Das Kabarettferkel und andere neue Berliner Geschichten - Max Kretzer - E-Book

Das Kabarettferkel und andere neue Berliner Geschichten E-Book

Max Kretzer

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Beschreibung

In einem Café im Westen Berlins möchte ein Mann in Ruhe bei einem kleinen Schwarzen seinen Abend ausklingen lassen. Auf einmal wird er in eine schon ziemlich illuminierte Gesellschaft im Hinterzimmer hineingezogen. Es sind die Stammgäste und Mitwirkende der "Fledermaus", die sogenannten Kabarettleute. Die Gattin eines Malers, die in jeder Gesellschaft zu finden ist – Frau Überall – ist da, ein junger "Künstler", der noch zwischen Pinsel und Feder schwankt, das späte Mädchen mit dem Seelenschrei nach einem Kind, der junge Kritiker mit dem einzigen von ihm jemals erschienen Feuilleton unter dem Arm. Erst nach viel Alkohol, diskreten Flirts unter dem Tisch und einer falschen Diskussion über die Liebe und ihre Folgen findet der junge Mann, angeekelt von den Kabarettferkeln, auf der Straße einen feinen, besonderen Menschen: eine bettelnde Dirne. In zehn leichten Erzählungen schildert Kretzer mit psychologischer Finesse besondere Begegnungen, die dem Leben der Menschen eine kleine, aber entscheidende Richtungsänderung verpassen.-

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Seitenzahl: 140

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Max Kretzer

Das Kabarettferkel und andere neue Berliner Geschichten

Saga

Das Kabarettferkel und andere neue Berliner Geschichten

© 1907 Max Kretzer

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711502839

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Das Kabarettferkel.

Neulich, auf dem Nachhausewege aus einer Gesellschaft, in der es ziemlich eintönig hergegangen war, trieb mich das schlechte Wetter in ein Café im Westen, wo ich bei einer Schwarzen und meiner geliebten Cigarre allerlei Betrachtungen anstellte über vergessene Regenschirme, Missachtung von Gummischuhen und über die Notwendigkeit der raschen Erfindung eines elektrischen Heilverfahrens gegen den Schnupfen, vor allem aber über die Torheit der Menschen, die sich bei jeder Gelegenheit für kalte Prunkräume in den Frack werfen, statt sich im eigenen behaglichen Wigwam in wollene Decken zu wickeln. Ich kam aber nicht weit damit, denn die Beweglichkeit des alten, dürren Zahlkellners, der fortwährend seine Stelzenparade vor mir abhielt, und dessen vertrocknetes Gesicht ich entschieden vor Jahren schon im Osten gesehen haben musste, brachte mich auf andre Gedanken. Unter seinen Befehlen sprang der Pikkolo wie ein auftragender Windhund unaufhörlich vom Büfett nach der kleinen Tür des Hinterzimmers und dann nach einer Pause wieder zurück. Und jedesmal empfing er neue Belehrungen von dem ausgepichten Schani: „Mach, geh schon, ’s Rührei ist für den Herrn Doktor, d’ weisst schon — den mit der Glatz’ ... ’n Aufschnitt kriegt d’ Dame im blauen Kleid, die, was d’ rote Blum’ im Haar hat ... d’ Manoli für den Schwarzen, d’ weisst schon, der alles bezahlt ... Der Sekt kommt bald. Nacha bist d’ gleich wieder hier.“ Und während der Kleine mit angestrengtem Gehirn davoneilte, fegte der Grosse mit seinem schlappen Wischtuch über den kleinen Marmortisch drüben, an dem ein andrer einsamer Gast sass, und gebrauchte dabei die Entschuldigung: „Der Punsch kommt sofort, ich hab’ heut’ a bissel d’ Händ’ voll, die Kabarettleit’ sind drin.“

