Die Parade - Dave Eggers - E-Book
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Die Parade E-Book

Dave Eggers

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Beschreibung

»Dave Eggers ist einer der sozial engagiertesten und provokantesten Schriftsteller unserer Zeit.« The Observer. Mit seinem neuen Roman wirft Dave Eggers die Frage auf, ob der Westen in der Lage ist, die komplizierten Verstrickungen eines Entwicklungslands, das sich jahrelang im Bürgerkrieg befand, zu begreifen. Eine kluge, hochaktuelle Parabel und ein echter Pageturner. Zwei Straßenbauer werden von einer internationalen Baugesellschaft in ein vom Bürgerkrieg zerrissenes Land geschickt, um den armen Süden mit dem reichen Norden zu verbinden. Der Präsident des Staates will den noch jungen, fragilen Frieden mit einer Militärparade auf der neuen Straße feiern. Einer der beiden Männer möchte so schnell und korrekt wie möglich seine Arbeit verrichten, um bald wieder nach Hause zu können; der andere ist abenteuerlustig und nimmt voller Freude und Neugier alles mit, was ihm die neue Kultur, die fremden Menschen und das exotisch riechende Essen zu bieten haben. Meter für Meter kämpfen sie sich mithilfe einer hypermodernen Asphaltiermaschine voran. Die Straße wird länger, die Konflikte zwischen den beiden werden härter und nehmen eine dramatische Wendung, als einer der Männer lebensbedrohlich erkrankt. Beide kommen auf dieser Reise an ihre Grenzen – und müssen sich fragen, inwiefern sie der Bevölkerung wirklich helfen, wenn sie ihren Auftrag erfüllen. Tut man automatisch Gutes, wenn man Gutes tun will? In »Die Parade« zeigt sich erneut Dave Eggers' besondere Begabung, soziale und politische Fragen mit den Mitteln der Literatur zu untersuchen – eine fesselnde Lektüre, die nachdenklich stimmt.

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Seitenzahl: 187

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Dave Eggers

Die Parade

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Dave Eggers

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

VII. Kapitel

VIII. Kapitel

IX. Kapitel

X. Kapitel

XI. Kapitel

XII. Kapitel

XIII. Kapitel

XIV. Kapitel

XV. Kapitel

XVI. Kapitel

XVII. Kapitel

XVIII. Kapitel

XIX. Kapitel

XX. Kapitel

XXI. Kapitel

XXII. Kapitel

XXIII. Kapitel

Danksagung

Über den Autor

Inhaltsverzeichnis

I

Im platingrauen Morgenlicht hob er den bleischweren Kopf. Er lag auf einer Plastikmatratze in einem umgebauten Schiffscontainer unter einem kleinen Ventilator, der die lauwarme Luft zirkulieren ließ.

Er wusch sich mit abgepackten Erfrischungstüchern und zog seine Arbeitskluft an, einen schwarzen Overall aus Synthetikfasern. Unter einer rasch aufgehenden Sonne ging er über den bekiesten Innenhof des Hotels zum Zimmer seines Kollegen. Sie waren sich noch nie begegnet. Er klopfte an die Wellblechtür. Nichts rührte sich. Er klopfte lauter.

Nach einigem Rumoren von drinnen öffnete ein geschmeidig aussehender Mann die Tür. Er war nur mit weißen Boxershorts bekleidet, hatte dunkle Augen, ein Grübchen im Kinn und einen breiten Mund mit vollen fraulichen Lippen. Eine schwarze Haarsträhne fiel ihm lässig über das linke Auge.

»Überleg dir eine Zahl.«

»Neun«, sagte der Mann an der Tür mit einem durchtriebenen Lächeln.

