Wie hungrig wir doch sind - Dave Eggers - E-Book

Wie hungrig wir doch sind E-Book

Dave Eggers

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Beschreibung

Das neue Buch des amerikanischen Literaturstars Dave EggersJunge Amerikaner, die sich in ihrem Vaterland alles andere als zu Hause fühlen, bevölkern die Geschichten in Dave Eggers' Erzählungsband. Sie reisen durch die Welt, erfahrungshungrig, sehnsüchtig, voller Lebensgier und Melancholie. So wie Pilar, die ihren Highschool-Freund Hand besucht, der in Nicaragua für Intel arbeitet (auch wenn Pilar keine Ahnung hat, welche Kenntnisse Hand besitzt, die Intel nützen könnten), sie aber zu Surf-Ferien in Costa Rica überredet. Eine Liebesgeschichte, die in Freundschaft beginnt und ohne Liebe endet. Oder wie Rita, die allein den Kilimandscharo besteigt, weil ihre Schwester schneller als geplant schwanger wurde und die Reise nicht antreten konnte. Eine tragische Abenteuergeschichte, »ein Meisterwerk, vielleicht die letzte bedeutende Short Story alter Prägung« (The Observer). Oder ein Mann, der alleine nach Ägypten fliegt, auch wenn Terroristen ein paar Wochen zuvor an gleicher Stelle siebzig Touristen umgebracht haben. Wütend über die Außenpolitik seiner Regierung, ergreifen ihn Schamgefühle angesichts seiner eigenen Angst vor seinem arabischen Fremdenführer. Eggers' Geschichten konfrontieren den Leser mit der Sterblichkeit, mit der Sehnsucht nach wirklichem Kontakt zur Welt, zu Menschen, zu sich.

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Seitenzahl: 325

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Dave Eggers

Wie hungrig wir doch sind

Storys

Deutsch von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Dave Eggers

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungCopyrighthinweisDanksagungNoch eineWas es bedeutet, wenn eine Meute in einem fernen Land einen Soldaten, der dein eigenes Land repräsentiert, erschießt, ihn aus seinem Fahrzeug zerrt und dann im Staub verstümmeltDie Einzige Bedeutung von ölnassem WasserÜber den Wunsch, mindestens drei Wände stehen zu haben, bevor sie nach Hause kommtAns Fenster klettern, so tun, als ob man tanztSie wartet, schäumend und erblühtRuheDeine Mutter und ichNaveedNotizen für eine Geschichte über einen Mann, der nicht allein sterben wirdÜber den Mann, der mit dem Fliegen anfing, nachdem er sie kennen gelertn hatteDen Berg im langsamen Abstieg hinaufGewisse Sachen sollte er für sich behaltenAls sie Jaulen lerntenNachdem ich in den Fluss geworfen wurde und bevor ich ertrank
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Dieses Buch ist für Chris

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»Die einzige Bedeutung von ölnassem Wasser« erschien erstmals im Literaturmagazin Zoetrope: All-Story. Eine frühere, kürzere Fassung von »Ans Fenster klettern, so tun als ob man tanzt« erschien erstmals im New Yorker, mit dem Titel »Measuring the Jump«. »Den Berg im langsamen Abstieg hinauf« erschien erstmals in leicht abgewandelter Form in McSweeney’s, Ausgabe 10, der Literaturzeitschrift, die auch unter dem Titel McSweeney’s Mammoth Treasury of Thrilling Tales bei Vintage Books verlegt wird. »Nachdem ich in den Fluss geworfen wurde und bevor ich ertrank« wurde erstmals in leicht veränderter Form in Speaking with the Angel abgedruckt, einer Sammlung von Erzählungen, die Nick Hornby herausgegeben hat, um mit dem Erlös »TreeHouse« zu unterstützen, eine Londoner Schule für autistische Kinder. »Deine Mutter und ich« erschien in h2s04 sowie in einem kleinen Erzählband, der von Downtown 4 Democracy herausgegeben wurde.

Viele der sehr kurzen Geschichten waren erstmals im britischen Guardian zu lesen.

Eine abgewandelte Fassung von »Notizen für eine Geschichte über einen Mann, der nicht alleine sterben wird« erschien erstmals in Ninth Letter, der neuen Zeitschrift für Kunst und Literatur an der University of Illinois, die nicht nur die Alma Mater des Autors war, sondern sich auch verdientermaßen rühmen kann, Forschungsstätte zweier Wissenschaftler zu sein, die 2003 je einen Nobelpreis erhalten haben. Alle übrigen Geschichten wurden für diese Sammlung geschrieben.

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Ein überschwängliches Dankeschön geht an die Menschen, die mich zu diesen Geschichten ermuntert und sie verbessert haben – N.H., E.H., M.C., M.C., C.L., D.T., J.H., S.K., H.J., T.S., T.B., P.W., M.R., J.W., J.S., A.M., J.B., O.V.G., Z.J., A.V., J.T., L.D., D.B., A.W., S.P. und an B.B., N.C., Y.H., D.K., H.M., A.L., A.V., D.L. und an alle bei 826/McSwys. Ebenso an Bill, Hesham, Ashak und alle bei der Webb-Waring Foundation/Kilimanjaro.

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Noch eine

Ich war nach Ägypten geflogen, als Kurier, Kinderspiel. Ich hatte das Paket einem Typen am Flughafen übergeben und damit den Job gleich am ersten Tag gegen Mittag erledigt. Es war nicht gerade ratsam, in Kairo zu sein, unklug zu diesem Zeitpunkt, wegen der miserablen Beziehungen zwischen unserer Nation und der gesamten Region, aber ich hatte es trotzdem gemacht, denn ich war in meinem Leben an einem Punkt angelangt, wo ich einfach jede Chance, die sich auftat, egal wie klein und abschreckend sie auch war –

Ich hatte schon seit längerem Schwierigkeiten zu denken, Sachen zu Ende zu bringen. Wörter wie Beklemmungen und Depressionen schienen damals recht zutreffend, da ich mich nicht mehr für die Sachen interessierte, die mich sonst immer interessierten, und ich ohne echte Willensanstrengung nicht mal ein Glas Milch austrinken konnte. Aber ich nahm mir nicht die Zeit, mal in Ruhe nachzudenken oder Probleme zu wälzen. Eine Diagnose hätte das alles nur noch uninteressanter gemacht.

