Der irrende Richter - Max Kretzer - E-Book

Der irrende Richter E-Book

Max Kretzer

0,0

Beschreibung

Landgerichtsrat Sonter liebt seine häusliche Idylle. Als ewiger Junggeselle kann er sich ohne Familie ganz seinem Amt als Richter widmen. Sein Engagement gilt sowohl dem juristischen Recht als auch der moralischen Gerechtigkeit, die für ihn selbst Lebensmaxime ist. Obwohl: So ganz frei ist er nicht von der Heuchelei der oberflächlichen Gesellschaft. Dass er verheiratet ist, weiß nämlich niemand. Für alle ist die patente, resolute und ziemlich intelligente Käthe nur die etwas brummige Wirtschafterin seines Haushaltes. Die Ehe, die als Konsequenz einer etwas beschwipsten Nacht geschlossen wurde, funktioniert prächtig. Man versteht sich fast ohne Worte, aber: Für Käthe bleibt es beim "Sie", beim "Landgerichtsrat" und bei der gleichen dienstwilligen Distanz wie vorher. Eines Tages bringt ein neuer Fall Unruhe ins Haus. Dabei scheint die Gerichtslage klar zu sein: Frau Goland wurde von ihrem Mann angegriffen und hat die Scheidung eingereicht. Doch die Affäre Goland stellt das Leben des scheinbar abgeklärten Richters komplett auf den Kopf.-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 354

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Max Kretzer

Der irrende Richter

Roman

Saga

Der irrende Richter

© 1914 Max Kretzer

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711502914

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

I.

Als der Landgerichtsrat Sonter die Durchsicht des Aktenstückes in Sachen Goland kontra Goland beendet hatte, erhob er sich von seinem bequemen Rohrsessel und ging durch das nebenan liegende Speisezimmer hinaus auf den Balkon, um die Blumen zu betrachten, die, wohlgeordnet, in fast gleichmässig hohen Töpfen die steinerne Brüstung dermassen schön zierten, als hätte die sorgende Hand eines Gärtners mit Verständnis gewaltet.

Es war im Juni, und die Vormittagssonne brannte schon heiss, so dass Sonter es unter der herniedergelassenen, blaugestreiften Markise als eine Wohltat empfand, sich, wie gewöhnlich bei seinem Studium, ledig der zu sehr beengenden Kleidungsstücke zu befinden, was ihn (er hatte es auf Umwegen erfahren) bei den Bewohnern des gegenüberliegenden Hauses in den Ruf gebracht hatte, noch immer ein an Bewegungsfreiheit gewöhnter Junggeselle zu sein, der es mit seinem losen Aufzug nicht so genau nehme. In dieser stillen Strasse des bereits auf Charlottenburger Gebiet liegenden Westens, wo schon ein vorübersausendes Auto die Menschen aus ihrer Ruhe schreckte, sahen sich die Leute gegenseitig in die Fenster und versuchten, schon aus den täglichen Gewohnheiten der Nachbarn deren Beruf und Lebensweise zu ergründen.

Sonter, der unter dem gelben Alpakajackett die Weste vermissen liess, zeigte sich auch ohne Stehkragen, weil dieser ihn zumeist bei seiner häuslichen Arbeit genierte, was wohl mit dem etwas kurz geratenen Halse zusammenhing, auf dem der massive, prachtvolle Napoleonkopf etwas schief sass, so dass dadurch der Eindruck einer leichten Verwachsung hervorgerufen wurde. Es war aber lediglich eine Angewohnheit des Landgerichtsrats, das Herrscherhaupt etwas seitwärts zu neigen, weil er auf dem rechten Ohre besser hörte als auf dem linken.

Sonter schritt bedächtig von einem Blumentopf zum andern, die ganze Brüstung des viereckigen Balkons entlang, der nur so gross war, dass vier Menschen, sitzend, ihn hätten ausfüllen können. Sein Gesicht glitt dabei über die Blüten der Rosen und Geranien hinweg, die abwechselnd ihr dunkelrotes und rosa Farbenspiel zeigten, und entschieden mussten ihn die Leute für einen zärtlichen Blumenfreund halten, der seine Liebe zur Flora auf diese Art äussern wolle. In Wahrheit waren seine Gedanken nur bei den Ehescheidungsakten Goland kontra Goland, die ihn ganz besonders interessierten. Wenn den Landgerichtsrat Sonter eine Rechtsfrage stark beschäftigte, dann ging er an diesen heissen Tagen stets auf den Balkon hinaus und roch an den Blumen, oder erfreute doch sein Auge daran, was er aber rein mechanisch, wie ein Gewohnheitsmensch tat, dem irgendwelche Ablenkung zum Bedürfnis geworden ist.

In diesen Betrachtungen (es waren in der Tat mehrere) wurde Sonter durch das Erscheinen seiner Frau gestört.

„Wünschen der Herr Landgerichtsrat hier draussen zu frühstücken? Es ist nämlich gerade so weit!“

Sonter behandelte diese Frage nur als die Aufmerksamkeit einer Dienerin, der man nur alltägliche Beachtung zu schenken brauche. Er erhob kaum den Kopf, machte auch keine höfliche Körperwendung, als er erwiderte: „Nein, Käthe, ich danke. Decken Sie nur ruhig drin ... Was haben Sie denn heute?“

„Es war noch etwas kaltes Huhn da. Dazu habe ich frischen Spargel gekocht. Auch sonst ist noch allerlei kalter Aufschnitt da. Der Spargel darf aber nicht kalt werden!“

„Schön, schön, Käthe. Ich werde gleich kommen, trotzdem ich heute keinen grossen Appetit habe.“

Er hatte nun das Napoleonhaupt erhoben und blickte auf die Strasse, deren blanker Asphalt in fast weissem Sonnenglanze lag, denn die Häuser gegenüber waren allmählich dem breiten Schattenrisse entrückt. Drüben wurde eine Autodroschke mit Gepäck beladen, und das zog sein Auge an, während die Gedanken fortwährend bei der Sache Goland kontra Goland weilten. Es war da ein ganz bestimmter Paragraph des Bürgerlichen Gesetzbuches heranzuziehen, der ihn andauernd beschäftigte.

„Der Herr Landgerichtsrat haben jedenfalls gestern abend wieder zu gut gegessen, und dann schmeckt das Frühstück niemals, das weiss ich schon“, fuhr Frau Sonter ruhig fort, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Sie stand noch immer hinter der Schwelle, im Schatten des Zimmers, aus dem ihr frisches Gesicht, noch rot von der Hitze des Kochherdes, über der hellen Hausbluse hervorleuchtete und einen auffallenden Gegensatz zu der etwas fahlen Farbe ihres Mannes bildete, die nicht gerade gehoben wurde durch das schreiende Gelb des vor ihm stehenden Goldlacks.