»Okay. Du weißt, wie die Firma das mit Namen handhabt. Ich kenne deinen nicht, du kennst meinen nicht. In den nächsten zwei Wochen bist du Neun. Nenn mich Vier.«

»Du bist Vier?«

»Du nennst mich Vier. Ich nenn dich Neun. Hast du das kapiert?«

Aus Sicherheitsgründen bestand die Firma auf einfache Decknamen, die in der Regel bloß Zahlen waren.

»Kapiert«, sagte Neun und strich sich die Haare aus dem Gesicht nach hinten.

Sie waren ohne Pässe angekommen. Pässe komplizierten und erschwerten die Dinge in einem Land, dessen Nation sich von einem jahrelangen Bürgerkrieg erholte, von Korruption gebeutelt war und jetzt eine neue und unrechtmäßige Regierung zu verkraften hatte. Vier und Neun waren unter falschen Namen mit einem Privatjet eingeflogen worden. In der Vergangenheit, in anderen Nationen, waren Mitarbeiter der Firma gekidnappt oder umgebracht worden. Die Entführer stellten ihre Forderungen erst an die Firma ihrer Geiseln, dann an deren Familien, dann an deren Staat. Doch ohne Pässe oder Namen waren Männer wie Vier und Neun anonym und von geringem Wert. Die Herkunft der RS-80, der Maschine, mit der sie arbeiten würden, war praktisch nicht feststellbar. Sie trug weder den Namen des Herstellers noch eine Serien- oder nationale Registriernummer. Niemand außer ihrem Kunden, der Regierung in der Hauptstadt im Norden, wusste irgendetwas über sie, ihre Ursprungsländer oder ihren Arbeitgeber.

»Kommst du frühstücken?«, fragte Vier. »In vierzig Minuten geht’s los. Die Crew checkt die Maschine noch ein letztes Mal.«

»Gleich«, sagte Neun, und sein breiter Mund verzog sich zu einem Lächeln. Neun trat beiseite und deutete mit dem Kopf auf das Bett hinter ihm.

An Neuns nacktem Oberkörper vorbei konnte Vier die zerwühlten Laken eines ungemachten Bettes sehen und mitten darin die muskulösen Beine einer schlafenden Frau. Neun gab sich keine Mühe, sie zu verbergen. Stattdessen lächelte er verschwörerisch. Vier war diesem Mann nie zuvor begegnet und hielt sich keineswegs für einen Propheten, aber in dem Moment wusste er, dass Neun ein Chaot war und die schwierige Arbeit, die vor ihnen lag, noch sehr viel schwieriger machen würde.

Jetzt gähnte Neun. »Ich komm in ein paar Minuten nach.«

 

Vier schloss die Tür und ging über den Hof, der schon in der jungen Hitze des Tages briet, zur Cafeteria. In dem Raum war es feuchtwarm von Männern, die über ihr Essen gebeugt saßen – Männer in Anzügen, Männer in zerschlissenen Militäruniformen, Männer in traditioneller Kleidung. Alle sprachen mit leisen Stimmen über das Klappern von billigem Blechbesteck auf Plastiktellern hinweg.

Es waren nur einige wenige Ausländer in dem provisorischen Speisesaal dieses neuen Hotels, das aus zwei Dutzend in einem schlampigen Halbkreis aufgestellten Schiffscontainern bestand. Nachdem Vier eine halbe Stunde in dem Frühstücksraum gewartet hatte, ging er noch einmal zu Neuns Zimmer und klopfte an.

»Ich komme!«, brüllte Neun, und im Zimmer brach Gelächter aus.

Vier kehrte in die Cafeteria zurück und trank abgefülltes Wasser aus einer Flasche. Zehn Minuten später kam Neun herein, der geduscht hatte und seinen schwarzen Firmenoverall trug. Er hatte es sich allerdings erspart, die obere Hälfte des Overalls überzuziehen. Er trug ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt, und die Ärmel des Overalls hingen schlaff herunter, streiften die Schultern der anderen Männer, als er sich zwischen den Tischen hindurch seinen Weg zu Vier suchte.