Ich war ein verheirateter Mann gewesen, zweimal; ich war ein Mann gewesen, der im Kreise seiner Freunde vierzig wurde; ich hatte Haustiere gehabt, Jobs im Auslandsdienst, Leute, die für mich arbeiteten. Und jetzt, Jahre später, irgendwann im Mai, war ich unversehens in Ägypten, entgegen dem Rat meiner Regierung, mit leichtem Durchfall und allein.

Dort herrschte eine neue Hitze, trocken und stickig und ungewohnt für mich. Ich hatte immer nur in feuchten Gegenden gelebt – Cincinnati, Hartford –, wo die Leute, die ich kannte, sich gegenseitig bemitleideten. In der ägyptischen Hitze zu überleben gab mir Energie – das Leben unter dieser Sonne machte mich leichter und stärker, als wäre ich aus Platin. Ich hatte innerhalb weniger Tage zehn Pfund abgenommen, aber ich fühlte mich gut.

Erst ein paar Wochen zuvor hatten Terroristen siebzig Touristen in Luxor massakriert, und alle waren nervös. Und ich war gerade in New York gewesen, oben auf dem Empire State Building, ein paar Tage nachdem ein Typ dort angefangen hatte herumzuballern und einen Menschen erschossen hatte. Ich war nicht bewusst auf der Suche nach Ärger, aber was zum Henker machte ich dann in –

An einem Dienstag war ich bei den Pyramiden, spazierte herum, fand den Sand toll, kniff die Augen zusammen. Ich hatte nämlich gerade meine zweite Sonnenbrille verloren. Die Händler, die das Gizeh-Plateau beackern – sie zählen wirklich zu den uncharmantesten Charmeuren, die die Welt je gesehen hat –, wollten mir alles Mögliche andrehen – kleines Skarabäusspielzeug, Cheops-Schlüsselketten, Plastiksandalen. Sie sprachen zwanzig Wörter von einem Dutzend Sprachen und versuchten es bei mir auf Deutsch, Spanisch, Italienisch, Englisch. Ich sagte nein, stellte mich stumm, sagte irgendwann nur noch »Finnland!« zu allen, sicher, dass sie bestimmt kein Finnisch konnten, bis ein Mann mir einen Ritt auf einem Pferd anbot, in amerikanischem Englisch, wobei er die Rs abscheulich verbog. Ehrlich, die Leutchen waren ganz schön clever. Ich hatte schon einen kurzen und teuren Kamelritt hinter mir, rausgeschmissenes Geld, und obwohl ich mit einem Pferd nie über Spazierschritttempo hinausgekommen war und mir das auch nie gewünscht hatte, folgte ich dem Mann zu Fuß.

»Durch die Wüste«, sagte er und führte mich an einem silbernen Touristenbus vorbei, der Schweizer Senioren entlud. Ich folgte ihm. »Wir holen Pferd. Wir reiten zu Rote Pyramide«, sagte er. Ich folgte. »Du haben Pferd für dich allein«, sagte er als Anwort auf meine letzte unausgesprochene Frage.

Ich wusste, dass die Rote Pyramide erst kürzlich wieder geöffnet worden war oder bald wieder geöffnet werden sollte, obwohl ich nicht wusste, warum sie Rote Pyramide genannt wurde. Ich wollte auf einem Pferd durch die Wüste reiten. Ich wollte herausfinden, ob dieser Mann – schmächtig, braune Zähne, weit auseinander stehende Augen, Polizistenschnurrbart – versuchen würde, mich zu töten. Es gab reichlich Ägypter, die mich liebend gern töten würden, da war ich mir sicher, und ich war bereit, mich egal wie auf jemanden einzulassen, der mich tot sehen wollte. Ich war allein und leichtsinnig und sowohl träge als auch leicht aufbrausend. Es war eine wunderschöne Zeit, alles voller Spannung und scheußlich. In Ägypten wurde ich zur Kenntnis genommen, ich wurde von einigen angebrüllt und von anderen umarmt. Einmal bekam ich kostenlosen Zuckerrohrsaft von einem gut angezogenen Mann, der unter einer Brücke wohnte und an einem amerikanischen Internat unterrichten wollte. Ich konnte ihm nicht helfen, aber er war trotzdem davon überzeugt und unterhielt sich laut mit mir draußen vor der Saftbar, im Menschengewimmel von Kairo, während andere mich mit ausdruckslosem Blick beäugten. Ich war ein Star, ein Heide, ein Feind, ein Nichts.

In Gizeh ging ich mit dem Pferdemann – er hatte keinen Geruch – weg von den Touristen und Bussen und hinunter von dem Plateau. Der feste Sand wurde weich. Wir kamen an einem uralten Mann in einer unterirdischen Höhle vorbei, und ich sollte ihm Bakschisch geben, Trinkgeld, weil er ein »berühmter Mann« war und auf die Höhle aufpasste. Ich gab ihm einen Dollar. Der erste Mann und ich gingen weiter, etwa eine Meile, und dort, wo die Wüste auf eine Straße traf, stellte er mich seinem Partner vor, einem dicken Mann, der fast aus seinem verschlissenen Hemd platzte und zwei Pferde hatte, beide schwarz, Araber.

Sie halfen mir auf das kleinere der beiden. Das Tier strotzte vor Energie und war unruhig, das Fell glitschig vor Schweiß. Ich erzählte ihnen nicht, dass ich erst ein einziges Mal geritten war, am Vierten Juli, auf einer kleinen Kirmes, bei einem Schausteller, immer im Kreis herum, halb betrunken. Ich war auf der Suche nach Dinosaurierknochen in Arizona – ich hielt mich kurze Zeit für einen Archäologen. Ich weiß bis heute nicht, warum ich so bin, wie ich bin.

»Hesham«, sagte der Pferdemann und zeigte ruckartig mit dem Daumen auf sein Brustbein. Ich nickte.