„Da mögen Sie schon recht haben, Käthe“, erwiderte Sonter in derselben freundlichen Weise, wobei er sich wunderte, wie viele Koffer man da drüben herbeischleppte, die seiner Meinung nach gar nicht auf dem Verdeck des Autos Platz hätten.

Die fünfte Zivilkammer des Landgerichts, die sogenannte Ehescheidungskammer, hatte nur Dienstag und Freitag Sitzung, und da heute Mittwoch war, so hatte Sonter gestern abend etwas spät am Stammtisch der alten Weinstube in der Potsdamer Strasse gesessen. An solchen Abenden pflegte er seinem Magen, über den er sich durchaus nicht beklagen konnte, etwas Besonderes anzutun, was aus dem Geleise der häuslichen Küche glitt. Ja, er schwelgte dann sogar ein wenig in den Speisekartengenüssen, so mit dem Behagen eines Ehemannes, der stets ohne seine Frau ausgeht und dann nicht zu befürchten braucht, bei seinen Wünschen irgendwelchen Einwendungen zu begegnen, oder gar für zwei zu bezahlen.

So hatte er sein Leben als Junggeselle geführt, und so führte er dieses Leben auch weiter, nachdem er in die Ehe hineingeplumpst war, so wie der Wanderer, der ahnungslos in der Dämmerstunde über die blühende Heide streicht, plötzlich in einen verlorenen Tümpel gerät, aus dem man schwerer herauskommt, als hinein.

„Wer mag denn da drüben schon verreisen?“ fragte er so nebenbei, während seine Gedanken nun wieder völlig bei Goland kontra Goland waren, indem er ernstlich erwog, ob neben dem Paragraphen 1568 nicht auch der Paragraph 1566 als entscheidend heranzuziehen sei; natürlich zugunsten der Frau, die in diesem Falle ohne Zweifel die Märtyrerin war, die nicht nur aus ihrem Joche befreit werden wollte, sondern auch musste. Das stand für ihn als Referent in dieser Sache durchaus fest, wenn auch der Vorsitzende der Kammer seine Meinung bisher nicht teilte, vielmehr immer wieder vorschlug, den neuen Beweisanträgen des Ehemannes, dass die Behauptungen seiner lieben Gattin nur ihrer hysterischen Veranlagung entsprängen, stattzugeben. Aber dieser liebe Kollege Dienstel war ein Nörgler, ein ausgesprochener Weiberfeind, der sich schon aus diesem Grunde immer mehr auf seiten der Männer stellte und sich erst überzeugen liess, wenn der Buchstabe des Gesetzes es verlangte.

Frau Sonter trat nun auf den Balkon und blickte ebenfalls auf die Strasse, wobei sie es vermied, sich an die Seite ihres Mannes zu stellen, damit die Nachbarschaft drüben nicht etwa ihre Schlüsse auf eine Intimität zwischen beiden zöge; denn solange sie hier wohnten, sah man den Landgerichtsrat stets allein auf dem Balkon sitzen und sie nur als Dienerin um ihn, die kam und ging, sobald er ihrer bedurfte.

„Ach, da verreist ja schon der Baumeister, das sind die beiden Töchter seiner Ersten, die jetzt einsteigen“, sagte sie dann und stützte sich mit den verschränkten Armen auf die innere Eisenstange der Balkonbrüstung, weil es sie nun selbst interessierte, zu beobachten, wer alles die Reise mitmache. Dabei dachte sie: Er ist ja heute sehr gemütlich. Sonst gingen ihn doch die Menschen nichts an.

Diesmal machte Sonter eine Ausnahme, was wohl mit seiner guten Laune zusammenhing; denn im Augenblick war er zu der Erkenntnis gekommen, dass der Paragraph 1566 unstreitig als ausschlaggebend angewandt werden müsse, trotz der verwickelten Rechtsfrage. Der Ehemann Goland hatte seiner Frau nach dem Leben getrachtet, indem er sie mit dem Revolver bedrohte, und deshalb brauchten seine sonstigen ehelichen Entgleisungen nicht mehr unter Beweis gestellt zu werden. Die Ehe konnte geschieden werden. Diese Sache brauchte ihm also kein Kopfzerbrechen mehr zu machen.

„Sagen Sie mal, — Sie sind wohl schon über die ganze Nachbarschaft informiert, wie?“ fragte Sonter und liess nun seinen scharfen Napoleonblick wohlgefällig auf ihrer vollen Gestalt ruhen, besonders auf der schönen Rundung der Oberarme und des Nackens, die sich unter der dünnen, fast durchsichtigen Sommerbluse in ihrer ganzen kraftvollen Straffheit zeigten, fast reizvoll in diesem verhüllten Zustande.

Nun, da er über die Rechtsfrage mit sich einig war, opferte er die Ehemärtyrerin bis auf weiteres zugunsten dieses Stück blühenden Lebens da vor sich, das ihm gesellschaftlich so entfernt war wie der Mond von der Erde, seine gesunde Sinnlichkeit aber beizeiten so sehr beschäftigte, dass er ganz vergass, sein Dienstmädchen geheiratet zu haben und somit einfach Mann ohne Schmuck und Würde wurde.

„Das wird einem alles so zugetragen, Herr Landgerichtsrat“, erwiderte Käthe mit Absicht laut, weil auf dem Balkon des benachbarten Hauses, der kaum zwei Meter entfernt lag, gerade die dicke, jüdische Dame erschien, die dort regelmässig vormittags ihr Gemüse zurechtputzte und nur zu gern die Ohren spitzte, sobald es etwas zu erlauschen gab. Denn wenn rechts und links gesprochen wurde, so konnte man fast jedes Wort vernehmen. „Die Mädels klatschen zusammen und dann wissen sie bald, wer hier und dort wohnt. Na, und was dann noch fehlt, das reimt sich die Herrschaft selbst zusammen.“

Das sagte sie weniger laut, weil ihr der Zweck nun erreicht zu sein schien, denn immer war sie darauf bedacht, den äusseren Abstand zwischen sich und „ihrem“ Landgerichtsrat zu wahren.

„So, so“, sagte Sonter kurz und ging nun in das Speisezimmer, weil Käthe ihn abermals gebeten hatte, den Spargel nicht „ganz kalt“ werden zu lassen. Die beweglichen Kirschaugen der fetten Nachbarin genierten ihn auch ein wenig, denn wenn es in ihnen aufblitzte, schien die Funkensprache immer zu melden: Verstellt euch doch nicht so, ich weiss schon genügend Bescheid.

„Wünschen der Herr Landgerichtsrat vielleicht etwas zu trinken? Ein Glas Rotwein?“ fragte Käthe, als Sonter, durchaus noch in derselben guten Laune, am Tische Platz genommen hatte.

