Acker zu machen, unterzutauchen, bis alles vorbei war. Carl hatte keine Ahnung, dass sie Ohio mit den Kindern verlassen hatte. Fast Nordamerika verlassen hatte. Und er durfte es nicht wissen. Und was könnte ihr mehr Unsichtbarkeit bieten als das hier, ein Zuhause auf Rädern, keine feste Anschrift, ein weißes Wohnmobil in einem Staat mit einer Million anderer launischer Reisender in weißen Wohnmobilen? Niemand könnte sie je finden. Sie hatte erwogen, das Land ganz zu verlassen, aber Ana hatte keinen Pass, und um einen zu beantragen, wäre Carl nötig gewesen, somit war diese Option ausgeschlossen. Alaska war dasselbe Land und zugleich ein anderes Land, fast Russland, fast Vergessen, und solange Josie ihr Handy ausließ und nur Bargeld benutzte – sie hatte dreitausend Dollar dabei, in einem Samtsäckchen, das aussah, als wäre es für Goldmünzen oder magische Bohnen geschaffen –, blieb sie unauffindbar, unaufspürbar. Und sie war Pfadfinderin gewesen. Sie konnte einen Knoten binden, einen Fisch ausnehmen, Feuer machen. Alaska machte ihr keine Angst.

 

Sie und die Kinder waren früher am Tag in Anchorage gelandet. Es war ein grauer Tag ohne Verheißung oder Schönheit, aber sobald sie aus dem Flugzeug gestiegen war, fühlte sie sich beflügelt. »Okay, Leute!«, hatte sie zu ihren übermüdeten, hungrigen Kindern gesagt. Die beiden hatten sich nie für Alaska interessiert, und jetzt waren sie hier. »Da wären wir!«, hatte sie gesagt, und sie hatte einen kleinen Freudenmarsch hingelegt. Keines der Kinder lächelte.

Sie hatte sie in dieses gemietete Wohnmobil verfrachtet und war losgefahren, ohne jeden Plan. Der Hersteller hatte das Fahrzeug »das Chateau« genannt, aber das war dreißig Jahre her, und jetzt war es schrottreif und eine Gefahr für seine Passagiere und alle, die den Highway mit ihm teilten. Doch nach einem Tag auf Tour ging es den Kindern gut. Sie waren seltsam. Da war Paul, acht Jahre alt, mit den kalten, fürsorglichen Augen eines Eispriesters, ein sanfter, bedächtiger Junge, der sehr viel vernünftiger und freundlicher und klüger war als seine Mutter. Und da war Ana, erst fünf, eine ständige Gefahr für die Gesellschaft. Sie war ein grünäugiges Tier mit wildem, absurd rotem Haar und hatte ein Talent dafür, den zerbrechlichsten Gegenstand in einem Raum anzupeilen und dann mit unglaublichem Elan kaputt zu machen.

Josie hörte einen Truck auf dem nahen Highway vorbeidonnern und goss sich eine zweite Tasse ein. Das darf ich, sagte sie sich, und schloss die Augen.

Aber wo war das Alaska der Magie und Klarheit? Alles lag unter einem Schleier aus Dutzenden Waldbränden, die sich im Staat ausbreiteten wie eine Gefängnismeuterei, und es war nicht majestätisch, nein, noch nicht. Alles, was sie bis jetzt gesehen hatten, war chaotisch und hart. Sie hatten Wasserflugzeuge gesehen. Sie hatten Hunderte Häuser gesehen, die zum Verkauf standen. Sie hatten am Straßenrand die Werbetafel einer Baumschule gesehen, die einen Käufer suchte. Sie hatten ein anderes Wohnmobil gesehen, ähnlich wie ihres, das neben der Straße vor einer hohen schroffen Felswand parkte. Die Mutter der Familie hockte neben der Straße. Sie hatten lackierte Blockhütten gesehen. Sie hatten einen Minimarkt gesehen, der ebenfalls aus lackierten Holzstämmen erbaut war, ein Anti-Obama-T-Shirt mit der Aufschrift: Don’t blame me. I voted for the American.

Wo waren die Helden? Sie wusste nur, da, wo sie herkam, waren Feiglinge. Nein, einen tapferen Mann gab es, und sie hatte dazu beigetragen, dass er getötet wurde. Ein mutiger Mann, der jetzt tot war. Jeder nahm alles, und Jeremy war tot. Zeigt mir jemanden, der kühn ist, bat sie die dunklen Bäume vor sich. Zeigt mir jemanden mit Tiefgang, forderte sie von den Bergen dahinter.

 

Sie hatte Alaska nur wenige Wochen in Erwägung gezogen, ehe sie beschloss, Ohio zu verlassen. Sie hatte eine Stiefschwester, Sam, oben in Homer, eine Stiefschwester, die keine richtige Stiefschwester war und die sie seit Jahren nicht gesehen hatte, die aber etwas sehr Geheimnisvolles an sich hatte, weil sie in Alaska lebte und ein eigenes Unternehmen besaß und ein Boot oder Schiff oder so was steuerte und zwei Töchter größtenteils allein großgezogen hatte, da ihr Mann, ein Fischer, oft monatelang fort war. So wie Sam es beschrieb, war er kein Gewinn und seine Abwesenheit kein großer Verlust.

Josie war noch nie in Alaska gewesen, und abgesehen von Homer hatte sie keine Ahnung, wohin sie da fahren oder was sie da machen sollte. Aber sie schrieb Sam, erklärte ihr, sie würde kommen, und Sam schrieb zurück, das sei in Ordnung. Josie fasste es als gutes Zeichen auf, dass ihre Stiefschwester, die sie fünf Jahre nicht gesehen hatte, einfach »in Ordnung« schrieb und weder drängte noch ermunterte. Sam war jetzt Alaskanerin, und das bedeutete, da war Josie sicher, eine schlichte und geradlinige Existenz, die sich um Arbeit und Bäume und Himmel drehte, und nach genau dieser Wesensart sehnte Josie sich bei anderen und sich selbst. Sie hatte keine Lust mehr auf sinnlose Lebensdramen. Falls Theatralik notwendig war, gut und schön. Falls ein Mensch einen Berg bestieg und dabei mit Unwetter, Lawinen und Blitzen vom stürmischen Himmel geplagt wurde, dann konnte sie Dramen akzeptieren, an Dramen partizipieren. Aber Vorstadtdramen waren so ermüdend, so offensichtlich grotesk, dass sie niemanden mehr um sich haben konnte, der sie für echt oder interessant hielt.

Also flogen sie hierher und holten ihr Gepäck, und dann sahen sie Stan. Ihm gehörte das Wohnmobil, das sie gemietet hatte – das Chateau –, und er wartete in der Ankunftshalle hinter der Gepäckausgabe mit einem Schild, auf dem Josies Name stand. Er war so, wie sie ihn sich vorgestellt hatte – ein Ruheständler Mitte siebzig, herzlich und mit der Angewohnheit, die Hände zu schwingen, als wären sie schwere Gegenstände, Bananenbüschel, die er ablieferte. Sie luden ihre Sachen ein und fuhren los. Josie drehte sich zu ihren Kindern um. Sie sahen müde und unsauber aus. »Cool, was?«, fragte sie und zeigte auf die Ausstattung des Chateau, ein Patchwork aus Karomustern und Holzfurnier. Stan war weißhaarig und trug eine gebügelte Jeans und saubere taubenblaue Sneaker. Josie saß vorne, die Kinder hinten auf einer Bank, während sie die zehn Meilen vom Flughafen zu Stans Haus fuhren, wo sie den Papierkram für die Vermietung des Chateau erledigen würden. Ana schlief schon bald gegen die Jalousie gelehnt. Paul lächelte matt und schloss seine Eispriesteraugen. Stan drehte den Rückspiegel so, dass er sie sehen konnte, und Josie wusste, mit Stans Augen betrachtet sahen sie nicht wie ihre Kinder aus. Sie sahen weder ihr noch einander ähnlich. Josies Haar war schwarz, Pauls dunkelblond, Anas rot. Josies Augen waren braun und klein, Pauls riesig und blau, Anas grün und geformt wie geschwungene Mandeln.

Als sie in Stans Einfahrt bogen, parkte er das Chateau, und die Kinder wurden aufgefordert, im Garten zu spielen. Ana lief sofort zu einem großen Baum mit einem Loch im Stamm und steckte die Hand hinein. »Guckt mal, ich hab ein Baby!«, rief sie mit einem unsichtbaren Baby im Arm.

»Tut mir leid«, sagte Josie.

Stan nickte ernst, als hätte Josie gesagt: Mein Kind ist verrückt und unheilbar. Er holte die Bedienungsanleitung hervor und ging die Funktionen des Wohnmobils mit der Ernsthaftigkeit eines Menschen durch, der die Entschärfung einer Bombe erläutert. Herd, Tachometer, Kilometerzähler, Bad, Abwassertankentleerung, Stromanschluss, verschiedene Hebel und Puffer und versteckte Fächer.

»Sie sind doch schon mal ein Wohnmobil gefahren«, sagte er, als könnte es gar keine andere Antwort geben.

