Berliner Sittenbilder. Polizeiberichte. Zweiseelenmenschen - Max Kretzer - E-Book

Berliner Sittenbilder. Polizeiberichte. Zweiseelenmenschen E-Book

Max Kretzer

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Beschreibung

Der Band enthält drei frühe Erzählungen Kretzers. "Polizeiberichte" und "Der alte Andres" sind packende, anschauliche Darstellungen des Berliner Großstadtlebens mit all seinen Versuchen und Schattenseiten. Im dritten Beitrag, "Die Zweiseelenmenschen", zeichnet Kretzer uns das psychologisch durchdrungene Porträt eines jener charakterschwachen Menschen, die, mit positiven Eigenschaften ausgestattet, gleichwohl doch nicht die Kraft haben, den Lockungen des großstädtischen Lebens zu widerstehen und sich und andere dadurch unglücklich machen – so lange bis sie entweder zugrunde gehen oder, durch harte Schicksalsschläge geläutert, ihr Leben zum Besseren wandeln. Alle drei Erzählungen durchpulst der naturalistische Blick und das entschiedene soziale Engagement des jungen, zornigen Autors.Max Kretzer (1854–1941) war ein deutscher Schriftsteller. Kretzer wurde am 7. Juni 1854 in Posen als der zweite Sohn eines Hotelpächters geboren und besuchte bis zu seinem 13. Lebensjahr die dortige Realschule. Doch nachdem der Vater beim Versuch, sich als Gastwirt selbstständig zu machen, sein ganzes Vermögen verloren hatte, musste Kretzer die Realschule abbrechen. 1867 zog die Familie nach Berlin, wo Kretzer in einer Lampenfabrik sowie als Porzellan- und Schildermaler arbeitete. 1878 trat er der SPD bei. Nach einem Arbeitsunfall 1879 begann er mit der intensiven Lektüre von Autoren wie Zola, Dickens und Freytag, die ihn stark beeinflussten. Seit dem Erscheinen seines ersten Romans "Die beiden Genossen" 1880 lebte Kretzer als freier Schriftsteller in Berlin. Max Kretzer gilt als einer der frühesten Vertreter des deutschen Naturalismus; er ist der erste naturalistische Romancier deutscher Sprache und sein Einfluss auf den jungen Gerhart Hauptmann ist unverkennbar. Kretzer führte als einer der ersten deutschen Autoren Themen wie Fabrikarbeit, Verelendung des Kleinbürgers als Folge der Industrialisierung und den Kampf der Arbeiterbewegung in die deutsche Literatur ein; die bedeutenderen Romane der 1880er und 1890er Jahre erschlossen Schritt für Schritt zahlreiche bislang weitgehend ignorierte Bereiche der modernen gesellschaftlichen Wirklichkeit für die Prosaliteratur: das Milieu der Großstadtprostitution (Die Betrogenen, 1882), die Lebensverhältnisse des Industrieproletariats (Die Verkommenen, 1883; Das Gesicht Christi, 1896), die Salons der Berliner "besseren Gesellschaft" (Drei Weiber, 1886). Sein bekanntester Roman, "Meister Timpe" (1888) ist dem verzweifelten Kampf des Kleinhandwerks gegen die kapitalistische Konkurrenz seitens der Fabriken gewidmet. Während Kretzer anfangs der deutschen Sozialdemokratie nahestand, sind seine Werke nach der Jahrhundertwende zunehmend vom Gedanken eines "christlichen Sozialismus" geprägt und tragen in späteren Jahren immer mehr den Charakter reiner Unterhaltungsliteratur und Kolportage. Er starb am 15. Juli 1941 in Berlin-Charlottenburg.-

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Max Kretzer

Berliner Sittenbilder. Polizeiberichte. Zweiseelenmenschen

von

Saga

Berliner Sittenbilder. Polizeiberichte. Zweiseelenmenschen

© 1883 Max Kretzer

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711502617

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Vorwort.