Obwohl sie von robuster, ländlicher Art war, hatte sie viel Beweglichkeit in ihren Gliedern, weil das gesunde Blut sie stets zur Arbeit drängte. Schon war sie an dem Büfett, öffnete die geschnitzte Türe und langte in das oberste Fach hinein, um ein Glas herauszuholen. Dabei musste sie sich auf die Fussspitzen stellen, und so reckte sie ihre Gestalt, die nun beinahe etwas Schlankes bekam, wodurch Sonters Auge noch mehr erfreut wurde, natürlich nur „vorübergehend“, wie er sich bei derartigen Aufwallungen zu entschuldigen pflegte.

„Nein, nein, ich danke, — lass nur“, hielt er sie von ihrem Tun ab. „Du weisst doch, dass ich am Tage nie etwas trinke.“

Rasch hatte er, wie immer, wenn sie unter sich waren, das Du gefunden, aber es war mehr das Du des freundlichen Brotherrn, als das vertrauliche des Geliebten.

„Das schon, aber ich glaubte, der Herr Landgerichtsrat würden vielleicht heute ...“

„Weshalb gerade heute, Käthe? Komm, setz’ dich zu mir. Ich habe mit dir zu reden.“

Ganz verblüfft blickte sie ihn an, so mit dem Ausdruck eines grossen Kindes, das noch nicht weiss, ob es Strafe oder Belohnung zu erwarten hat. Denn das war auch der Grundzug dieser emporgezogenen Frau, dass ihrem Wesen immer etwas Kindliches anhaftete, ob sie es nun verleugnen wollte, oder nicht.

Während sie rot wurde, hob ihr rascher Atem die Brust, und als Sonter sie so fast aufgeregt dastehen sah in ihrer ganzen häuslichen Sauberkeit, auf die sie so grosses Gewicht legte, mit dem etwas kokett frisierten, fast rötlich-blonden Haar, sah er wieder jenen schwülen Sommerabend vor sich, wo es um ihn geschehen war. Ein paar Sekunden schloss er die Augen, er wusste kaum weshalb: geschah es, um die Erinnerung zu bannen, oder aus Furcht vor sich selbst. Dann erhob er den klugen Blick und wiederholte: „Komm’, Käthe, komm’, setz’ dich.“

Es kam selten vor, dass Sonter sich zu einer derartigen Einladung verstieg, denn zu sehr klaffte, seiner Ansicht nach, der Bildungsunterschied zwischen ihnen, und ausserdem liebte er die Schweigsamkeit auch beim Essen, wenigstens im Hause. Und da Käthe das wusste, hielt sie sich in respektvoller Entfernung von ihm.

„Ich möchte nur erst einmal sehen, ob Frau Klenke —“

Sonter verstand sie und liess sie hinausgehen. Seitdem er hier wohnte, hielt er sich für die gewöhnlichen Hausarbeiten nur eine Aufwartefrau, denn Käthe, gewöhnt an Arbeiten von früh bis spät, fasste kräftig mit an und tat das übrige, was eine Fünfzimmerwohnung verlangte.

„Herr Landgerichtsrat möchten jetzt nicht gestört sein“, sagte sie hinten in der Küche zu der biederen Frau Klenke, die gerade dabei war, eine Zinkwanne mit einem Strohwisch auszuscheuern. „Sollte also was vorkommen, hat’s keine Eile, hören Sie? Ich habe da auf dem Balkon etwas zu tun, bin aber bald wieder hier.“

„’s jut, Fräulein, ich werde mir danach richten“, erwiderte die dürre Frau Klenke, krallte die linke, knochige Hand wieder um den Rand der Wanne und scheuerte mit der rechten weiter, bereits gewöhnt an derartige Wünsche. Als sie sich hier eines Tages meldete und von dem jungen, derben Weibe in der Küche empfangen wurde, gebrauchte sie sofort die Anrede „Fräulein“, denn unter einer Frau Landgerichtsrat hatte sie sich etwas anderes vorgestellt. Käthe hatte dazu gelacht, ohne aber irgendwelche Einwendung zu machen. Und als dann Frau Klenke immer hörte, wie das Fräulein von ihrem Gebieter nur in der dritten Person sprach, glaubte sie eine Wirtschafterin vor sich zu haben. Dabei war es geblieben. Mochte man auch so manches andere tuscheln, — ihr konnte das gleichgültig sein, wenn sie nur gut bezahlt bekam.

Sonter hatte inzwischen mit Appetit zu essen begonnen. Er war bei Stimmung, das merkte er an seinem körperlichen Wohlbehagen. Der Wein war ihm gestern gut bekommen, und die Nacht hatte er traumlos durchgeschlafen. Er sah ein, dass er sich zusammennehmen müsse, denn als Käthe nun zurückgekehrt war und ihm gegenüber sass, sah sie ihn ganz herausfordernd und verliebt an.

„Hör’ mal, ich habe da eine Haarnadel von dir gefunden, sie liegt drin auf dem kleinen Tisch“, begann er dann, während er ruhig weiter kaute. „Das wäre ja nichts Besonderes, nein, denn weshalb sollte man nicht mal ’ne Haarnadel verlieren.“

„Eine Haarnadel?“ erwiderte Käthe verlegen. „Die werde ich dann wohl beim Aufräumen verloren haben.“

„Ob es aber durchaus notwendig war, dja, sie bei meinen Akten als Lesezeichen zu verlieren, das möchte ich bezweifeln“, fuhr Sonter unbeirrt fort und richtete nun den Herrscherblick mit Bedeutung auf sie. „Denn du weisst doch, dass ich dir streng verboten habe, an meine Akten zu gehen, selbst wenn sie einmal offen daliegen sollten.“

Er sprach es nicht in bösem Tone, aber innerlich ärgerte er sich doch, dass diese Neugierde gerade an der Sache Goland kontra Goland befriedigt worden war, weil darin Dinge erörtert wurden, die nicht an die Öffentlichkeit gehörten. Vor allem war es ihm unangenehm, eine Mitwisserin im Hause zu haben, obendrein in einem Falle, der ihn tiefer berührte, als man es von einem Richter erwarten durfte.