»Ich hab heute noch nicht mit dir gerechnet«, sagte Neun. »Die Flugzeuge hier sind nicht besonders pünktlich. Deshalb hatte ich letzte Nacht Besuch. Bist du verheiratet?«

»Nein«, log Vier.

»Isst du nichts?«, fragte Neun.

»Ich hab schon gegessen«, sagte Vier. In seinem Zimmer hatte er eine Packung Haferflocken mit Milchpulver, eine Tüte Mandeln und ein Stück Dörrfleisch vom Wild zu sich genommen – alles Vorräte, die er mitgebracht hatte. Er hatte Lebensmittel für die gesamten zwölf Tage eingepackt, die die Arbeit voraussichtlich dauern würde.

»Du hast in deinem Zimmer gegessen?«, sagte Neun gekränkt. »Das kannst du nicht machen. Das Essen hier ist so gut. Na ja, so gut auch wieder nicht, aber es ist interessant.« Die Haarsträhne war ihm wieder über das linke Auge gefallen, und er warf sie mit einer schwungvollen Handbewegung zurück.

»Ich hol mir mal was«, sagte Neun und ging zum Büfett, wo er sich eine halbe Grapefruit, ein großes Glas Mangosaft, drei gekochte Eier und ein paar kleine Tierknochen nahm, die mit lila Fleisch bedeckt waren. Auf dem Rückweg zum Tisch wehten Neuns leblose Ärmel wieder an den anderen Gästen entlang. Vier ließ den Blick durch den Raum gleiten, um zu sehen, ob einer von den Einheimischen, eine Mischung aus ehemaligen Rebellenführern und jetzigen Profitmachern, auf Vier oder Neun aufmerksam geworden waren. Dem war nicht so. Er und sein neuer Kollege waren offensichtlich Fremde in einem Land, wo die meisten Besucher Aufbauhelfer oder Waffeninspektoren waren, und es war besser, wenn sie unauffällig blieben.

Neun stellte seinen Teller ab und ließ seine Haare von der Stirn herabhängen wie eine Weide ihre Zweige. Er verzichtete auf das Blechbesteck und hob die angegammelten Knochen mit den Fingern an den Mund, um das Fleisch abzunagen, das er mit sonnenfarbenem Saft runterspülte. Die Firma hatte davon abgeraten, einheimisches Obst ganz oder in flüssiger Form zu sich zu nehmen, und dringend davor gewarnt, dass Eier oder Fleisch Kolibakterien, Salmonellen oder Spulwürmer enthalten könnten. Doch Neun verschlang alles völlig unbekümmert, während seine fettigen Haare fast im Essen hingen. Vier war schleierhaft, was die Firma in diesem Mann sah. Er war ein Risiko.

»Weißt du, was sie gekostet hat?«, fragte Neun mit vollem Mund. Er wartete Viers Antwort nicht ab. »Weniger als das, was wir fürs Frühstück bezahlen. Und sie war frischer als die hier«, sagte er und stach mit seiner Gabel in die nasse Grapefruit.

»Die Maschine wartet«, sagte Vier. »Der erste Pod ist vorbereitet. Wie lange brauchst du noch?«

Neun sah ihn grinsend an. »Jetzt weiß ich, warum sie dich die Uhr nennen.«

Vier stand auf. »Du hast zehn Minuten«, sagte er.

»Das ist nicht dein Ernst. Ich bin gestern erst angekommen«, sagte Neun. »Wir haben noch Luft im Zeitplan. Die Stadt ist toll. Lass uns einen Tag hier verbringen. Und vor allem noch eine Nacht.« Er hob vielsagend eine Augenbraue. »Ich leih dir mein Mädchen.«

Vier schob seinen Stuhl unter den Tisch. »Wir sehen uns in zehn Minuten vorne. Bring deine Ausrüstung mit.«

Inhaltsverzeichnis

II

»Steig ein«, sagte Vier. Er saß in einem Taxi, das auf dem Rondell vor dem Hotel wartete. Neun, der gerade mit seiner Reisetasche in der Hand und Sandalen an den Füßen aus der Lobby gekommen war, sah aus wie ein Tourist, der zu einem Tagesausflug aufbrach. Er stieg ein, und das Taxi fuhr los.