Die nachfolgenden drei Erzählungen sind vor etwa dreissig Jahren entstanden und als Vorläufer meiner grossen Berliner Romane zu betrachten, was ich hier besonders für die Herren Literarhistoriker anführe, denen mein Entwicklungsgang vielleicht von Interesse ist. Sie erschienen zuerst in der damaligen „Berliner Bürgerzeitung“, dessen Feuilleton von Otto v. Leixner geleitet wurde, der, als ich ihm die Fabrikgeschichte „Der alte Andres“ einreichte, ein starkes Talent in mir entdeckt haben wollte. Ich muss ihm nach seinem Tode noch dankbar dafür sein, dass er den Mut hatte, die Sittenbilder zu einer Zeit zu veröffentlichen, als das Lesepublikum äusserst prüde war und sich mit Wonne in die romantischen Erlebnisse der Marlittschen Mansardentanten und Märchenprofessoren vertiefte. Insbesondere verdient auch die Verlagsbuchhandlung Dank dafür, dass sie sich zu einer Neuauflage entschlossen hat, nachdem das Buch schon seit langem völlig vergriffen ist. Eine gründliche Durchsicht schien mir notwendig zu sein, weil ich die Erzählungen damals im Fluge niedergeschrieben hatte, und zwar unter dem Drucke grosser Armut.

Charlottenburg, im April 1911.

Max Kretzer.

Polizeiberichte

Polizeibericht. In der Nacht vom 10. zum 11. stürzte sich ein Mädchen vom Louisenufer aus in das Engelbecken. Die herrschende Dunkelheit veranlasste, dass es durch den sich gerade in der Nähe befindlichen Wächter im Verein mit mehreren Schiffern nur als Leiche ans Ufer gebracht werden konnte. In den Taschen fand man ausser einem Portemonnaie mit drei Talern Inhalt einen einfachen Ring mit dem eingravierten Namen Emmy. Die Leiche wurde nach dem Obduktionshause befördert.

In allen Strassen hatte er sie gesucht. An jeder Ecke fragte er, ob man nicht ein blondes Mädchen von auffallender Schönheit gesehen habe, und immer, immer nur waren ein kurzes Kopfschütteln und ein mitleidiges Lächeln die einzige Antwort.

Wenn die Morgensonne ihr goldenes Licht in sein ärmliches Zimmer warf, dann war sein erster Gedanke bei ihr; wenn sie abends blutrot hinter dem Häusermeer verschwand, dann war sie es, zu welcher der letzte Strahl die Grüsse eines einsamen Mannes trug. Wenn in der Nacht alles zur Ruhe gegangen, kein Laut im Hause sich regte und nur hoch oben im vierten Stock beim matten Lampenschein wie schon seit Jahren er, über seine Bücher gebeugt, dem Geiste neue Nahrung gab, — dann war sie allein es, für die sein heisses Gebet sich den Lippen entrang, als er das Fenster öffnete und seinen Blick zum hellen Sternenhimmel emporschweifen liess. Dann überkam ihn jene unendliche Sehnsucht, die jeder von uns mindestens einmal im Leben empfunden hat, der in lautloser Nacht, das Herz voll zum Überströmen, im Gefühle seiner Einsamkeit Trost bei den Sternen gesucht hat. Dann wünschte er sich Flügel, sie zu suchen; kein Mensch sollte es mehr wagen, sie mit begehrlichen Blicken anzusehen. Nur er allein, er, ihr Bruder, der um sie gelitten, für sie gearbeitet und gedarbt hatte, wollte sie wieder haben. Dann aber trat die Wirklichkeit wie zum Hohn wieder in ihre Rechte, und halblaut murmelte er das Lied von Rückert vor sich hin:

Um Mitternacht

Hab’ ich gewacht

Und aufgeblickt zum Himmel;

Kein Stern vom Sterngewimmel

Hat mir gelacht

Um Mitternacht.

Um Mitternacht

Hab’ ich gedacht

Hinaus in dunkle Schranken;

Es hat kein Lichtgedanken

Mir Trost gebracht

Um Mitternacht.

Er war ein armer Student der Medizin und wohnte in einer elenden Gasse. Alle Tage, wenn er nach dem Kolleg ging, machte er einen weiten Umweg, nur um bei einer Bettlerin nicht vorübergehen zu brauchen, der er nichts geben konnte, weil er selbst nichts hatte.

Als er vor vier Jahren mit seiner Schwester von seinem kleinen Heimatstädtchen Abschied nahm, da konnte er weiter nichts auf den Weg mitnehmen, als den Segen seines alten Vaters und die Liebe zu seiner Schwester.