»Natürlich. Schon oft«, sagte Josie. »Und ich bin früher Bus gefahren.«

Sie hatte weder das eine noch das andere je getan, spürte jedoch, dass Stan die Sache ernst nahm, Josie dagegen weniger. Sie musste ihm das Vertrauen einflößen, dass sie das Chateau nicht von einer Klippe fahren würde. Er führte sie um das Fahrzeug herum, notierte Vorschäden auf einem Klemmbrett, und während er damit beschäftigt war, sah Josie einen etwa sechsjährigen Jungen im Erkerfenster von Stans Haus, der zu ihnen herüberstarrte. Der Raum, in dem er stand, schien völlig weiß zu sein – weiße Wände, weißer Teppichboden, eine weiße Lampe auf einem weißen Tisch. Dann trat eine großmütterliche Dame, wahrscheinlich Stans Frau, hinter den Jungen, legte ihm die Hände auf die Schultern, drehte ihn herum und führte ihn zurück in die Tiefen des Hauses.

Josie rechnete damit, dass sie und die Kinder nach der Fahrzeugübergabe ins Haus eingeladen werden würden, wurden sie aber nicht.

»Bis in drei Wochen dann«, sagte Stan, denn das war die vereinbarte Mietdauer. Josie dachte, sie könnte die Reise verlängern wollen, um einen Monat oder auf unbestimmte Zeit, und dass sie Stan anrufen würde, wenn das konkreter wurde.

»Okay«, sagte Josie und setzte sich hinters Steuer. Sie zog den langen Hebel, der vom Lenkrad abstand wie eine Geweihstange, nach unten auf R und wurde das Gefühl nicht los, dass Stan eigentlich vorgehabt hatte, sie und die Kinder hereinzubitten, dass ihn aber irgendetwas veranlasst hatte, sie von seinem makellosen weißen Haus und seinem Enkelsohn fernzuhalten.

»Gute Fahrt«, sagte er und schwenkte seine Bananenhände.

Sie mussten drei Tage totschlagen, ehe Sam von einer ihrer Touren zurückkam. Sie führte eine Gruppe französischer Manager in die Wälder, um sich Vögel und Bären anzuschauen, und würde erst Sonntag zurück sein. Josie hatte vor, ein oder zwei Tage in Anchorage zu verbringen, aber als sie mit dem quietschenden und ruckelnden Chateau durch die Stadt fuhr, sah sie ein Straßenfest und Tausende Menschen in knalligen Tanktops und Sandalen und wollte nur noch weg. Sie verließen die Großstadt in südlicher Richtung und entdeckten bald Hinweisschilder zu einer Art Tierpark. Angeblich die Beliebteste Publikumsattraktion in Alaska. Gerade als Josie sicher war, dass sie an dieser Attraktion vorbeikämen, ohne dass Ana etwas merkte, meldete Paul sich zu Wort.

»Tierpark«, sagte er zu Ana.

Dass er lesen konnte, hatte das Familienleben stark verkompliziert.

Die Kinder wollten unbedingt hin, und Josie wollte unbedingt schnell an der Attraktion vorbei, aber die Schilder hatten Bären und Bisons und Elche angekündigt, und der Gedanke, dass sie all diese Säugetiere schon in den ersten paar Stunden von ihrer Liste streichen könnten, war durchaus reizvoll.

Sie hielten an.

»Du brauchst deine Jacke«, sagte Paul zu Ana, die schon an der Tür des Chateau war. Paul hielt sie ihr hin wie ein Butler. »Halt deine Ärmel fest, sonst rutschen die hoch«, sagte er. Ana hielt ihre Shirt-Ärmel fest und schob die Arme in die Jacke. Josie beobachtete die Szene und fühlte sich überflüssig.

 

Im Innern eines Blockhüttenbüros bezahlte Josie eine unverschämte Summe, sechsundsechzig Dollar für sie drei. Normalerweise gab es Guides und kleine Wagen, in denen Besucher durch den Park gefahren wurden, aber alle waren unterwegs oder machten Urlaub, sodass Josie und die Kinder allein in einem Gelände standen, das aussah wie ein Zoo nach der Apokalypse. Sie dachte an den irakischen Zoo nach den Bombardierungen, die Löwen und Geparden, die frei, aber ausgehungert herumstreiften und nach Katzen und Hunden als Beute suchten und keine fanden.

So schlimm war es hier nicht. Aber es war traurig, wie jeder Zoo traurig ist, ein Ort, wo keiner wirklich sein will. Die Menschen haben ein schlechtes Gewissen, weil sie überhaupt da sind, niedergedrückt von Gedanken an Gefangennahme und Gefangenschaft und schlechtes Futter und Medikamente und Zäune. Und die Tiere bewegten sich kaum. Sie sahen ein Elchpaar mit einem Kälbchen, und alle drei rührten sich nicht. Sie sahen einen einsamen schlafenden Bison, das Fell zottelig, die Augen halb geöffnet und wütend. Sie sahen eine Antilope, staksig und dumm; sie ging ein paar Schritte, blieb dann stehen, um verloren auf die grauen Berge in einiger Entfernung zu starren. Ihre Augen sagten: Nimm mich, o Herr. Jetzt bin ich gebrochen.

Sie gingen zurück zum Blockhaus, um eine Erfrischung zu sich zu nehmen. »Guckt mal«, sagte ein Parkführer zu Josie und den Kindern, als sie ihre Limonade tranken. Er zeigte auf einen Bergzug in der Nähe, wo, wie er sagte, etwas Seltenes zu sehen war: ein kleines Rudel Dickhornschafe, das auf einer waagerechten Linie von Osten nach Westen über den Kamm zog. »Schaut durch das Fernglas«, sagte er, und Paul und Ana rannten zu einem auf der Veranda verschraubten Fernrohr.

»Ich seh sie«, sagte Paul. Während Paul Ana durchs Fernrohr schauen ließ, spähte Josie mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne und konnte das Rudel ausmachen, ein paar am Berg verteilte undeutliche weiße Flecken. Es war verblüffend, zwölf oder fünfzehn Tiere zu sehen, die entspannt in einer scheinbar senkrechten Felswand standen. Als Josie selbst durchs Fernrohr schauen konnte, fand sie die Schafe und sah am Himmel einen dunklen Schatten, der ihren Weg kreuzte. Sie nahm an, dass es ein Falke oder so was Ähnliches war, doch als sie das Fernglas herumschwenkte, konnte sie nichts entdecken. Sie richtete es wieder auf die Schafe, fand eines, das sie genau anzublicken schien. Das Schaf sah sehr zufrieden aus, sorglos und unbekümmert, obwohl es in sechshundert Metern Höhe auf einem halben Zentimeter breiten Felsvorsprung stand. Josie stellte die Schärfe ein bisschen nach, sah das Schaf jetzt noch deutlicher, und als sie eine wunderbar klare Sicht auf das Tier hatte, geschah zweierlei in sehr rascher Abfolge.

Als Erstes schienen die Wolken über dem Schaf aufzureißen, sich zu teilen, als wollten sie einen dünnen Strahl göttliches Licht auf den flaumigen Kopf des Tieres leuchten lassen. Josie konnte die hellgrauen Augen des Schafes sehen, sein fedriges cremeweißes Haar, und während Josie das Schaf anstarrte und das Schaf Josie, während es Josie vor Augen führte, was reine Glückseligkeit war, die Geheimnisse seines unkomplizierten Lebens hoch über allem offenbarte – während dies geschah, drang eine dunkle Gestalt in Josies Gesichtsfeld. Ein dunkler Flügel. Es war ein Raubvogel, riesig, seine Flügelspanne weit und undurchsichtig wie ein schwarzer Schirm. Und dann schoss der Vogel nach unten, und seine Klauen packten das Schaf an den Schultern, hoben es nur ein paar Zentimeter hoch und weg vom Felsen und ließen es los. Das Schaf fiel aus Josies Blickfeld. Sie richtete sich auf und sah mit bloßem Auge, wie das Schaf in die Tiefe stürzte, selbstvergessen und kampflos, eine Stoffpuppe, die unaufhaltsam einem unsichtbaren Ort der Ruhe entgegenfiel.

»Adler«, sagte der Guide und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Wunderbar, wunderbar.« Er erklärte, dass das eine übliche, aber selten beobachtete Methode von Adlern war, größere Beutetiere zu töten: Der Adler hob ein Tier an und ließ es aus großer Höhe fallen, sodass es in den Tod stürzte und ihm unten auf den Felsen jeder Knochen im Leib zerschmettert wurde. Dann segelte der Adler hinab, packte das tote Tier entweder als Ganzes oder in Stücken und brachte das Fleisch seinen Jungen zum Verzehr. »Warum wollten Sie, dass wir das sehen?«, fragte Josie den Guide. Sie wusste, dass ihr das im Kopf herumspuken, bei ihren Kindern Narben zurücklassen würde, doch der Guide war schon weg.

»Was ist passiert, Mama?«, fragte Ana. Paul hatte die Erläuterung des Guide gehört und verstanden, und Josie bedauerte, dass er von der Heimtücke auf jeder Ebene der Tierwelt erfahren hatte, war aber dankbar, dass Ana dieses Wissen vorläufig erspart geblieben war.