»Du musst dir andere Schuhe anziehen«, sagte Vier.

Neun öffnete den Mund, legte den Kopf schief wie ein Tier und lächelte dann, als könne er sich nicht für eine der vielen witzigen Bemerkungen entscheiden, die ihm auf der Zunge lagen. Er sagte nichts. Wieder warf er sich die Haare aus der Stirn.

Vier kannte diese Sorte Mann, ein Mann, der alles amüsant fand, vor allem sich selbst. Er hatte sich die Haare absichtlich so wachsen lassen, dass sie seine Sicht beeinträchtigten und zigmal am Tag beiseitegestrichen werden mussten. Es war Blödsinn. Für einen so veranlagten Mann war dieser Job ein Abenteuer, ein Spaß.

Aber Vier wollte nicht länger als nötig hier sein. Die Schwüle, sogar auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt, war eine Tortur. Er wusste, dass er in so einer Hitze abwechselnd katatonisch oder aufbrausend werden würde. Doch die Fahrerkabine der RS-80 hatte eine Klimaanlage, und der Auftrag war einfach. Sie sollten zweihundertdreißig Kilometer einer zweispurigen Straße, die den ländlichen Süden des Landes mit der Hauptstadt im urbanen Norden verband, asphaltieren und markieren.

Die Trasse war geschlagen worden, und die Straße war bereits planiert und verdichtet worden. Doch die Regenzeit stand kurz bevor, und wenn die Straße unasphaltiert blieb, würde die ganze Arbeit im Nu weggespült werden. Vier hatte die Pläne studiert und sich den Straßenverlauf auf Satellitenfotos angesehen. Er hatte noch nie an einer so geraden Straße gearbeitet. Sie durchschnitt Busch und Wüste und Wälder und Dörfer, aber auf der gesamten Strecke gab es keine Hügel oder Berge oder Städte. Es gab so gut wie keine Hindernisse.

»Du hast also schon eine Menge Straßen gebaut«, sagte Neun. Er hatte einen respektvollen, ernsten Ton angeschlagen, der jedoch nicht überzeugend klang. Wieder umspielte der Anflug eines Lächelns seinen femininen Mund.

»Das ist jetzt mein dreiundsechzigster Auftrag«, sagte Vier. Er beließ es dabei. In acht Jahren hatte er über siebentausendfünfhundert Kilometer auf vier Kontinenten asphaltiert.

»Schon mal Ärger gehabt?«, fragte Neun.

Vier war erst zweimal mit einer Schusswaffe bedroht worden. Seine Arbeit fand häufig in Regionen statt, wo noch kurz zuvor Gewalt und Gräueltaten an der Tagesordnung gewesen waren, kam aber eigentlich nie direkt damit in Berührung. Bei früheren Einsätzen hatte Vier mal ein Flugzeug vom Himmel fallen sehen und später erfahren, dass es eine von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossene Passagiermaschine gewesen war. Er war an mit Leichen verseuchten Wasserstellen vorbeigekommen. Er hatte einmal um wenige Minuten eine Kreuzigung verpasst. »Nein«, antwortete er.

»Hast du diese Maschine schon mal bedient?«, fragte Neun.

»Ja«, sagte Vier.