„Sorge für sie, beschütze sie, Reinhard,“ sagte der Alte. „Arbeitet, Kinder, denn Arbeit schändet nicht. Du willst studieren, Junge? Nun gut, — des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Es wird dir aber sauer werden, ich meine das Leben, nicht das Studium, denn das wirst du überwältigen, du hast was gelernt. Und nun behüte euch Gott, Kinder, und wenn ihr eines Tages erfahren solltet, dass euer Vater nicht mehr lebt, dann grämt euch nicht, aber ehrt sein Andenken, wie ihr das eurer Mutter geehrt habt.“

Damit hatte er ihnen den Rücken gewandt, denn er wollte seine Tränen verbergen.

Wie verlassen hatten sie sich gefühlt, als sie in Berlin ankamen und das hundertfältige Gewirr einer Weltstadt sie bereits auf dem Bahnhof umfing. Wie neugierig all die Blicke waren, die die Leute auf seine Schwester gerichtet hatten!

„Sieh doch diesen wunderschönen Blondkopf, — allerdings noch etwas kindlich.“

„Je jünger, desto schneller ihr Glück; sie wird bald seidene Kleider tragen,“ drang es an sein Ohr. Das Blut stieg ihm in die Wangen, er drehte sich um, denn diese Stimme kam ihm bekannt vor. Aber lächerlich. Wen sollte er hier auch kennen? Wie hatte sie sich an ihn geschmiegt und wie stolz war er in dem Bewusstsein, als sie jetzt die Strassen durchfuhren, in all dem brausenden Gewirr des Daseins, das um sie wogte, ihr ein Fels zu sein, der sie beschütze. Wie hatte er in der ersten Zeit um seine Existenz gekämpft, — aber immer stand ihm das Wort des Dichters vor Augen: Mensch sein heisst ein Kämpfer sein. — Emmy war es bald gelungen, in einem grösseren Geschäft als Verkäuferin einen Platz zu bekommen. Ihre gute Bildung, ihre Schönheit, ihre Bescheidenheit machten sie bei jedermann beliebt, so dass der Gehalt, den sie bezog, bald gross genug wurde, die Ansprüche beider zu befriedigen. Jetzt konnte sich Reinhard mit aller Kraft auf das Studium der Medizin werfen. Privatstunden, die er in einigen Familien erteilte, brachten ihm so viel ein, um seine kleinen Nebenausgaben an Büchern usw. bestreiten zu können. Er bewohnte mit seiner Schwester zwei kleine Zimmer in einer abgelegenen stillen Gasse.

Als er eines Tages wie gewöhnlich vor Eröffnung des Kollegs im Vorgarten der Universität auf- und abging, klopfte ihm jemand auf die Schulter, und eine bekannte Stimme redete ihn an. Im Nu durchzuckte es ihn: Das ist dieselbe Stimme, die damals auf dem Bahnhof gesagt hat: Wird bald seidene Kleider tragen. Er drehte sich um. Ein ehemaliger Schulkamerad stand vor ihm, der Sohn eines reichen Fabrikbesitzers seiner Vaterstadt. Fritz Brand studierte ebenfalls Medizin. Er war ganz dazu geschaffen, jedem Weibe den Kopf zu verdrehen. Von der Natur verschwenderisch ausgestattet, besass er die elegantesten Manieren und jenes einschmeichelnde Wesen, das in derselben Weise abstossen kann, wie es anzieht. Reinhard hatte sich vorgenommen, sich während seines Studiums soviel als möglich isoliert zu halten, schon seiner geringen Mittel wegen; er war daher wenig erbaut von dieser neuen Bekanntschaft. Aber er kannte Fritz Brand noch schlecht. Eines Sonntags, als die Geschwister zu Hause waren, machte Fritz Brand seinen Besuch, um sich nach dem Befinden seiner schönen „Landsmännin“ zu erkundigen, und — Emmy war gefangen.

Die Besuche wiederholten sich, mehr als es Reinhard lieb war; er baute jedoch auf die Vernunft seiner Schwester. Vernunft, auch du trügst!

Ein Jahr war vergangen. Reinhard war ebenso fleissig als vordem: ein glänzendes Talent, vor dem seine Kommilitonen, die ihn seiner Solidität wegen in der ersten Zeit als Philister verschrien hatten, zuletzt den grössten Respekt hatten. Und Emmy? Der Strudel des Lebens hatte sie ergriffen. Der Hexenkessel, den man Berlin nennt, fing auch für sie an zu brodeln, und der Genuss des Inhalts war zu berauschend, um nicht zu verführen. Heute reich, morgen arm, heute ehrlich, morgen Zuchthaus, heute ein unschuldiger Engel, morgen ein gefallener, — das ist das Kaleidoskop, das man Weltstadt nennt.