»Nichts«, sagte Josie. »Gehen wir.«

 

Es war am besten, so erklärte sie den Kindern, den Großraum Anchorage zu verlassen, wirklich loszufahren, sich aufzumachen und ihren eigenen Weg zu finden. Also hielten sie an einem Supermarkt und deckten sich mit Vorräten ein. Der Laden war acht Hektar groß, hörte gar nicht auf. Er verkaufte Stereoanlagen, Gartenmöbel, Perücken, Schusswaffen, Benzin. Er war voll mit Truckern, einigen Großfamilien, einigen Leuten, die offenbar indigener Abstammung waren, einigen wettergegerbten Weißen, und alle sahen sehr müde aus. Josie kaufte genug Lebensmittel für eine Woche, verstaute sie, so gut es ging, in den Spanholzschränken des Chateau, und sie fuhren los.

Das Tempolimit schien auf den meisten Highways in Alaska fünfundsechzig Meilen zu betragen, aber das Chateau schaffte höchstens achtundvierzig. Es dauerte elend lange, um auf vierzig zu kommen, und ein zehnminütiges asthmatisches Röcheln untermalte die Beschleunigung von vierzig auf siebenundvierzig, und danach schien die ganze Karosserie kurz davor auseinanderzufliegen wie ein explodierender Stern. Also fuhr Josie die ersten paar Stunden konstant achtundvierzig, während der übrige Verkehr zwanzig Meilen schneller war. Auf zweispurigen Straßen waren meist vier bis sechs Autos hinter ihr, hupten und schimpften, bis Josie einen Randstreifen sah, der breit genug war, um rechts ranzufahren, die anderen vorbeizulassen und dann wieder auf die Straße zu biegen, wohl wissend, dass sie in fünf Minuten erneut eine Schlange von wütenden Verfolgern angesammelt haben würde. Von alldem hatte Stan nichts gesagt.

Sie hatte den Kindern Sandwiches gemacht und auf richtigen Tellern serviert, und jetzt hatten sie aufgegessen und wollten wissen, wohin mit den Tellern. Sie sagte, sie sollten sie auf die Küchentheke stellen, und an der nächsten Ampel rutschten die Teller runter und zerbrachen und schleuderten die Reste vom Lunch in jeden Winkel des Chateau. Die Reise hatte begonnen.

Josie wusste nichts über Seward, aber es lag irgendwo in der Nähe von Homer, daher beschloss sie, dass der Ort ihr Tagesziel sein sollte. Sie fuhren rund eine Stunde und kamen zu einer wahnsinnig schönen Bucht, das Wasser ein harter Spiegel, weiße Berge, die dahinter aufragten wie eine Wand aus toten Präsidenten. Josie hielt an, nur um ein paar Fotos zu machen, aber im Wohnmobil war bereits alles verdreckt – der Fußboden klebrig, überall lagen Klamotten und Verpackungen herum, und der größte Teil von Anas Chips war auf dem Boden verstreut. Josie spürte, wie eine plötzliche Erschöpfung sie überkam. Sie zog die Jalousien runter, ließ die Kinder Tom und Jerry gucken – auf Spanisch, es war die einzige DVD, die sie bei ihrem überhasteten Aufbruch eingepackt hatten –, und sie schauten sich die Cartoons auf ihrem kleinen Gerät an, während Trucks an ihnen vorbeidonnerten und das Chateau jedes Mal sacht ins Schwanken brachten. Zwanzig Minuten später waren die Kinder eingeschlafen, Josie war noch wach.

Sie rutschte auf den Beifahrersitz, öffnete eine Flasche Pinot mit Schraubverschluss, füllte eine Tasse und machte es sich mit einer Ausgabe der Zeitschrift Old West gemütlich. Stan hatte fünf Exemplare im Chateau gelassen – eine vierzig Jahre alte Zeitschrift, die »Wahre Geschichten« aus dem »Alten Westen« versprach. Es gab eine Kolumne mit dem Titel »Verlorene Spuren«, in der Leser um Informationen über verschollene Freunde und Verwandte baten.

»Die Volkszählung der Republik Texas aus dem Jahre 1840«, lautete eine Anfrage, »erwähnt einen Thomas Clifton aus Austin County mit dem Vermerk, dass er 140 Hektar Land besaß. Ich würde mich freuen, wenn sich eventuelle Nachkommen von ihm bei mir melden würden.« Darunter stand der Name Reginald Hayes. Josie dachte über Mr Hayes nach, empfand Mitgefühl für ihn, stellte sich die faszinierenden Rechtsstreitigkeiten vor, die ihn erwartet haben mochten, als er versuchte, diese 140 Hektar in Austin County für sich zu beanspruchen.

»Vielleicht könnte uns jemand helfen, die Schwestern meiner Mutter zu finden«, lautete der nächste Eintrag, »die Töchter von Walter Loomis und Mary Snell. Meine Mutter Bess war die Älteste. Sie hat ihre Schwestern das letzte Mal 1926 in Arkansas gesehen. Sie hießen Rose, Mavis und Lorna. Meine Mutter, ein Wandervogel, hat nie geschrieben und seitdem nichts mehr von ihnen gehört. Wir würden uns freuen, wenn jemand etwas über die drei weiß. Sie müssten jetzt zwischen fünfzig und sechzig sein, glaube ich.«

Den Rest der Seite füllten angedeutete Geschichten von Verlassenwerden und Verzweiflung, und der ein oder andere Hinweis auf Diebstahl oder gar Mord.

»David Arnold starb 1912 in Colorado und wurde in McPherson, Kansas bestattet«, begann die letzte Anfrage auf der Seite. »Er hinterließ eine Frau und vier Kinder. Zwei Töchter leben heute noch, glaube ich. Ich hätte gern eine Kopie seiner Todesanzeige fürs Familienarchiv oder würde gern wissen, wo genau er starb und ob je bewiesen wurde, dass es Mord war. Ebenso, ob je bewiesen wurde, dass der Tod seiner beiden Söhne im Jahre 1913 mit seiner Ermordung in Zusammenhang stand. Er war mein Großonkel.«

Wieder füllte Josie ihre Tasse. Sie legte die Zeitschrift weg und blickte aus dem Fenster. Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. So weit weg von Carl und seinen Missetaten zu sein, brachte sie zum Lächeln. Sie und Carl hatten sich getrennt, als er schon seit einigen Jahren eine Phase schweren Harnlassens durchmachte. Mit einer außergewöhnlichen, beispiellosen Häufigkeit. Er war ein gesunder Mann gewesen. Nicht unbedingt der Mann, der sie über die Schwelle tragen konnte – er war dünn, sie nicht so dünn –, aber doch ein aktiver, unverbrauchter Mann mit zwei Armen, zwei Beinen, einem flachen Bauch. Warum also pinkelte er ständig? Das Bild von Carl, das ihr jetzt, achtzehn Monate nach ihrer Trennung, in den Sinn kam, zeigte ihn im Stehen, mit gespreizten Beinen, vor der Kloschüssel, bei geöffneter Tür, wie er darauf wartete zu pinkeln. Oder schon pinkelte. Oder nach dem Pinkeln abschüttelte. Den Reißverschluss vor oder nach dem Pinkeln auf- oder zumachte. Seine karierte Freizeithose auszog, weil er nach dem Pinkeln nicht gründlich abgeschüttelt und sie betröpfelt hatte, sodass sie jetzt nach Pisse roch. Zweimal frühmorgens pinkelte. Sechs- oder siebenmal nach dem Abendessen pinkelte. Den ganzen Tag pinkelte. Jede Nacht dreimal aufstand, um zu pinkeln.

Du hast was an der Prostata, sagte Josie zu ihm.

Du bist Zahnärztin, sagte er zu ihr.

Es lag nicht an der Prostata, sagte sein Proktologe. Aber auch der Proktologe konnte sich nicht erklären, woran es lag. Keiner konnte sich erklären, woran es lag. Carl musste auch dauernd scheißen. Man konnte seine täglichen Stuhlgänge zählen, aber was sollte das bringen?

Mindestens sechs. Es ging mit seiner ersten Tasse Kaffee los. Dem ersten Schluck. Wieder sah Josie seinen Rücken vor sich, wie er an der Küchentheke vor seinem Kaffeeautomaten stand. In seiner bequemen Freizeithose. Die karierte wollene Freizeithose war zu kurz, zu dick und mit weißer Farbe bespritzt – er hatte das Badezimmer der Kinder gestrichen und sich dabei furchtbar ungeschickt angestellt. Und warum trug er diese mit Farbe bespritzte Hose? Um sich und die Welt daran zu erinnern, dass er ein Mann der Tat war. Ein Mann, der ein Kinderbadezimmer (schlecht) anstreichen konnte. Also stand er da und wartete darauf, dass der Automat seine kleine blaue Tasse füllte. Wenn seine kleine blaue Tasse endlich voll war, nahm er sie, lehnte sich gegen die Küchentheke, schaute hinaus in den Garten, und dann, beim ersten Schluck, als hätte dieser erste Tropfen seine Innereien verflüssigt, alles, was feststeckte, gelockert, stürzte er zur Toilette gleich neben der Garage und begann seinen Tag der Scheißerei. Acht, zehn Stuhlgänge am Tag. Wieso dachte sie jetzt daran?