Der grosse Kindskopf des Pikkolo wurde wieder sichtbar, und durch die Türspalte drang wüster Lärm heraus. Gleich darauf erschien hinter ihm ein Jüngling, der viel Gemeinsames mit den Figürchen zeigte, die man aus Korken und Streichhölzern zu machen pflegt. Er hatte unglaublich dünne Beine, vermochte sich in seinem engen Rock kaum zu bewegen und war entschieden in einem Irrtume befangen gewesen, als er sich die eine Manschette als Kragen um den Hals würgte, statt sie ihrer Bestimmung am Handgelenk zuzuführen. So kroch sein Kopf wie aus einer Röhre hervor, sobald er ihn zu einem bedeutsamen Ereignis erheben wollte, was sofort geschah, als seine Glotzäuglein mich streiften. Da er keinen Nicker machen konnte, so klappte er wie ein Zollstock zusammen, den man zur Hälfte knickt. Ich musste dieser violetten Kutscherweste mit blanken Knöpfen, dieser riesigen Kravattensicherheitsnadel, die einer Kramme glich, und diesem Uhrklotz, der aus der Westentasche hing, schon irgendwo begegnet sein; wenigstens behauptete ihr Besitzer es. Sein dramatisches Rrrr, getrübt durch einige unreine Nasenlaute, erweckten rasch meine Erinnerungen an einen jungen Poeten, der mir eines Mittags seinen Besuch gemacht und dabei verstohlen ein Bändchen Gedichte zurückgelassen hatte, deren selbstmörderischer Pessimismus, vereint mit der tiefen Weiberkenntnis eines Neunzehnjährigen, mich so stark ergriff, dass ich seit langer Zeit wieder rückfällig wurde, zwei Cognacs auf einmal trank und das Büchlein später mein „Lachkabinett“ nannte; denn erst nach mehrmaligem Durchlesen kam ich dahinter, dass man diese Reime — frei nach Unteroffizier Dase in Hackländers „Wachtstubenabenteuer“ — von hinten lesen müsse, um auf die humoristische Wirkung zu kommen.

„Wollen der Herr Kollege vielleicht zu uns — ?“

Erschreckt blickte ich mich um, von unseliger Ahnung erfüllt, der Pikkolo könnte sich ebenfalls gleich nach seiner Einsegnung in das Lager der deutschen Federhelden begeben haben; aber ebenso schnell kam ich zu der Erkenntnis, dass ich persönlich auf diese besondere Auszeichnung Anspruch erheben dürfe, die mir zum erstenmal in meinem Leben zu einem Titel verhalf. Ich war plötzlich „Kollege“ geworden. Na, also! Und ich hasste doch alles Rubriziertwerden nach dem berühmten Schema F.

Dankend lehnte ich ab, denn ich glaubte, da drin nichts lernen zu können; aber zwei Reformweibchen, die plötzlich Arm in Arm aus dem kleinen Zimmer in das schon öde Lokal getänzelt kamen, von denen das eine die Dame im blauen Kleide war, „was d’ rote Blum’ im Haar hat,“ machten mich wieder wankend. Die andere war rothaarig und saftig, wie ein runder Pfirsich — meine alte Bekannte, die Gattin eines Malers, der ich die schöne Bezeichnung „Frau Überall“ gegeben hatte, weil sie zu jenen weiblichen Faltern unserer besseren Gesellschaft gehörte, die bis zum frühen Morgen das elektrische Licht zu umschwärmen pflegen.

„Ihr Herr Gemahl auch da?“ fragte ich nach der Begrüssung, wobei sie mir die Blaue, eine verschnörkelte Sezessionslinie mit einem süssen Puppenköpfchen, als ein Fräulein Dingsda, die Tochter einer Professorwitwe, vorstellte, die gern „alles mit mache“.

Sie lächelte vergnügt ihre kernigen Zähne hervor. „Mein Mann? Hoffentlich schläft er schon. Kommen Sie nur, es ist fidel.“

Rasch ging mir der bekannte Seifensieder auf, denn ich entsann mich, gehört zu haben, dass diese beiden Eheleutchen seit einiger Zeit ihre eigenen Wege gingen — er nach rechts und sie nach links — sich dann aber aus Anstandsrücksichten wieder mal gelegentlich dort zusammenfanden, wo es etwas Gutes zu essen und zu trinken gab und wo der Mantel der Liebe so gross war, dass man gleich ein halbes Dutzend ähnlicher Verhältnisse mit ihm hätte zudecken können.

