Ihr werdet noch merken, wie schnell wir sind - Dave Eggers - E-Book

Ihr werdet noch merken, wie schnell wir sind E-Book

Dave Eggers

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Beschreibung

Zwei junge Amerikaner auf Weltreise – »Ein wunderbar schwebendes, neurotisches, atemloses Buch« FAZ Warum verreist man? Um neue Orte zu sehen, den Horizont zu erweitern, aber doch nicht, um 32.000 Dollar zu verschenken. Will und Hand, zwei Freunde aus Milwaukee, haben genau das vor. In seinem ersten Roman schickt Dave Eggers seine Helden auf eine chaotische, witzige und melancholische Reise um die Welt in 7 Tagen. Die Ziele ihrer Reise sind für Will und Hand klar definiert: Einmal rund um den Globus, und das in sieben Tagen. Dabei noch nach dem Zufallsprinzip 32.000 Dollar zu verschenken, sollte doch nicht allzu schwer sein. Falsch gedacht, denn die beiden Freunde haben nicht mit der Unsicherheit von Flugplänen gerechnet. So führt sie ihre Reise anstatt nach Grönland, Ruanda, Madagaskar und in die Mongolei »nur« von Chicago nach Dakar, Marrakesch und Riga. Und auch die Einheimischen sind bei Weitem nicht so bedürftig, wie die beiden zunächst geglaubt hatten. Längst nicht jeder lässt sich bereitwillig größere Summen Geldes schenken. Da müssen die zwei schon mal zu außergewöhnlichen Maßnahmen greifen und weidende Ziegen mit Dollarscheinen bekleben oder das Geld wie einen Schatz vergraben. Aber es ist nicht nur die Reiselust, die Will und Hand antreibt, und sie wollen auch nicht einfach nur Geld loswerden – sie wollen vergessen. Ihr Freund Jack ist von einem Truck überfahren worden, und sein Sterben sowie das Erleben der eigenen Hilflosigkeit im Angesicht seines Todes haben die beiden Freunde zutiefst verstört. Sie hoffen, dass sie den Schmerz besiegen können, so lange sie nur in Bewegung bleiben und so lange sie das Geld, das eigentlich für Jacks lebensrettende Operation gedacht war, uneigennützig weiterverteilen. Virtuos und anrührend erzählt Dave Eggers vom verzweifelten, bisweilen absurden Kampf dieser beiden Endzwanziger gegen den Schlaf, gegen die Uhr, gegen Visabestimmungen und gegen die Angst vor der Vergänglichkeit.

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Seitenzahl: 592

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Dave Eggers

Ihr werdet (noch) merken, wie schnell wir sind

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Dave Eggers

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Teil 1Teil 2Danksagung/Widmung
zurück

… einem meiner zwei besten Freunde, dem, der noch lebte, und wir planten unsere Reise. Zu diesem Zeitpunkt gab es gute Tage, gute Wochen, wenn wir so taten, als wäre es hinnehmbar, dass Jack überhaupt gelebt hatte, dass sein Leben auch in seiner verkürzten Form vollständig gewesen war. Heute war nicht so ein Tag. Ich lief hin und her, und Hand wusste, dass ich hin und her lief, und wusste, was das bedeutete. Ich lief immer so hin und her, wenn ich nachdachte oder irgendwas plante, und ich knackte mit den Knöcheln und schnippte leise und unrhythmisch mit den Fingern und ging von der Westseite der Wohnung, wo ich die Eingangstür abschloss und wieder aufschloss, zur Ostseite, zur Glasschiebetür des Balkons, die ich rasch öffnete, um den Kopf hinauszustecken, und dann wieder schloss. Hand konnte das leise Grollen der Tür hören, die sich auf ihren Schienen vor und zurück bewegte, aber er sagte nichts. Die Luft war eiskalt, und es war Freitagnachmittag, und ich war zu Hause, trug die neue, blaue Flanellpyjamahose, die ich damals fast jeden Tag trug, drinnen wie draußen. Ein blöder und nervöser, kotfarbener Vogel flatterte zur Futterstelle auf dem Balkon und fraß von der ekeligen Körnermischung, die ich völlig grundlos dort ausgestreut hatte, was mir jetzt schon Leid tat – diese Vögel würden bald sterben, und ich wollte weder ihren Flug noch ihr Ableben beobachten. Das Haus, in dem ich wohnte, erwärmte sich nicht regelmäßig und ohne gerechte Berücksichtigung seiner Ecken, und meine Wohnung, hinten links oben, bekam nur selten, dann jedoch viel zu viel Wärme ab. Jack war sechsundzwanzig gewesen und fünf Monate zuvor gestorben, und jetzt würden Hand und ich eine Weile verreisen. Vor zwei Wochen war ich von drei dunklen Gestalten in einem Lagercontainer in Oconomowoc brutal zusammengeschlagen worden – es hatte eigentlich nichts mit Jack oder sonst wem zu tun, oder vielleicht doch, vielleicht war es indirekt Jacks und direkt Hands Schuld – und wir mussten mal eine Weile weg. Ich hatte Schorf im Gesicht und auf dem Rücken und eine böse, birnenförmige Beule oben auf dem Kopf, und ich hatte dieses Geld, das unter die Leute gebracht werden musste, und deshalb würden Hand und ich verreisen. Mein Kopf war eine Kirche, auf der ein Fluch lastete, mit Fledermäusen an der Decke, aber ich riss mich aus dieser düsteren Stimmung und wurde euphorisch, wenn ich an die Reise dachte.

»Wann?«, fragte Hand.

»Heute in einer Woche«, sagte ich.

»Am siebzehnten?«

»Genau.«

»Jetzt am siebzehnten.«

»Genau.«

»Mannomann.«

»Kriegst du die Woche frei?«

»Weiß ich nicht«, sagte Hand. »Kann ich dich mal was ganz Blödes fragen?«

»Bitte.«

»Warum nicht im Sommer?«

»Darum.«

»Oder im Herbst?«

»Mann.«

»Was denn?«

»Ich bezahle alles, wenn wir jetzt fahren«, sagte ich. Ich wusste, dass Hand ja sagen würde, weil wir seit fünf Monaten nicht mehr Nein sagten. Es hatte einige schwierige Bitten gegeben, aber wir hatten nicht Nein gesagt.

»Und du bist es mir schuldig«, fügte ich hinzu.

»Wieso? Weil – ach verdammt. Also, schön.«

»Gut.«

»Wie lange noch mal?«, fragte er.

»Wie lange kriegst du frei?«, fragte ich.

»Wahrscheinlich eine Woche.« Ich wusste, er würde es tun. Hand würde seinen Job kündigen, wenn er keinen Urlaub bekäme. Er hatte jetzt eine ordentliche Stellung, als Sicherheitsbeauftragter in einem Casino am Fluss unter The Arch, aber noch in der Highschool war er eine Zeit lang der zweitbeste Schwimmer von ganz Wisconsin gewesen, und er hatte erwartet, dass auch sein weiteres Leben so ruhmvoll verlaufen würde. Nie wieder hatte er etwas so engagiert betrieben wie damals, und jetzt war er ein Vollzeitdilettant, mit ein paar Erfahrungen als Toningenieur, ein paar mit Autoalarmanlagen, ein paar mit Wetter-Futures an der Börse (ehrlich), ein paar als Zimmermann – wir hatten sogar mal einen Sommer zusammen einen Auftrag erledigt, eine Veranda an einem riesigen Haus, einem zuckerbäckermäßig verzierten Haus am Lake Geneva –, aber er schmiss jeden Job, bei dem er nichts Neues lernte oder seine Würde in irgendeiner Form zu leiden hatte. Zumindest behauptete er das.

»Dann also eine Woche«, sagte ich. »Wir packen die Woche so voll, wie’s geht.«

Ich wohnte in Chicago, Hand in St. Louis, aber wir stammten beide aus Milwaukee, oder so gut wie. Wir waren dort auf die Welt gekommen, drei Monate auseinander, und unsere Dads gingen zusammen zum Bowling, bevor meiner zum ersten Mal verschwand, bevor seiner anfing, Schlagzeug zu spielen und Lederwesten zu tragen. Wir sprachen nicht über unsere Väter.

Wir riefen die Fluggesellschaften an, die so genannte Global-Tickets anboten. Mit diesen Tickets konnte man so viel fliegen, wie man wollte, allerdings nur in eine Richtung, einmal rund um den Globus, ohne umzukehren. Normalerweise hatte man dafür zwölf Monate Zeit, aber wir würden es in einer Woche schaffen müssen. So ein Ticket kostete 3000 Dollar, eine Summe, die für unsereinen unter normalen Umständen und in vernünftigen Zeiten unerreichbar war, aber vor etwa einem Jahr war ich unverhofft zu Geld gekommen, was mich sowohl mit Dankbarkeit erfüllte als auch in dauerhafte Verwirrung stürzte. Meine Verwirrung war grenzenlos. Und jetzt würde ich es loswerden, zumindest das meiste davon, und ich glaubte, Läuterung würde mir wieder Klarheit verschaffen und dass ein schneller Trip um die Welt genau das Richtige dafür war – ich weiß eigentlich nicht, wieso wir diese beiden Ideen zusammenwarfen. Wir stellten uns einfach vor, wir würden einmal ganz drum herumfliegen, innerhalb einer Woche, in Chicago starten, möglichst den ersten Stopp in Saskatchewan einlegen, dann Mongolei, dann Jemen, dann Ruanda, dann Madagaskar – die letzten beiden vielleicht in umgekehrter Reihenfolge –, dann Sibirien, dann Grönland, dann wieder nach Hause.

»Das wird gut«, sagte Hand.

»Und ob«, sagte ich.

»Wie viel werden wir noch mal los?«

»Ich glaube 38000 Dollar.«

»Einschließlich der Tickets?«

»Ja.«

»Dann verschenken wir also rund, wie viel – 32000?«

»So zirka«, sagte ich.