Käthe sah ein, dass Leugnen nichts helfen würde. „Ich weiss gar nicht, wie ich dazu gekommen bin“, sagte sie kleinlaut. „Die Akten lagen auf dem Tisch, und da habe ich die obersten aufgeschlagen. Und dann habe ich mich gleich so vertieft, dass ich alles andere um mich her vergass. Nehmen’s der Herr Landgerichtsrat nur nicht übel, ich werde es gewiss nicht wieder tun. Muss ich auch gerade die dumme Haarnadel drin liegen lassen! Weiter bin ich nämlich nicht gekommen.“

„Ist das wahr?“

„Wahrhaftig, so gesund ich hier sitze. Ich klappte die Akten zu, weil ich später noch weiter lesen wollte. Dann aber wurde ich müde und ging zu Bett.“

Sonter glaubte ihr und fühlte sich nun beruhigt, dass sie die undelikaten Dinge nicht gelesen hatte. Das war jedenfalls zum Nutzen ihrer und der anderen, die, er fühlte es in diesem Augenblicke mehr denn je, noch ein Stück seines ferneren Lebens ausmachen würde. Und so warf er gutmütig ein: „Na, einmal ist ja keinmal, Käthe. Ich wünsche jedoch, dass sich das niemals mehr wiederhole.“

„Ich hatte auch gerade genug davon, das können der Herr Landgerichtsrat glauben“, sagte Käthe, nun wieder ermuntert durch seine Verzeihung. „Das ist ja ein netter Ehegemahl, dieser Herr Goland! Nimmt erst seiner Frau das Geld ab, und dann schlägt er sie obendrein noch und will sie totschiessen. Ein feiner Mann ...“

„Nicht wahr?“ ging Sonter lebhaft darauf ein, weil dieses Urteil sich völlig mit seinem Empfinden deckte, und nicht nur mit dem richterlichen. „Unterschreibe ich vollständig, Käthe. Man braucht ja auch nicht besonders gelehrt sein, um zu einer solchen Ansicht zu kommen.“

„Dumm genug von der Frau, dass sie sich das alles gefallen liess“, eiferte Käthe weiter. „Ich jedenfalls hätte mich gewehrt, und wenn ich das erste beste Ding genommen hätte. Die Augen hätte ich dem Kerl ausgekratzt.“

Sonter lachte auf. „Ei, ei, was muss ich hören, ich bekomme ja ordentlich Angst vor dir. Übrigens ist Kerl der richtige Ausdruck.“

Genugtuung sprach aus seinen Zügen, denn während des ganzen Prozesses hatte sich in ihm der Widerwille gegen Goland in dem Masse gesteigert, in dem er die bedauernswerte Klägerin zu verehren begann.

„Herr Landgerichtsrat würden sich doch auch niemals so vergessen können. Und nun gerade vor mir Angst haben, — ach, du lieber Himmel!“ Nun lachte sie. „Erstens bin ich viel zu wenig, und zweitens krieche ich jetzt schon in ein Mauseloch, wenn ich manchmal sehe, dass Herr Sonter ärgerlich sind.“

„Ich hielt dich immer für ungemein demütig, sozusagen für eine Dulderin“, sagte er, um bei dieser Gelegenheit ihre Natur einmal vollständig zu erschöpfen, und nun muss ich zu meiner Überraschung hören, dass du aufsässig sein könntest. Mir ganz etwas Neues.“

„Na, das käme doch auf die Verhältnisse an. Ich meinte ja nur, wenn ich an Stelle dieser Frau Goland gewesen wäre.“

Die etwas wegwerfende Betonung des Namens ärgerte nun Sonter, so dass er plötzlich einen anderen Ton anschlug. „Das verstehst du nun ganz und gar nicht, weil du die Auffassungen dieser Kreise nicht kennst.“

„Entschuldigen Herr Landgerichtsrat nur, aber was sind das für Auffassungen, wenn ein Mann seine Frau mit der Reitpeitsche schlägt?“

Sonter sah ein, dass er sich in seiner Belehrnug vergriffen hatte. „Ich meinte das ja auch nur in bezug auf die Dame, — auf die Dame, verstehst du? Eine Dame der Gesellschaft kann eben nicht zu jedem ersten besten Ding greifen, wie deine einfältige Vorstellung es dir ausmalt. Dja. Sie erträgt die Schmach einmal, vielleicht auch zweimal, vielleicht noch öfters, wenn sie Rücksicht auf ihren Ruf zu nehmen hat, oder wenn noch andere Verhältnisse vorliegen sollten, die ihre Scheu vor einem öffentlichen Skandal erklärlich machen. Ist aber schliesslich das Mass voll, dann sucht sie sich ihr Recht auf anständigem Wege und — findet es auch. Dja.“

„Na, dann ist auch an der Dame nicht viel dran, — nehmen’s mir der Herr Landgerichtsrat nur nicht übel. Aber wenn sie sich das so gefallen lässt, dann fordert sie den Mann ja geradezu heraus, es öfters zu tun. Ich wenigstens nähme meine Beine in die Hand und liefe, so weit ich laufen könnte, um mich allein zu ernähren.“

„Das ist deine Meinung“, sagte Sonter nun so abweisend, dass sie erschreckt zurückwich. Am liebsten hätte er sie nun nach dieser Herabsetzung Frau Golands, die er auch persönlich empfand, vom Tische gejagt, aber sofort erinnerte er sich der „Sache“, und so fühlte er sich in der Rolle des wohlmeinenden Richters, der es sich während seines ganzen langjährigen Berufes zur Aufgabe gemacht hatte, Unwissenheit und offener Ehrlichkeit das nötige Verständnis entgegenzubringen.

„Verzeihen der Herr Landgerichtsrat mir nur, wenn ich etwas zu viel gesagt haben sollte, ich kenne die Dame ja gar nicht“, kam ihm danach Käthe eingeschüchtert entgegen. „Ich würde mir wohl sonst eine derartige Beurteilung nicht erlaubt haben. Aber der Herr Landgerichtsrat sagen ja immer selbst, dass die Richter ohne Ansehen der Person zu urteilen pflegen, — neulich erst haben der Herr Rat es wieder ausgesprochen, als die Herren hier waren. Und da habe ich mir das gemerkt. Ich merke mir eben alles, was der Herr Landgerichtsrat sagen.“

„Im Ernste?“ lenkte Sonter nun heiter ein. „Das ist hübsch von dir. Dann merke dir also nochmals: steck’ deine Nase nicht in meine Akten, lass vor allem nicht deine Haarnadeln als Andenken zurück.“

„Ich werde es gewiss nicht wieder tun, Herr Landgerichtsrat, und den Mund will ich mir auch nicht wieder verbrennen.“

„Nun könntest du doch den Rotwein und zwei Gläser bringen. Ich denke, wir stossen einmal auf dein Gelöbnis an. Wenn du willst.“

„Wenn der Herr Landgerichtsrat erlauben ...“

Sie hatte sich erhoben und holte nun wieder vom Büfett die Flasche, aus der sie einschenkte, Sonter ein volles Glas und sich ein halbes. „Der Herr Landgerichtsrat wollten doch auch noch mit mir reden“, sprach sie dabei.

„Ach so“, sagte Sonter, gleichsam ernüchtert. Mit dem Reiz, den sie vorübergehend auf ihn auszuüben begonnen hatte, war es sofort vorbei, denn zu sehr trug sie die Vernunft der Dienerin zur Schau, die alle Illusionen zerstörte.

Er sah sie wie bedauernd an, erhob das volle Glas, ohne jedoch mit ihr anzustossen, nippte daran und stand dann auf, um den übrigen Wein Schluck für Schluck bei dem Studium der Akten zu nehmen. Es war wie eine Flucht vor seiner Frau, vor dieser Frau, mit der ihn eigentlich weiter nichts verband als das Zusammenleben unter einem Dache.