Ich stieg also auf das kleine schwarze Pferd, und wir ließen den dicken Mann zurück. Hesham und ich trotteten etwa fünf Meilen an der frisch geteerten Landstraße entlang, vorbei an Bauernhöfen, während wir von hupenden Taxis überholt wurden. Immer dieses Gehupe in Kairo! – die Autofahrer steuern mit der linken Hand, um mit der rechten besser jede Nuance ihres Gefühlslebens vermitteln zu können. Mein Sattel war einfach und klein. Ich brauchte eine volle Minute, um dahinter zu kommen, wie er auf dem Pferderücken gehalten wurde und wie ich mich auf ihm halten sollte. Darunter konnte ich alle Knochen und Muskeln und Knorpelstränge spüren, die das Pferd zusammenhielten. Ich streichelte ihm entschuldigend den Hals, und es schüttelte meine Hand ab. Es konnte mich nicht ausstehen.

Als wir von der Straße abgebogen waren und eine enge Schlucht durchquert hatten, breitete sich die Wüste endlos vor uns aus. Ich kam mir vor wie der letzte Dreck, weil ich je daran gezweifelt hatte, dass sie so imposant und geduldig war. Ich fand es jammerschade, darauf zu treten, so sorgfältig war sie geformt, samtige Schicht auf Schicht.

Nach den ersten Schritten des Pferdes auf Sand sagte Hesham: »Ja?«

Und ich nickte.

Und schon schlug er auf mein Pferd ein und brüllte seins an, und wir galoppierten, in der Sahara, preschten eine Düne hoch, so hoch wie ein vierstöckiges Gebäude.

Ich war noch nie galoppiert. Ich hatte keine Ahnung vom Reiten. Mein Pferd flog dahin; es schien ihm zu gefallen. Das letzte Pferd, auf dem ich gesessen hatte, hatte mich ständig gebissen. Dieses hier stieß bloß seinen Kopf rhythmisch der Zukunft entgegen.

Ich rutschte auf dem Sattel nach hinten und zog mich wieder nach vorn. Ich umklammerte die Zügel und duckte mich, tiefer zum Körper des Tieres. Aber irgendwas oder alles war hier falsch. Von allen Seiten wurde auf mich eingeprügelt. Es war das Brutalste, das ich seit Jahren erlebt hatte.

Hesham sah, wie ich mich quälte, und wurde langsamer. Ich war dankbar. Die Welt wurde ruhig. Ich bekam die Zügel wieder richtig zu fassen, nahm im Sattel Haltung an und beugte mich vor. Ich tätschelte den Hals des Pferdes und entging knapp den Zähnen, die jetzt meine Finger essen wollten. Ich fühlte mich wieder bereit. Jetzt würde ich mehr wissen. Der Anfang war so chaotisch gewesen, weil er so unvermittelt gekommen war.

»Ja?«, sagte Hesham.

Ich nickte. Er drosch wieder auf mein Pferd ein, und wir rasten los.

Wir schafften es über die erste Düne, und die Aussicht war eines Eroberers würdig, Ozeane über Ozeane, eine Million Schrägkanten. Wir flogen die Düne hinab und die nächste hinauf. Das Pferd wurde nicht langsamer, und der Sattel folterte meine Wirbelsäule. Menschenskind, tat das weh. Ich war nicht im Einklang mit dem Pferd – ich gab mir Mühe, aber weder der dicke Mann noch der Geruchlose, dem ich folgte, hatten mir irgendwelche Tipps gegeben, und meine Wirbelsäule krachte mit ungeheurer Wucht, mit einem furchtbaren Rhythmus auf den Sattel, und der Schmerz war sengend, glühend. Wieder und wieder wurde ich auf meinen Hintern geschleudert, wie auf Marmor, aus dreißig Metern –

Ich konnte kaum noch sprechen, um Hesham zu sagen, er solle langsamer werden, anhalten, um meine Wirbelsäule zu schonen. Irgendetwas erlitt einen irreparablen Schaden, da war ich mir sicher. Aber Schonung war nicht in Sicht. Ich brachte kein Wort heraus. Ich rang nach Luft, ich versuchte, höher im Sattel zu reiten, aber ich konnte nicht anhalten, weil ich Hesham zeigen musste, dass ich standhaft war, furchtlos. Er schaute sich immer mal wieder nach mir um, und dann kniff ich die Augen zusammen und lächelte, so fest ich nur konnte.

Bald darauf wurde er wieder langsamer. Wir trabten ein paar Minuten dahin. Das Hämmern auf mein Rückgrat hörte auf. Der Schmerz ließ nach. Ich holte so viel Luft wie möglich.

»Ja?«, sagte Hesham.

Ich nickte.

Und er schlug mein Pferd wieder, und wir galoppierten.

Der Schmerz setzte erneut ein, mit mehr Volumen, mehr Nuancen, erforschte tastend neue und unbekannte Stellen – schoss zu den Schlüsselbeinen auf, zu Achselhöhlen und Hals. Die Neuheit der Qual faszinierte mich, und ich hätte sie gern studiert, sie irgendwie genossen, aber durch das jähe Stechen konnte ich nicht die notwendige Distanz dazu herstellen.

Ich musste diesem ägyptischen Irren beweisen, dass ich mit ihm reiten konnte. Dass wir hier ebenbürtig waren, dass ich durchhalten und sie verkraften konnte, diese Tortur. Dass ich bestraft werden konnte, dass ich die Bestrafung erwartete und sie aushielt, solange er sie mir zuteil werden lassen wollte. Wir konnten zusammen durch die Sahara reiten, obwohl wir uns aus unzähligen guten und unhaltbaren Gründen hassten. Ich war Teil eines Kontinuums, das Tausende von Jahren zurückreichte, und nichts hatte sich geändert. Ich musste fast lachen, ich ritt also genauso, wie jeder zu irgendeinem Zeitpunkt der Geschichte geritten sein konnte, nur er und ich und der Sand und ein Pferd und ein Sattel – ich hatte absolut nichts bei mir, trug ein weißes Button-down-Hemd und Shorts und Sandalen – und Mann, so widerlich wir auch waren, so falsch der Abstand zwischen uns auch war, wir ritten wirklich wie die Teufel.