Immer später kam Emmy des Abends nach Hause, bis sie eines Nachts ganz ausblieb. Ein kurzer Brief, den er vorfand, sagte Reinhard, dass sie für ihn verloren sei, — immer und ewig: ein Opfer ihrer Schönheit und ihres Leichtsinns.

„... Einziger Reinhard, nach wie vor werde ich Dich in Deinem Studium unterstützen. Jeden Monat werde ich Dir die Hälfte meines Gehalts senden. Bitte, schreibe mir ein paar Zeilen poste restante, dass Du mir verzeihst. Deine unglückliche Schwester.“

Einen Augenblick war es ihm, als müsste er irrsinnig werden; er fasste sich an seinen glühenden Kopf, — dann lachte er hart auf. „Jeden Monat werde ich dir die Hälfte meines Gehalts schicken! Und du denkst, ich könnte ...“ Er fühlte, dass brennendes Rot in sein Antlitz trat. Dann wurde er ruhiger, er war nicht umsonst Mediziner. Sie war doch nur eigentlich das verführte Objekt eines erbärmlichen Subjekts, deshalb nicht zu verurteilen, — aber wehe! Wenn seine Ahnung sich bewahrheitete, wenn sein eleganter Kommilitone es war, der sein Glück zertreten hatte, er wollte Gericht halten. Sogleich wollte er ihn aufsuchen. Aber hatte er Beweise? Wie, wenn er ihm ins Gesicht lachte? Er überlegte. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb an die Schwester unter der angegebenen Chiffre:

„Kehre zurück. Wenn auch alle Menschen Dich verurteilen, Du weisst doch, dass die Brust Deines Bruders der Ort ist, wo Du Dich satt weinen kannst. Einen Fehltritt gutmachen, ist eine Wohltat, die man sich selbst, die man der Menschheit erweist; ihn vergrössern, ein Verbrechen. Ich kann nicht leben mit dem Bewusstsein, Dein Herz bluten zu sehen, — komm zurück, geliebte Emmy. Denke an Deinen alten Vater und den Schmerz Deines Bruders. Wer es wagen sollte, auch nur einen Stein auf Dich zu werfen, den überlasse mir und jener Hand der Vergeltung, die jeden seinem Schicksal zuführt. Konntest Du wirklich Deinem Bruder das zutrauen: von Deinem Gelde zu leben, ohne Dich zu sehen, Deine Stimme zu hören? Komm, Emmy!“

Noch spät am Abend trug er den Brief zur Post. Am andern Tage versäumte er zum ersten Male die Vorlesung. Es liess ihn keine Ruhe; er musste sie selbst sprechen. Er stellte sich gegenüber der Post auf und wollte warten, bis sie käme, den Brief zu holen. Vergebens wartete er den ganzen Vormittag; sie kam nicht. Er ging zum Schalter und frug, ob noch ein Brief an Emmy S. da wäre. „Nein“, lautete die Antwort. Sie hatte ihn also durch eine fremde Person abholen lassen. O, Weiberlist!

Niedergeschlagen ging er nach Hause, doch nur, um die Wahrheit des alten Sprichworts, dass ein Unglück nie allein komme, in ihrer ganzen Grösse kennen zu lernen. Ein Brief sagte ihm, dass sein Vater plötzlich gestorben sei. Ein unnennbares Weh beschlich ihn. Er setzte sich hin und weinte. Er war noch kein praktischer Arzt, der mit der Zeit durch die Leiden seiner Patienten seine eigenen vergisst, — er konnte noch weinen. Er rief laut den Namen Emmy, er ging in ihr Zimmer und besah all die Kleinigkeiten, die sie stehen gelassen hatte. „Wenn sie vom Tode ihres Vaters wüsste, sie würde gewiss kommen, so hart könnte sie nicht sein! Weshalb musste ich auch schon so schnell schreiben!“ Dann wurde er wieder ruhiger; er wollte abwarten, vielleicht kam sie doch. Es wurde aber Abend, sie kam nicht. Plötzlich zeigte sich ihm ein Weg, und er musste selbst lächeln, dass er noch nicht daran gedacht hatte.