„Wann wünschen der Herr Landgerichtsrat zu Mittag zu speisen?“ fragte Käthe betroffen. „Vielleicht um zwei?“

„Es ist mir recht.“

Danach ging er ohne weiteres in sein Arbeitszimmer, denn die Sache Goland kontra Goland verlangte es, dass er sich noch einmal in sie vertiefte. Jetzt erst recht.

Die blonde Käthe blickte ihm ein paar Augenblicke nach, so mit dem Gefühl eines verlassenen Geschöpfes, das soeben von dem Geliebten etwas ganz anderes erwartet hatte. Sie fuhr sich mit der arbeitsharten Hand über die Augen, weil es ihr da feucht emporgedrungen war. Dann trug sie die Flasche mit dem Wein und das Glas, so wie es war, nach dem Büfett, ging wieder zu dem Tische zurück und begann ihn abzuräumen.

Ein leiser Seufzer kam über ihre Lippen. Sie sah ein, dass ihr Reich wohl ewig die Küche sein und bleiben werde.

II.

Die Türe war offen geblieben, und so konnte Sonter deutlich den Seufzer seiner Frau vernehmen, dem er unwillkürlich einen von gleicher Art folgen liess, was beinahe wie eine ungewollte Antwort auf die Zweifelsfrage der enttäuschten Frau klang.

Er setzte sich, nahm wieder das Aktenstück vom Schreibtisch und hielt es, wie es seine Gewohnheit war, fast dicht vor das Gesicht, weil die dunkle Übergardine diese Fensterecke ganz unnötig dem Lichte entrückte. In diesem dämmrigen Winkel spannen sich aber die Gedanken zu gut, und wenn er sich weit in den Sessel zurücklegte, brauchte er nicht zu befürchten, von dem Mummelgreis da drüben, der während des ganzen Tages den Rauch seiner Pfeife gegen die Scheiben blies, als Schaufensterobjekt betrachtet zu werden.

Sonter kam aber heute nicht zur Sammlung, obwohl er sich die grösste Mühe gab, seine Anmerkungen an der richtigen Stelle anzubringen. Rein mechanisch griff er nach dem dickleibigen Band auf dem Aufsatze des Tisches, um sich in die Kommentare gewisser Paragraphen zu vertiefen, aber er las nur die Worte, ohne ihren Begriff zu erfassen. Seine Gedanken waren auf andere Dinge gerichtet. Er hörte, wie Käthe, um ihn nicht zu stören, fast geräuschlos das Geschirr zusammensetzte, und wie sie dann mit ihrem etwas schweren Schritt davonging. Das zwang ihn, das Buch fahren zu lassen und sich wieder zu erheben. Als er sie aber noch einmal hereinbitten wollte, war sie bereits verschwunden.

Um mehr zur Ruhe zu kommen, zündete er sich eine Zigarre an und ging dann, die Hände auf dem Rücken, ein paarmal in dem einfenstrigen Zimmer auf und ab, wie er es manchmal tat, wenn ihn Zweifel über eine Rechtsfrage beschäftigten. Dann trat er wieder an seinen Schreibtisch und nahm einen mit der Morgenpost eingetroffenen Brief, den er vordem in die Schreibunterlage geschoben hatte. Im Stehen las er ihn nochmals, obwohl er seinen Inhalt bereits genau kannte.

Der Brief war von seiner Mutter, der Inhaberin eines flottgehenden Hotels in seiner märkischen Heimatstadt, die ihm in ihrer merkwürdigen, mehr an Krähenfüsse erinnernden Schrift mitteilte, dass sie am nächsten Sonnabend nach Berlin kommen werde, um ein paar Tage dort zu verbringen, und dass er pünktlich auf dem Bahnhofe sein möchte, um sie abzuholen. Natürlich hoffe sie, bei ihm Logis zu finden; er möchte nur so freundlich sein, sich darauf vorzubereiten und alles in Ordnung zu bringen. Als alte Frau würde sie ihm ja nicht viel Mühe machen, besonders weil sie die Zeit geschäftlich ausnützen müsse.

Das war es, worüber er noch mit Käthe hatte reden wollen, denn nun sah er die unangenehme Situation kommen, der er so gerne, vorläufig wenigstens, entgangen wäre. Wahrhaftig, es war keine Kleinigkeit, dieser guten, starrköpfigen Alten, die trotz ihrer siebzig Jahre noch wie ein Gardekürassier dahinmarschierte, und deren ganzer Stolz „ihr Sohn, der Herr Landgerichtsrat“, war, in dürren Worten begreiflich zu machen, weswegen er in diese heimliche Ehe, von der sie nicht die blasseste Ahnung hatte, so über Nacht hineingesprungen war. Gott sei Dank war er bereits Anfang der Vierziger und ein gefestigter Mann mit Grundsätzen und abgeklärter Lebensanschauung, obwohl er für Frau Hotelbesitzer Sonter immer noch mehr von einem „Jungen“ hatte, dem man bei jeder Gelegenheit Verhaltungsmassregeln mit auf den Weg geben müsse.

Das Lesen des Briefes brachte dem Landgerichtsrat erst recht nicht die Ruhe, was um so erklärlicher war, weil er im Augenblicke niemand hatte, mit dem er über diesen stillen Kummer ein vernünftiges Wort hätte austauschen können. Es lag daher nur zu nahe, dass er seinen Spaziergang wieder aufnahm und ihn schliesslich nach dem Speisezimmer verlegte, in dem er nun um den grossen, viereckigen Esstisch aus schwerem Eichenholze herumging, so ganz unsinnig, als wäre es ihm aus Gesundheitsrücksichten empfohlen worden, auf diese Art Fussgymnastik zu treiben.

Es sah wohnlich in diesem Zimmer aus, weil hier allerlei altmodische Familiendinge zusammengetragen waren, die ihm Elternliebe ins Haus geschickt hatte, und die er auch in dieser neuen Behausung aus Pietät überall da angebracht hatte, wo sie nicht gar zu störend und aufdringlich wirkten. Dieses Talent hatte er vom Vater, dem es daheim, schon als Hotelbesitzer, noch Spass machte, mit dem Hammer in der Hand herumzulaufen und überall Nägel einzuschlagen, wo noch irgendein Plätzchen für ein Bild war.

Anton Friedrich Sonter selig hatte eben niemals den kleinen Winkelgastwirt und Bierabzieher, der in seiner Schankstube alles selbst machen musste, ablegen können, und an diesem Brauche hatte er auch noch bis zum Tage seines ganz plötzlich erfolgten Todes festgehalten.