»Wie willst du es mitnehmen? Bar?«

»Travellerschecks.«

»Und an wen verteilen wir es?«, fragte er.

»Weiß ich noch nicht. Ich denke, wenn wir erst mal unterwegs sind, ergibt sich das von selbst.«

Und wenn wir immer Richtung Westen reisten, würden wir nur ganz wenig Zeit verlieren. Mit etwa fünf Zwischenstationen könnten wir es leicht in einer Woche rund um die Welt schaffen, und die vergangenen Stunden würden zumindest teilweise wieder aufgeholt, weil wir die Zeitzonen ja immer in westlicher Richtung durchquerten. Von Saskatchewan bis in die Mongolei, so dachten wir, würden wir nur zwei oder drei Stunden verlieren, da wir dem nördlichen Polarkreis folgen würden. Wir würden uns dem Kreisen des Planeten widersetzen und dem Untergehen der Sonne verweigern.

Die Reiseroute wurde an jedem der vier Tage, die wir noch für die Entscheidung hatten, abgeändert, am Telefon, wobei ich in einen Taschenatlas schaute, Hand in St. Louis auf seinen Globus, ein riesiges Ding, so groß wie ein aufblasbarer Strandball, der gefährlich zwischen den Polen eierte – Hand war mal mitten in der Nacht dagegen gelaufen, und seitdem hatte die Welt eine Delle – und das ganze Wohnzimmer beherrschte.

Erste Route:

von Chicago über Saskatchewan in die Mongolei

von der Mongolei nach Katar

von Katar in den Jemen

vom Jemen nach Madagaskar

von Madagaskar nach Ruanda

von Ruanda über San Francisco nach Chicago.

Die Strecke gefiel uns. Aber sie war zu warm, zu sehr auf einen Breitengrad beschränkt. Wir änderten sie wie folgt:

von Chicago über San Francisco in die Mongolei

von der Mongolei in den Jemen

vom Jemen nach Madagaskar

von Madagaskar nach Grönland

von Grönland nach Saskatchewan

von Saskatchewan über San Francisco nach Chicago.

Wir hatten das Wärmeproblem gelöst, waren aber zu sehr ins andere Extrem verfallen. Wir brauchten stärkere Kontraste, mehr hin und her, mehr rauf und runter, während wir uns unablässig gen Westen bewegten. Die dritte Reiseroute:

von Chicago über San Francisco nach Mikronesien

von Mikronesien in die Mongolei

von der Mongolei nach Madagaskar

von Madagaskar nach Ruanda

von Ruanda nach Grönland

von Grönland über San Francisco nach Chicago.

Da steckte alles drin. Es war politisch interessant, klimatisch abwechslungsreich. Wir fingen an, jeder bei sich zu Hause, die Etappen in verschiedene Websites einzugeben, Flugpläne und -preise aufzulisten.

Hand rief an.

»Was ist?«

»Wir sind im Arsch.«

Irgendwas stimmte nicht mit unserem Zeitplan. Er hatte die einzelnen Ziele eingegeben, aber jedes Mal, wenn wir San Francisco verließen – wir mussten dort auf dem Weg von Chicago Station machen –, waren wir nicht schon wenige Stunden, sondern erst zwei Tage später in der Mongolei.

»Wie kann das sein?«

»Ich bin dahinter gekommen«, sagte Hand.

»Und?«

»Weißt du, woran’s liegt?«

»Woran?«

»Ich werd’s dir verklickern.«

»Sag schon.«

»Fertig?«

»Leck mich.«

»Die internationale Datumsgrenze«, sagte er.

»Nein.«

»Doch.«

»Die internationale Datumsgrenze!«

»Jawohl.«

»Ich scheiß auf die internationale Datumsgrenze!«, sagte ich.

»Meinst du, das geht?«, fragte er.

»Keine Ahnung. Wir funktioniert das noch mal?«

»Pass auf, Neuseeland ist zeitlich gesehen der entlegenste Punkt auf der Erde. Bei denen ist zuerst Silvester. Wenn wir also von Chicago aus in westlicher Richtung reisen, sparen wir bis Neuseeland einiges an Zeit. Aber sobald wir da dran vorbeikommen, sind wir einen Tag weiter. Einen vollen Tag weiter.«

»Wir verlieren einen ganzen Tag.«

»Wenn wir mittwochs abfliegen, landen wir freitags.«

»Dann bringt es nichts, immer nach Westen zu reisen«, sagte ich.

»Nicht viel. Im Grunde überhaupt nichts.«

Wir riefen eine Fluggesellschaft an. Die Frau am Telefon hielt uns für Volltrottel. Wenn wir in einer Woche rund um die Welt wollten, sagte sie, wären wir siebzig Prozent der Zeit in der Luft. Selbst wenn wir der Sonne folgten, würden wir über dem Pazifik Stunden verlieren.

»Wir müssen Richtung Osten«, sagte Hand.

»Vielleicht zuerst nach Osten, dann nach Westen«, sagte ich.

»Geht nicht. Wir müssen immer in eine Richtung fliegen, wegen der Tickets.«

Die nächste Route:

von Chicago über New York nach Grönland

von Grönland nach Ruanda

von Ruanda nach Madagaskar

von Madagaskar in die Mongolei

von der Mongolei nach Saskatchewan

von Saskatchewan über New York nach Chicago.

»Aber dann verlieren wir bei jedem Flug Zeit«, sagte ich. »In diese Richtung kostet uns praktisch jeder Flug die doppelte Zeit.«

»Scheiße. Stimmt.«

»Wir müssen die Zwischenstationen reduzieren, auf vier vielleicht. Oder sie kürzer machen.«

»Das stinkt mir aber«, sagte Hand. »Da haben wir eine ganze Woche und müssen die Mongolei sausen lassen. Diese Flieger sind einfach zu langsam. Seit wann sind die Dinger so langsam?«

Nächste Route:

von Chicago über New York nach Grönland

von Grönland nach Ruanda

von Ruanda nach Madagaskar

von Madagaskar nach Katar

von Katar in den Jemen

vom Jemen über Los Angeles nach Chicago.

Aber es gab keine Flüge von Grönland nach Ruanda. Oder von Ruanda nach Madagaskar.

»Schwachsinnig«, sagte ich.

»Ich weiß, ich weiß.«

Oder von Madagaskar nach Katar. Es gab einen von Saskatchewan nach New York. Und einen von der Mongolei nach Saskatchewan. Aber keinen von Grönland nach Ruanda. Wir waren stinksauer. Wieso gab es keinen Flug von Grönland nach Ruanda? Fast alle, selbst die von Ruanda nach Madagaskar, mussten über irgendwelche Städte wie Paris oder London. Wir wollten nicht nach Paris oder London. Oder Beijing, wo sie uns auf dem Weg in die Mongolei eine Zwischenlandung aufdrücken wollten.

»Das ist ja wie im Mittelalter«, sagte Hand.

»Hätte ich nie gedacht«, sagte ich.

Wir mussten noch mehr zurückschrauben. Wir fingen von vorn an.

»Lass uns einfach aufbrechen«, sagt Hand. »Wir besorgen uns die Allroundtickets und entscheiden unterwegs. Wir müssen doch nicht alles im Voraus planen.«

»Einverstanden«, sagte ich.

Aber nein. Die Fluggesellschaft wollte genau wissen, an welchen Flughäfen wir einen Zwischenstopp einlegen würden. Wir mussten keine genauen Daten oder Uhrzeiten angeben, aber sie brauchten die Zielorte, um die Steuern berechnen zu können.

»Steuern?«, sagte Hand.

»Ich wusste gar nicht, dass die das können.«

Wir beschlossen, auf die Rund-um-die-Welt-Tickets zu verzichten. Wir würden in der Mongolei anfangen und von da aus weitersehen. Wir würden landen und einfach wieder zum Flughafen fahren, wenn wir weiter wollten. Oder noch besser: Wir würden landen und direkt am Flughafen die Tickets für den Weiterflug kaufen. Der neue Plan gefiel uns – er passte sowieso besser zu der Gesamtidee, die dahinter stand, nämlich uns von Spontaneität leiten zu lassen, jedem Impuls nachgeben zu können. Wenn wir erst einmal in der Mongolei waren, würden wir ja sehen, welche Flüge es gab, und einen davon nehmen. So viel mehr konnte das auch nicht kosten, dachten wir uns. Wie viel mochte es kosten? Wir hatten keine Ahnung. Ich musste doch nur in einer Woche rund um die Welt, irgendwann in die Mongolei kommen und acht Tage später in Mexico City sein, zu einer Hochzeit – Jeff, ein gemeinsamer Freund aus der High School, heiratete Lupe, die nur von Jeff Guad genannt wurde und deren Familie in Cuernevaca lebte. Eine prächtige Hochzeit, hieß es.

»Bist du eingeladen?«, fragte Hand.

»Du nicht?«, fragte ich.

Ich weiß nicht, warum Hand nicht eingeladen war. Konnte ich ihn einfach mitbringen? Wahrscheinlich nicht. Das hatten wir einmal gemacht, bei der Hochzeit eines anderen Freundes, in Columbus – wir hatten gedacht, sie hätten vielleicht bloß seine Adresse nicht –, und als wir ankamen, wurde uns klar, warum Hand ausgeschlossen worden war. Hand war blond und groß und dunkeläugig, man könnte wohl sagen rehäugig, er war bei Frauen beliebt und besaß eine unstillbare Neugier, die ihr Netz großzügig über alles Mögliche warf, von der Wissenschaft bis hin zu besonders feinfühligen und treuherzigen Frauen. Daher hatte er schon mit zu vielen geschlafen, einschließlich Sheila, der Schwester der Braut, labil und romantisch – und die Sache war nicht gut ausgegangen, und Hand, typisch Hand, hatte das alles vergessen, die Verbindung zwischen Sheila und der Braut, und es war peinlich, die ganze Hochzeit, völlig daneben. Ich war schuld damals, wie ich das unerklärlicherweise immer bin, jedes Mal, wenn Hands Mischung aus Lust – auf Frauen, auf Mysterien und Geheimbünde und Weltraumfahrten, auf die Welt an sich – und purer, unverfälschter, animalischer Dummheit uns unweigerlich in irgendwelche Kalamitäten bringt.