Er nahm seinen Hut und ging nach ihrem Geschäft. Vor einem Monat schon hatte sie ihre Entlassung genommen. Dieser Schlag war vernichtend. So hatte sie ihn also schon lange hintergangen! Eine tiefe Bitterkeit zog in sein Herz ein. Er haderte mit sich selbst und wusste nicht warum. Stundenlang irrte er noch in den Strassen umher; dann ging er nach Hause. Am nächsten Tag fuhr er nach der Heimat, um seinem Vater die letzte Ehre zu geben. Der war gestorben, ohne eine Ahnung von der Schande seiner Tochter zu haben; dies war der einzige Trost. Er ordnete den Nachlass und kehrte nach Berlin zurück. Wie, wenn sie ihm auf der Schwelle entgegenträte? Täuschung! Kein Brief, — nichts als die schwüle Luft des Zimmers empfing ihn.

Wochen, Monate, endlich drei lange Jahre waren seit dem Verschwinden Emmys vergangen, — alle Nachforschungen waren vergebens. Die Polizei kannte keine Emmy S. Reinhard erliess Aufrufe in den Zeitungen, bat, flehte, drohte, — kein Lebenszeichen kam. Die Jagd nach ihr war eine fieberhafte. Endlich schien er selbst zu verzweifeln. Und was sollte er denn auch noch tun? Hatte er nicht alles getan, was ein Mensch tun konnte? Heute jährte sich zum vierten Male der Tag, an dem sie gemeinschaftlich diese Wohnung bezogen hatten.

Es war abends gegen 10 Uhr, als Reinhard von der Wohnung eines Bekannten, eines braven Holsteiners, heimkehrte. Es war der einzige Studiengenosse, zu dem er wirkliches Vertrauen besass. Als er die Strassen durchschritt, befand er sich plötzlich vor der hellerleuchteten Türe des Orpheums, eines jener eleganten Ballokale, wo das Laster seine nächtlichen Orgien feiert.

Eine Droschke war vorgefahren. Zwei Frauenzimmer stiegen aus; die eine, mittelgross, brünett, ging voran, die andere, schlank, mit hellblonden Locken, ganz in rosa Seide gekleidet, blieb zurück und bezahlte den Kutscher. Sie hatte ihr Gesicht abgewendet; er ging vorüber.

„Aber so komm doch, Emmy, sonst kapere ich dir den Doktor weg,“ klang es plötzlich von heiserer Stimme an sein Ohr.

Er fühlte, wie zwei Bleiklumpen sich an seine Füsse hingen, — er konnte nicht weiter. Er wollte ausrechnen, wie lange es her sei, seit er den Namen Emmy nicht mehr von fremder Stimme gehört, es gelang ihm nicht, er konnte die Ziffern nicht behalten. Dann drehte er sich um, hörte ein übermütiges Lachen, das ihm bis tief in die Seele drang, und hatte in dem weissen Licht der Laternen, das jetzt hell und voll auf die Blondine fiel, seine Schwester erkannt. Er wollte schreien, aber er konnte nicht; es war ihm trocken in der Kehle.

Er fühlte, wie seine Pulse zu jagen begannen und wie das Herz ihm gegen die Brustwand schlug. Einige Sekunden lang hörte er noch jenes eigentümliche Geräusch, das das Knistern und Rauschen der Seide hervorbringt, dann klappte die Glastür zu, und Emmy war verschwunden.

„Wird bald seidene Kleider tragen!“ Er lachte wild auf, so dass die Vorübergehenden ihn gross ansahen. Wieso kam es, dass er jetzt gerade an den dachte, der damals auf dem Bahnhof diese Worte gesagt? Und woher kam es, dass plötzlich der Gedanke bei ihm Raum fand, dieser Doktor, den die Kleine „wegkapern“ wollte, sei kein anderer als Fritz Brand? Er wusste es selbst nicht. Nie ist der Mensch dem Misstrauen zugänglicher als in dem Augenblick, wo seine Vernunft betrogen wird. Er musste Gewissheit haben. Und wehe, zehnmal wehe, wenn er es war, der sein Glück zertrümmert hatte! Bei den Haaren wollte er ihn aus dem Ameisenhaufen der Menschheit zerren und Rechenschaft fordern. Auge um Auge, Zahn um Zahn, und wenn nötig, — dann auch Blut um Blut.