Wenn er dann rauskam, prahlte er vor den Kindern damit, dass er da drin gute Arbeit geleistet hatte oder dass er die Sache erledigt hatte wie ein Mann. Er wusste, dass er viel schiss, und versuchte, es lustig darzustellen. Josie hatte zu Beginn ihrer Beziehung einen fatalen Fehler begangen, indem sie ihm erlaubt hatte, sich einzubilden, er wäre lustig, hatte mitgekichert, wenn er über seine eigenen Witze kicherte, und kam dann nicht mehr aus der Nummer raus. Jahrelanges gequältes Lachen. Aber wie konnte ein Mensch unter solchen Bedingungen weiterlachen? Die Kinder sahen ihn kaum außerhalb der Toilette. Er führte Diskussionen mit ihnen, während er auf dem Klo saß. Einmal reparierte er während einer Klositzung Pauls Walkie-Talkie – während Carl die Batterien herausnahm, arbeitete weiter unten sein Darmapparat. Und dann testeten sie die Walkie-Talkies! Während er weiterschiss oder versuchte zu scheißen. Carl auf dem Klo, Paul im Nebenraum. »Breaker I-9«, sagte Carl, dann: »Breaker Kacka!«

Es war abscheulich. Sie gewöhnte sich an, das Haus zu verlassen, ehe es losging. Es war wie Schrödingers Katze. Sie wusste, dass die Scheißerei passieren würde, aber wenn sie weg war, vor seinem ersten Schluck Kaffee aus der Tür war, würde die Scheißerei dann tatsächlich passieren? Ja und nein. Josie versuchte, dem einen Riegel vorzuschieben, aber er konterte: Was denn, sagte er, wäre dir ein analfixierter Mann lieber? Er meinte das ernst. Sie trank einen kräftigen Schluck von ihrem Pinot. Der Wein machte sie gelassen, öffnete sie.

Schon ganz zu Anfang beschlossen sie, niemandem zu erzählen, dass Carl ihr Patient gewesen war, als sie sich kennenlernten. Wenn man es erklärte, klang das Ganze viel zu prosaisch – er wollte eine professionelle Zahnreinigung und suchte online nach Zahnärzten. Ihre Praxis war die einzige, die kurzfristig noch einen Termin frei hatte. Welcher fühlende Mensch würde das als romantisch bezeichnen? Während der Untersuchung nahm sie ihn kaum wahr. Dann, ein paar Wochen später, war sie bei Foot Locker, um Socken zu kaufen, als ein Mann, ein Kunde, der in ihrer Nähe saß, eine Hand in einem Schuh, aufsah und Hallo sagte. Sie hatte keine Ahnung, wer er war. Aber er sah gut aus, mit Alabasterhaut, grünen Augen und langen Wimpern.

»Ich bin Carl«, sagte er, zog die Hand aus dem Schuh und streckte sie ihr entgegen. »Ich war bei Ihnen in der Praxis.«

Er lachte ausgiebig, als wäre die Vorstellung eines Jobs bei Foot Locker für jedermann der Witz des Jahrhunderts. »Nein. Nein, ich arbeite nicht hier«, sagte er.

Er war vier Jahre jünger als Josie und hatte die Energie eines im Haus eingesperrten Welpen. Ein Jahr lang war es schön. Sie hatte ihre Praxis erst seit Kurzem, und er half, wo er konnte, machte Erledigungen für sie, hängte Bilder im Wartezimmer auf. Mit ihm war alles aufregend und leicht. Er fuhr gern Fahrrad. Holte gern Eiscreme. Spielte gern Kickball. Er aß Schoko-Powerriegel aus knisternden goldenen Verpackungen. Seine Libido war unerschöpflich, seine Selbstkontrolle nicht existent. Sie hatte eine Beziehung mit einem Zwölfjährigen.

Aber er war siebenundzwanzig. Er war damals nicht erwerbstätig, und er hatte nie eine feste Anstellung gehabt, weder vorher noch nachher. Sein Vater besaß einen unermesslichen Teil von Costa Rica, den er abgeholzt hatte, um Platz für Rinder zu schaffen, die dazu bestimmt waren, von amerikanischen und japanischen Fleischfressern gegessen zu werden, daher war jede berufliche Tätigkeit, die nicht ganz so viel hermachte, irgendwie unter Carls Niveau.

»Wir haben einen Dilettanten großgezogen«, sagte seine Mutter Luisa. Sie war gebürtige Chilenin, in Santiago aufgewachsen, Mutter Ärztin, Vater Diplomat und ebenfalls depressiv. Sie hatte Carls rothaarigen amerikanischen Vater Lou als Doktorandin in Mexico City kennengelernt. Sie hatte Carl und seine beiden Brüder bekommen, während Lou, Sprössling einer Öl-Dynastie, Land in Costa Rica kaufte, Wälder vernichtete, Rinder züchtete, ein Imperium aufbaute. Zehn Jahre zuvor hatte er die Scheidung eingereicht, um die Exfrau eines berüchtigten und toten Drogenbarons aus Chiapas zu heiraten. Luisa und Lou hatten ein unwahrscheinlich gutes Verhältnis. »Aus der Ferne ist er so viel angenehmer«, sagte Luisa.

Jetzt war sie eine faltige, schöne Frau von sechzig Jahren und lebte nach eigenem Gusto zusammen mit einer Gruppe von sonnenverbrannten, trinkfreudigen Freunden in Key West. Wenn sie sich trafen, gefiel Josie alles an ihr – ihr Freimut, ihr makabrer Humor, ihre Einschätzung von Carl. »Er hat die kurze Aufmerksamkeitsspanne von seinem Vater geerbt, aber nicht dessen Weitblick.«

Carl hatte rund ein Dutzend Lizenzen und Qualifikationen angesammelt. Ein paar Jahre lang war er Immobilienmakler, ohne je etwas zu verkaufen. Er hatte es mit Möbeldesign, Mode, Sportfischen versucht. Er hatte einen ganzen Schrank voll mit Fotoausrüstung. Josie und Luisa waren zwar beide verpflichtet, Carl zu lieben, aber tragischerweise mochten sie einander sehr viel mehr, als sie ihn mochten.

»Letztes Jahr hat er sich von mir mit einer Videokamera filmen lassen«, sagte Luisa mit ihrer Reibeisenstimme. »Er ist noch immer dabei, seine Beziehung zur Welt zu entdecken«, sagte sie, »seinen eigenen Körper zu entdecken und so. Eines Tages hat er mich gebeten, ihn beim Gehen zu filmen – von vorne, von hinten und von der Seite. Er sagte, er wolle sich vergewissern, dass er so geht, wie er denkt, dass er geht. Also habe ich meinen Sohn gefilmt, diesen erwachsenen Mann, wie er die Straße rauf- und runterging. Er schien mit dem Ergebnis zufrieden.«

»Er ist hübscher als du.« Das sagte Sam, als sie Carl kennenlernte. »Das kann nicht gut sein.« Er konnte lustig sein. Feiglinge sind häufig ungemein charmant. Aber konnte etwas, das in einer Foot-Locker-Filiale begonnen hatte, wirklich großartig werden? Josie hatte Carl nie geheiratet, und das war eine Geschichte, eine Abfolge von miteinander verbundenen Geschichten, Episoden, Entscheidungen und Zurücknahmen, für die sowohl sie als auch Carl die Verantwortung trugen. Schließlich war er mit ihrer nachdrücklichen Befürwortung gegangen. Damals war sie froh darüber gewesen. Feigling. Feiger Feigling, dachte sie – das war der Grundstock seiner DNA, Feigheit und irgendeine Mutation, die seine haltlosen Gedärme hervorgebracht hatte. Er war in so vielerlei Hinsicht ein Feigling, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass er nach seinem Auszug derart verschwinden würde. Was hatte sie sich gewünscht? Sie hatte sich eine gewisse Einbindung gewünscht, vielleicht einen Besuch im Monat, einen Vater, der seine Kinder übers Wochenende abholte. Sein Umgang mit den Kindern war in Ordnung – harmlos gegenüber Ana, gutmütig gegenüber Paul. Er schien die Kinder wirklich zu mögen, glaubte, er könnte sie zum Lachen bringen, und seine infantile Lebenseinstellung schien perfekt zu der ihrer Kinder zu passen.

Er war, noch Jahre nachdem sie sich kennengelernt hatten, noch immer ein Kind, noch immer dabei, seine Beziehung zur Welt zu entdecken, seinen eigenen Körper zu entdecken. Eines Tages bat er auch Josie, ihn beim Gehen zu filmen. Josie war geschockt, behielt aber für sich, dass Luisa ihr von gleichen Erfahrungen mit ihm erzählt hatte. »Ich denke, ich weiß, wie ich gehe, aber ich hab’s noch nie objektiv gesehen«, sagte er. »Ich will mich vergewissern, dass ich so gehe, wie ich denke, dass ich gehe.« Also filmte Josie diesen erwachsenen Mann, wie er die Straße rauf- und runterging. Doch dann, sechs Monate später, war er weg. Er sah die Kinder zweimal in dem Jahr, in dem er fortging, einmal in dem danach.