Als der Landgerichtsrat viermal die Runde um den Tisch gemacht hatte, blieb er vor dem Luxusofen hinten in der Ecke stehen und betrachtete ganz aufmerksam die Photographien seiner Eltern, die auf dem mit Stoff überzogenen und mit roten Fransen versehenen Kaminbrette rechts und links von der altertümlichen Bronzeuhr standen, die man ihm damals von Hause zur Vervollständigung seiner Junggesellenausstattung geschickt hatte. Der goldige Junge, der da oben sass und nun schon seit vielen Jahrzehnten immer denselben Schmetterling auf dem Zeigefinger betrachtete, machte ihm stets Spass, nicht bloss des unglaublich dicken Kopfes wegen, sondern auch aus tieferen Gründen; denn sobald er ihn anblickte, befand er sich wieder im Elternhause, sah er die trauliche Wohnstube mit den alten Mahagonimöbeln vor sich und sich selbst als den hoffnungsvollen Stammhalter, der schliesslich andere Wege ging, als der Erzeuger von ihm erwartet hatte. Diese alte Bronzeuhr war sozusagen der Zeitmesser, an dem er gross geworden war, und deshalb liebte und schätzte er sie.

Sonter sah sich zuerst das Bild seines Vaters an, in dessen Gesichtszügen schon der „Napoleon“ zu finden war, aber mehr der gemütliche der Kleinstadt im Schlafrocke, dem die Natur aus Versehen die Erinnerung an den „l’empereur“ mitgegeben hatte. Es war mehr der Komiker in der Maske. Den nötigen Welternst hatte dem Sohn erst die Strenge der Mutter gegeben, was natürlich unabsichtlich geschehen, aber nicht zu leugnen war.

Und als nun Sonter mit seinen Augen zu ihrem Bilde überging, das rechts von der Uhr stand, weil Damen immer diesen bevorzugten Platz an der Seite eines Herrn einnehmen müssen, brachte ihn der ernste Ausdruck ihres Gesichts wieder auf das am Sonnabend bevorstehende Ereignis.

Er hielt es nun für besser, sofort das nachzuholen, was er vorhin in augenblicklicher Aufwallung seines Blutes versäumt hatte.

Schon wollte er auf den weissen Knopf der elektrischen Klingel drücken, als Käthe leise zurückkehrte, das silberne Teeservice in Händen, das, frisch geputzt, nun wieder bis zum Abend den Büfettisch zieren sollte.

„Gerade wollte ich nach dir klingeln“, sagte Sonter, nun gefestigt in seinem Entschlusse.

„Wünschen der Herr Landgerichtsrat etwas? Soll etwas besorgt werden? Vielleicht Briefe? Frau Klenke muss sowieso für mich nach unten.“

„Nein, nein, es ist nichts zu besorgen. Sei doch so gut und komme ins Arbeitszimmer.“

„Einen Augenblick, Herr Landgerichtsrat.“

Etwas umständlich setzte sie das Tablett fort.

Als sie dann zu ihm hineinging, sass er bereits auf seinem Sessel und bat sie, auf dem Stuhle neben dem Schreibtische Platz zu nehmen, was sie auch, nun ersichtlich eingeschüchtert, tat, so in der Weise einer Person, der eine Ehre damit erwiesen wird. Immer befürchtete sie, der Tag könnte kommen, wo ihr Mann zu ihr sagen würde: Die ganze dumme Herrlichkeit hat ein Ende, packe deine Sachen und gehe. Unsere Ehe war weiter nichts als ein kleiner Spass von meiner Seite.

Sonter zeigte aber durchaus kein erzürntes Gesicht. Er rauchte behaglich seine Zigarre, die ihm im Augenblick vortrefflich schmeckte, und blickte sie heiter an, als er begann:

„Zuerst möchte ich dich mal wieder um etwas bitten, Käthe. Lass doch endlich das lange Landgerichtsrat fort, wenn wir unter uns sind, — ich glaube dir das schon einmal auseinandergesetzt zu haben. Denk’ ich.“

„Aber ich muss doch immer den Abstand zwischen mir und dem Herrn Landgerichtsrat wahren.“

Ihre Unterwürfigkeit kühlte ihn ab.

„Ich kann dich ja so ziemlich verstehen, siehst du. Ich glaube dir gern, dass es dir immer noch schwer wird, zu vergessen, was du vordem bei mir warst. Aber wie die Verhältnisse nun einmal liegen ...“

Er sah sie verlangend an und wollte ihr schon durch zärtliche Worte jede Scheu nehmen, als sein Blick noch rechtzeitig auf die Akten Goland kontra Goland fiel, was ihn rasch daran erinnerte, dass er von nun an andere Wege zu nehmen habe. Und so änderte er sofort seinen Ton.

„Na, wenn du es schon nicht lassen kannst ... Vielleicht ist es auch besser so. Dja. Dann bleibe doch einfach bei Herr Rat. Meinetwegen sage nur Herr Sonter. Mich geniert’s nicht, wenn wir allein sind.“

„Ich will es mir merken, Herr Rat.“

„Das freut mich, Käthe. Denn siehst du, — ich will gar kein Hehl daraus machen, — manchmal habe ich so die Empfindung, als wenn sich hinter deiner ewigen Dienerei so etwas wie Mucken versteckt. In solchem Falle weiss ich eben nicht, was ich mit dir anfangen soll.“

Käthe, die, nur auf der Kante des Stuhles sitzend, die Hände in den Schoss gelegt hatte, schüttelte mit dem Kopf und lächelte.

„Dabei denke ich mir nun gar nichts, Herr Landgerichts — — Herr Sonter. Das ist mir nur alles so geläufig geblieben.“

„Ich will es dir glauben. Aber du wirst mir auch glauben, dass ich das auf die Dauer furchtbar langweilig finde. Nun, wie du willst. Deswegen keine Feindschaft zwischen uns. Und nun zur Hauptsache.“

Als Käthe ihn so sprechen hörte und daraus nur die Vorwürfe entnahm, war sie der Meinung, dass sie als seine Frau auch gewisse Ansprüche auf Pflichten erheben dürfe. Auf Rechte hatte sie, ihrer Dienerinnatur folgend, ganz von selbst verzichtet.

„Herr Rat haben mir ja von Anfang an verwehrt, so zu sein, wie es eigentlich zwischen Eheleuten — Ich kann mich im Augenblick nicht so ausdrücken.“

Sonter lachte zu ihrer Verlegenheit.

„Das ist nun wieder ganz schief von dir aufgefasst, Käthe. Du ganz allein hast mir den Weg dazu erschwert, indem du bei deinen alten Gewohnheiten geblieben bist. Der beste Beweis dafür, dass du mich soeben erst wieder indirekt angeredet hast.“

„Ich kann’s mal nicht anders.“

Käthe biss sich auf die Lippe, blickte zu Boden und sass da wie eine Sünderin, die sich selber zürnt.

Sonter betrachtete sie so ein paar Augenblicke, ohne jedoch ihre inneren Empfindungen dabei ergründen zu wollen.