Er suchte in seinen Taschen, er hatte nur wenige Groschen bei sich; sie reichten nicht zum Entree. Aber er musste dort hinein in jenen Saal, den er noch nie betreten hatte, und koste es, was es wolle. Er fühlte nach seiner Uhr, er wollte sie an der Kasse versetzen bis zum andern Tage, aber die Scham hielt ihn davon ab. Da gedachte er seines Freundes, des Holsteiners, und eilte von dannen. Dieser konnte helfen.

Als er vor dem Hause anlangte, war die Türe schon geschlossen. Er rief den Wächter herbei und tappte im Finstern die Treppen hinauf. Der Holsteiner, eine Hüne von Gestalt, war noch auf. In fieberhafter Hast trug ihm Reinhard sein Anliegen vor.

„Machen Sie mich nicht noch unglücklicher dadurch, dass Sie jetzt Fragen stellen. Sie werden dasselbe erfahren, was auch die Welt erfahren wird. Aber wollen Sie mir einen Gefallen tun, dann begleiten Sie mich.“ Der Holsteiner sagte kein Wort; er drückte seinem Freunde die Hand, drückte sie ihm so herzlich, dass Reinhard ihn verstehen konnte. Dann machte er schnell Toilette, und die beiden Freunde schritten stumm und schnellen Schrittes jenem Paradiese zu, wo die Halbwelt die Schlange ist und die Gemeinheit die Frucht am Baume der Erkenntnis. Hier leuchtet die Sonne nur in der Nacht.

Blendende Nacken und weisse Arme, gerötete Wangen und blitzende Augen, freche Blicke und trunkene Lippen, schamlose Bewegungen und gemeine Reden, geborgte Kleider und falsches Geschmeide, — das sind die Aushängeschilder am Marktplatz der Hetären.

Berauschende Musik hält die Sinne gefangen und verhindert das Nachdenken; Hunderte von Kerzen ersetzen das Tageslicht und werfen ihren Reflex in den vergoldeten Stuck der Decken und Säulen. Wie ein erweitertes Panorama wirft das Spiegelglas der Wände das bunte Bild zurück. Die Blattpflanzen strömen ihren Duft aus, und hinter ihnen ertönt rohes Gelächter. Die Springbrunnen plätschern in den Grotten, und nebenan in der Nische knallen die Pfropfen und klirren die Gläser, — sie klirren so hart aneinander, dass eins davon zerbricht und der strömende Champagner sich über die elegante Robe aus rosa Seide vergiesst.

„Da trafen sich die Gläser, des Dritten Glas zersprang,“ singt eine lallende Männerstimme und macht einen schwachen Versuch, das Lied weiter zu trällern.

„Emmy, du hast dir ’n Fleck gemacht,“ ertönt eine weibliche heisere Stimme.

„Pah, — Fritz kauft mir ein neues Kleid; was, — kleiner Schäker, süsser Junge?“

„Alles, was du willst,“ lallt die männliche Stimme weiter. „Komm auf meinen Schoss, liebes Kind.“ —

„Das Vergnügen kannst du haben, du weisst doch, wie’s im Liede heisst: ‚Wer nicht liebt Wein, Weib, Gesang, — der spart viel Geld sein Leben lang‘.“

„Da hast du recht, Mädchen, aber deshalb keine Feindschaft. Schenkt ein. Noch ‚keiner starb in der Jugend, der bis zum Alter gezecht‘.“

„Du bist und bleibst doch der einzige vernünftige Mensch auf dieser Welt, Doktor,“ sagte die heisere Brünette. „Prosit, Kinder, es lebe der Leichtsinn und sein Gevatter, der schöne Brand!“

Hinter einer Säule stand Reinhard und hörte jedes Wort. Seine Wissenschaft hatte ihn gelehrt, dass das Herz nichts weiter als ein Muskel sei, der das Blut in Bewegung setzt. Von Sekunde zu Sekunde fühlte er, wie dieser Muskel sich immer mehr anspannte, wie das Blut ihm glühend heiss in die Wangen stieg und den Schweiss aus seinen Poren trieb. Er sah durch die halb geöffnete Portiere in das vom Wein glühende Gesicht seiner Schwester, er sah, wie sie sich auf Brands Schoss setzte und, den Champagnerkelch in der Hand, den Arm um seinen Hals legte: eine Phryne. Er sah, wie Brand den feinen Körper an sich presste und wie sie sich nicht wehrte. Dann wurde die Portiere plötzlich zugezogen.