 

Josie schaltete das Radio ein, hörte Sam Cooke irgendeinen einfachen Song singen und dachte, dass nur Popsongschreiber und Popsänger wirklich wussten, wie man lebt. Schreib einen Song – wie lange brauchte man dafür? Minuten? Vielleicht eine Stunde, vielleicht einen Tag. Dann sing den Song Leuten vor, die dich dafür lieben werden. Die die Musik lieben werden. Bereite Millionen Menschen erneuerbare Freude. Oder bloß Tausenden. Oder bloß Hunderten. Spielt das eine Rolle? Die Musik stirbt nicht. Sam Cooke, längst tot, nur noch Staub, war noch immer bei uns, vibrierte jetzt durch Josie hindurch und grub neue Nervenbahnen in die Köpfe ihrer Kinder, seine Stimme so klar, ein herrlicher Singvogel, der aus dem Radio kam und auf ihrer Schulter landete, selbst hier, selbst jetzt, um neun Uhr abends in diesem schrottreifen Wohnmobil irgendwo zwischen Anchorage und Homer. Obwohl zu früh gestorben, wusste Sam Cooke, wie man lebt. Ob er wusste, dass er wusste, wie man lebt?

Josie setzte sich im Chateau etwas bequemer hin und goss sich noch eine Tasse ein. Drei waren das Limit. Sie kurbelte das Fenster runter und sog die beißende Luft ein. Die Brände waren hundert Meilen entfernt, hatte man ihr gesagt, aber überall war die Luft verbrannt und ätzend. Ihre Kehle rebellierte, ihre Lunge bettelte um Erleichterung. Sie kurbelte das Fenster wieder hoch und meinte, durch die Scheibe hindurch einen Hirsch zu sehen, erkannte dann aber, dass es ein alter Sägebock war. Sie spülte den Wein im Mund herum, gurgelte kurz, schluckte. Gelegentlich brachte eine Windböe das Chateau in leichte Schieflage, und das Geschirr in den Schränken klapperte leise.

Sie blätterte ihre Old West durch, warf sie dann aufs Armaturenbrett. Selbst die schwermütigen Suchanfragen von »Verlorene Spuren« machten sie traurig, neidisch. Sie war als Leerstelle geboren worden. Ihre Eltern waren Leerstellen. All ihre Verwandten waren Leerstellen, obwohl manche Süchtige waren und sie eine Cousine hatte, die sich als Anarchistin bezeichnete; doch ansonsten bestand Josies Familie aus Leerstellen. Sie waren von nirgendwo. Amerikaner sein bedeutet, eine Leerstelle zu sein, und ein echter Amerikaner ist eine echte Leerstelle. Somit war Josie alles in allem eine wahrhaft großartige Amerikanerin.

Aber sie hatte gelegentlich vage Anspielungen auf Dänemark mitbekommen. Ein paarmal hatte sie gehört, dass ihre Eltern irgendeine Verbindung nach Finnland erwähnten. Ihre Eltern wussten nichts über diese Kulturen, diese Nationalitäten. Sie kochten keine internationalen Gerichte, sie lehrten Josie keine fremdländischen Sitten und Gebräuche, und sie hatten keine Verwandten, die internationale Gerichte kochten oder fremdländische Sitten und Gebräuche pflegten. Sie hatten keine Trachten, keine Fahnen, keine Flaggen, keine Sprichwörter, keine angestammten Länder oder Dörfer oder Volksmärchen. Als sie zweiunddreißig war und irgendein Dorf besuchen wollte, irgendwo, wo ihre Familie herstammte, hatte niemand in ihrer Verwandtschaft auch nur eine Ahnung, wohin sie reisen sollte. Ein Onkel meinte, er hätte einen hilfreichen Vorschlag: In unserer Familie sprechen alle Englisch, sagte er. Fahr doch nach England.

Der Song von Sam Cooke endete, die Radionachrichten begannen, das Wort »Gerichtsverfahren« fiel, und Josie spürte einen jähen, stechenden Schmerz, sah das Gesicht von Evelyn Sandalwood, die bohrenden Augen des streitsüchtigen Schwiegersohns der alten Frau, und war sicher, niemanden scherte es, dass man ihr ihre Praxis weggenommen hatte, war sicher, dass es auf der Welt nur Feiglinge gab, dass Arbeit niemandem etwas bedeutete, dass Leistung nichts bedeutete, dass Engherzigkeit und Arglist und Heimtücke und Gier immer triumphierten – dass nichts die diebischen Betrüger der Welt besiegen konnte. Letztlich würden sie die Tapferen, die Getreuen zermürben, jeden, der sein Leben unbescholten leben wollte. Die Betrüger triumphierten immer, weil Liebe und Güte ein Eis am Stiel waren und Heimtücke ein Panzer war.

Als sie Carl vor achtzehn Monaten gesagt hatte, sie sollten aufhören, die Liebenden zu spielen und einfach als Eltern von Paul und Ana weitermachen, verließ er das Haus – das Haus, das er gewollt hatte und dann, nachdem es gekauft und renoviert worden war, nicht mehr ausstehen konnte. Die Occupy-Bewegung hatte ihm die Idee eingeflößt, dass Hausbesitz nicht bloß bürgerlich war, sondern ein materielles Verbrechen an den neunundneunzig Prozent – und machte einen Spaziergang. Zwanzig Minuten später hatte er sich damit abgefunden und bereits einen Plan für Besuche und alles andere. Sie hatte das Gespräch ängstlich und wild entschlossen begonnen, war aber hinterher frustriert. Mit seinem bereitwilligen Einverständnis war es ihm gelungen, ihr jedes etwaige Triumphgefühl zu nehmen, und er hatte sich direkt auf die Logistik konzentriert.

Jetzt, mit vierzig, war Josie müde. Sie war ihrer Reise durch den Tag müde, der endlosen Stimmungen, die jede einzelne Phase brachte. Da war das morgendliche Grauen, unausgeschlafen, das Gefühl, sich etwas eingefangen zu haben, das sich anfühlte wie das Pfeiffer-Drüsenfieber, während der Tag ihr bereits davongaloppierte und sie ihm zu Fuß hinterherlaufen musste, mit den Schuhen in der Hand. Dann die kurze wohltuende Atempause nach der zweiten Tasse Kaffee, wenn alles möglich schien, wenn sie ihren Vater anrufen wollte, ihre Mutter, sich versöhnen, sie mit den Kindern besuchen wollte, wenn sie, während sie die Kinder zur Schule fuhr – die Leute, die das allgemeine Recht auf Schulbusse abgeschafft hatten, gehörten eingesperrt –, alle im Auto dazu brachte, den Soundtrack der Muppets »Life’s a Happy Song« mitzusingen. Waren die Kinder dann fort, ein elfminütiger Stimmungsabsturz, dann noch mehr Kaffee und noch mehr Euphorie bis zu dem Moment, wenn sie in ihrer Praxis ankam, die Wirkung des Kaffees abgeklungen war und sie für eine Stunde oder länger mehr oder weniger taub wurde und ihre Arbeit in einem distanzierten Zustand verrichtete, als wäre sie unter Wasser. Es gab gelegentlich fröhliche oder interessante Patienten, Patienten, die alte Bekannte waren, manches Gespräch über Kinder, während sie in nassen Mündern herumstocherte, während abgesaugt, gespuckt wurde. Mittlerweile gab es zu viele Patienten, es war nicht mehr zu bewältigen. Ständig war ihr Verstand mit den Aufgaben beschäftigt, die vor ihr lagen, den Reinigungen und Bohrungen, der Arbeit, die Präzision verlangte, doch im Laufe der Jahre war es weit einfacher geworden, das meiste davon zu erledigen, ohne voll bei der Sache zu sein. Ihre Finger wussten, was zu tun war, und arbeiteten in enger Kooperation mit ihren Augen, sodass der Verstand abschweifen konnte. Warum hatte sie sich mit diesem Mann fortgepflanzt? Warum arbeitete sie an einem herrlichen Tag? Was, wenn sie für immer fortging? Sie würden zurechtkommen. Sie würden überleben. Niemand brauchte sie.

Manchmal hatte sie Freude an Menschen. An manchen Kindern, an manchen Teenagern. An den vielversprechenden Teenagern mit dieser gewissen Reinheit in Gesicht und Stimme und Hoffnung, einer Reinheit, die alle Skepsis im Hinblick auf die fragwürdigen Motive und Fehlschläge der Menschheit vergessen machen konnte. Da war Jeremy gewesen, der Beste von allen. Aber Jeremy war tot. Jeremy, ein Teenager, war tot. Er sagte oft: »Kein Problem.« Der tote Teenager hatte gesagt: »Kein Problem.«

Die Mittagszeit war der Tiefpunkt. Die Mittagssonne verlangte Antworten auf offensichtliche und langweilige und unlösbare Fragen. Lebte sie ihr bestes Leben? Das Gefühl, sie sollte aufhören, dass die Praxis geisttötend war, öde, dass sie alle es woanders besser hätten. Wäre es nicht wunderbar, alles hinzuschmeißen? Alles abzufackeln?