Aber mussten wir denn wirklich um die ganze Welt reisen? Wir beschlossen, nein. Wir würden sehen, was wir in sechs, sechseinhalb Tagen alles sehen könnten, und dann wieder nach Hause fahren. Wir wussten noch nicht genau, womit wir anfangen würden – wir neigten zu Katar –, aber Hand wusste, wo wir aufhören würden.

»Kairo«, sagte er und schickte die zweite Silbe durch einen engen, langen Atemtunnel, das O voller Melancholie und Hoffnung.

»Warum?«

»Wir beenden den Trip auf der Spitze der Cheops-Pyramide«, sagte er.

»Darf man denn immer noch da hochklettern?«

»Wir bestechen früh morgens oder bei Sonnenuntergang einen Wächter. Ich hab das irgendwo gelesen. In Gizeh sind alle bestechlich.«

»Okay«, sagte ich. »Abgemacht. Ende der Reise sind die Pyramiden.«

»Oh Mann«, sagte Hand beinahe im Flüsterton. »Ich wollte immer schon zur Cheops-Pyramide. Ich fass es nicht.«

Ich rief Cathy Wambat an, eine High-School-Freundin meiner Mutter und Reisebürokauffrau mit einem entzückenden Namen. Sie waren in Colorado aufgewachsen, sie und meine Mom, in Fort Collins, das ich noch nie gesehen hatte, mir aber immer mit einem richtigen Fort vorstellte, mit Holz aus der Gegend erbaut und noch immer die Pioniere vor den Ureinwohnern beschützend. Mittlerweile lebte Cathy Wambat auf Hawaii, wo anscheinend alle wichtigen Figuren der Reisebranche lebten. Nachdem Cathy Wambat unseren Plan gehört hatte, hielt auch sie uns für Volltrottel, sagte das aber irgendwie nett, und machte für uns die Reservierungen – zwei Flüge von Kairo, der von Hand über New York nach St. Louis, meiner nach Mexico City.

Aber wo sollten wir als Erstes hin? Hand rief wieder an.

»Wir sind bescheuert.«

»Was?«

»Visa«, sagte er.

»Oh.«

»Visa«, sagte er wieder, diesmal gehässig.

»Scheiße.«

Die Hälfte unserer Etappen fiel weg. Saskatchewan war kein Problem, aber Ruanda und Jemen verlangten ein Visum. Was war der Unterschied zwischen einem Reisepass und einem Visum? Ganz genau wussten wir das nicht, aber wir wussten, dass es Wartezeiten gab – drei Tage, eine Woche –, und die Zeit hatten wir einfach nicht. Die Mongolei verlangte ein Visum. Katar legte für ein Land von der Form und der Größe eines Daumens die lächerliche Hybris an den Tag, ein Visum zu verlangen, dessen Ausstellung eine ganze Woche dauern würde. Es waren nur noch drei Tage bis zu Hands Urlaub.

Er rief wieder an. »Grönland verlangt kein Visum.«

»Okay«, sagte ich. »Dann ist das unser erstes Ziel.«

Die Tickets waren spottbillig, bloß 400 Dollar das Stück ab Chicago. Winterpreis, sagte die Frau von Greenland Air. Wir reservierten und trafen letzte Vorbereitungen. Hand würde am Freitag mit dem Auto aus St. Louis kommen, und am Sonntag würden wir abreisen. Unser Ziel war eine Stadt, die wir in keinem Nachschlagewerk und keinem Atlas finden konnten. Die erste Zwischenlandung würde in Ottawa sein, die zweite in Iqaluit – auf Baffin Island – und schließlich würden wir irgendwann gegen Mitternacht in Kangerlussuaq ankommen. Wir einigten uns, dass jeder nur ein Gepäckstück mitnehmen würde – wenn man beim Einchecken kein Gepäck abgibt, muss man auch nicht warten oder verlorene Stücke suchen. Wir würden mit kleinen Rucksäcken reisen – keine Riesendinger, sondern normale kleine, gedacht für Bücher und Badetücher.

»Jacken?«, fragte Hand.

»Nein«, sagte ich. »Schichten.«

Die Kälte in Chicago in diesem Januar war dreidimensional, lebendig, mörderisch, daher würden wir mit allem am Leib, was wir mitnehmen wollten, zum Flughafen fahren. Wir würden billige Wegwerfklamotten einpacken, sodass wir, sollten wir es je bis Madagaskar schaffen, die schwereren Sachen einfach dort lassen konnten. Und dann auf nach Kairo in T-Shirts und mit leerem Gepäck.

»Okay«, sagte Hand. »Bist du wirklich sicher, dass du das alles bezahlen willst?«

»Ja. Ich muss es weg haben.«

»Ganz sicher?«

»Und ob.«

»Ich will nämlich nicht, dass du das wegen irgend so einer dämlichen Läuterungsgeschichte machst. Die Reise hat mit nichts was zu tun –«

»Nein.«

»Gut.«

»Bis morgen.«

Ich legte auf, selig, und warf mich gegen eine Wand, dann tat ich so, als würde ich einen tödlichen Stromschlag bekommen. Das mache ich immer, wenn ich sehr glücklich bin.

 

 

 

Am Samstag musste ich auf die Zwillinge meines Vetters Jerry aufpassen, Mo und Thor, achtjährige Mädchen. Jerry war der einzige Verwandte, den ich in Chicago hatte. Meine Mom war aus Colorado weggegangen, um meinen Vater zu heiraten, und hatte ihre mittlerweile verstorbenen Eltern, drei Schwestern und vier Brüder zurückgelassen, die alle in oder in der Nähe von Fort Collins geblieben waren. Und jetzt, da Tommy – mein sechs Jahre älterer Bruder, mit eigener Garage und einem Schnurrbart – erwachsen war, war meine Mom nach Memphis gezogen, um in der Nähe alter Freunde zu sein und Kurse in Anthropologie zu belegen. Jerry, der Sohn meiner Tante Terry, der Dritte von fünf, war der erste Anwalt in der Familie, mit einem Foto von sich in den Gelben Seiten, und er hatte Melora geheiratet, deren Strenge – sie sprach nur mit Zischlauten – durch ihre zierliche Figur konterkariert wurde. Sie sah aus wie ein vierzehnjähriger Junge.

Jerry und Melora wussten, dass ich so gut wie immer zu Hause war und Zeit hatte, also baten sie mich um den Gefallen, und da Hand und ich Klamotten und verschiedene andere Sachen einkaufen mussten, nahmen wir Mo und Thor mit. Jerrys überempfindliche Frau fand die Namen, die ich ihren Töchtern verpasst hatte, abscheulich, aber ich war weiß Gott nicht gewillt, zwei achtjährige, hyperaktive Kids, die viel redeten, gern auf dem Bürgersteig vorausrannten und sich nichts daraus machten, herumgeschubst zu werden, Persephone und Penelope zu nennen.

Ein Hupen von Melora signalisierte, dass die beiden da waren. Wir nahmen sie vor der Haustür in Empfang. Sie waren Hand schon dreimal begegnet, konnten sich aber nicht an ihn erinnern.

»Du siehst nicht mehr so schlimm aus«, sagte Mo zu mir, die in ihrer bauschigen, rosa Jacke fast verschwand. Ich zog den Reißverschluss ein bisschen runter, und sie atmete aus.

»Es geht aufwärts«, sagte ich.

»Jetzt sind deine Augen blau«, fügte Thor hinzu, obwohl meine Augen schon immer und noch immer braun waren. Sie trat auf mich zu, und ich ging vor ihr in die Knie. »Und der ist neu«, sagte sie und berührte meine Nase, den gebogenen, roten Streifen, der über den Knochen verlief.

»Der war schon da, Blödi!«, sagte Mo.

»War er nicht«, sagte Thor.

»Er war schon da«, sagte ich, um das Problem zu klären, »aber er ist jetzt dunkler geworden. Ihr habt also beide Recht.«

Wir gingen zu einem hippen Outdoor-Laden, Nylon und Klettverschlüsse und Energieriegel und Karabinerhaken, wohin man auch sah, und eine Kletterwand, die kein Mensch benutzte. Hand und ich brauchten eine Hose, das Beste vom Besten – warm und kalt zugleich, atmungsaktiv und isolierend, voller Taschen. Ich nahm die übliche Khakihose, aber mit mehreren Taschen – das Safari-Fotografen-Modell mit den dicken, rechteckigen Fächern mit Reiß- und Klettverschlüssen, zwei pro Bein. Hand kam laut raschelnd aus der Umkleidekabine – seine Hose war weit, glänzend und reine Synthetik, in einem Grau, das silbrig aussah.

»Du siehst aus wie ein Jogger«, sagte ich.

»Die ist bequem«, sagte er.

»Wie ein Jogger, der einen Haufen in der Hose hat!«, sagte Mo.

»Ja«, sagte Hand, speichelte seinen Daumen ein und steckte ihn Mo ins Ohr, »aber ich fühl mich schnell.«

Die Zwillinge rannten herum, und alles im Laden kam uns unverzichtbar vor. Eine klitzekleine, superleichte Taschenlampe für den Schlüsselbund. Getrocknetes Rindfleisch. Ein Erste-Hilfe-Set. Geheimtaschen für Geld und Pässe. Halstücher. Miniventilatoren. Insektenschutzmittel.

Ich mied den Blickkontakt mit anderen, versuchte, allen die Unannehmlichkeit zu ersparen, mich anzusehen. Mein Gesicht sah nicht mehr so schlimm aus wie vor ein paar Wochen, aber es war stellenweise noch ziemlich lädiert, und vom Nasenrücken fielen bläuliche Schatten in meine Augenhöhlen, sodass es aussah, als würde ich schielen oder als wäre ich ein Zyklop. Man sah mir an, was ich war: einer, der von drei Kerlen in einem Stahlkasten zusammengeschlagen worden war.