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Das hier war sein erster Auftrag mit diesem speziellen Fahrzeug. Die Firma setzte erst zum zweiten Mal die RS-80 ein, die eine deutliche Verbesserung gegenüber ihrer Vorgängerin war, der RS-50. So war beispielsweise im Cockpit des neuen Modells nur Platz für eine Person. Die RS-50 war mit zwei Leuten besetzt gewesen, und es hatte Vier in den Wahnsinn getrieben, das enge Cockpit mit einem Kollegen teilen zu müssen. Für die Bedienung der Maschine war nur eine Person erforderlich, was man beim neuen Modell entsprechend umgesetzt hatte. Für den anstehenden Auftrag hatte die Firma entschieden, dass der zweite Mitarbeiter auf einem Quad, einem motorradähnlichen Geländefahrzeug mit vier Rädern, vorausfahren sollte, um nach Hindernissen Ausschau zu halten und sicherzustellen, dass sich niemand an den Pods zu schaffen gemacht hatte. Das würde Neuns Aufgabenbereich sein.

»Guck mal da«, sagte Neun und deutete auf irgendetwas neben der schlammigen Straße. Vier konnte sich nicht vorstellen, was Neuns Interesse geweckt haben mochte. Nichts hier war neu. Alles um sie herum war normal für ein Entwicklungsland nach einem Krieg. Die mit Diesel gefüllten Limoflaschen, die am Straßenrand von hutzeligen Großmüttern verkauft wurden. Die streunenden Hunde und die Kinder mit Babys auf den Armen. Die sich kreuzenden Rauchfahnen von fernen Feuern. Die leeren Patronenhülsen. Die Teenager, die verspiegelte Sonnenbrillen trugen und mit ungeladenen AKs herumliefen. Die Lastwagen, die glänzende Sachen lieferten, die die Region seit Jahren nicht gesehen hatte – Klimageräte, Aktenschränke, makellose Fenster, sogar Buntglas für irgendeine vom Ausland finanzierte Kirche. Die weißen Pick-ups mit sorgenvollen oder abgestumpften Aufbauhelfern.

Überall waren Wiederaufbauarbeiten im Gange. Auf einem wackeligen Gerüst aus knorrigen Stöcken waren ein Dutzend Maurer damit beschäftigt, ein kommunales Gebäude mit einem wolkenförmigen Loch in der Fassade instand zu setzen. Nicht weit davon saß eine Frau mittleren Alters, die einen pelzgefütterten Wintermantel trug, unter einem gestreiften Sonnenschirm neben einem Kopierer, den sie irgendwie an den Straßenrand verfrachtet hatte. Eine Schlange von Männern und Frauen in Businesskleidung wartete darauf, die Kopierdienste der Frau in Anspruch zu nehmen. Ein Dieselmotorroller setzte mit schrillem Jaulen zum Überholen an, und Neun lachte.

»Die ganze Sippe«, sagte er.

Vier schaute hin und sah, dass eine fünfköpfige Familie sich auf den kleinen Roller gequetscht hatte, der jetzt an ihnen vorbeifuhr und wieder vor ihnen einscherte. Zwei Kinder standen auf dem Trittbrett vor ihrem Vater, dessen Frau sich, ein Baby auf den Rücken gebunden, an ihm festklammerte. Das Baby, das tief und fest schlief und dessen Gesicht von Dieselabgasen umwölkt war, trug eine Mütze mit Schmucksteinen und Glöckchen.

Diese Stadt, deren Bewohner schon nicht mehr an das Ende des Bürgerkriegs geglaubt hatten, erwachte wieder zum Leben. Sämtliches Glas war zerborsten, sämtliche Dächer eingestürzt, überall waren Männer ohne Beine und Krankenhäuser voll mit Sterbenden und Notleidenden. Eine Million waren obdachlos, eine Million im Exil, Zehntausende Kinder waren verwaist. Und doch waren alle in Jubelstimmung, trotz der Baustellen, der sich türmenden Müllberge, des Abfalls, der in die Flüsse gekippt wurde, der Unmengen von bunten Plastikflaschen überall. Inmitten des Chaos herrschten Freude und hektische Betriebsamkeit. Eine Welle von Auslandshilfen brachte Gelder für den Wiederaufbau, Ausländer kamen, um die Lage einzuschätzen und Ratschläge zu erteilen, um Zuschüsse zu vergeben und Bestechungsgeld zu zahlen und Honorare zu kassieren. Privathäuser wurden Hotels; Küchen wurden Restaurants. Die Besucher brauchten abgefülltes sauberes Wasser, Erfrischungsgetränke, Whiskey, Hähnchenfleisch, Süßigkeiten, Rindfleisch. Mit einer Mahlzeit für sechs Aufbauhelfer verdiente man genug, um seine Familie einen Monat über Wasser zu halten. Oder um einen Roller zu kaufen und die Familie wegzubringen.