Dann Lunch. Vielleicht draußen, in irgendeinem begrünten Innenhof, der Geruch von Efeu, mit einer alten Freundin, die gerade mit ihrem Schreiner gevögelt hatte. Kreischendes Lachen. Tadelnde Blicke von den anderen Gästen. Ein paar Schlückchen vom Chardonnay der Freundin, dann ein paar Pfefferminzbonbons und Pläne, am Wochenende zusammen wegzufahren, mit den Kindern, nein, ohne Kinder, Versprechen, Fotos von dem Schreiner zu schicken, eventuelle anzügliche Textnachrichten von ihm an sie weiterzuleiten.

Der Schub nach dem Essen, das anhaltende Glücksgefühl von eins bis drei, The King and I laut aus jedem kleinen Lautsprecher, das Bewusstsein, dass ihre Arbeit, dass Zahnmedizin, wichtig war, dass die gesamte Praxis ein wesentlicher Bestandteil der Allgemeinheit war – sie hatten elfhundert Patienten, und das war schon was, das war relevant, es gab Familien, die sich in einem wesentlichen Punkt ihres Wohlergehens auf sie verließen – und ein bisschen Heiterkeit, als alle mitbekamen, dass Tania, Josies jüngste Neueinstellung, in der Mittagspause Sex gehabt hatte und strahlte und nach Tierschweiß roch. Dann halb vier und totaler Kollaps. Das Gefühl von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, alles war kaputt, was sollte der ganze Scheiß? Wer waren diese beschissenen Leute, die sie umgaben? Was sollte das alles? Es war bedeutungslos, und sie schuldete noch immer so viel Geld für diese Geräte, sie war eine Sklavin des Ganzen, wer waren diese beschissenen Mitarbeiter, die keine Ahnung von dem schraubstockartigen Druck hatten, den die hohen Schulden in ihrem Schädel auslösten?

Dann die Befreiung, um fünf Uhr Feierabend zu machen … oder sogar schon um zwanzig vor. Um zwanzig vor fünf fertig! Die Erleichterung auf der Heimfahrt, der Gedanke an ihr hübsches kleines Zuhause, ihre schmuddelige Couch, den Besen, der in der Ecke stand und das bewachte, was sie am Vorabend zusammengefegt hatte, ohne die Energie zu haben, es aufzukehren und wegzuwerfen. Moment. Vielleicht würden im Garten neue Blumen blühen. Manchmal tauchten sie zwischen neun und fünf auf. Sie konnten an nur einem Tag wachsen, austreiben und blühen! Das liebte sie. Manchmal war das so. In die Einfahrt biegen. Keine Blumen, keine neuen Farben. Dann die Tür aufmachen, Estaphania begrüßen und verabschieden, ihr vielleicht Geld geben, ihr sagen wollen, was für ein Glück sie hat, so bezahlt zu werden, keine Steuern, Geld bar auf die Hand, sparen Sie auch genug, Estaphania? Sollten Sie, wo ich Sie schwarz bezahle.

Dann die Kinder umarmen, ihren Schweiß riechen, ihre verfilzten Haare, Ana zeigt irgendeine neue Waffe, die sie gebastelt oder gefunden hat. Die Erholung mit etwas Cabernet beim Kochen. Die Musik an. Vielleicht mit den Kindern tanzen. Vielleicht sie auf der Arbeitsplatte tanzen lassen. Ihre kleinen Gesichter lieben. Es lieben, wie sehr sie deine Liberalität lieben, deine Ausgelassenheit, deine Lustigkeit. Du bist lustig! Du bist eine von den Lustigen. Mit dir ist jeder Tag anders, oder? Du steckst voller Möglichkeiten. Du bist wild, du bist wundervoll, du tanzt, mit dem Kopf im Nacken, schüttelst dein Haar aus, siehst Pauls Vergnügen und Entsetzen und unsicheres Lächeln – du bist ungebunden, singst, jetzt mit dem Kopf nach unten, die Augen geschlossen, und dann hörst du etwas zerbrechen. Ana hat etwas zerbrochen. Einen Teller, hundert Scherben auf dem Boden, und sie entschuldigt sich nicht. Ana klettert von der Arbeitsplatte, läuft weg, hilft nicht.

Wieder der Kollaps. Das Gefühl, dass deine Tochter jetzt schon verhaltensgestört ist und es nur noch schlimmer werden wird. Schlagartig kannst du dir sie als düstere Pubertierende vorstellen, als tickende Zeitbombe, eine Explosion von unsichtbarer und sich ausbreitender Wut. Wo ist sie jetzt? Sie ist abgehauen, nicht in ihr Zimmer, sondern irgendwo anders hin, in einen Schrank, sie versteckt sich immer an verstörenden Stellen, einem Ort wie aus einem deutschen Märchen. Die felsenfeste Überzeugung, dass das Haus zu klein für euch alle ist, dass ihr die meiste Zeit im Freien leben solltet, in einer Jurte mit fünfzig Hektar drumherum – wäre es nicht besser, wenn die Kinder draußen wären, wo nichts kaputtgehen kann, wo sie damit beschäftigt wären, Ungeziefer zu jagen und Feuerholz zu sammeln? Die einzige logische Option wäre, auf eine Farm zu ziehen. Eine Tausend-Meilen-Prärie. All diese Energie und die kreischenden Stimmen innerhalb dieser kleinen Wände? Es war unsinnig.

Dann der Kopfschmerz, der wahnsinnige, der unsägliche. Der Pflock, der dir in den Hinterkopf getrieben wird und irgendwo vorne über der rechten Augenhöhle austritt. Paul bitten, Tylenol zu holen. Er kommt zurück, es gibt kein Tylenol im Haus. Und es ist zu spät, noch welches zu kaufen, nicht zur Abendessenszeit. Hinlegen, während der Reis kocht. Bald wird Ana ins Zimmer kommen. Sie anfauchen wegen des Tellers. Ein paar Allgemeinplätze, dass sie hübsche Dinge nicht zu schätzen weiß, dass sie rücksichtslos ist und nie gehorcht und nie hilft oder aufräumt. Zusehen, wie Ana aus dem Zimmer geht. Sich fragen, ob sie weint. Mit großer Mühe, dein Kopf ein Krater, in dem ein glückliches Zuhause versinkt, aufstehen und in ihr Zimmer gehen. Sie ist da. Sie kniet, hören, wie sie mit sich selbst redet, die Hände auf der Star-Wars-Bettdecke, unbeeindruckt, so lieb spielend, die Stimmen von Iron Man und Green Lantern nachahmend, die beide sehr gütig klingen, sehr langmütig in ihrem lispelnden Mitgefühl. Wissen, dass sie unzerstörbar ist, viel stärker als du. Zu ihr gehen und sehen, dass sie bereits vergeben hat oder vergessen, sie ist ein Schlachtschiff ohne Erinnerung, also sie auf den Kopf küssen und aufs Ohr und auf die Augen, und dann ist genug geküsst, wird Ana sagen, und sie wird ihre Mutter wegstoßen, aber ihre Mutter wird sich nicht wegstoßen lassen und wird Anas Shirt anheben und ihren Bauch küssen und Anas kehliges Lachen hören, und sie wird Ana so sehr lieben, dass sie es nicht aushält. Ana in die Küche bringen und sie wieder auf die Arbeitsplatte heben und sie den Reis probieren lassen, während Paul in der Nähe ist. Auch Paul umarmen, dein Glas Wein austrinken und ein neues eingießen und überlegen, ob du nach anderthalb Gläsern Rotwein in jeder Hinsicht eine bessere Mutter bist. Eine beschwipste Mutter ist eine liebende Mutter, eine Mutter, deren Freude, Zuneigung, Dankbarkeit vorbehaltlos sind. Eine beschwipste Mutter ist reine Liebe und keinerlei Zurückhaltung.

Eine Lichterkette glitt durch den Wald vor ihr. Josie stieg aus dem Chateau, die Luft leicht toxisch von einem unsichtbaren Feuer, und lief zur Straße, wo sie einen Konvoi Feuerwehrwagen, rot und zitronengelb, vorbeirasen sah. Die Feuerwehrleute in den Fahrzeugen waren bloß verwischte Silhouetten, bis der letzte Wagen kam, der siebte und kleinste, wo ein Gesicht im zweiten Fenster offenbar in ein kleines Licht blickte, vielleicht irgendeine Instrumententafel, vielleicht ein Handy, aber er lächelte, und er wirkte so ungemein glücklich, ein junger Feuerwehrmann auf dem Weg irgendwohin, den Helm auf dem Kopf. Josie winkte ihm zu, wie eine europäische Dorfbewohnerin nach der Befreiung im Zweiten Weltkrieg, aber er schaute nicht auf.