»Du humpelst immer noch«, sagte Hand.

»Ja«, sagte ich.

»So schlimm ist es auch wieder nicht«, sagte er. »Bloß ein bisschen gruselig.«

Hand kaufte zehn Halstücher, fünf für jeden von uns. Halstücher, sagte er, waren etwas, von dem sich jeder, der von einer Reise zurückkam, wünschte, er hätte mehr davon gehabt. »Du wirst mir noch danken«, sagte er. Das sagte er oft: Du wirst mir noch danken. Ich kann mich eigentlich nicht erinnern, dass ich ihm je viel zu danken gehabt hätte.

Mo und Thor kamen von ihrem Erkundungsausflug zurück, das Haar schweißnass, Pullover um die Taille gebunden. Sie wollten gehen.

»Wer will gehen?«, fragte ich Thor. »Du, Mo?«

»Ich bin Thor«, sagte Thor.

»Wer ist Thor?«, fragte ich.

»Ich!«, sagte sie.

»Tut mir Leid«, sagte ich. »Ich kann euch beide einfach nicht auseinander halten.«

»Aber wir sind doch zweieiige Zwillinge!«, sagte sie.

»Was seid ihr?«

Mo verdrehte die Augen. »Zweieiige Zwillinge! Das weißt du ganz genau, du Blödmann.«

Ich strich mir nachdenklich übers Kinn. »Tja, ich glaube, ich hab schon mal davon gehört, aber ich hab’s nicht geglaubt. Wahrscheinlich wollte ich es nicht glauben.«

»Was erzählst du denn da?«, sagte Mo. Sie war leicht auf die Palme zu bringen, das Gesicht verkniffen wie der Stielansatz einer Tomate.

»Hört mal«, sagte ich und ging vor den beiden in die Hocke. »Tut mir einen Gefallen. Lasst euch von niemandem einreden, mit euch wäre was nicht in Ordnung. Lasst euch nicht von irgendwelchen Wissenschaftlern oder Psychologen aussortieren und das Gefühl vermitteln, ihr wärt Freaks, bloß weil ihr Zwillinge seid und euch nicht ähnlich seht. Gott hat einen Fehler gemacht, und zugegeben, es war ein ziemlich großer Fehler, denn was sollen das für Zwillinge sein, die sich nicht mal ähnlich sehen? Und damit nicht genug, welche Zwillinge sehen schon so aus wie ihr, wie in Säure getunkte Affen –«

Thor schlug mir mitten auf die Stirn.

»Du hast zu schnell geredet«, sagte sie.

Wir gingen mit ihnen zu Walgreen’s. Wir brauchten noch einiges für die Reise. In Wahrheit waren die beiden die mit Abstand am wenigsten ähnlichen Zwillinge, die ich je gesehen hatte, und nur Thor sah aus wie das Produkt ihrer Eltern, die beide blond und hellhäutig waren. Thor war germanisch und zartknochig, Mo dagegen sah eher aus wie ich, mit dunklem, glattem Haar, dunklen Augen, langen, schwarzen Wimpern. Meine Wimpern, lang und geformt wie Fledermausflügel, sehen aus, als würde ich Mascara benutzen. Mo wird oft für meine Tochter gehalten und hasst das.

Ich kaufte Zahncreme im Reiseformat, einen zusammenklappbaren Becher, eine Sonnenbrille und zwei Sweatshirts für sieben Dollar das Stück, braun und schwarz. Hand hatte sich für eine große Säule Deo entschieden, und wir standen an der Kasse und warteten auf die Mädchen und sahen zu, wie die Frau vor uns einen kleinen Packen Coupons auf die Theke legte. Jeder Coupon war liebevoll ausgeschnitten worden, und die Frau, klein, aber mit einer breiten, lila Brandnarbe am dünnen, zarten Hals, hatte sie alle mit einem breiten Plastikclip gebündelt, der eigentlich dazu gedacht war, Chips in angebrochenen Tüten frisch zu halten.

Ich hasste Coupons. Die Notwendigkeit von Coupons. Ich wollte der Frau die Differenz bezahlen. Sie würde zwei Dollar sparen, und ich wollte sie ihr schenken, damit sie ihre Zeit irgendwie sinnvoller verbringen konnte. Aber wie? Ich hatte keine Ahnung. Vielleicht schneidet sie ja gerne Coupons aus? Bestimmt nicht. Seit ich zu ein bisschen Geld gekommen war, war das ein ständiger Kampf, der Frust, der mich angesichts von Menschen mit ihren Coupons überfiel, Menschen mit schäbiger Kleidung, Menschen aus El Salvador, die im Keller der Kirche eine Straße weiter lebten – ich kam jeden Morgen daran vorbei, wartete an der Bushaltestelle neben ihrer Tochter, die in weißer Bluse und kariertem Rock auf dem Weg zur Schule war –, und mein Drang, ihnen Sachen zu kaufen, und wenn auch nur was zu essen, und meine Unfähigkeit, aufgrund der eingebildeten, unüberwindlichen Barriere zwischen mir und diesen Fremden mit den ungeschickten Händen, in Kontakt mit ihnen zu treten und ihnen irgendwie zu helfen. Ich hatte mir nie einen Saldo auf dem Konto gewünscht, fühlte mich um einiges wohler auf dem Äquator knapp über oder unter der Null, und ich dachte, ich könnte es irgendwie loswerden, vielleicht mit Hilfe der Coupon-Frau hier bei Walgreen’s und den Coupons, aber die Entfernung kam mir endlos und tödlich vor, ich konnte nicht so auf Menschen zugehen, konnte das hier nicht überbrücken, und ich hielt die Situation kaum noch aus.

»Ist das alles?«, fragte Hand.

Jetzt standen Mo und Thor an der Kasse bei Walgreen’s. Sie hatten Karten zum Valentinstag gekauft, einen Zwölferpack.

»Jaha«, sagte Mo.

»Haben Sie Briefmarken?«, fragte Thor den Verkäufer.

»Nein«, sagte der Verkäufer.

»Sollten Sie aber«, sagte sie.

»Das macht dann 23,80 Dollar, bitte«, sagte der Verkäufer.

»Brauchst du keinen Sunblocker?«, fragte Hand.

Ich war nicht da.

»Will.«

Ich hörte meinen Namen, aber ich fand den Weg zum Mund nicht. Ich hatte gehört, was gesprochen wurde, aber ich war einfach nicht zugegen.

»Will.«

Ich kroch zurück in meinen Kopf.

»Was?«, sagte ich.

Man sagt, ich spreche langsam. Manchmal wird meine Sprechweise als lakonisch bezeichnet. Das Telefon klingelt, ich melde mich, und die Leute fragen, ob sie mich geweckt haben. Es kann passieren, dass ich mich mitten im Satz verirre und die Leute minutenlang im Ungewissen lasse. Ich kann das nicht kontrollieren. Ich rede und bin dabei interessiert und wach, aber dann leiht sich irgendwer – ich bin mir sicher, genau so ist es – irgendwer – und ich wünschte, ich wüsste, wer, weil ich dieser Person einiges zu sagen hätte – kurzfristig meinen Kopf aus. Als würde man sich aus einem Taschenrechner eine Batterie ausleihen, um eine Fernbedienung mit Strom zu versorgen, so leiht sich irgendwer andauernd meinen Kopf aus.

»Sunblocker«, sagte Hand.

»Nein«, sagte ich. Er legte eine Tube zu meinem Packen.

Auf dem Parkplatz sahen wir ein Trio von milchweißen Broncos vorbeifahren –  –, und wir blieben kurz stehen, um ihnen nachzuschauen. Schlimm genug, dass die noch immer in der Farbe hergestellt wurden, und drei auf einmal zu sehen, schien nichts Gutes zu verheißen. Die Mädchen blieben unbeeindruckt, was mich nicht weiter wunderte. Ich hatte aufgegeben, vorhersagen zu wollen, was sie beeindrucken würde. Nur wenige Monate zuvor hatten wir einen erwachsenen Mann gesehen, schon älter und dem Klang nach auf Russisch vor sich hin plappernd, wie er in einem fantastischen blauen Schmetterlingskostüm die Straße entlangtrabte, und das hatten sie toll gefunden. Aber die Broncos ließen sie völlig kalt.

Wir kamen an einem Teenager-Pärchen in nietenbesetzten Lederklamotten vorbei, sie mit einem Iro und er mit geschorenem Kopf, und sein eingebeulter, blutergussblauer Schädel war mit Botschaften übersät, die mit Tinte in der Farbe von rohem Fleisch aufgetragen waren.

Mo nahm Anlauf und – »Hija!«, brüllte sie – trat den Typen gegen den Oberschenkel. Er war schockiert. Hand und ich waren nicht ganz so schockiert. Die Mädchen lernten in der Schule Karate und probierten es gerne an Menschen aus, die irgendwie streitlustig aussahen.

»Scheiße … was soll’n das«, sagte der Glatzkopf und wischte sich den Fußabdruck von der Jeans. Ich entschuldigte mich. Ich warf Hand einen beschwörenden Blick zu, damit er den Mund hielt.

»Die beiden sind nicht gesund«, erklärte Hand.

Der Glatzkopf sah mich an und blinzelte viel sagend, signalisierte mögliche Aggression. Ich war knapp zehn Pfund schwerer als er; offenbar fühlte er sich durch sein Outfit stärker. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich diese Konfrontation wollte, ob ich kneifen wollte, um etwas Explosives entstehen zu lassen, mit offenem Ausgang – wie würde es ausgehen? Ich konnte die Situation zu einem echten Konflikt hochschaukeln und eine Form von Erleichterung finden – ein Teil von mir kochte, kochte schon seit Wochen oder Monaten oder länger –

Glatze und seine Freundin taten so, als ob sie Mos Attacke lustig fänden – von wegen –, und gingen weiter. Ich atmete aus, und wir liefen wie ein sich schlängelnder chinesischer Drache zur nächsten Kreuzung und sangen dabei aus vollem Hals den Refrain von Dylans »Froggie Went A-Courtin’«.