»Wir werden heute länger arbeiten«, sagte Vier. »Uns ein bisschen Luft mit dem Zeitplan verschaffen, solange es geht.« Noch während er das sagte, wusste er, dass Neun ein heimliches Lächeln unterdrücken würde, was er auch tatsächlich tat. Vier sah weg, und sein Blick fiel auf zwei Männer, die eine neue Spülmaschine von einem Ochsenkarren luden, der zudem eine ältere Frau auf einer Trage enthielt. Über ihr war ein Infusionsbeutel mit Klebeband an einem Kricketschläger befestigt.

Sie beide hatten zwölf Tage Zeit, um die Arbeit zu erledigen. Die RS-80 war dazu ausgelegt, fünfundzwanzig Kilometer am Tag zu asphaltieren, es ließen sich aber bis zu dreißig aus ihr herausholen. Vier rechnete damit, die zweihundertdreißig Kilometer in zehn Tagen zu schaffen. Dennoch hatte die Firma für alle Fälle einen kleinen Puffer von zwei Tagen einkalkuliert. Die Firma würde eine Prämie bekommen, falls der Zeitplan eingehalten wurde; jede Verzögerung gefährdete den Zeitplan, was die Prämie für die Firma gefährdete, was Viers Provision gefährdete.

Vor allen Dingen musste die Straße rechtzeitig für die Parade fertig werden. Nach dem Willen des Präsidenten, der für große politische Inszenierungen bekannt war, sollte die Parade unmittelbar nach Fertigstellung der Straße beginnen. Der Festzug würde sich aus der Hauptstadt Richtung Süden bewegen und das Ende des jahrzehntelangen Krieges ebenso symbolisieren wie den Beginn von Frieden und Wohlstand, der durch die Straße ermöglicht wurde.

Die RS-80 minimierte jegliche Zweifel an der Einhaltung eines so straffen Zeitplans. Da sie während der Trockenzeit asphaltierten, war nicht mit Regen zu rechnen, und abgesehen von Regen gab es praktisch keine Variablen. Wenn es keine Variablen und keine Behinderungen gab, war davon auszugehen, dass Vier jede Arbeit termingerecht oder früher erledigte. Abgesehen von Schlafenszeiten und gelegentlicher Nahrungsaufnahme legte Vier während eines Einsatzes nur dann Pausen ein, wenn sie unvermeidbar waren.

»Warst du schon mal hier?«, fragte Neun.

»Nein«, sagte Vier. Er beobachtete, dass Neun wieder die Haare nach hinten warf und sich mit einer Hand durch die ganze Mähne fuhr. Kurz darauf behinderte dieselbe Haarsträhne schon wieder seine Sicht. Absurd, dachte Vier.

»Ist das dein erster Einsatz?«, fragte Vier.

»Ja«, sagte Neun.

»Dir ist klar, was du machen sollst?«

»Ja. Die Straße räumen, Hindernisse beseitigen.« Neun sprach die letzten zwei Wörter übertrieben förmlich aus.

Vier warf ihm einen scharfen Blick zu und holte Luft. Ihr Taxi passierte einen Pick-up, auf dessen Ladefläche sich zwei Polizisten ausruhten, die Beine verschränkt, die Füße nackt. Eine Reihe Schulkinder in Kakihosen und strahlend weißen Hemden trottete vorbei. Sie trugen Bücher, die irgendeine ferne Regierung gespendet hatte. Ein Pritschenwagen, der einen kleinen Berg verbogenes und verkohltes Metall transportierte, brauste vorbei.