Und ich beobachtete. Während die Hufe des Pferdes den Sand zerkratzten und das Pferd atmete und ich atmete, während die Mähne mir über die Hände peitschte und der Sand über die Beine sprühte, auf die nackten Knöchel spuckte, beobachtete ich, wie der Mann sich mit dem Pferd bewegte. Irgendwann, nach weiteren zwanzig Minuten unaufhörlicher Schläge, das Pferd im gestreckten Galopp, lernte ich. Ich hatte mich von dem Pferd schlagen lassen, versucht, über dem Sattel zu sitzen, gehofft, der Abstand zu ihm würde den jeweiligen Aufprall abschwächen, aber es gab Möglichkeiten, den Schmerz völlig auszuschalten.

Ich lernte. Ich bewegte mich mit dem Pferd, und als ich mich schließlich mit diesem verfluchten Pferd bewegte, nach vorn nickend, im Einklang, im Einverständnis, war der Schmerz verschwunden. Ich ritt das blöde und himmlische Pferd, war mit ihm verbunden, tief, den Kopf in seine Mähne getaucht, und ich –

Hesham sah, dass ich nicht länger kämpfen musste, und wir ritten schneller. Wir ritten mit der Sonne über uns. Ein Wind blies uns ins Gesicht, und ich fühlte mich als Teil jeder Armee, die die Welt je beschwert hat. Ich liebte den Mann, dem ich folgte, so wie man nur die liebt, die man gern umgebracht hätte. Und als ich gänzlich voll Liebe war, tauchte die Pyramide aus dem Sand auf, ein nicht ganz so perfekter Gipfel inmitten der Dünen.

 

An der Roten Pyramide angekommen, kletterten wir sie hoch, hievten uns auf jede Stufe, denn jeder Steinquader war anderthalb Meter hoch. Am Eingang, in fünfzehn Metern Höhe, winkte der Mann mich in einen kleinen, schwarzen Gang, der zur Kammer in der Mitte der Pyramide führte. Ich folgte ihm hinab und hinein, der Gang war steil, schmal, dunkel, feucht, zu klein für jeden, der größer war als wir. Es gab ein Seil, von dem man sich nach unten führen lassen konnte. Ich hielt mich dran fest und stieg nach unten. Es gab keine Stufen. Es roch kreidig, und die Luft war stickig und schwer einzuatmen. Der Mann ging vor mir und hatte eine Taschenlampe, die ein tanzendes Licht aus der Dunkelheit schnitt.

Am Ende des Gefälles blieben wir stehen und bogen in einen weiteren Gang, der jetzt eben verlief, und kurz darauf duckten wir uns durch eine niedrige Öffnung und waren im Innern eines Steinkastens. Es war ein Raum ohne jede Ausschmückung, mit einer hohen Decke und einer vollkommenen Geometrie. Hesham schwenkte die Arme, machte stolze ausladende Bewegungen durch den Raum. »Zuhause von König«, sagte er und richtete seine Taschenlampe auf eine Seite des Raumes, wo ein länglicher Steinkasten zum Vorschein kam, das Grab. Ansonsten war die Kammer leer, enthielt keinerlei Zeichnungen oder Schmuck oder Skulpturen. Solche Kammern waren über die Jahrhunderte hinweg ständig geplündert worden, und jetzt waren nur noch nackte Wände übrig, glatt, ohne eine Spur von –

Die Luft im Innern war schwer von Staub, und ich hatte das Gefühl, dass wir sterben würden, wenn wir lange blieben. Würde er versuchen, mich umzubringen? Mich ausrauben? Wir waren allein. Völlig grundlos machte ich mir keinerlei Sorgen. Wir blickten einander in dem Raum an, keiner von uns wirklich beeindruckt von dem Kasten, in dem wir uns befanden, obwohl wir beide vorübergehend Ehrfurcht heuchelten. Ich war enttäuscht, obwohl ich gewusst hatte, dass in diesen Räumen nicht viel zu erwarten war. Ich wusste nicht, wie kunstvoll der Raum mal ausgesehen hatte, aber es deutete nichts darauf hin, dass hier jemals mehr gewesen war als dieser sandige Kubus, und das machte mich traurig. Das Äußere so großartig, das Innere so plump. Hesham hielt die Taschenlampe nah vor sein Gesicht und blickte mich an, obwohl ich nicht sicher bin, ob er mich bei dem schwachen Licht überhaupt sah.

Er seufzte laut. Sein Gesicht durchlief verschiedene Gemütszustände: Arroganz, Langeweile, Verärgerung. Er war verpflichtet, so lange zu bleiben, wie ich es wollte. Ich wollte gar nicht bleiben, aber es machte mir Spaß, ihn leiden zu sehen, wenn auch nur ein bisschen.

Wir gingen wieder hinauf zu dem schiefen Lichtfenster, wo die Pyramide den Himmel trank. Es dämmerte. Sobald wir draußen und wieder unten waren, sagte der Mann: »Es geben noch eine.« Ich fragte nach dem Namen. Er sagte, sie heiße Knickpyramide.

Wir saßen wieder auf unseren Pferden.

»Ja?«, sagte er.

Ich nickte, und er schlug mein Pferd mit der flachen Hand. Ich folgte ihm, obwohl er bald nur eine schwarze Erscheinung vor einem dunklen Himmel war. Unsere Pferde waren wütend und atmeten in hydraulischen Zügen. Ich begriff jetzt, dass Hesham das hier nicht für das Geld machte, das ich ihm geben würde, egal wie viel. Er hatte mit keinem Wort erwähnt, dass er nach der Roten Pyramide mit mir noch woandershin wollte. Was wir machten, war etwas anderes, und das wussten wir beide. Ich war mir jetzt sicher, dass er mich nicht umbringen würde, und wusste, dass er keinen Plan hatte, genauso wenig wie ich.

Eine Stunde später waren wir an der Knickpyramide. Sie war größer, aber nicht so sicher, und das Licht war weg. Wir kletterten zum Zugang hoch und gingen wieder abwärts, und erneut befanden wir uns in einer geweihten Kammer, einem Raum, in dem eine Königin oder ein Pharao geruht hatte, obwohl auch dieser Raum schmucklos war. Der Mann und ich starrten einander an, atmeten in der festen dicken Luft, ohne Mitgefühl füreinander oder irgendwas.

Was hast du erwartet?, fragten mich seine Augen.

Ich wollte sichergehen, dass ich nicht wie irgendein Insekt sterben würde, sagte ich.