„Denn also rin,“ dachte ich mit Blücher und sass gleich darauf, mit Worten gewappnet, „unter den Kabarettleit“, den Mitwirkenden und Stammgästen der „Fledermaus“, die ihre Abstecher nach hier fröhlich zu begiessen begannen. Lauter bekannte Typen: Der junge „Malöhr“, der noch zwischen Pinsel und Feder schwankt; der Konservatoriumsschüler mit der schmalen Stirn und den langen Haaren; der verkannte Konfektionsjüngling mit dem ewigen Wortspiel auf den Lippen und der blutroten Krawatte unter dem Modekragen; der junge Kritiker, der das einzige Feuilleton seines ganzen Lebens, schon halb zerfetzt, stets bei sich trägt, mit seiner Mitarbeiterschaft an ersten Blättern prahlt und immer an Streichhölzern kaut, sobald er andere essen sieht, bis er dann die Gelegenheit abwartet, dem „Mäcen“ an eine einsame Stelle zu folgen, um dann, nach der Rückkehr etwas Klimperndes in der Tasche, den Pikkolo anzubrüllen, dass er ihn schon eine halbe Stunde auf die Speisenkarte warten lasse; der behäbige Börsenmann, Stadtreisender in abgelegten Anekdoten, der immer spendiert, sobald man lacht; und der wirkliche „Künstlehr“ von der Palette, der es längst aufgegeben hat, seine Bilder unnütz anzubieten, sie bei dem Kabarettwirt als Wandzierde versetzt hat und hinterher für unverkäuflich erklärt. Dann die Überweibchen: das späte Mädchen mit dem ewigen Seelenschrei nach dem Kinde, der aber zwecklos ist, weil die Männer sich ihr gegenüber alle als Platoniker zeigen; die Schüchterne, die bei jedem verfänglichen Wort mit niedergeschlagenen Augen die Frage bereit hat: „Was ist das?“ und klüger als die andern ist; die unverstandene Frau, die in Scheidung liegt, an Nymphomanie leidet, über nichts mehr errötet und trotzdem immer wünscht, dass man sie als Dame behandele; und zum Schluss das „Glühwürmchen“ (so genannt, weil sie stets rote Backen hat) das, erst achtzehn Jahre alt, sich keck auf die Bretter stellt und mit kindlicher Einfalt ein Gedicht „Die Brautnacht“ vorträgt, über das Stallknechte erröten würden, wenn sie von der Kultur schon so beleckt wären, um den Weg zum Kabarett „zur Fledermaus“ zu finden. Trotzdem ist Glühwürmchen immer heiter, lacht einfältig übes alles und wird von den Verehrern als Unschuld gepriesen, die so „veranlagt“ sei, worunter die Eingeweihten ihre schlummernde Perversität wittern. Auch ein paar andere Mitmacherinnen, die Cigarre usw. im Munde, rekelten sich auf dem Sofa herum, so dass die gefüllten Seidenblusen zu platzen schienen.

„Darf ich bitten, ich bin so frei,“ sagte der Schwarze, „der alles bezahlt“, und schob mir ein gefülltes Sektglas hin, denn mittlerweile war Schani mit zwei Pullen aufgetaucht, die er wie Tafelaufsätze auf dem langen Tisch verteilt hatte. Ich dankte, denn ich hatte vorher besseren getrunken, und bestellte mir noch einen Kaffee, was der Spender ganz überhört haben musste, denn nicht lange darauf schob er mir ein zweites Glas mit denselben Worten zu: „Darf ich bitten, freut mich sehr.“ Das erste hatte inzwischen mein junger Poet heruntergegossen, wahrscheinlich in der Meinung, dass das unter „Kollegen“ ganz egal sei. Er hatte auch schon einen kühnen Griff in die Manolischachtel getan und sich ein halbes Dutzend davon in die obere Tasche seiner Kutscherweste gesteckt, wo sie nun wie Rauchpatronen hervorlugten. Seinem Beispiele waren heimlich „Kritiker“ und „Malöhr“ gefolgt, so dass die eine Rekelnde, die von der andern fortwährend mit „Schnutchen“ angeredet wurde, entrüstet ausrief: „Ja, wo sind denn die Manoli, Ihr fresst sie wohl? Pimpelchen, bestell’ doch noch.“

Schani musste an der Tür gehorcht haben, denn wie gerufen war er wieder da, staubte sein Tuch in der Luft aus und nahm den Auftrag von dem Schwarzen entgegen, dessen unzweideutiges Verhältnis zu Schnutchen ich sofort erriet. Als sie gleich darauf äusserte, dass sie noch Appetit habe auf „etwas recht Schleckriges“, hielt er sofort in einer Ecke eifrig Kriegsrat mit Schani. „Schön, schön — bringen Sie die ganzen Pastetchen, wenn nichts andres mehr da ist. Machen Sie sie warm, gut, gut.“

Der Poet, dessen grosse Schallfänger für solche Heimlichkeiten besonders empfänglich waren, raunte mir ehrerbietig zu, dass dieser grosse Gönner ein bekannter Makler in Getreide und ausserdem Stammgast in der „Fledermaus“ sei.

Der Sekt löste die Zungen noch bedenklicher, und bald schwamm die Unterhaltung in jenem lieblichen Strome, wo eine Zweideutigkeit die andre treibt, so dass der Unterschied der Geschlechter fast verwischt wird.