»Deine Aufgabe ist es, mit dem Quad vorauszufahren und dafür zu sorgen, dass nichts auf der Straße ist, wenn ich komme. Kein Mensch. Kein Tier. Nichts. Kleine Steine sind kein Problem. Wenn du tiefe Furchen siehst, sagst du mir Bescheid. Wenn du ein Loch siehst, einen Riss, irgendwas Ungewöhnliches, informierst du mich. Okay?«

»Ja.«

»Vor allem musst du andere Fahrzeuge von der Straße fernhalten. Autos, Motorräder, Ziegen, Kühe, Fahrräder, alles, was schwer ist, muss weg. Ein beladener Karren oder Laster kann die Straße zerfurchen und den Belag uneben machen. Verstanden?«

»Ja.«

»Leichte Unebenheiten im Belag sind hinnehmbar und in solchen Regionen fast unvermeidlich, aber deine Aufgabe ist es, diese Unebenheiten zu reduzieren, was bedeutet, dass du die Anzahl der Fahrzeuge ebenso reduzieren musst wie alles andere, das die Straße benutzt oder überquert. Klar?«

»Klar.«

»Wenn du eine größere Unebenheit entdeckst, ist es deine Aufgabe, sie einzuebnen, bevor die RS-80 ankommt, und falls du die Unebenheit nicht allein beheben kannst, weil sie zu groß ist, musst du mich anfunken oder zu mir kommen. Dann können wir überlegen, ob wir die Maschine stoppen, um erst die Anomalie zu beseitigen, oder ob wir einfach drüberasphaltieren. Okay?«

»Okay.«

»Wenn ich kurz vor dem nächsten Pod bin«, fuhr Vier fort, »vergewisserst du dich, dass sich da in der Nähe nichts und niemand rumtreibt. Die Pods locken Neugierige an, aber für uns sind sie von entscheidender Bedeutung. Sie enthalten den Asphalt und den Treibstoff für die RS-80. Wenn auch nur einer davon beschädigt wird, ist unsere Arbeit zu Ende. Es war ungeheuer schwierig für die Firma, alle Pods herzuschaffen. Verstanden?«

»Ja.«

»Es kann sie zwar niemand stehlen, dafür sind sie zu schwer, und Sensoren alarmieren uns, falls an einem Pod rumgefummelt wird, aber dein Job ist es sicherzustellen, dass sich niemand im Umkreis des nächsten Pods aufhält. Dass keiner ihn berührt, sich draufsetzt. Irgendwas in der Art. Klar?«

»Logo. Hindernisse beseitigen, menschliche und nicht menschliche. Und keine Fummelei.« Wieder lächelte Neun, als hätte er einen Witz gemacht. Er schien zu merken, dass Vier kein aufgeschlossenes Publikum war, beugte sich nach vorn zu dem Fenster zwischen Rückbank und Vordersitzen und ließ zur Verblüffung von Vier und dem Taxifahrer einen Schwall Sätze im regionalen Dialekt vom Stapel. Erst jetzt erinnerte sich Vier, in Neuns Profil gelesen zu haben, dass er die Landessprache beherrschte. Das war offenbar eine seiner wenigen Qualifikationen.

Als sie die Stadt hinter sich ließen und während Neun und der Taxifahrer eine lebhafte Unterhaltung führten, wurden die provisorischen Läden und Hotels von Baracken und brennenden Müllbergen abgelöst. Ein Stück außerhalb der Stadt sah Vier durch einen Schleier aus orangerotem Staub, wo die Straße anfing. Die RS-80 stand am Rand, eine tief liegende Maschine, deren mattgelbe Lackierung mit Schwarz abgesetzt war. Man hatte Vier versichert, dass diese Maschine so gut wie neu war, erst ein einziges Mal benutzt, und dann auch nur für kaum zehn Kilometer Strecke.