 

 

 

Wir lieferten die Zwillinge bei Jerry zu Hause ab, beschränkten die Unterhaltung mit Melora auf unsere Grunz- und ihre keifigen Zischlaute und hasteten dann weiter zur Uniklinik, um uns impfen zu lassen. Schwester Glenda, an die siebzig und mit einer Haut wie Rotholz, tat so, als wäre sie böse auf uns.

»Wann geht die Reise los?« Eine raue, aber melodische Stimme, halb Chicago, halb vom Lande.

»Morgen«, sagten wir.

»Wohin soll’s gehen?«

»Grönland.«

»Grönland? In Grönland gibt’s keine Malaria! Wieso wollt ihr eine Malariaimpfung? Und was ist mit deinem Gesicht passiert, Junge?«

»Autounfall«, sagte ich.

»Vielleicht fahren wir auch nach Ruanda«, sagte Hand.

»Wie? Was denn nun?«

»Was denn was?«

»Ihr habt eben gesagt, ihr wollt nach Grönland.«

»Na ja, vielleicht beides.«

»Beides geht nicht. Seid ihr Entwicklungshelfer oder so?«

Hand nickte.

»Nein«, sagte ich.

»Ihr seid ziemlich durcheinander. Wie alt seid ihr zwei?«

»Siebenundzwanzig«, sagte ich.

»Und ihr seid nicht krankenversichert?«

»Er schon«, sagte ich.

»Nein, bin ich nicht«, sagte Hand. Obwohl er es war.

»Jedenfalls, ihr könnt heute keine Lariam bekommen. Ihr habt noch keine medizinische Beratung gehabt. Wozu die Eile?«

»Wir haben nur eine Woche«, sagte Hand. »Können Sie uns nicht beraten. Wir sind alle da. Beraten wir.«

»Nein, mein Junge, das muss ein Arzt machen. Dauert eine Stunde. Ich könnte das arrangieren, wenn ihr morgen wiederkommt.«

»Was können Sie uns denn ohne Beratung geben?«, fragte ich.

»Typhus und Hepatitis A, B und C.«

»Aber Malaria nicht.«

»Nein. Dazu braucht ihr eine Beratung. Wenn ihr Malaria kriegt, wird es euch Leid tun, dass ihr es so eilig hattet.«

»Ist es tödlich? Malaria?«, fragte ich.

»Immer«, sagte Hand, der viel versprechende Wissenschaftler. »Malaria ist ganz übel.«

»Manchmal«, verbesserte Glenda.

»Wann ist Malaria nicht tödlich?«, fragte ich.

»Wenn ihr in ein Krankenhaus geht, überlebt ihr.«

»Gut«, sagte ich. »Das machen wir dann.«

»Wir können Auto fahren. Wir sind schnell«, sagte Hand.

»Bleibt nachts lieber drinnen«, sagte sie, als sie uns die Arme einrieb. »In Ruanda könnt ihr euch den Erreger von jedem Moskito einfangen.«

Wir dankten Glenda. Sie saß auf ihrem Stahlhocker und winkte uns zum Abschied mit beiden Händen, wie ein Kind, das Seifenblasen in der Luft zerplatzen lässt.

 

 

 

Ich folgte Hand durch die Eingangshalle der Klinik, und als ich um eine Ecke bog, sah ich, dass er mit einer Frau in einem Laborkittel sprach.

Es war Pilar.

»He«, sagte ich. Sie sah so dünn aus.

»Hi«, sagte sie. Wir umarmten uns, und sie roch wie immer nach Hund und irgendeiner Art Minze. Sie fühlte sich schwerelos an. In der Highschool war sie kräftig gewesen, eine Athletin mit breiten Tennisschultern, aber jetzt war sie schlank, die Augen schienen größer und die Wangenknochen ragten zornig von ihren Ohren nach vorn wie gebogene Holzdübel. Sie war vor Jahren mit Jack zusammen gewesen, aber ich sträubte mich gegen die Annahme – Das muss es sein. So einfach ist das nicht –, dass sein Tod ihre Verwandlung bewirkt hatte.

»Was macht ihr denn hier?«, fragte sie. »Was ist mit deinem Gesicht passiert?«

Wir erzählten ihr von den Impfungen, der Reise.

»Für Grönland braucht ihr das gar nicht«, sagte sie.

Wir versuchten, es ihr zu erklären – die Ziele danach, alles.

»Was ist mit deinem Gesicht?«, fragte sie wieder.

»Bin hingefallen«, sagte ich.

»Lügner.«

»Und warum bist du hier?«, fragte Hand.

»Ich arbeite hier. Im Labor«, sagte sie und strich mit den Händen über ihren Kittel, um Hand auf das Offensichtliche aufmerksam zu machen.

»Ach so«, sagte er.

»Und warum nur eine Woche?«, fragte sie. »Warum nehmt ihr euch nicht richtig Zeit, einen Sommer oder mehr? So auf die Schnelle kriegt ihr doch gar nichts mit.«

Ich öffnete den Mund, aber mir fiel keine Antwort ein. Irgendjemand zapfte gerade meinen Kopf an, um eine Kaffeemaschine mit Strom zu versorgen.

Hand blickte nachdenklich zur Decke und pfiff tonlos vor sich hin. Pilar, die Hübsche mit dem olivenfarbenen Teint, die in der Highschool so begehrt gewesen war, hatte mir einmal eine Nacht geschenkt, nachdem sie und Jack nicht mehr zusammen waren, aber damals war klar, dass sie eigentlich Jack wollte, und ich war ein Trostpflaster, ein Annäherungswert. Zwischen Jack und Hand, die beide natürlicher lächeln konnten und die besseren Gesichtszüge hatten – ob nun verprügelt oder nicht –, kannte ich das Gefühl nur allzu gut.

»Wir haben nur eine Woche«, sagte ich.

Pilar hob die Fingerspitzen an die Schläfen, als wollte sie eine Flut zurückhalten.

»Migräne?«, fragte Hand.

»Nein«, sagte sie. »Ich meine, ja.«

»Schön, dich zu sehen«, sagte er und legte den Arm um sie. Nach einer Sekunde trat er zurück, und ich trat vor und umarmte sie, und dann standen wir alle einen Moment lang da, warteten darauf, dass jemand uns sagte, was wir tun sollten. Eine Lautsprecherstimme suchte nach jemandem. Es hörte sich an wie Dr. Dope. Hand lachte. Wir alle lachten.

»Der heißt wirklich so«, sagte Pilar, wurde dann wieder ernst. Der Name des Mannes hatte ihr allen Wind aus den Segeln genommen.

»Na denn«, sagte Hand.

Pilar machte mit den Händen ein V und schob das Kinn zwischen die Handflächen. Ihre Augen huschten zwischen uns hin und her und wurden schnell feucht.

»Es ist furchtbar, euch beide zu sehen.«

 

 

 

Wir blieben bis vier Uhr auf, bei mir in der Küche, stellten neue Reiserouten auf, lasen die Website von Grönland. Der Flug ging in acht Stunden.

»Größte Insel«, sagte Hand.

»Amtssprache ist Grönländisch«, bemerkte ich.

»Nicht einfach nur Grönländisch – Westgrönländisch. Westgrönländisch, wie es in Sisimiut, Maniitsoq und der Gegend von Nuuk gesprochen wird, ist die offizielle Verkehrssprache in ganz Grönland. Ostgrönländisch unterscheidet sich stark vom Westgrönländischen, doch die meisten Ostgrönländer verstehen Westgrönländisch.«

»Einwohnerzahl 53000.«

»Fünfundachtzig Prozent des Landes sind von Eis bedeckt.«

»Sie hoffen verzweifelt auf Touristen. Zurzeit kommen rund 5000 pro Jahr, aber sie wollen 60000 erreichen.«

»Die haben Namen für ihre Winde. Hör mal: In Ostgrönland gibt es den bekannten und gefürchteten Piteraq, einen kalten katabatischen Wind. Die bislang stärksten Sturmböen in Ammassalik wurden 1972 verzeichnet, mit einer Geschwindigkeit von 72m/Sek.«

»Was heißt katabatisch?«

»Ein wichtiger Hinweis für Grönlandbesucher: Das Wetter kann unvermittelt umschlagen, was mitunter zu technischen Schwierigkeiten führt. Es ist daher stets ratsam, sich am Abend vor der Abreise – oder spätestens am selben Tag – bei Greenland Air zu erkundigen, ob der Flugplan eingehalten wird.«

»Technische Schwierigkeiten. Meinen die das Wetter?«

»Ich glaube, ja.«

Wir schliefen im Wohnzimmer ein, Hand auf der Couch und ich im Sessel, und als wir um acht wach wurden, hatten wir noch zwei Stunden, um alles zusammenzusuchen und uns auf den Weg zu machen. Wir hatten vereinbart, erst am Morgen zu packen, und wie sich herausstellte, war es im Nu getan, da das eigentliche Packen sich darin erschöpfte, zwei T-Shirts, Unterwäsche, Waschzeug und einen Miniatlas in den Rucksack zu stopfen, was drei Minuten dauerte. Pässe, Tickets, die 32000 Dollar in Travellerschecks, die Halstücher. Hand hatte ein paar CDs mitgebracht, seinen Walkman, einige Kassetten für die Mietwagen, etliche vom Außenministerium herausgegebene Reiseratgeber und einen Packen Blätter, die er sich von der Website des Seuchenamtes runtergeladen und ausgedruckt hatte, fast ausschließlich über Ebola. Er konnte endlos über Ebola reden. Ich steckte noch eine Churchill-Biographie ein, die ich gerade las, aber nachdem ich den Rucksack probeweise angezogen und das Gewicht der 1200 Seiten gespürt hatte, packte ich das Buch wieder aus, riss die ersten 200 und die letzten 300 Seiten raus und steckte es wieder ein.

