Bernhard Dräger - Michael Kamp - E-Book

Bernhard Dräger E-Book

Michael Kamp

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Beschreibung

1889: Mit gerade mal 19 Jahren entwickelt Bernhard Dräger zusammen mit seinem Vater Johann Heinrich Dräger das Lubeca-Ventil, mit dem die Erfolgsgeschichte des Drägerwerks in Lübeck beginnt. Es folgen weitere Erfindungen des jungen Drägers, wie Atemschutzgeräte für den Bergbau und Feuerwehren, Wiederbelebungsgeräte, Narkoseapparate für die Medizin und Tauchretter. Alles Meilensteine der Technikgeschichte. In dieser Biografie widmet sich der Historiker Michael Kamp dem Leben und Schaffen von Bernhard Dräger, dem Unternehmensleiter der zweiten Dräger-Generation. Das Buch erzählt von Ideen und Motivationen, von Erfolgen und Rückschlägen, von Familie und Beruf, von allem, was ein Leben ausmacht. Es beschreibt zugleich eine Phase der deutschen Geschichte, die von gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen geprägt ist. So entsteht ein Porträt eines beeindruckenden Menschen in seiner Zeit.

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Seitenzahl: 1158

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Impressum

© 2017 Wachholtz Verlag – Murmann Publishers, Kiel/Hamburg

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Autor: Michael Kamp

Mitarbeit: Sonja Wiegand, Andreas Kamp, Christian Modler, Stefanie Knebelspieß

Neumann & Kamp Historische Projekte

Redaktion: Jasmin Jonietz, Sarah-Christin König, Laura Bachmann, Julia Schmidt, Stefanie Weiß

Layout und Satz: Anne Dreesbach

Redaktionsschluss: August 2017

Gesamtherstellung: Wachholtz Verlag

Printed in Germany

ISBN 978-3-529-06369-5

eISBN 978-3-529-09250-3

Besuchen Sie uns im Internet: www.wachholtz-verlag.de

Michael Kamp

Bernhard Dräger

Erfinder, Unternehmer, Bürger1870 bis 1928

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Bernhard Dräger – Mensch, Beruf, Familie, Alltag