Jedenfalls, sie war fertig. Mit der Stadt. Mit ihrer Praxis, mit Keramikfüllungen, mit den Mündern der Unmöglichen. Sie war fertig, weg. Sie hatte es bequem gehabt, und Bequemlichkeit ist der Tod der Seele, die von Natur aus auf der Suche ist, beharrlich, unbefriedigt. Diese Unzufriedenheit veranlasst die Seele fortzugehen, sich zu verlaufen, zu verirren, zu kämpfen und sich anzupassen. Und Anpassung ist Wachstum, und Wachstum ist Leben. Ein Mensch kann sich entscheiden, entweder Neues zu sehen, Berge, Wasserfälle, gefährliche Stürme und Meere und Vulkane, oder dieselben von Menschenhand gemachten Dinge in endlosen Spielarten zu sehen. Metall in dieser Form, dann in jener Form, Beton so gestaltet oder anders. Auch Menschen! Dieselben Emotionen recycelt, neu konfiguriert, scheiß drauf, sie war frei. Frei von menschlichen Verstrickungen! Stillstand hatte sie gequält, hatte ihr Gesicht faktisch taub werden lassen. Vor einem Jahr, zu Beginn der Prozessspirale, war ihr Gesicht einen Monat lang taub gewesen. Sie konnte es niemandem erklären, und in der Notaufnahme waren sie ratlos. Aber es war real gewesen. Es hatte einen Monat gegeben, in dem ihr Gesicht taub war und sie nicht mehr aus dem Bett kam. Wann war das? Vor einem Jahr, kein gutes Jahr. Tausend Gründe, die Kernstaaten der USA zu verlassen, ein Land zu verlassen, das auf der Stelle trat, ein Land, das gelegentliche Vorstöße in Fortschritt und Aufklärung unternahm, ansonsten aber uninspiriert war, ansonsten zum Kannibalismus neigte, zum Fressen der Jungen und Schwachen, zu Vorwürfen und Klagen und Ablenkungen und dem vulkanischen Aufkommen uralter Hassformen. Und ihr war keine andere Wahl geblieben, als fortzugehen, wegen der Frau, die sie verklagt hatte, weil sie angeblich ihren Krebs verursacht oder die Flutwelle von Karzinomen nicht aufgehalten hatte, die sie letztlich töten würde. Und da waren Elias und Evelyn und Carl und seine Goebbels’schen Pläne. Aber vor allem war da der junge Mann, ihr Patient seit seiner Kindheit, der jetzt tot war, weil er gesagt hatte, dass er zum Militär gehen würde, um in Afghanistan Krankenhäuser und Schulen zu bauen, und Josie hatte gesagt, er sei ehrenhaft und mutig, und sechs Monate später war er tot, und sie konnte sich nicht von der Mitschuld reinwaschen. Sie wollte jetzt nicht an Jeremy denken, und es gab hier keine Erinnerungen an Jeremy. Nein. Aber konnte sie wirklich in einem Land aus Bergen und Licht neugeboren werden? Wohl kaum.

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II.

Josie erwachte durch ein Klopfen, ein unablässiges hohles Klopfen irgendwo unterhalb von ihr. Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass sie wohl zurück ins Chateau gestiegen und hinauf in den Alkoven geklettert war. Draußen war es dunkel, und Paul und Ana schliefen tief und fest, obwohl Ana es irgendwie geschafft hatte, sich einmal komplett zu drehen, sodass ihre Füße jetzt neben Pauls Kopf lagen.

Das Klopfen hörte kurz auf und setzte dann wieder ein, lauter. Es war Carl. Er hatte sie gefunden. Sie hatte etwas Illegales gemacht. Staatsgrenzen mit ihren Kindern überquert? War das rechtswidrig? Sie hatte sich noch nicht mal erkundigt. In Wahrheit hatte sie sich nicht erkundigt, weil sie ahnte, dass es vielleicht rechtswidrig war, und es nicht genau wissen wollte.

Dann eine Stimme. Es war ein Mann. Eine andere Stimme, nicht Carls. Sie überlegte, wo sie die Kinder verstecken könnte. Sie dachte an das Samtsäckchen, das sie unter der Spüle versteckt hatte.

»Aufwachen da drin. Polizei.«

Josie kletterte nach unten und sah einen Mann in Uniform, der um das Chateau herumging und mit raschen, schneidenden Bewegungen eine Taschenlampe schwang.

Josie hatte keine Veranlassung, daran zu zweifeln, dass der Mann das war, was er behauptete, aber die Nacht war grau und die dunkle Mythologie ihrer Träume haftete noch an ihr, deshalb machte sie die Tür nicht auf. Stattdessen setzte sie sich auf den Fahrersitz und winkte ihm.

»Hallo«, sagte sie durch das geschlossene Fenster.

Der Polizist bat sie nicht, das Fenster zu öffnen. Er bat sie nicht um Führerschein, Fahrzeugpapiere oder irgendeine Erklärung.

»Sie können hier nicht über Nacht stehen«, sagte er durch das Fenster und zeigte auf ein Schild vor ihr, das dasselbe sagte. »Okay?«, fragte er dann freundlicher.

Sie empfand eine jähe Dankbarkeit. Ihr Leben war in letzter Zeit voller überschwänglicher Momente von Dankbarkeit gegenüber Fremden, wenn sie sie nicht anschrien, beschimpften, fast umbrachten oder ihr in irgendeiner Weise Schaden zufügten. Jedes Mal, wenn sie eine Begegnung unversehrt überstand – und noch mehr, wenn jemand tatsächlich nett war –, wurde ihr regelrecht schwach vor Dankbarkeit. »Gut. Okay«, sagte sie und zeigte ihm den erhobenen Daumen. »Vielen Dank, Officer.«

Als er weg war, ließ Josie den Motor an, und die Uhr im Armaturenbrett zeigte 2:14. Sie war eine Idiotin. Jetzt würden die Kinder mehr oder weniger endgültig aus ihrem normalen Schlafrhythmus gerissen. Und wo sollten sie alle schlafen, wenn sie das Ding, ein Wohnmobil, nicht auf einem riesigen Parkplatz mit Blick auf eine Ansichtskartenbucht parken durften? Stan hatte die Wohnmobilparks überall in Alaska erwähnt, aber Josie hatte eigentlich andere Pläne. Sie hatte sich die Freiheit gewünscht, einfach irgendwo anzuhalten und zu essen oder zu schlafen oder auf unbestimmte Zeit zu bleiben.

Sie erwog, Paul und Ana zu wecken und anzuschnallen, ehe sie losfuhr, aber sie hegte die irrationale Hoffnung, dass sie die Nacht durchschlafen würden, wenn sie sie in Ruhe ließ. Es war unwahrscheinlich – eigentlich war es ein Witz –, aber ihr Erziehungsstil basierte darauf, Dinge zu erhoffen, über die sie wenig oder gar keine Kontrolle hatte.

Sie schaltete das Radio ein und fand nichts. Sie drehte den Einstellknopf nach links und rechts, und als sie meinte, ein schwaches Signal zu empfangen, stellte sie lauter. Das Signal erstarb, und meilenweit hatte sie überhaupt keinen Empfang mehr.

Dann: I’ve got big balls! Es war eine Männerstimme. Ein Song, gespielt von einem Mann in einer Schuluniform. Sie drehte den Ton schnell leiser, hoffte, dass die Kinder nicht aufgewacht waren. Das war die Regel, seit sie aus Stans Einfahrt gerollt waren: Das Radio, das er als launisch bezeichnet hatte, gab stundenlang keinen Mucks von sich, um dann plötzlich mit einem überlauten Song zum Leben zu erwachen.

Sie fuhr in südlicher Richtung, hielt nach Schildern Ausschau, doch stattdessen sah sie das Gesicht von Evelyn, der sterbenden Frau, die jetzt ihre Praxis besaß, und sie sah Evelyns boshaften Schwiegersohn, und dann sah sie das Gesicht des toten Soldaten. Welcher Idiot fährt allein mit so einer Karre durch Alaska? Sie hatte sich selbst endlos lange Fahrten wie diese versprochen, die Kinder beschäftigt oder schlafend, während sie über ihre vielen Fehler nachdenken konnte und über den fundamentalen Fehler, andere Menschen zu kennen, die allesamt letzten Endes sterben oder versuchen würden, sie fertigzumachen.

Endlich sah sie das Wort »Wohnmobilpark« auf einem handgemalten Schild und bog auf einen Schotterplatz. Sie fuhr langsam an einem hohen Wigwam vorbei, neben dem ein stark nach rechts geneigter Totempfahl stand. Das Büro war ein pinker Aluminiumtrailer, und darin brannte ein trübes bernsteinfarbenes Licht. Sie klopfte an die Tür, ein schwach blechernes Geräusch.

»Moment«, sagte eine Frauenstimme von irgendwo tief drin.

»Danke«, sagte Josie zu sich selbst und sagte es erneut zu der Frau, die die Tür aufmachte. Die Frau war ungefähr in ihrem Alter, mit schwarzem Haar, das sie zu einem Beehive hochgesteckt hatte. Der Anblick der Frisur, fast dreißig Zentimeter hoch, versetzte Josie kurz in die fröhlichen Fünfziger, als die Zukunft drall und schnittig und aufstrebend war.

»Ist das Ihres?«, sagte die Frau und deutete mit einer knappen Kinnbewegung auf das Chateau. »Für eine Nacht?«

Josie bestätigte und fragte die Frau in einem seltenen Anfall von Geschwätzigkeit: »Und wie läuft das Geschäft so?«, gab sich ungewohnt vertraulich.