Wir schliefen erneut auf der Couch ein. Um halb elf wurden wir ruckartig wach –

Dienstag

– und brachen auf und schliefen im Taxi weiter, jeder den Kopf gegen ein Fenster gelehnt, völlig weggetreten. Der Taxifahrer weckte uns, als wir vor dem internationalen Terminal des O’Hare-Flughafens hielten. Die geräuschlosen Eingangstüren öffneten sich für uns und wir trotteten zufrieden zum Check-in, der Flughafen groß und hell, Hand pfiff den entsprechenden Song von John Denver, und am Check-in wurde uns gesagt, dass der Flug gestrichen worden war. Der Flughafen in Kangerlussuaq war wegen Sturm geschlossen.

»Das kann nicht sein«, sagte ich.

»Die katabatischen Winde«, sagte Hand.

»Herrgott.«

»Wir haben doch nur eine jämmerliche Woche.«

Die Frau sagte, wir könnten die halbe Strecke bis Iqaluit fliegen und dann abwarten.

»Wie lange?«, fragten wir.

»Wer weiß?«, sagte sie, ohne mich anzusehen. Sie hatte mit Hand gesprochen, und mir wurde klar, warum. Mein Gesicht. »Die da warten auch.« Sie zeigte auf eine Gruppe von Leuten auf einer Bank gegenüber. Sie sahen aus, als wollten sie nach Grönland, alle mit Parkas, Rucksäcken und Bärten. Wir sahen aus, als wollten wir Softball spielen.

»Wir können nicht warten«, sagte ich.

»Wir müssen los«, sagte Hand.

Grönland hatte sich also erledigt. Katabatisch, dass ich nicht lache. Scheiß auf Grönland. Ich sah Hand an. War das Enttäuschung oder Schock? Die Frau von Greenland Air empfahl uns, die Tickets zu behalten und sie morgen zu benutzen. Hand sah aus, als würde er gleich platzen.

»Wir haben schon so viel Zeit verloren«, sagte er.

»Ist doch erst Mittag«, sagte die Frau.

»Mittag!«, sagte er. Ich wusste nicht, warum er so aufgebracht war. Es war schließlich meine dämliche Idee gewesen.

Wir verließen den Terminal, marschierten in der Kälte auf und ab und spielten unsere Möglichkeiten durch. Hand plapperte. Hand hat manchmal so eine Art mit einem zu reden, die Augen stieren dich an, der Unterkiefer bewegt sich, sodass man entweder große Intensität oder ganz normalen Wahnsinn vermuten könnte.

Ein Lincoln Towncar hielt an, und eine schwarze Familie in bunten Dashikis stieg aus. Ein Träger erschien und half ihnen mit dem Gepäck. Der afrikanische Vater bezahlte den Träger mit zwei Scheinen, nickte bei jedem, als er ihn in die offene Hand des Trägers legte, und der Träger sagte: »Danke, Sir.« Die Familie ging hinein, durch die sich leise wieder schließende automatische Tür, und ich sah sie in ihren bunten, schwingenden Stoffen zum Check-in von Air Afrique schweben, nur wenige Schritte von Greenland Air entfernt. Ich ging hinter ihnen her, und Hand folgte mir.

Auf dem kleinen, veralteten Monitor wurde ihr Flug in schwachem grünem Licht angekündigt. Air Afrique, 13:50 nach Dakar.

»Wo liegt Dakar?«, fragte Hand.

Ich wühlte in meinem Rucksack und schlug den Atlas auf. »Senegal.«

Die Tickets kosteten uns zusammen 1600 Dollar, nur Hinflug, ein Preis, den ich vor mir selbst damit rechtfertigte – irrtümlicherweise –, dass wir die beiden nach Grönland erstattet bekommen würden. So viel Geld hatte ich noch nie auf einen Schlag ausgegeben. Sogar die zwei Autos, die ich in meinem Leben gekauft hatte, waren billiger gewesen – 800 und 1400 Dollar, beides Corollas. Ich dachte an die Menschen, die von so viel Geld leben oder sich ernähren könnten – wie viele Menschen und wie lange. Wir waren gottverdammte Drecksäcke. Ich begrub die Scham tief in meinem Innern. Ich verbrannte sie und tanzte ums Feuer, sprang darüber hinweg. Wir flogen in den Senegal, und ich hatte die Tickets gekauft, also würden wir von Kairo aus nach Chicago zurückkehren. Jetzt konnten wir nach Dakar fliegen, den Kontinent durchqueren und schließlich die Pyramiden erreichen, bevor wir zurückflogen – und wir würden nicht zweimal nach Dakar müssen. Genial.

Man sagte uns, wir sollten warten, bis unser Gate bekannt gegeben wurde. Inzwischen war der Bereich voller Senegalesen in Dashikis, hauptsächlich Männer, alle schwarz, alle mit Silberbrille, und sie sahen aus wie eine UN-Delegation oder irgendeine … irgendeine Gruppe von Menschen, die sich gern alle gleich kleideten. Nach fünfzehn Minuten kam eine Durchsage. Der für 13:50 Uhr vorgesehene Start würde sich verspäten. Wir gingen zum Schalter. Wie viel verspäten?, fragten wir. Abflug sei jetzt, so sagte die Frau mit ungerührter Miene, um 21:00. Hand fiel auf die Knie. Er konnte manchmal richtig melodramatisch sein. Ich wartete, bis er wieder hochkam, was er mit einem effektvollen Klatschen auch tat, und wir gingen weg.

»Das darf nicht wahr sein«, sagte er.

»Die Dashiki-Typen sind nicht sauer«, sagte ich und deutete auf die fröhlich plaudernde Gruppe. Sie wirkten friedlich, fügten sich in das Unvermeidliche.

Hand wollte es erneut versuchen, wollte sich die Tickets erstatten lassen und irgendeinen anderen Flug nehmen. Togo, Franz-Josef-Land. Ich war unschlüssig. Wo waren die Flüge, die auch tatsächlich stattfanden? Wir wollten doch bloß so schnell wie möglich auf einen anderen Kontinent. Wir erkundigten uns, ob sie Genaueres über die Abflugzeit wussten, die Möglichkeiten. Waren sie sicher, dass es so lange dauern würde? Wie konnten sie sich da so sicher sein?

Die Frau von Air Afrique hatte eine Antwort parat: »Weil die Maschine Dakar noch nicht verlassen hat.«

Das Flugzeug von Chicago nach Dakar hatte Dakar noch nicht in Richtung Chicago verlassen.

 

 

 

Es gab einen Shuttle-Bus, der die Passagiere ins Best-Western-Hotel brachte, wo Zimmer für uns reserviert waren. Wir hatten sechs Stunden. Der Shuttle-Bus füllte sich und fuhr davon, und ein anderer kam. Wir setzten uns in die Nähe eines jungen, dünnen Mannes, der den Kopf auf die Hände gestützt hatte.

»Air Afrique. Immer dasselbe«, sagte er. Er trug einen grauen Nadelstreifenanzug. Er sah aus wie vierundzwanzig, wahrscheinlich Student. Brille mit Silbergestell. Senegalese, vermuteten wir aufgrund seines Akzents.

»Ist die Fluggesellschaft schlecht?«, fragte Hand. Mich hätte interessiert, warum alle Männer, die in den Senegal flogen, die gleichen Brillen trugen. Waren die offiziell vorgeschrieben wie spitze Schuhe in Italien?

»Der Sicherheitsstandard ist in Ordnung«, sagte er, »aber die lassen sich Zeit. Dauernd Verspätung. Schrecklich. Das kümmert die nicht.«

Ein Weißer, der in jeder Hinsicht so aussah wie David Carradine in seinen späten Kung-Fu-Tagen, unterhielt sich neben uns mit einem Mann, den er anscheinend gerade erst kennen gelernt hatte. Wir hörten zu. Wir konnten gar nicht anders – Carradine war laut, und sie saßen nur Zentimeter von uns entfernt. Der andere Mann kam aus Ghana und reiste zum ersten Mal in den Senegal. Wieso er dazu über Chicago flog, war uns zwar schleierhaft, aber Carradine war hier die Hauptfigur, die unteren Zähne klein, fischartig und spitz, ein Stirnband um den Hals, strähnige, fettige Haare bis auf die Schultern. Wir fingen Bruchstücke auf, und Hand und ich lehnten uns mehr zu ihnen hin, um dem Weißen zuzuhören.

»Nun, Gott hat mir ein gesegnetes Leben geschenkt …« Sein Publikum, der Mann aus Ghana, lauschte höflich.

»… ich weiß nicht, warum er das getan hat, womit ich das verdient habe … abgesehen davon, dass ich ehrlich und freundlich bin …«

Carradine sah aus wie jemand, der handgemachte Hanfbrieftaschen auf Flohmärkten verkauft. Ich wunderte mich, dass Hand sich nicht in ihre Unterhaltung einmischte. Solche Typen verwickelte Hand sonst eigentlich immer in ein Gespräch. Hand hatte schon so viele von diesen Leuten gesammelt, hatte so viele Geschichten auf Lager, und immer kam in den Geschichten einer vor, dem er gerade erst begegnet war und mit dem er sofort Freundschaft geschlossen hatte – es gibt Menschen, die Fremde kennen lernen, und Menschen wie mich, die nur die kennen, die sie schon von Geburt an kennen –, und meistens lieh Hand ihnen kurz darauf Geld oder erlaubte ihnen, wie zweimal vorgekommen, in seiner Garage zu wohnen.