Das also war seine Schwester! Dasselbe Mädchen, für das er gebetet, gehungert und gedarbt hatte, für das er drei Jahre lang die Strassen durchirrt, nur um noch einmal ihre Stimme zu hören; das so oft ihn süss beim Namen genannt und sich an ihn geschmiegt hatte, wenn er ihr sagte, wie stolz er sei, ihr Beschützer zu sein, — dasselbe Mädchen! „Ewige Gerechtigkeit, du bist ja auch nur ein Weib, das — Launen hat wie alle anderen! Wenn dem nicht so ist, dann lass die Säulen bersten, dass krachend in tausend Stücken das Dach uns begräbt: mich, sie, ihre Schande und ihren Buhler!“ Die Säulen barsten nicht, und das Dach stürzte nicht. Aus dem Tanzsaal schallte die Musik nach wie vor in leisen Rhythmen herein; der Springbrunnen plätscherte wie immer, und im Nebenzimmer fing man jetzt auch an, die Pfropfen schiessen zu lassen.

Die dunkle Gestalt löste sich von der Säule, und im nächsten Augenblick stand Reinhard vor seiner Schwester.

Es gibt keinen Menschen, und wäre er der moralisch und physisch verkommenste, bei dem nicht einmal im Leben der Pendelschlag seines Gewerbes die Schwingungen einstellt und ihm mindestens eine Minute lässt, in der das Bild vergangener Tage vor seiner Seele steht. So auch bei Emmy. Der Pendelschlag ihres Gewerbes, der sich immer gleich blieb, hielt an, und in dieser einen Minute stand alles vor ihrer Seele: Jugend Ehre, Glück und Liebe. Sie sah das kleine Zimmer ihres Bruders, ihn selbst beim matten Lampenschein, wie er die Wissenschaft Schritt für Schritt sich dienstbar machte. Sie selbst sass an seiner Seite mit einer Handarbeit beschäftigt und lauschte seinen Worten, wenn er von seinen Plänen sprach. Dann kam er und warf sein Netz aus. Immer fester zogen sich die Schnüre zu, bis sie gefangen sass, betrogen wurde und das wurde, was sie heute war. Und doch konnte sie nicht von ihm lassen.

Sie wagte nicht aufzublicken, und doch las sie auf Reinhards Stirn all die kummervollen Nächte, die er durchwacht, all das namenlose Elend, das sie über ihn gebracht hatte. Sie presste die Lippen fest aufeinander, als er jetzt krampfhaft ihren Arm umspannte, so krampfhaft, dass sie hätte aufschreien mögen vor Schmerz. Sie fühlte seinen heissen Atem auf ihrem Gesicht und sah im Geiste seine brennenden Augen, als er hervorstiess:

„Wenn du einst in der letzten Minute deines Lebens vor deinem Richter stehst, dann möge noch einmal die Röte der Scham dir ins Gesicht schlagen, und dann denke an mich, dem du den Glauben an eine Menschheit aus der Brust gerissen, Dirne!“

„Reinhard, — bei Gott —“

„Missbrauche das Wort nicht, Elende! ... Dirne, Dirne!“

Fritz Brand begann nüchtern zu werden. Er hatte Reinhard von jeher gehasst und nur Freundschaft geheuchelt seiner Schwester wegen. Jetzt hatte er ihre Reize gehörig durchkostet; sie war ihm eigentlich nie mehr gewesen, als was ihm ein Patient gewesen wäre: ein Objekt. Aber dieses Objekt hatte er sich teuer genug erkauft, erst durch Schwüre, dann durch Heuchelei und Versprechungen, zuletzt durch Geld. Es war also sein Eigentum. Er wollte doch sehen, wer ihm, dem einzigen Erben einer halben Million, dieses Objekt streitig machen wollte!

Schwer war seine Zunge immer noch, als er sich nun erhob und begann:

„Sie waren so frech, diese Dame zu beleidigen. Sie werden so gut sein, die Beleidigung auf der Stelle zurückzunehmen, sonst können Sie erwarten, dass ich Sie züchtige, — züchtige mit dem Recht, das jedem zu Gebote steht, der seine Maitresse — — —“