Tut mir Leid, sagte er. Diese Menschen starben, wurden einbalsamiert und sind gestohlen worden. Die Leute haben sie wieder und wieder verkauft. All ihre Habe, ihre Knochen wurden gegen Gold eingetauscht. Dir wird es nicht besser ergehen.

Es gibt keinen Grund, in diese Pyramiden zu gehen, sagte ich.

Nein, eigentlich nicht, sagte er.

Wir lernen nichts im Innern, sagte ich.

Nichts, sagte er.

Wenn diese Könige gläubig waren, warum haben sie sich dann in diesen schlichten Kästen unter diesen schweren Steinen versteckt?

Ha, aber sie waren nicht gläubig, sagte er.

Das erklärt es, sagte ich.

Wir gingen wieder und blieben unten vor der Pyramide stehen. Es war dunkel, als wir auf unsere Pferde stiegen. Ich schwang meine Hand durch die Luft, um sie ganz zu umfassen.

»Jetzt gut draußen«, sagte ich.

Er lächelte.

»Es geben noch eine«, sagte der Mann.

»Ich möchte hin«, sagte ich.

»Ja?«

Ich nickte, er schlug mein Pferd, und wir flogen.

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Was es bedeutet, wenn eine Meute in einem fernen Land einen Soldaten, der dein eigenes Land repräsentiert, erschießt, ihn aus seinem Fahrzeug zerrt und dann im Staub verstümmelt

Ein Mann hatte große Angst. Er war nervös und unruhig. Solcherlei Gefühle waren dem Mann fremd. Er hatte diese Art von nicht fassbarem Lebensüberdruss bisher nie verspürt, aber jetzt verspürte er ihn seit einem Jahr. Manchmal ging er einfach im Haus herum, ohne sagen zu können, warum er angespannt war. Es konnte ein heller Tag sein, Sonne am Himmel, alles gut, doch er tigerte auf und ab. Mitunter setzte er sich, um ein Buch zu lesen, und stand dann gleich wieder auf und dachte, er hätte einen Anruf zu machen. Sobald er dann am Telefon war, wurde ihm klar, dass er gar keinen Anruf zu machen hatte, dass aber draußen vor dem Fenster etwas war, das er sich genauer ansehen musste. Im Garten gab es was zu reparieren. Er musste mit dem Auto irgendwohin fahren, er musste rasch mal joggen gehen. Der Mann hatte an dem Morgen das Foto in der Zeitung gesehen. Er sah das Foto von dem toten Soldaten, jetzt auf dem Boden unter dem Laster. Seine Uniform war gelbbraun, die von dem Soldaten, und er lag auf dem Rücken, seine Schuhe, fast weiß in der Mittagssonne, zeigten nach oben. Derweil saß der Mann zu Hause, behaglich, er hatte warme Socken an den Füßen und trank Orangensaft aus einem glatten, schweren Glas. Und er sah den toten Mann auf dem Farbfoto. Das Bild ließ ihn nach Luft schnappen, allein zu Hause. Er studierte das Foto, suchte, wie ihm klar wurde, nach Blut – wo hatten die Schüsse den Soldaten getroffen? Es war kein Blut zu sehen. Er blätterte die Seite um, wollte sich anderen Dingen zuwenden, kehrte aber gleich darauf zu dem Bild zurück und sah nach, ob auch irgendwelche Bürger dieses fernen Landes auf dem Foto waren. Es waren keine drauf. Der Mann stand auf. Er sah zu, wie von einer Fabrik am Horizont Rauch nach rechts trieb. Wieso fühlte er sich misshandelt? Er fühlte sich geschlagen, ausgeraubt, vergewaltigt. Wenn ein Soldat in seinem eigenen Land getötet und verstümmelt wurde, empfand der Mann nicht so einen Abscheu. Er empfand dergleichen auch nicht, wenn er hörte, dass Züge zusammengestoßen waren oder jemand ein älteres Ehepaar gefesselt, geknebelt, getötet hatte. Aber das hier, in einem anderen Teil der Welt, dieser Soldat, aus seinem Wagen gezerrt, dieser Soldat, allein, dieser tote unblutige Körper im Staub unter dem Laster – warum macht das den Mann nervös, warum ist das für ihn so persönlich? Der Mann denkt darüber nach, während er den Rauch aus der Fabrik beobachtet, und weiß auf einmal, warum es ihn so verrückt macht, wenn er diesen toten Mann sieht: weil er in dem Tod dieses Mannes keinen Sinn erkennen kann. Er kann keine Lektion sehen, er kann keine Moral finden. Der Tod des Soldaten hat nichts Erzieherisches oder Symbolisches. Der Soldat wurde symbolisch getötet, aber der Mann zu Hause will nicht symbolisch um ihn trauern. Ihn als Symbol zu betrauern, nicht als Menschen, wäre Selbsttäuschung. Irgendwer hat dem Toten befohlen, seinen Laster von einem Ort zum anderen zu fahren, und er hat es versucht.

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Die Einzige Bedeutung von ölnassem Wasser

Nicht etwa, dass Pilar über Scheidung oder Untreue oder Tod hinwegkommen wollte. Sie floh vor nichts. Sie flog eines Tages nach Costa Rica, mit zwei Maschinen, von Champaign, dann Miami, weil sie Zeit hatte und weil Hand, ihr langjähriger Freund, da war oder zumindest ganz in der Nähe. Diese Geschichte hat beinahe nichts Trauriges an sich.