»Jawohl, ich lebe wie ein König«, sagte der Weiße im Bus, »und kann meine Freunde rund um den Erdball als Gäste empfangen … Zugegeben, in Fremdsprachen war ich nie besonders gut. Drei Jahre lang hatte ich Förderunterricht … meine Lehrer konnten mein individuelles Ausdrucksbedürfnis einfach nicht nachvollziehen …«

Der Shuttle-Bus hielt vor dem Hotel. Carradine hatte fünf Reisetaschen, die er nur mit Mühe tragen konnte, eine über der Schulter, zwei in der linken Hand, zwei in der rechten. Hand nahm ihm zwei ab, und der schwer beladene weiße Mann folgte uns nach draußen.

»Waren Sie schon mal im Senegal?«, fragte er Hand.

Hand verneinte.

»Ich sage Ihnen, Sie werden dort mehr Bettler und Krüppel sehen als in Ihrem ganzen Leben.« Er warf mir einen Blick zu. »Sie werden sich wie zu Hause fühlen.«

Wir gingen in die Lobby. War das ein Witz über mein Gesicht? Wahrscheinlich. Jetzt standen wir in der Warteschlange, um einzuchecken. Der Weiße betrachtete unsere Schuhe, unsere Rucksäcke, schätzte ihren Inhalt ab.

»Und ihr«, sagte er, »wollt also ein bisschen trommeln?«

 

 

 

Und wir waren noch immer in Amerika. Wir waren in Schaumburg oder Bensenville, wo auch immer dieses Hotel lag, und wir gingen durch eine ruhige Eingangshalle mit lila-gelb schraffiertem Teppichboden und waren nicht unterwegs in den Senegal und hatten nicht – wie mir soeben eingefallen war – Shorts eingepackt, und würden erst gegen Morgen dort eintreffen und hatten einen Tag vertan. Einen von sieben.

Wir kamen an einem Paar mittleren Alters im Partnerlook vorbei:

– Ihr beide müsst euch umziehen.

– Was? Wieso denn?, sagte das Paar mittleren Alters, zu meinem Kopf, in meinem Kopf.

– Weil ihr die gleichen Jacken tragt.

– Die haben wir im Urlaub in Newport gekauft.

– Ihr seid eine Beleidigung fürs Auge.

– Die Jacken sind schön.

– Sind sie nicht. Ihr müsst euch umziehen, um uns alle zu retten.

Ich debattierte ständig mit Fremden, wenn auch nur in meinem vernebelten Schädel, wobei ich immer diesen hohlen, mahnenden Tonfall anschlug – ich glaube, den meiner Großmutter –, den ich selbst nicht ausstehen konnte. Die stummen, aber entschlossenen Diskussionen waren ein Hobby meines Verstandes, Streitgespräche mit Menschen, die ich kannte oder an denen ich im Auto vorbeifuhr:

– Du da, in dem Lexus.

– Ich?

– Ja, du. Du hast zu viel bezahlt.

– Was?

– Du hast zu viel bezahlt, und deine Seele ist besudelt.

– Du hast Recht. Ich habe gefehlt, doch ich werde Buße tun.

Das half mir, Probleme zu durchdenken, Fragen zu klären, es half mir, endgültige, erbauliche und mitunter sogar für beide Seiten angenehme Lösungen zu finden.

– Du da, auf dem Motorrad.

– Ja.

– Es ist nur eine Frage der Zeit.

– Ich weiß.

Es könnte vielleicht sogar Spaß machen, wenn es nicht andauernd vorkommen und so laut ablaufen würde. Es war unvermeidlich und jetzt, nach all den Jahren, die ich die Debatten bereits führte, wollte ich, ehrlich gesagt, dass sie aufhörten. Ich wollte, dass die Stimmen verstummten, und ich wollte überhaupt weniger von meinem Kopf. Ich wollte die Streitgespräche nicht mehr haben, und ich wollte die Stimme nicht mehr haben, die sich anschließend meldete, die sich, ebenfalls leise, bei den Menschen entschuldigte, die ich angemacht und runtergeputzt hatte.

– Entschuldigung!, sagte Letztere dann, trabte katzbuckelnd hinter der Ersten her. Soll nicht wieder vorkommen! Hier, eine Kleinigkeit für Ihre Mühe!

Ich wollte jetzt Einverständnis, ich wollte Synthese und die schlichte Wahrheit – ohne eine umständliche Debatte. Es gab nichts mehr zu debattieren, keine hitzige Diskussion mehr, die sich vermeintlich auf eine gesunde Lösung zubewegte. Ich wollte nur noch Wahrheit, so simpel wie möglich, geradeheraus, nicht als dialektisches Produkt, sondern sui generis: Wahrheit! Wir alle kannten die Wahrheit, aber so, wie wir die Dinge immerzu verzerrten, sah es aus, als wären wir in allem zutiefst uneinig – dass jedes Ding zuallererst zwei Seiten hätte, obwohl das doch gar nicht stimmte; es gab nur eine Seite, immer nur eine Seite: Genau wie die Erde rund ist, ist auch die Wahrheit rund, nicht zweiseitig, sondern rund und –

Hand und ich kriegten jeder ein Zimmer. Auf der Matratze, auf der Decke, schloss ich die Augen und versuchte zu schlafen, begegnete jedoch meinem Kopf, der mit seinen vielen nervösen Augen über dem Bett schwebte, und mein Kopf war kampflustig. Kill die Wichser. Kill die Wichser. Kill die Wichser. Es ging schon wieder los. Ich wich dem Streit aus, fühlte mich aber dem Kampf sehr nahe. Tag für Tag erlebte ich Stunden, in denen ich mit einem Maschinengewehr auf irgendwas, egal was, schießen wollte, spüren wollte, wie die ausgeworfenen Patronenhülsen auf meinen Fuß prasselten – Stunden, in denen mir jeder Konflikt der Welt vertraut vorkam –

Ich setzte mich auf und rief meine Mom an. Ich hatte ihr nichts von der Reise erzählt – ich hatte vorgehabt, sie von Grönland aus anzurufen –, und jetzt bestätigten sich die Gründe, warum ich warten wollte.

»Du bezahlst das mit deinem neuen Geld?«

»Ja.«

»Was hat Cathy denn dazu gesagt?«

»Sie hatte nichts dazu zu sagen.«

Ich wusste, dass sie stinksauer war, mehr auf Cathy als auf mich.

»Will, das hört sich einfach dumm an.«

»Tja …«

»Du schlägst einfach über die Stränge, Schatz.«

»Na, vielen Dank für den weisen –«

»Du hast ein schwieriges Jahr hinter dir, ich weiß, aber –«

»Hör mal –«

»Und offen gestanden«, sagte sie, »ich muss mich wundern.«

Ich blickte über das Bett hinweg in einen Spiegel und sah ein so wütendes und gequältes Gesicht, dass ich mich abwandte.

»Verrat mir doch«, sagte ich mit einem Maß an Geduld, das mich selbst verblüffte, »wieso. Mom. Du dich wundern musst.«

»Na, du warst es doch wohl immer, der sich nichts aus Reisen gemacht hat, oder? Du hast immer einen richtigen Aufstand veranstaltet, wenn ich mal mit euch wegfahren wollte, und wenn nur nach Phelps oder so.«

»Das war was anderes.«

»Du warst es. Du warst es, der da auf dem Hocker in der Küche gesessen hat, im ersten Haus, und behauptet hat, du müsstest überhaupt nicht verreisen. Mir schwebten irgendwelche exotischen Ziele vor, und du hast gesagt, du könntest so viel reisen und denken, wie du wolltest, ohne auch nur aus dem Haus zu gehen.«

Ich stöhnte so laut und grimmig auf, wie ich konnte.

»Oh ja, das hast du gesagt!«, redete sie weiter. »Hand war derjenige mit den Plänen, der ins All wollte und was weiß ich alles, aber du hast gesagt, Reisen wäre nur Zerstreuung für Phantasielose. War damals sehr bewegend, deine Ansprache. Ich wünschte, ich hätte sie aufgenommen.«

Ich überlegte, wie laut ich aufhängen konnte. Vielleicht war das hier eins von den Telefonen mit einer richtigen Klingel unten drin. Das könnte ordentlich Lärm machen. Ich würde den Hörer einfach aufknallen und –

»Will?«, fragte sie.

»Was?«, sagte ich.

»Fahr doch nach Hause und ruf mich heute Abend wieder an, und dann unterhalten wir uns noch mal da drüber, ja? Ich finde, ihr beide macht einen Fehler. Denk doch nur an das Geld! Lass mich mal mit Hand sprechen. War das Hands Idee?«

»Zu spät. Wir haben die Tickets schon gekauft.«

»Wohin wollt ihr noch mal?«

»Senegal.«

Sie schnaubte. »Kein Mensch fährt in den Senegal!«

»Wir aber.«

»Ihr holt euch AIDS!«

Ich legte auf. Erwähnte ich bereits, dass sie womöglich drauf und dran ist, den Verstand zu verlieren? Das letzte Mal, als ich sie in ihrer neuen Wohnung in Memphis besuchte, hatte sie Haarfestiger für die Hände benutzt, weil sie ihn mit Flüssigseife verwechselt hatte. Tommy und ich fürchten, dass wir zwanzig Jahre voller böser und aufdringlicher Senilität vor uns haben, wie damals mit Granna, um die man sich die Hälfte der Zeit gern kümmern wollte, der man das lange, glatte, graue Haar kämmen wollte – die man aber die andere Hälfte der Zeit, in der sie ständig keifte – Wo ist mein Baby! Wo ist mein Pferd! Ich hab die Sachen kaputt gemacht, weil sie kaputt gemacht werden mussten! – am liebsten mit einem Kissen ersticken wollte.