„Denk’ nur, Käthe, wen wir am Sonnabend als Logiergast bekommen“, sagte er plötzlich. „Meine hochverehrte Mama. Und deshalb wollte ich eigentlich mit dir reden.“

„Herrje!“ Käthe fuhr in die Höhe, und sofort war jede Spur von Geknicktheit von ihr gewichen. „So ganz plötzlich kommt die gnädige Frau?“

Sonter nickte heiter. „Und ganz ungerufen dazu. Nun müssen wir einmal beraten, wie wir das machen. Es wird ja nur ein paar Tage sein. Ich denke, ich räume ihr mein Zimmer ein und schlafe einstweilen hier vorn auf dem Sofa, das ist ja zum Ausziehen.“

Er hatte schon die Worte auf den Lippen: Du bist natürlich das „Fräulein“, als er sich noch rechtzeitig besann. Er schämte sich seiner Feigheit, hielt es auch für würdelos, sich von dieser Seite zu zeigen, und so wollte er erst lieber abwarten, was Käthe dazu sagen würde.

Ihr Gesicht hellte sich auf, denn sofort hörte sie heraus, dass Frau Sonter von der heimlichen Ehe noch nichts wisse, also nicht etwa nur erscheine, um den Skandal darüber ins Haus zu tragen. Sie durfte auch nichts erfahren, das stand bei Käthe sofort fest, und so war sie auch schon mit ihrem Plane fertig.

„Nein, das geht nicht, Herr Rat, das dulde ich auf keinen Fall. Das wäre ja noch schöner. Ich könnte ja doch nicht ruhig schlafen. Gnädige Frau bekommt mein Zimmer, und ich schlafe in der Mädchenkammer. Das ist doch sehr einfach, nich? Ich werde gleich morgen alles in Ordnung bringen. Frau Klenke kann heute schon das Gerümpel aus der Kammer schaffen. So wird uns allen geholfen, nich?“

Als sie sich nun eilig erhob, als müsste sie sofort an die Arbeit gehen, sprühte sie beinahe vor Freude, denn sie merkte Sonter wohl an, dass er dagegen nichts einzuwenden habe.

In der Tat erfreute ihn dieser Einfall, wenn er ihm auch wie eine kleine Komödie erschien, wie das Leben sie als Notbehelf tagtäglich schafft. So überhörte er denn Käthes weiteren Vorschlag, dass sie ebenso gern auch auf ein paar Tage das Haus verlassen würde, wenn der Herr Rat vielleicht sonstige Unannehmlichkeiten befürchte. Er überhörte es mit Absicht, weil die Komödie zu rasch in eine Tragikomödie überzugehen drohte, in welchem Falle er sich wiederum scheute, die richtigen Worte dafür zu finden; und überdies: er konnte doch am allerwenigsten ohne Bedienung sein, wenn die Frau Hotelbesitzerin Gast bei ihm war.

„Gut, gut, Käthe, wir reden noch darüber“, schnitt er alle weiteren Erörterungen ab, schon zufrieden, das nötige Verständnis bei ihr gefunden zu haben. Und als müsste er ihr gleichsam im Augenblick eine Belohnung zuteil werden lassen, zog er sie plötzlich an sich, beugte ihren Kopf nach hinten über und küsste sie auf die roten, schwellenden Lippen, die ihn gar zu verführerisch dazu eingeladen hatten. Es war so plötzlich über ihn gekommen, dass er sich gleich darauf selbst darüber wunderte, wie er sich zu dieser Zärtlichkeit wieder hinreissen lassen konnte, nachdem er sich fest vorgenommen hatte, diese Zwangsehe nur als ein Nebeneinanderleben zweier verirrter Menschen zu betrachten.

„Es war wieder recht dumm von mir, Käthe, mich so zu vergessen“, sagte er sofort, wie zur Entschuldigung, als er das fast leidenschaftslose Verhalten der Überrumpelten bemerkte.

„Wieso, Herr Rat?“ fragte Käthe, die, ganz rot geworden, heftig atmend vor ihm stand. „Wir sind doch Mann und Frau.“

„Eben deshalb“, erwiderte Sonter verdriesslich. „Wenn ich dich jetzt ärgern wollte und du wärst eben eine andere, als du bist, dja, so müsste ich einfach sagen: keine Spur von Leidenschaft, kein Verständnis für meine gute Laune ... Geh’ nur.“

Sonter raste durch das Zimmer, so in der Art eines Mannes, der sich unmöglich ganz äussern darf, um in seinen Empfindungen richtig begriffen zu werden.

„Ich bin gewiss nicht schuld daran. Herr Rat haben doch selbst gewünscht, dass ich mich in keiner Weise nähern soll. Wenn ich nur wüsste, was daraus noch werden soll.“

Ohne weiteres machte sie kehrt und ging hinweg, aber doch mit stolzer Haltung, was er, als er sie mit seinen Blicken durch die offene Tür verfolgte, deutlich bemerken konnte. Er sah, wie sie den Kopf in den Nacken warf und hörte dann noch, wie sie die Tür des Speisezimmers, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, ziemlich laut schloss.

In Sonter überwogen nun die Selbstvorwürfe den offenen Ärger, denn er sah ein, dass er diese Szene, die eigentlich nur zu seiner eigenen Pein diente, unüberlegt heraufbeschworen hatte, und das gerade zu einer Zeit, wo er des grössten seelischen Gleichgewichtes bedurfte. Und es lag nur zu nahe, dass er sich in seiner aufgeregten Gedankenwelt alles zurückrief, was ihm zur Erklärung seiner ehelichen Verbindung mit Käthe Schlegel hätte dienen können.

Da war zuerst der Umstand, dass Käthe, als sie vor etwa zwei Jahren, noch in der alten Wohnung, zu ihm zog, sofort den Eindruck auf ihn machte, kein Dienstmädchen gewöhnlicher Art zu sein, dem man erst sozusagen das Benehmen eintrichtern müsse, damit es sich den Gewohnheiten und den Umgangsformen der jeweiligen Herrschaft hübsch anpasse. Sie hatte erst einen Dienst bei einem Fabrikdirektor gehabt, von dem sie ein ganz vortreffliches Zeugnis mitbrachte. Ihr Vater war Landmesser in der Niederlausitz gewesen, der seine liebe Not gehabt hatte, für die grosse Familie anständig zu sorgen. Weil zwei ihrer Schwestern verheiratet waren, litt es Käthe nicht mehr zu Hause, da eine Freundin ihr schrieb, sie möchte nur nach Berlin kommen, wo tüchtige Mädchen ihr gutes Fortkommen fänden. Es war auch Zeit, dass sie sich ihren Unterhalt selbst verdiente, wie es die Schwestern vor ihrer Verheiratung schon getan hatten.