Pilar: Sie ist keine Latina, soweit sie weiß, aber schon als sie sehr jung war, hörte sie von Freunden und Fremden, dass sie einen hispanischen oder hispanisch klingenden Namen hat. Es ist ihr immer peinlich zuzugeben, obwohl sie es schon hundertmal zugegeben hat, dass sie nie nachgeschlagen hat, woher ihr Name kommt, was er bedeutet oder was es sonst noch mit ihm auf sich hat. Ihre Haut hat die Farbe von hellem Holz, wird schnell braun, und ihr Haar ist schwarz, was die Vermutung verstärkt, sie könnte eine Latina sein, obwohl ihre Eltern ihr gesagt haben, immer, dass sie irisches Blut hat und nur irisches – möglicherweise ein bisschen schottisches, vielleicht einen Tropfen deutsches. Doch mit ihren Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden trägt, und mit ihren langen Beinen, sehr lang für eine Frau, die keine eins siebzig groß ist, hat sie vor allem Ähnlichkeit mit populären Darstellungen von Pocahontas. Sie hat sich immer ein wenig Indianerblut in ihren Adern gewünscht, genau wie alle, weil sie törichterweise dachte, mit diesem Blut käme nicht nur eine gewisse Würde, sondern es würde auch Entschuldigungen dafür liefern, Sachen falsch zu machen oder gar nicht, überhaupt alles zu machen, was sie wollte. Aber stattdessen ist sie irischer oder vielleicht sogar walisischer Abstammung, aber nicht in irgendeinem nachvollziehbaren Sinne und daher geboren ohne irgendeinen Kummer im Leben ihrer unmittelbaren Vorfahren, und deshalb musste sie dankbar lächeln und aus dem Nichts Gutes erschaffen oder vielleicht bloß Menschen von Hautkrankheiten erlösen. Pilar war Ärztin, eine junge, Dermatologin. Ihr Beruf spielt in dieser Geschichte keine Rolle.

PILAR GING: wobei ihre Zehen nach Nordwesten und Nordosten zeigten, wie eine Tänzerin.

PILAR LACHTE: kehlig und laut, während ihr Blick verzehrte.

PILAR WUSSTE: wann etwas passieren würde und wann nicht.

Hand war für sechs Monate in Granada, Nicaragua, und ermunterte alle, ihn zu besuchen. Er arbeitete für Intel, machte irgendwas, das Pilar nie so richtig begriff, selbst wenn sie gewollt hätte, was nicht der Fall war, weil ihr Verstand, wie sie glaubte, dafür da war, mit farbenfroheren Dingen gefüllt zu werden. Intel hatte sich in Mittelamerika behauptet und setzte turnusmäßig junge, Spanisch sprechende Berater wie Hand für ein oder zwei Jahre dort ein. Pilar konnte sich nicht vorstellen, was Hand wusste, das für Intel Nicaragua von Nutzen sein konnte, aber andererseits war das genau die Art Job, wie er sie andauernd ergatterte – gut bezahlt, wenig Arbeit, unmöglich zu erklären. Pilar nahm Hands Einladung an, aber sie wurden sich nicht einig, was sie mit dieser Woche anfangen sollten. Hand, der Nicaragua erst einmal satt hatte, wollte eine Woche nach Costa Rica, surfen und Frauen beim Joggen auf dem flachen, nassen Sand beobachten. Pilar wollte Nicaragua sehen, weil anscheinend jeder schon mal Costa Rica gesehen hatte, aber niemand, den sie kannte, je einen Fuß auf nicaraguanischen Boden gesetzt hatte. Nicaragua klang gefährlich; sie mochte das Wort. Nicaragua! Es klang nach einer Art Spinne. Da läuft sie, unter dem Tisch – Nicaragua!

 

Hand setzte sich durch. Sie würden in Costa Rica surfen, an der Pazifikküste. Aber das war Pilar egal. Sie würde trotzdem allen erzählen, dass sie in Nicaragua gewesen war.

In San José griff die Feuchtigkeit mit vielen behandschuhten Händen nach ihr. Sie mietete einen Wagen und bog sofort falsch ab, geradewegs in die Innenstadt, wo sie doch in die entgegengesetzte Richtung wollte. Es war gut und gerne zweiunddreißig Grad heiß, und sie befand sich im Geschäftsviertel, alles voll mit billigen Elektronikgeräten und Männern, die Sachen von weißen Aluminiumkarren verkauften. Autovermietungen und Banken und Studenten. Trauben von Fußgängern, die durch den Verkehr trabten. Bürogebäude aus den sechziger Jahren, Stahl und Glas, Stabilbaukasten-Leichtbauweise, zerbrechlich und leicht zu vergessen. Die Straße war fünf Spuren breit und verstopft, aber in Bewegung. San José sah aus wie L.A. um 1973, und Pilar arbeitete sich im Schneckentempo durch die Stadt, war seltsamerweise geil. Die Hitze vielleicht. Die Klänge von den Bürgersteigen vielleicht. Sie beobachtete Frauen durch die Windschutzscheibe, und die beobachteten sie. Sie fand einen englischsprachigen Sender, der »Rock with You« von Michael Jackson spielte, und sie glaubte, sie würde platzen. Sie war glücklich, und seit einigen Jahren war sie imstande, es zu erkennen, bloßes stupides Glück, wenn es kam, aus welchem Grund auch immer. Wenn sie gefragt wurde, wie es ihr ging, sagte sie, ich bin »glücklich«, und das machte einige sauer. Der Verkehr rollte in die Stadt, und sie bewegte sich, Beine und Arme und Hals, mit Michael, von dem sie wusste, dass sie ihn sympathisch fände, wenn sie ihn kennen lernen würde. Sie würde ihn verstehen, und sie würden bei ihm in der Küche stehen und lachen und lachen, über nichts.

HAND HATTE: drei von Pilars ältesten Freundinnen geliebt, und sie wusste alles.

HAND WÜRDE: diese Welt und alle darin verlassen, wenn er die Chance bekäme, nur für ein paar Minuten im Weltraum zu sein.

HAND WEINTE: wenn er über Menschen las, die unschuldig ins Gefängnis gesteckt, mit vierzig entlassen wurden und ohne Groll durch die Welt gingen.

 

Sie schaffte es aus der Innenstadt heraus und fuhr schnurgerade nach Westen, durch die Mautstationen am Flughafen, und dann über die zweispurigen Serpentinen mit Hunderten von Kurven durch das Bergland, wartete hinter unzähligen Lastern, jeder unendlich langsam. Die Landschaft war adrett und grün und üppig, und alles war zu verkaufen. Am Flughafen waren Immobilien angeboten worden; in der Autovermietung, an jeder Tankstelle, flotte Plakate und selbst gemachte Handzettel mit spottbilligen Häuserangeboten, direkt am Strand oder im Flachland – überall an der Straße, Grundstücke und Häuser erhältlich. Die Costaricaner waren stolz auf das, was sie geschaffen hatten – die stabilste, die berechenbarste, die mit Abstand touristenfreundlichste Nation in Mittelamerika –, und jetzt, wo sie reif war, wurde alles zu Markte getragen. Die Landstraße war mit Geländewagen und Bussen überwuchert. Pilar hatte Klapperkisten und Obstlaster mit Ladeklappen aus Holzlatten erwartet, aber die waren selten. Das Land sang förmlich vor Weite und Himmel und leuchtenden, glatten neuen Autos mit sauberen, schwarzen Reifen. Es war heiß, aber zwischen der Sonne und den Baumwipfeln gab es schnell dahinziehende Wolken, und sie überzogen die Blätter mit schwarzen Schatten.