Neun zeigte auf sie, und er und der Taxifahrer redeten aufgeregt. Neun drehte sich zu Vier um. »Er sagt, er hat mal im Straßenbau gearbeitet. Er sagt, er glaubt einfach nicht, dass diese Maschine alles allein macht.«

Vier stieg aus dem Taxi und bezahlte den Fahrer. Es war halb neun, die Sonne stand bereits hoch über der Baumlinie. Er vermerkte die Uhrzeit in seinem Notizbuch und ging auf die Asphaltiermaschine zu. Vier sah, dass Neun noch einen Moment am Fenster des Taxifahrers stehen blieb und sich dann mit einem komplizierten Handschlag und lautem Gelächter verabschiedete. »Nein, nein, nein!«, brüllte er dem Fahrer zu und trabte los, um Vier einzuholen.

Inhaltsverzeichnis

III

In der Vergangenheit waren für das Asphaltieren einer derartigen Straße mindestens vier Fahrzeuge und zwölf Leute erforderlich gewesen. Es war eine schmutzige und gesundheitsschädliche Arbeit. Von Weitem sah das Ganze wie ein sehr langsamer und chaotischer Zirkus aus. Ein riesiger Kipplaster fuhr rückwärts an den Asphaltfertiger heran, hob die Ladefläche und schüttete heißen Asphalt in den Einfülltrichter der Maschine, die ihn dann gleichmäßig auf der Straße verteilte. Anschließend kam eine Walze, die den Belag verdichtete und glättete. Die ganze Zeit mussten Arbeiter nebenhergehen und aufpassen, dass alles reibungslos lief.

Die RS-80 jedoch vereinte all diese Arbeitsschritte in einem einzigen System, das um ein Vielfaches wirtschaftlicher und eleganter war. Statt den Asphalt mit Lastern zur Baustelle zu transportieren, wurde er am Straßenrand in den sogenannten Thermopods gelagert – schlichten gelben Behältern von je vier Kubikmetern Größe. Mit ihren abgerundeten Kanten sahen sie aus wie gewaltige Spielwürfel ohne Zahlen. Der Asphalt in jedem Pod wurde per Fernbedienung erhitzt, sodass die Mischung fertig war, wenn die RS-80 eintraf. Die RS-80 hob den Pod auf ihre Plattform und ließ ihn einrasten, um dann aus ihm zu trinken, während sie die nächsten zehn Kilometer asphaltierte. Die Arbeit, für die früher eine Unzahl von Fahrzeugen und Menschen erforderlich gewesen war, konnte jetzt von einer einzigen Person in einer einzigen Maschine erledigt werden.

Daher war Vier skeptisch, ob Neuns Arbeit überhaupt erforderlich war. Probleme waren unwahrscheinlich, und Satellitenfotos konnten auffällige Hindernisse entdecken. Was Behinderungen durch Menschen betraf, durchaus ein Faktor in einigen Regionen der Welt, so hatten alle Recherchen seitens der Firma ergeben, dass es gegen dieses Projekt keinen lokalen Widerstand gab. Die Straße war seit achtzehn Monaten in Arbeit, und kompetente Unterstützung war vor Ort nicht zu haben. In den Monaten vor Viers Ankunft hatten seine Kollegen das Land gerodet und die Straße planiert, und die ganze Zeit hatten ihnen die Einheimischen geholfen, ob bezahlt oder nicht. Wenn Häuser im Weg waren und wegmussten, erhoben die Einheimischen keine Einwände; sie nahmen Geld für die Umsiedlung an und verschwanden umgehend. Bei den wenigen Habseligkeiten, die die Menschen im Durchschnitt besaßen, dauerte so ein Auszug meist weniger als eine Stunde.