Ich versuchte, ein Nickerchen zu machen, aber jetzt war mein Kopf hellwach, war ein kleines Kind in einem Raum voller neuer Gäste. Es sprang herum und quietschte und stieß Bücher von den Regalen. Ja, ich bin einer der langsamsten Sprecher, die man sich vorstellen kann, aber mein Kopf ist, wenn ich ihn denn habe und er nicht schläft oder verliehen ist, alles andere als langsam. Mein Geist, das weiß ich, das kann ich beweisen, schwebt auf Kolibriflügeln. Er schwebt und schwirrt. Und wenn er mit voller Kraft arbeitet, hört das Schwirren nicht auf. Die Maschinen kommen nicht zur Ruhe, die Systeme kühlen fast nie ab. Und obwohl ich alles vergessen kann, was irgendwie wichtig ist – deshalb erzählen andere mir ihre Geheimnisse –, hat mein Geist einen sagenhaften Ordnungssinn, wenn es um Schmerz geht. Nichts Quälendes geht verloren, es verliert nicht mal an Farbe oder Intensität oder Tonqualität. Das alles wurde nämlich ziemlich weit vorn abgelegt.

Man stelle sich einen Schreibtisch vor. Der Schreibtisch steht auf einem grünen Hügel, etwa sechzig Meter oberhalb einer sanften Wiese, die übersät ist mit Tulpen und etwas, das aussieht wie Baumwolle. Durch die Wiese windet sich ein Flüsschen, schmal und schnell, dessen Rauschen wie Psssst! und Schniefen klingt. Vom Schreibtisch aus hat man eine hinreißende Aussicht, und die Luft oben beim Schreibtisch und auf der Wiese hat etwa dreiundzwanzig Grad. Sie ist lind und hell, und der Himmel ist blau, aber nicht zu blau, und alles in allem scheint es der beste Platz für einen Schreibtisch zu sein. Ein Schreibtisch, an dem man Dinge beobachten und die zu erledigende Arbeit erledigen könnte. Der einzige Haken ist nur, dass der Schreibtisch auf einem großen Bauwerk steht, dessen Eingang sich direkt hinter dem Schreibtisch im Boden befindet. Das Gebäude reicht zehn Stockwerke in die Tiefe. Es wurde in den gesamten Hügel eingegraben und beherbergt einen großen Mitarbeiterstab aus humanoiden Wesen, ölig und blass und ohne Haare – sie sind Maulwürfe und sehen auch so aus, mit großen, eckigen, gelben Zähnen und Mäulern aus Feuer –, und sie alle sind nur dazu da, den Inhalt des Gebäudes zu verwalten und mir zur Verfügung zu stellen, eine Mischung aus Aufzeichnungen, Dossiers, Zitaten, historischen Dokumenten, Zeittafeln, Fragmenten, Kulturstudien – die herrlichsten und banalsten und blutigsten Erinnerungen.

Sagen wir, es gefällt mir, dass es dieses Gebäude gibt und dass ich seine Anwesenheit schätze und dass ich leichten Zugang zu ihm habe. Wenn ich etwas will, eine Akte oder dergleichen, muss ich sie nur anfordern, und schon wird sie mir meist unverzüglich von einem der Bibliotheksmitarbeiter gebracht, die übrigens ebenfalls haarlos sind, rubinfarbene Augen haben und Weiß tragen. Wenn ich gerade mit Hand telefoniere und er davon anfängt, wie wir mal Darren Larson über den Sprinkler geschubst haben – wir waren kräftig und rauflustig – und Darren Larson sich so tief ins Schienbein geschnitten hat, dass das milchige Weiß zu sehen war, und sich dann wimmernd hinter dem Zaun am See unter dem Sonnenuntergangshimmel versteckt hat –, dann kann ich den Bibliothekar bitten, mir alle verfügbaren Informationen zu dem Vorfall damals rauszusuchen, und zwar dalli, damit ich ein intelligentes Gespräch mit Hand führen kann. Sekunden später steht ein eifriger Mitarbeiter vor mir, rubinäugig, haarlos, weiß gekleidet und den Schwefelgeruch notdürftig mit ranzigem Parfüm überdeckend, und bringt mir einen sauberen Ordner, der alle Daten enthält, die zu dem fraglichen Tag in der Bibliothek abgelegt sind, wobei zu berücksichtigen ist, dass es im Laufe der Jahre Verwaltungsfehler sowie mehrere Überschwemmungen und Brände gegeben hat – so viel Verlust, aber wem soll man da einen Vorwurf machen?

Und so sehr ich auch die Tüchtigkeit und den professionellen Elan des Bibliothekspersonals schätze, macht mir neuerdings eine Abweichung von den bisherigen Arbeitsabläufen ein wenig zu schaffen. Eigentlich sollen die Mitarbeiter nur tätig werden, wenn ich eine Anfrage habe, und sich ansonsten darum kümmern, dass alles schön ordentlich abgelegt ist. Eine stillschweigende Übereinkunft lautet, dass sie zu keinem Zeitpunkt für mich entscheiden sollen, welche Informationen mir gebracht werden. Doch seit kurzem kommt es immer wieder vor, dass ich an meinem Schreibtisch sitze und entweder arbeite oder die Aussicht bewundere und darüber nachdenke, woher das Flüsschen sich speist, ob vielleicht Fische drin sind, wie sie wohl heißen und ob welche von ihnen insgeheim Fischisch sprechen und falls ja, was sie wohl sagen – und plötzlich steht eine Bibliotheksmitarbeiterin neben mir, hat eine Hand auf meinen Rücken gelegt und zeigt mit der anderen auf den Inhalt einer Akte, die sie mir gebracht und auf dem Schreibtisch geöffnet hat, sodass mein Blick ihrem Finger folgt, und wenn ich sehe, worauf sie zeigt, bleibt mir die Luft weg.

Nie wieder will ich diesen verdammten Zeitungsausschnitt sehen. Ich war empört, dass meine Mom ihn verwahrt hatte. So was ist doch pervers. Sie hat ihn mir nicht gezeigt, aber da lag er, in der Schublade, wo sie Scheren und Umschläge und Zeitungsausschnitte aufbewahrt. Aus der Lokalzeitung, ein Foto von dem Wagen, zerquetscht, unter der Überschrift: JUNGER MANN TÖDLICH VERUNGLÜCKT, SATTELSCHLEPPER ÜBERROLLT PKW. Ich hätte nie gedacht, dass ich ein Foto davon sehen würde. Ich wusste gar nicht, dass es ein Foto gab. Es war drei Monate her, und ich schlief wieder normal und besuchte Mom in Memphis und fand den Zeitungsausschnitt. Ich las den Artikel, der längs gefaltet und herausgerissen, nicht ausgeschnitten worden war. Zuerst wusste ich nicht mal, dass es um Jack ging. Einige Absätze lang war es bloß eine traurige und Mitleid erregende Geschichte – irgendein armer Kerl war ums Leben gekommen, weil er zu langsam gefahren war. Ein Lastwagen, der zu schnell gefahren war, hatte den Wagen des Mannes überrollt und im Bruchteil einer Sekunde zerquetscht. Das Foto war eindeutig, da war der Wagen, von Kotflügel zu Kotflügel, und doch war es nur die Abstraktion eines Autos, die wütende Skizze eines Wagens, und als ich den Ausschnitt auffaltete, war da Jack, sein Foto von der Highschool-Abschlussfeier, Sportjackett über die rechte Schulter geworfen, sein Foto gleich neben dem von dem Lastwagenfahrer, als wären sie ein Team, wie der Quarterback, der das Match entschied, und der Fänger, der dessen Pass verwandelte.

»Ich dachte bloß«, wird die Bibliothekarin knapp und sachlich sagen, »Sie sollten das sehen.«

Ich kenne diese Akte, aber ich muss sie nicht gerade jetzt sehen. Ich habe diese gottverdammte Akte nicht angefordert. Ich sage ihr das.

»Ja«, sagt sie, »aber ich dachte wirklich, Sie sollten sich das noch einmal ansehen. Wir fanden, es wäre gerade jetzt wichtig für Sie, sich in die Akte zu vertiefen, die Episode in den nächsten paar Stunden noch einmal Revue passieren zu lassen.«

Ich betrachte die Akte, und ihr Inhalt schreit mir mit der Stimme von tausend Morden in verkommenen Wohnungen entgegen. Ich schiebe sie wieder zu der Mitarbeiterin.

»Ich hab sie mir angesehen. Danke.«

Sie geht. Ich schaue auf die Wiese und sehe ein paar Vögel, die sich gegenseitig jagen. Ich kann gut dreißig Meilen weit blicken.

Wieder zupft man mich am Ärmel. Diesmal ist es ein junger Mann mit Augen wie brennende Tiere. Er beugt sich über den Schreibtisch, und er hat eine Akte dabei. Es ist dieselbe Akte, die mir seine Kollegin vorhin gebracht hatte.

»Die habe ich mir gerade angesehen«, sage ich.

»Ja, aber wir sind unten der Meinung, dass Sie sie sich vielleicht doch noch etwas genauer ansehen sollten. Vor allem den Teil mit Nigel, diesem Arsch vom Bestattungsunternehmen, und den mit Jacks Kommilitonen, die am Tag der Trauerfeier alle draußen auf der Veranda standen und lachten und rauchten.«

Ich male mir aus, was ich diesen Schwachköpfen sagen würde, wenn ich ihnen noch mal begegnete. Ich wollte handeln und wollte irgendetwas, das sie schmerzlich und peinlich berühren würde, wollte aber, dass es leise passiert. Alles leise. Meine Toleranz für Lautes war mit jedem Jahr meines Lebens geringer geworden, und mittlerweile ließ mich so vieles zusammenzucken. Der ständige Lärm bei der Arbeit, Bohrer und Sägen – ich hielt das nicht mehr aus, diesen Lärm. Bevor ich kündigte, hatte ich um leisere Aufgaben gebeten. Wände und Zierleisten streichen, Türen einbauen, obwohl ich mir nach wie vor die Option offen hielt, auch mal eine Decke herunterzureißen – normalerweise die Akustikplatten in Büroräumen – und einen Fußboden abzutragen. Beides machte mir großen Spaß. So viele gut erhaltene Holzböden lagen unter etlichen Schichten unentschuldbarer Oberflächen – PVC