„Lustig, nicht? Hier kann man doch ein Wort reden,“ raunte mir Frau Überall zu und beruhigte dann die Geschnörkelte im blauen Kleide, die fortwährend jammerte, was ihre Mama „dazu“ sagen würde. Es machte aber auf mich den Eindruck, als wäre das eine niedliche Angewohnheit von ihr neuen Gesichtern gegenüber, denn sie flötete es immer auffallend laut zu mir hinüber. „Sei doch nur ruhig, du hast ja den Hausschlüssel,“ beschwichtigte sie der reife Pfirsich, der mir noch niemals so angestochen erschien, als gerade an diesem Abend.

„Ich weiss gar nicht, was ihr wollt,“ übertönte Schnutchens Stimme dann ein erregtes Redegefecht, in dem die andre geschwellte Bluse und die Schüchterne kreischend auf sie losgefahren waren. „Ich mach’ mir gar nichts daraus, was die Welt darüber denkt, ob ich ’n Kind so habe, oder so. Philisterstandpunkt! ... Pimpelchen, mein Glas ist leer, du siehst es doch!“

„Ganz meine Meinung,“ mischte sich die Späte mit dem ewigen Mutterschrei hinein und gellte die andern beiden an: „Blödsinn, überwundener Standpunkt! Ich will mich ausleben, ich habe das natürliche Recht dazu. Wenn die Männer sich alles gestatten dürfen, kann ich’s auch. Ich bin ich und kann über mich verfügen, wie ich will. Und wenn ich mich verschenke mit Leib und Seele, so geht’s keinen was an.“

„Es nimmt sie aber keiner,“ spöttelte der Konservatorist heimlich, der bisher wie stumpfsinnig auf die Tischplatte geblickt hatte.

„Na, ja, eigentlich haben Sie ja nicht unrecht,“ lenkte die Schüchterne ein, „aber so etwas spricht man doch nicht offen aus.“

„Ach, die so tun ... Was?“ rief Schnutchen aus. „Aber so lass doch neuen anfahren!“ schnauzte sie dann den Schwarzen an. „Ich kann doch hier nicht verdursten.“

„Darf ich bitten, freut mich sehr,“ sprach Pimpelchen in grosser Verlegenheit wieder auf mich ein und hielt mir seinen kleinen Brusttaschenkoffer mit den Importierten entgegen.

„Nehmen’s mir die Damen nicht übel, aber wenn man solche Ansichten hört, glaubt man auf der freien Liebesinsel zu sein,“ sagte plötzlich der einzige anwesende Mime, der sich als Kabarettgrösse bisher in einsamer Schweigsamkeit verhalten hatte.

Die Jünglinge brüllten vor Lachen, da sie das für einen Witz hielten, und nahmen einen neuen Anlauf dazu, als die Späte kalt lächelnd einwarf, dass die moderne Frauenbewegung ja mit vollen Segeln dahin wolle.

„Erlauben Sie gefälligst, meine Verehrte,“ wagte ich bescheiden einzuwenden, „welche Frauenbewegung meinen Sie denn? Die nach unten, oder die nach oben? Die in den Morast, oder die aus dem Morast?“ Ein feindlicher Blick aus den grauen Augen traf mich, dessen tödliche Blitze aber glücklich durch ein abermalige Bemerkung des Vortragskünstlers glücklich abgelenkt wurden.

„Fräulein Pfeiffer meint immer die Bewegung nach dem Standesamt. Wenn’s soweit ist, denkt sie milder,“ witzelte er wieder.

„Rudi, ich verbitte mir diese Verdächtigung,“ geiferte sie ihn spitz an. „Sie kennen doch meine Überzeugung. Für mich gibt es nur eine heilige Ehe: die aus freier Willenserklärung geschlossene, ohne staatlichen Zwang.“

„Jemehr ich darüber nachdenke — etwas Grosses liegt darin,“ fiel die Schüchterne ein, die das Sektglas schon hin und her wackeln liess.

„Dann lassen wir doch einmal unsere eheliche Gütergemeinschaft leben,“ sagte der verflixte Rudi wieder, der, obwohl er als Widersacher dieser äussersten Emanzipationsgelüste auftrat, fortwährend von der holden Weiblichkeit angeschmachtet wurde, am meisten aber von Schnutchen, mit der er, wie ich zu bemerken glaubte, trotz des Gönners unter dem Tisch telegraphierte, was ihn aber nicht abhielt, über dem Tisch den Schwarzen mit ausgesuchter Höflichkeit zu behandeln.