Sonter sah ein frisches, aufgewecktes Mädchen vor sich, das kluge Antworten zu geben verstand, sich willig und bescheiden zeigte, das noch keinen Bräutigam hatte und die Sonntage nicht dazu benutzte, in die Tanzlokale zu gehen und sich dem ersten besten Mann an den Hals zu werfen. Irgendwo in einer Vorstadt Berlins sass eine Tante von ihr, der allein ihre Besuche an freien Tagen galten. Pünktlich um elf Uhr war sie zu Hause, so wie er es angeordnet hatte, und kam sie durch eigenes Verschulden später, so sprach sie am anderen Tage freiwillig ihre Entschuldigung aus.

Bisher hatte Sonter eine ältere Köchin gehabt, die ihm zugleich die Wirtschaft führte. Als er nun hörte, dass das neue Mädchen gut bürgerlich kochen könne, wozu sie ihre frühere Dienstherrin während eines Jahres allmählich angelernt habe, musste er sich erst recht gestehen, einen guten Griff getan zu haben; denn gewöhnt an häusliches Behagen, hatte ihm die Frage, wie sich nun alles zur Zufriedenheit seines Magens gestalten würde, bereits erhebliche Sorge gemacht. Besonders war er gegen jedes Mittagsmahl im Restaurant, schon weil es sich mit seinen Dienststunden so wenig vertrug und er nicht aus einer Aufregung in die andere kommen wollte. Deshalb konnte er doch ausschwärmen, wie und wann er Lust hatte, was so eine Folge seines ganzen Berufes war, den er zwischen öffentlichem Amt und häuslicher Arbeit teilen musste.

Sonter war in Wirtschaftsdingen etwas genau, was er von seiner Mutter hatte. Er rechnete gern mit Pfennigen, zum Ärger der guten, alten Köchin. Käthe Schlegel dagegen hatte Verständnis dafür, und so konnte es nicht ausbleiben, dass er bald der lieben Mama, die auch in ihren Briefen auf das Wohl ihres Sohnes bedacht war, schreiben konnte, er habe jetzt ein „Mädchen für alles“ gefunden, das geradezu als das Ideal eines bequemen Junggesellen gelten könne.

Denn schliesslich brachten es die Gewohnheit und die Leutseligkeit seines Wesens mit sich, dass er Käthe als eine Art Hausvertraute betrachtete, zu der er sich über allerlei kleine Familienzwiste und Berufssorgen offen aussprechen konnte.

Diese Art des kameradschaftlichen Verkehrs wurde erst bedenklich, als der etwas weiberscheue Sonter die Entdeckung machte, dass ein hübsches und sauberes Dienstmädchen auch ihre gefährlichen Reize haben könne, besonders in einer Stunde, wo die aufgepeitschte Phantasie eines Mannes mit seiner gesunden Vernunft durchzugehen die unleugbare Absicht habe.

Das war an einem sehr denkwürdigen Sonntagabend im Sommer gewesen, als der Landgerichtsrat von einem Herrendiner kam, bei dem der Sekt ihm das nötige Feuer durch die Adern getrieben hatte.

Diesem Sektteufel war es wohl zu verdanken, dass er sich mit Käthe, die ihm in ihrer duftigen Batistbluse heute ganz besonders verführerisch erschien, in ein Scherzgeplänkel einliess, das dann eine ganz verfängliche Richtung nahm.

Er sah nicht sein Dienstmädchen in ihr, sondern nur das Weib, und sie vergass ganz den Brotherrn und Landgerichtsrat und hörte immer nur den verliebten Mann sprechen, der ihre Sinne aufstachelte und ihr eine ganz neue Welt offenbarte.

Halb zog er sie, halb sank sie hin ...

Auf diese Art war es um ihn geschehen.

Folgender Dialog schwebte ihm noch wie ein stets sichtbares Menetekel vor Augen, das am anderen Tage mit elementarer Gewalt in seinen moralischen Katzenjammer hineinplatzte.

„Herr Landgerichtsrat haben mir die Ehe versprochen und mir Ihr Ehrenwort gegeben, mich zu heiraten.“

„Ich? Aber Käthe, Sie träumen wohl?“

„Aber der Herr Landgerichtsrat müssen das doch ebensogut wissen, wie ich.“

„Das kann ich wirklich nicht mehr wissen, Käthe. Sie müssen doch gleich gemerkt haben, dass ich mich in bedenklicher Sektstimmung befand.“

„Gewiss. Herr Landgerichtsrat hatten einen kleinen Schwips weg, sprachen aber doch ganz vernünftig. Sie haben mich ja förmliche beäthert mit Liebenswürdigkeiten.“

„Deshalb brauche ich Ihnen doch nicht gleich die Ehe versprochen zu haben. Für so unvernünftig müssen Sie mich nicht halten. Du lieber Himmel, ich habe eben eine kolossale Dummheit gemacht, das gebe ich zu. Sie aber auch.“

„Ich? Aber Herr Landgerichtsrat! Sie haben ja beinahe auf den Knien vor mir gelegen, so dass ich mich kaum zu retten wusste. Ich wollte ausreissen und war schon an der Tür, da haben Sie so viel gebeten ... Und dann haben Sie den Riegel vorgeschoben und mich gleich umarmt und geküsst, dass ich wehrlos war. Herr Landgerichtsrat wissen, dass ich noch nie gelogen habe ... Mein Gott, wenn das nun meine Mutter erfährt. Dann gehe ich einfach ins Wasser.“

Diese Worte schwammen in einem Tränenbach, der die Empfindung zu echt lockerte, als dass sie der Landgerichtsrat als bloss gemacht betrachten durfte. Hier offenbarte sich die Natur eines einfältigen Menschenkindes, die ausser der herkömmlichen Reihe an einen Ehrenmann herantrat und sein Gewissen ganz überwältigend aufschreckte.

„Gut, Käthe, — beruhigen Sie sich nur, ich werde darüber nachdenken.“

Mit diesem schon halben Eingestehen seiner Schuld ging er in seine Studierstube und dachte gründlich über den „Fall Käthe“ nach, bis ihm allmählich die Überzeugung kam, dass dieser Fall Käthe eigentlich ein „Fall Sonter“ war. Diese Überzeugung kam ihm wenigstens als Richter, nicht als Mensch. Denn nach menschlichen Begriffen hatte Käthe ebensoviel schuld wie er, wenn von einer Schuld bei einem Liebesrausche überhaupt die Rede sein konnte. Denn kein Mensch musste müssen, am allerwenigsten im Spiel der Leidenschaften.

Jedoch lag dieser Fall wesentlich anders, weil hier ein unbescholtenes und unerfahrenes Mädchen unter dem passiven Zwang ihrer Dienstbotenabhängigkeit gestanden und gesündigt hatte, er somit von dem Vorwurfe der Ausnutzung der Vertrauensseligkeit nicht freizusprechen war.