TIEF FLIEGENDE, RASCH DAHINZIEHENDE WOLKEN: Ich habe nicht mehr lange zu leben.

BAUMWIPFEL, GERUNDET UND STRUPPIG: Das stimmt wahrscheinlich.

TIEF FLIEGENDE, RASCH DAHINZIEHENDE WOLKEN: Ich schaffe es nicht einmal ans Meer. Ich sehe schon, wo ich ende.

BAUMWIPFEL, GERUNDET UND STRUPPIG: Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll.

TIEF FLIEGENDE, RASCH DAHINZIEHENDE WOLKEN: Aber eines ist sicher, ich finde es richtig toll, so in Bewegung zu sein, obwohl ich weiß, dass ich nicht ankommen werde.

BAUMWIPFEL, GERUNDET UND STRUPPIG: Fliegen hat seine Vorteile.

TIEF FLIEGENDE, RASCH DAHINZIEHENDE WOLKEN: Aber Denken ist sein untauglicher Begleiter.

 

Pilar traf sich mit Hand in Playa Alta, weil dort, wie Hand sagte, die Wellen nachsichtig seien und nicht zu groß, das Wasser warm und der Strand fast leer. Selbst wenn er voll ist, sieht er leer aus, dieser Strand, sagte Hand. Eine breite, flache playa, sagte er, und Pilar zuckte zusammen, weil Hand, wie sie wusste, playa sagen würde, wenn er Strand meinte, falls der Strand in einem spanischsprachigen Land lag. Sie liebte ihn. Er war witzig.

Es gibt keine Möglichkeit und auch keinen Grund, drum herum zu reden, warum Pilar in Costa Rica war. Mit einunddreißig war sie noch immer unverheiratet, und Hand war einer ihrer wenigen alten Freunde, die auch noch nicht verheiratet waren, und der einzige attraktive alte Freund, mit dem sie noch nie geschlafen hatte. Sie wusste daher, als sie fünf Wochen zuvor nach dem Telefonat mit Hand den Hörer auflegte, dass sie in Alta mit ihm schlafen würde, und sie wusste es im Flugzeug und auf der Fahrt zur Küste.

War sie irgendwie bekümmert, weil das, was kommen würde, so absehbar war? War es unromantisch? Sie beschloss, dass es das nicht war. Beim Sex und bei Sachen ähnlich wie Sex – Sachen also, die die Leute zu bereuen vorgeben – wurden Entscheidungen nicht im Eifer des Gefechts getroffen. Die Entscheidung wird getroffen, wenn du das Haus verlässt, wenn du in ein Flugzeug steigst, wenn du eine Nummer wählst.

Pilar würde ankommen und hoffen, dass er noch immer so aussah, wie ihr sein Aussehen gefiel – schlank, großes Mundwerk, sauber. Am ersten Tag würden sie noch so tun, als wären sie nur Freunde, sich kaum am Arm berühren. Am zweiten Abend würden sie beim Essen was trinken und danach noch weiter trinken, inmitten von Surfern ohne Hemd und mit Dreadlocks, und dann würden sie zögernd und kultiviert miteinander schlafen. So viel stand fest, denn Pilar hatte so etwas schon getan – mit Mark in Toronto, mit Angela in San Diego –, und es gab nie Abweichungen vom geplanten Ablauf; nur das Danach war variabel. Danach, mit Hand, würde sich an ihrer gegenseitigen Zuneigung und Achtung nur sehr wenig ändern: Sie war zu vorsichtig und er zu ungebunden. Danach, mit Mark, hatte sie seine ständigen Anspielungen auf ihr gemeinsames Wochenende ertragen müssen, sowohl die fast witzigen – »Ich hab dich nackt gesehen!« – als auch die, die ihm eine Art persönliche Befreiung verschafften – »Was hattest du an dem Wochenende nochmal an? Sag schon. Nein, warte …« –, aber mit Hand, das wusste sie, würde es milde ablaufen, vielleicht sogar in Vergessenheit geraten, wenn nicht etwas anderes daraus wurde. Aber würden sie weiter miteinander schlafen wollen? Das ist die einfache und einzige Frage. Und das hing von so vielen Dingen ab: Würde er irgendwas Seltsames mit der Zunge machen? Hatte sein nackter Körper irgendwas katastrophal Merkwürdiges? Bewegte er sich unbeholfen, wenn er nackt war? Würde er weinen (Mark) oder gefühlskalt werden (Angela)? Seine Beine waren vielleicht zu mager oder blass, oder sein Penis lila oder zu dünn, sein Mund zu –

Diese Geschichte handelt nicht davon, dass Pilar und Hand sich ineinander verlieben.

 

Kurz vor Alta wurde die zweispurige asphaltierte Straße plötzlich einspurig und staubig und voller Schlaglöcher. Die Autos in beiden Richtungen fuhren im Zickzack und wichen unberechenbar aus, die Leute drinnen stützten sich mit den Händen am Dach ab. So ging das zehn Meilen, und es kam ihr wie Stunden vor, ehe die Bäume und Höfe den armseligen Hütten und Läden Platz machten, die Alta ankündigten. Eine Kombination aus Saftbar und Kunstgalerie namens Forget It, Sue. Dann eine Müllrecyclinganlage. Weitere Grundstücke, die zum Verkauf standen. Es war noch immer alles primitiv, die Straße noch immer staubig. Barfüßige Jungs auf Rädern und Mopeds überholten die Autos, manövrierten besser zwischen den Schlaglöchern hindurch, während Frauen sich von Lebensmitteln in blau gestreiften Plastiktüten die Arme gen Boden ziehen ließen. Kurz hinter einem Best Western und auf der rechten Straßenseite verbarg eine dünne Reihe Bäume den Strand, breit und flach und in ein Delta hineinplätschernd, wo kleine Boote aus angefaultem Holz dümpelten.