„Jetzt muss ich aber wirklich gehen,“ flötete die Sezessionslinie dem reifen Pfirsich zu. „Wenn das Mama wüsste!“

„So bleib’ doch nur, stärker kann’s ja nicht mehr kommen,“ beruhigte sie Frau Überall, aus deren rosigem Gesicht andauernd nur Vergnügen sprach. „Ich weiss nicht, was du willst — es ist doch hier sehr gemütlich und anständig obendrein.“

Sie blieb auch, denn Schani und der Pikkolo kamen zu gleicher Zeit herein gestürmt, der vertrocknete Wiener mit neuen Pullen, und der Kindskopf mit einem grossen Tablett frisch gewärmter Fleischpasteten, die von drei Paar Jünglingsaugen zuerst durch bohrt wurden, bevor sie auf die Tellerchen gelangten.

Der Verfasser des berühmten einen Feuilletons schluckte vor Wonne, der Konservatorist verlor seinen Stumpfsinn, der Dichter-Malöhr nahm sich sofort drei davon, und auch der wirkliche Künstlehr, der sich zuletzt nur noch allein etwas vorgesungen hatte, griff mit seinen langen Tatzen schnurstracks auf das Tablett und behandelte die Delikatessen wie Butterbrote.

„Pimpelchen, wir wollen auch etwas haben,“ muckte die Vollbusige gehörig auf und zog das Tablett zu sich herüber, so dass zwei Sektgläser umfielen. „Solche Wölfe!“

„Darf ich bitten, freut mich sehr,“ sagte der Gönner wieder zu mir, sah dann aber zu spät ein, dass er nichts mehr an mich zu verteilen hatte. Dafür goss er mir aber gleich zwei Gläser voll Sekt ein, die wie von unsichtbarer Hand gleich nach rechts und links fortgezogen wurden. Ich nahm das nicht übel, vergnügte mich vielmehr über den Anblick der schmatzenden Überweibchen und Übermännchen, denen nun Gelegenheit gegeben war, vorübergehend den Mund zu halten. Die ganze Tafel schwamm in übergeplanschtem Sekt, aus dem der Geruch von verkohlten Cigaretten, von verkleckerten Speiseresten und dem Fettgeruch der Pasteten aufstieg. Die Damen dufteten nach Maiglöckchen, Flieder und Veilchen, und die Dicken schmorten in der Hitze des kleinen Raumes.

Glühwürmchen hüpfte auf ihrem Stuhl hin und her und summte etwas, was man nicht verstand.

„Nun, wie denkst du denn über die freie Liebe?“ fragte sie der hübsche Rudi, der die Vergünstigung zu haben schien, sie alle als seine Herzenskinder anzureden.

„Ich halt’ mir schon die Ohren zu, wenn ich so was höre,“ trillerte sie mit verschämtem Lächeln.

„Na, dann deklamiere uns doch das Storchlied,“ ermunterte sie die Grosse.

„Soll ich?“ und einen kleinen Spitz im Kopf, stellte sie sich wie ein züchtiger Backfisch an die Wand, den Zeigefinger an den Lippen und trug das Lied vom Storch vor, der zu früh geklappert hatte.

„Sollte man es für möglich halten?“ raunte mir der reife Pfirsich zu. „Sie ist ein durchaus anständiges Mädchen und sehr gebildet, die Tochter einer sehr ehrbaren Witwe, bei der der Künstlehr wohnt.“

„Aber das richtige Kabarettferkel,“ erwiderte ich so laut, dass alle es hören konnten, denn mir war die Sache nun allmählich bis zum Halse gestiegen. Als alle aufblickten, die Späte voller Entrüstung ein Bein übers andre schlug und in herausfordernder Erwartung die dünnen Arme über dem inhaltsleeren Reformkleid verschränkte, fuhr ich mutig fort: „Das ist nämlich ein neuer Gattungsbegriff, meine Herrschaften, den ich mir schmeichle, erfunden zu haben. Bekanntlich beschmutzen die vierfüssigen Ferkel sich selbst, natürlich nur körperlich — die holden zweibeinigen mit dem ewigen Brunstschrei in der Brust und der Sehnsucht nach der öffentlichen Begattung, beschmutzen sich durch Worte — Ferkel sind sie beide. Dort sprudelt’s aus dem Mistkober und hier aus dem Schmutz der Phantasie ... Schani, zahlen.“

„Jetzt muss ich aber wirklich nach Hause,“ sagte die Sezessionslinie, fast weinerlich in dem Schweigen, mit dem man mich beehrte. Der schöne Rudi jedoch fasste sich schnell. „Das Kabarettferkel — damit komme ich nächstens, das ist was, das wird zieh’n.“ Und er wandte sich an meinen jungen Kollegen mit der Frage, ob er „so etwas“ dichten könne. „Das ist unerhört,“ hauchte die mit dem Schrei nach dem Kinde und schlug nun zur Abwechselung das linke Bein über das rechte.