»Wir warten auf Regen«, sagte die Frau. »Brauchen Regen.«

Josie nickte, verstand nicht sofort, warum – sie dachte an Farmen, Ernten, Dürren, glaubte nicht, dass Alaska ein stark landwirtschaftlich geprägter Staat war, doch dann fielen ihr die Brände ein. Sie hatte an diesem Tag einen Radiobericht gehört, in dem von mindestens hundertfünfzig akuten Waldbränden die Rede gewesen war. »Ich hoffe, er kommt bald«, sagte Josie noch immer in ihrem neuen, gekünstelten Tonfall.

Die Frau berechnete ihr fünfundvierzig Dollar und erklärte Josie, sie könne das Chateau dort stehen lassen, wo es stand, oder irgendwo anders auf dem Platz parken, wo sie Lust hatte. Der ganze Platz war leer.

»Frühstück um sieben, wenn Sie wollen«, schob die Frau nach und schloss die Tür. Als Josie zum Chateau zurückkam, waren die Kinder wach.

»Sind wir weitergefahren?«, fragte Paul.

Josie sagte, ja, sie waren weitergefahren, ließ aber den Teil mit dem Polizisten weg. Sie konnte nicht abschätzen, welche Auswirkungen das Auftauchen irgendwelcher Polizisten auf eines oder beide Kinder haben würde. Manchmal gab ihnen Polizei ein Gefühl von Sicherheit; dann wieder implizierte sie die Nähe von Chaos und Verbrechen. Der Gedanke an »Räuber« beschäftigte die Kinder mehr als jede andere irdische Bedrohung. Zu Hause in Ohio musste Josie jeden dritten Abend erklären, dass es in ihrer Stadt keine Räuber gab (es gab welche), dass sie eine ausgeklügelte Alarmanlage hatten (sie hatten keine), dass sich kein Räuber ihrem Haus je auch nur auf eine Meile nähern würde (in das Haus nebenan waren drei Monate zuvor zwei Meth-Abhängige am frühen Abend eingebrochen und hatten den Besitzer mit seinem eigenen Tennisschläger halb totgeschlagen).

»Lasst uns noch was schlafen«, sagte sie in dem Wissen, dass das nicht passieren würde. Ihre Kinder hatten Hunger. Ana wollte den Wigwam sehen. Josie erklärte, dass es fast drei Uhr morgens war und die Welt schlief, doch die Kinder interessierten sich nicht für diese Feststellung. Und so ließ sie die Kinder, nachdem sie ihnen kalte Quesadillas und rohes Gemüse aus einem Plastikbeutel zu essen gegeben hatte, über dem Führerhaus Tom und Jerry en español gucken.

Sie goss sich einen Spritzer von dem zweiten Pinot ein, den sie in Anchorage gekauft hatte, und starrte in den Wald vor ihr. Sie nahm ihre Old-West-Zeitschrift, schlug »Verlorene Spuren« auf und entdeckte ein kleines Juwel:

»Mein Vater, Addison Elmer Hoyt, hat um 1916 – auf jeden Fall vor 1917 – in oder nahe Polson, Montana, sein Stammbaumbuch der Familie Hoyt verloren und war zu krank, um es zu suchen. Unsere Familienbibel verzeichnet um 1723 oder früher Hoyt-Ahnen in Worcester, New Braintree, Massachusetts. Der erste namentlich genannte Hoyt ist Benjamin, geboren 1723, gefallen in der Schlacht von Ticonderoga. Benjamin hatte einen Sohn, Robert, geboren am 6. Mai 1753, verheiratet mit Nancy Hall, Tochter von Zakius Hall und Mary Jennison Hall. Wäre es möglich, dass das Hoyt-Buch nach so vielen Jahren noch existiert? Möglicherweise waren Tuschezeichnungen von Pferden und kleinen Vögeln sowie schöne Schreibschrift in dem Buch, da Vater gern skizzierte und zeichnete. Er wurde in Greene County, Illinois, geboren, als Sohn von Albinus Perry und Surrinda Robinette New Hoyt. Ich würde mich freuen, von Nachfahren unseres Geschlechts zu hören, die mir weitere Informationen zur Verfügung stellen möchten.«

Josie überlegte, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben, um den Hoyts zu helfen, überlegte, sich in Surrinda umzubenennen, als sie in das Bett über dem Führerhaus kletterte. Es war breit genug für sie drei, obwohl die knappe Kopffreiheit ein leichtes Sarggefühl vermittelte. Die Matratze war dünn, und Decken und Kissen rochen nach Schimmel und Hund, aber Josie wusste, dass sie binnen Minuten einschlafen würde. Anas Gesicht erschien, die Augen groß und fassungslos, da sie den Alkoven für eine Art riesiges mobiles Stockbett hielt, und gleich darauf tauchte Paul auf. Josie packte sie, kitzelte sie, zog sie an sich, schlang die Arme um die zwei, Ana in der Mitte zwischen ihren beiden Beschützern. Wie wäre das, dachte Josie – zu wissen, dass ständig Leute um dich waren, denen dein Wohlergehen und deine Sicherheit am Herzen lagen? Soweit Josie wusste, hatte sie seit fünfundzwanzig Jahren keine solche Person in ihrem Leben gehabt. Sie schloss die Augen.

»Ich bin nicht müde«, sagte Ana.

»Dann kann Paul dir vielleicht was vorlesen«, sagte Josie und spürte, dass sie sehr schnell wegdämmerte, obwohl sie wusste, dass ihre Kinder anderthalb Meter tief stürzen würden, sollten sie sich in die falsche Richtung rollen. Sie änderte ihre Position so, dass sie selbst außen lag und die beiden innen, zusammengepresst vorne im Alkoven wie Gepäck.

Sie lauschte, wie Paul und Ana eines ihrer Gespräche führten, häufig in Hörweite von Josie, in denen Ana existenzielle Fragen über sich selbst und ihre Familie stellte und Paul, so gut er konnte, antwortete, ohne dass er auf die Idee kam, Josie um Hilfe zu bitten.

»Gehen wir hier zur Schule?«, flüsterte Ana.

»Wo?«, flüsterte er.

»In Alaska«, sagte Ana.

»Alaska? Nein, wir machen Ferien. Hab ich dir doch gesagt«, antwortete er.

»Können hier Räuber reinkommen?«

»Nein, es gibt keine Räuber, die Wohnmobile ausrauben. Und das hier hat überall dicke Schlösser und Alarmanlagen. Und es passen Polizisten auf uns auf, die uns von oben sehen.«

»Aus Hutschraubern?«

»Ja. Gaaanz vielen Hubschraubern.«

»Was ist über den Hutschraubern?«, fragte Ana.

»Der Himmel«, sagte Paul.

»Was ist über dem Himmel?«, fragte sie, und nach einer langen Pause antwortete er: »Weltraum. Sterne.«

»Sind die gut?«, fragte Ana.

Das hatte sie von Paul. Jeden Tag wollte Paul wissen, ob etwas, ein Film oder ein Auto oder ein Park oder ein Mensch, gut war. Ist der gut? War das gut? Er hatte kein Vertrauen in seinen eigenen Geschmack oder hatte noch keinen entwickelt, und deshalb wollte er stets mit großer Ernsthaftigkeit und Endgültigkeit wissen: Ist das gut? Die einzige Frage, über die er offenbar nicht nachdachte, war Bin ich gut? Er schien zu wissen, dass er es war.

»Du meinst, sind die lieb?«, sagte Paul.

»Ja.«

»Die Sterne sind voll lieb. Und ich hab ganz vergessen, dir zu sagen, dass zwischen dem Himmel und den Sternen noch eine ganze Schicht Vögel ist. Und die Vögel passen auf alle hier unten auf.«

»Sind die groß?«, fragte Ana.

»Die Vögel? Nicht besonders. Aber es sind unheimlich viele. Und sie sehen alles.«

»Welche Farbe haben sie?«

Die Geduld des Jungen war erstaunlich. »Blau. Hellblau«, sagte er, und nach einer Pause, in der Paul eine Erkenntnis gehabt haben musste, die sogar ihn selbst beeindruckte: »Deshalb kannst du sie nicht sehen. Sie verschmelzen mit dem Himmel.«

Josie liebte ihre Kinder, hatte aber dergleichen schon öfter von Paul gehört, und so zog sie sich ein Kissen über den Kopf, um ihre Stimmen auszublenden, und kurz darauf spürte sie, dass Paul um sie herum und hinunter in die Kochnische kletterte, und dann merkte sie, dass er zurückkam. Er kroch über sie hinweg, und sie hörte, dass er die Seiten eines Buches umblätterte, Ana Worte zuflüsterte, und Josie konnte sich ihre Gesichter vorstellen, die Köpfe aneinander, und bald merkte sie an Anas Stille, dass ihre Tochter eingeschlafen war, und endlich gelang es ihr auch.

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III.

Aber das hier war noch kein Land aus Bergen und Licht. Was sie bislang gesehen hatten, war bloß ein Ort. Es gab Berge, einige, aber die Luft war gelbsüchtig und das Licht glanzlos. Das kleine ovale Fenster nach vorne präsentierte ihr das reale Alaska: ein Parkplatz, ein Wigwam, ein Schild, das Vorbeifahrenden kostenloses WLAN versprach. Es war sieben Uhr morgens. Sie schaute nach unten und sah, dass ihre Kinder wach waren und die Schränke durchstöberten.