Das Hotel, wo sie sich treffen wollten, hieß Shangri La, oberhalb der namenlosen Hauptstraße. Die Stadt hatte keine ihrer Straßen benannt, aber es gab eine Hauptverkehrsader, etwa so lang wie drei Häuserblocks in der Großstadt, an der die meisten Läden und Restaurants lagen. Das Shangri La, auf dem Berg, war weiß und leuchtete wie ein Denkmal vor einem türkisblauen Himmel. Es überragte einen kleinen Garten voller Leguane, Schlangen und Mäuse und reckte das kräftige Kinn seiner Veranda zum Ozean.

Der Besitzer, ein durchtrainierter und sonnenverbrannter Deutscher namens Hans, gab Pilar Schlüssel und Wegbeschreibung zu Zimmer Nr. 5, und während sie die Stufen hinaufging und dann die Veranda entlang, am Pool vorbei, mit einer absurden Aussicht auf den großen, lächerlichen Pazifik zu ihrer Linken, mit der schwankenden Sonne am Himmel, den Wellen, die munter Surfer zurück ans Ufer trugen, hatte sie tatsächlich das Gefühl, ganz kurz, dass das eigentlich gar nicht sie war, die das hier tat, dass sie in Wahrheit noch immer in Chicago war oder sogar Wisconsin und sich das alles nur einbildete – dass sie bloß in einem Tagtraum steckte, den sie sich, sagen wir, bei einem schummrig beleuchteten Salat-Bar-Nachmittagslunch bei Wendy’s ausgedacht hatte. Das erschien ihr in der Tat plausibler als ihr reales Ich in diesem Augenblick, das barfuß um einen Pool herumging, der die Form eines zusammengerollten Kätzchens hatte und mit handbemalten orangefarbenen und blauen Fliesen umrandet war, jetzt über zwei teakbraune Surfer auf Strohmatten stieg, auf dem Weg zu einem Zimmer am Ende eines langen weißen Ganges, mit huschenden Geckos an der Decke, in einem an der Küste an einem Berghang gelegenen Hotel in Costa Rica, in dem Hand wohnte, den sie seit siebzehn Jahren kannte, der noch am Leben war und nicht nur noch am Leben, sondern auch hier.

 

Pilar fürchtete, dass ihr Rücken von der Fahrt klatschnass war, dass Hand die Feuchtigkeit fühlen und angewidert sein würde. Doch als sie die Tür öffnete und sie einander um den Hals fielen und umarmten, war er genauso nass wie sie. Er roch nach Ananas und Schweiß. Sein Kinn war heiß auf ihrer Schulter, sein Haar feucht.

»Keine Klimaanlage hier«, sagte er. Er sagte es mit einem kehlig spanischen Akzent. Pilar hoffte, er würde damit aufhören.

»Oh«, sagte sie.

»Jaha, sssehr cheisss chiier, jaha«, sagte er, seufzte dann und gab es auf.

Das Zimmer hatte eine hohe Decke und war luftig, mit Küche, Frühstücksecke, das Schlafzimmer ein paar Stufen erhöht. An der Decke drehte sich ein Ventilator, die Kordel zum Ziehen tickte bei jeder zweiten oder dritten Umdrehung. Die Veranda bot einen Blick über den Pool und die Stadt und dann den Ozean. Sie konnte das alles nicht glauben.

»Das ist verrückt«, sagte sie.

»Ich weiß«, sagte er, sprach jetzt so, wie er normalerweise sprach. Sie kannte ihn seit der siebten Klasse.

Der Fußboden war gefliest. Das ganze Haus war gefliest. In Hotels rechnete sie mittlerweile fest mit Teppichboden.

»Das ist ganz normal hier unten, die Fliesen«, sagte Hand. »Südlich von Texas ist das überall so.«

In der Ecke des Zimmers stand ein Abflussstampfer, mit einem Griff, der exakt so aussah wie ein Dildo. Sie nahm sich vor, später darüber zu witzeln. Hand stand in der Ecke. Ein Windstoß fegte durch das offene Fenster und rüttelte an einem Glockenspiel über der Tür.

Sie ging zu Hand hinüber, schlang die Arme um seine Taille und roch seinen Geruch. Sie schloss die Augen und stellte sich ihre alte Küche und die Tapete dort vor, ein Muster aus Disney-Zwergen, die vor Hitze und Feuchtigkeit Blasen geworfen hatten.

 

Sie ließen Pilars Sachen im Zimmer und sprangen die weißen Steinstufen hinab. Draußen in dem zuckrigen Licht, das schon bald mit einem Achselzucken den Tag der Nacht überlassen würde, waren Pferde. Vier, direkt unten am Hang: Eins stand reglos auf der Straße, zwei lagen in der Nähe im langen graugrünen Gras am Straßenrand, das vierte, weiß (die anderen waren schwarz), stand an der schnurgeraden Hecke des Hotels, genau westlich von der kirschroten Tür des Hotels. Pilar und Hand hielten Ausschau nach den Besitzern der Pferde. Sie waren beschlagen, hatten aber keine Sättel, kein Zaumzeug. Vier Pferde, alle hager, allein. Jedes Pferd starrte Pilar und Hand an, zwei Leute aus Wisconsin.

»Ich hätte fast vergessen, dass du kommst«, sagte Hand.

Sie standen da und unterhielten sich, während die Pferde zuschauten.

»Was soll das heißen?«, sagte Pilar. Sie kratzte sich mit einem Finger in einer Kreisbewegung oben auf dem Kopf.

»Ich weiß nicht.« Er stotterte einen Moment, machte einen Rückzieher, erklärte, dass er sich auf sie gefreut habe, aber dass er ihre Ankunft in den vergangenen vierundzwanzig Stunden total verschwitzt habe.

»Hast du vergessen, dass ich heute komme, oder hast du’s völlig vergessen?«, fragte sie.

»Dein Haar ist dunkel«, sagte er.

»Es war Winter da, wo ich war. Du gibst mir keine Antwort.«

»War es schon immer so dunkel?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht nicht?«