Kapitel 1

Kindheit und Jugend 1870 bis 1888

Das Jahr 1870

Die Vorfahren und die Tradition der Feinmechanik

Des Vaters Schulzeit, Beruf und Familiengründung

Bernhard Drägers Kindheitsjahre in Kirchwerder

Umzug nach Bergedorf 1881

Atmosphäre des Tüftelns im Elternhaus

Neuanfang der Familie in Lübeck 1886

Bernhard Drägers Schulzeit auf dem Katharineum

Kapitel 2

Unternehmensgründung und Berliner Studienzeit 1888 bis 1896

Lehre, Firmengründung und Erfindung des Lubeca-Ventils 1888/89

Umzüge und Bernhard Drägers kaufmännische Ausbildung

Die »Argonauten« und verbesserte Ventile

Prokura, Bürgerrecht und Studienbeginn in Berlin 1893

Arbeit für das Unternehmen während der Berliner Zeit

Neue Ventile, Vertrieb in Berlin und Großstadtleben

Auf der Deutsch-Nordischen Handels- und Industrie-Ausstellung 1895 in Lübeck

Miteigentümer eines Bierverlags und Entwicklung des Leuchtgasbrenners

Normierungsansätze und Teilhaberschaft 1896

Kapitel 3

Familiengründung und Sauerstoffwende 1896 bis 1901

Bernhard Drägers Begegnung mit Elfriede Stange

Die Familien Stange und Sonder

Bernhard und Elfriede werden ein Paar

Bernhards und Elfriedes Hochzeit 1897

Bau der Villa Elfriede und Geburt des ersten Kindes

Fabrikneubau 1898 und verbesserte Reduzierventile

Mit Oxygen-Automat und Finimeter zum Sauerstoff

Die Entwicklung des Knallgasbrenners 1900/1901 und das Injektorprinzip

Kapitel 4

Der Ausbau des Sauerstoffbereichs 1901 bis 1909

Bernhard Drägers Entwicklungsarbeiten zum Atemschutz 1901

Sauerstoff für die Medizin – Roth-Dräger-Apparat und Inhalationsgeräte

Familienzuwachs und Familienzusammenhalt

Bernhard Dräger als Arbeitgeber

Geräte für Ballonfahrten und Flugzeuge

Das Bergwerksunglück im nordfranzösischen Courrières 1906

Weiterentwicklungen von Schweiß- und Schneidbrennern

Neue Projektionsapparate

USA-Reise 1907, Bildungsideen und der gesunde Körper

Das Wiederbelebungsgerät Pulmotor 1907

Freizeit, Erholung und das Segeln

Produktvielfalt und erste Erweiterung der Fabrik 1908

Das Ende der Kohlensäure-Ära und Generationenwechsel

Autochrome Fotografien von Bernhard Dräger

Kapitel 5

Der Bau der Villa Finkenberg 1910 bis 1914

Planung der Villa Finkenberg 1910

Die beiden Schwäger Carl Mühlenpfordt und Walter Gräfenhahn

Lufterneuerungsanlagen für U-Boote und Luftmessgeräte

Tauchretter und Taucherapparate

Schwierigkeiten in den USA 1911

Weiterplanung Finkenberg und zweite Fabrikerweiterung

Haase-Lampe und die Literarische Abteilung des Drägerwerks 1912

Der Garten der Villa Finkenberg

Betriebsorganisation und enge Mitarbeiter 1913

Fertigstellung und Einrichtung der Villa Finkenberg

Kapitel 6

Unternehmen und Familie während des Ersten Weltkriegs 1914 bis 1918

Die Familie Dräger und der Kriegsbeginn 1914

Der Dräger-Tübben-Selbstretter für den Gaskrieg

Einzug in die Villa Finkenberg und erneut Schwierigkeiten in den USA

Gasschutzmasken aus dem Drägerwerk 1915

Lieferungen an die Marine und der Kontakt zu Max Valentiner

Materialknappheit, Personalprobleme und Frauenarbeit

Das Heeres-Sauerstoff-Schutz-Gerät Modell 1916

Sohn Heinrich beim Militär und Bernhard Drägers Ehrendoktorwürde

Dritte Vergrößerung des Drägerwerks

Der Tod des Vaters 1917

Gut Nütschau und die Situation an der Heimatfront

Sorge um den Sohn

Die letzten Kriegsmonate 1918

Kapitel 7

Die kräftezehrenden Nachkriegsjahre 1918 bis 1924

Revolution und Waffenstillstand

Rückkehr des Sohnes Heinrich und Umstellung auf Friedenswirtschaft

Auseinandersetzungen mit der Arbeiterschaft

Weitere Entlassungen im Herbst 1919

Aufschwung mit Stammbelegschaft und Auslandsgeschäft

Kriegsabgabe, Reichsnotopfer, Einkommen- und Vermögensteuer

Amerika-Reise 1921

Injektor- und Pulmotor-Streit und neue Dräger-Atemgeräte

Krankheiten und Erholung

Drohende Zwangsenteignung in Nütschau und Heinrichs neuer Weg

Ruhrkrise, Hyperinflation und Stilllegung des Drägerwerks 1923

Wiederaufnahme der Produktion 1924

Wirtschaftsbürger und Wirtschaftselite

Aristokratisierung

Kapitel 8

Unternehmen und Familie, Krankheit und Tod 1925 bis 1928

Unternehmensärger und Familienfreuden 1925

Neuer Selbstretter, neue Narkosegeräte

Wiederaufnahme der Gasschutzmaskenproduktion

Freunde, Familie und das erste Enkelkind

Eintritt des Sohnes Heinrich ins Unternehmen und Aufschwung 1927

Anzeichen der Erschöpfung, Erholungsreisen und Kuraufenthalte

Der 12. Januar 1928

Trauerfeierlichkeiten, Beileidsbekundungen und Nachrufe

Der Sohn tritt die Nachfolge an

Nachwort

Bernhard Dräger – Mensch und Vermächtnis

Literatur- und Quellenverzeichnis

Personenregister

Sachregister

Bernhard Dräger, 1923.Das Gemälde ist ein Werk des Malers Heinrich Lucas. Es befindet sich im Familienbesitz und hängt heute in der Villa Finkenberg in Lübeck.

EINLEITUNG

Bernhard Dräger – Mensch, Beruf, Familie, Alltag

Bernhard Dräger – Mensch, Beruf, Familie, Alltag

Bernhard Drägers Schaffensphase umspannt einen Zeitraum von etwa 40 Jahren, beginnend in den späten 1880er Jahren bis zu seinem Tod 1928. In Deutschland hatten zu jener Zeit Erfindergeist, Ingenieurskunst, Wissenschaft und Forschung einen Höhepunkt erreicht, untrennbar mit Namen wie Werner von Siemens, Robert Bosch, Gottlieb Daimler, Carl Benz, Rudolf Diesel, Ferdinand Graf von Zeppelin, Konrad Röntgen, Fritz Haber, Max Planck und Albert Einstein verbunden.1 Bekannt wie diese Persönlichkeiten war Bernhard Dräger freilich nicht, was ihm in seiner zurückhaltenden Art sicher auch sehr recht war, doch wie etwa Ferdinand Graf von Zeppelin auf dem Gebiet des Luftschiffbaus oder Rudolf Diesel im Motorenbau war Bernhard Dräger ohne Frage auf seinem Gebiet, dem Gasschutz und der Beatmung in der Medizin, ein Spezialist, ein Mann, der im Bereich des Rettungswesens mit bahnbrechenden Konstruktionen weltweit Rang und Namen erlangte.

Sein Wirken war entscheidend für die Entwicklung des noch heute international agierenden Drägerwerks. Er stellte die Weichen für die Zukunftsfähigkeit und den Erfolg des Unternehmens. Seine Erfindungen waren maßgeblich für den Fortschritt des Atemschutzes, der Anästhesie, der Schweißtechnik und auch der Tauchtechnik. Weite Bereiche der Industrie konnten mithilfe der von ihm erfundenen und zur Marktreife geformten Techniken vorangebracht werden und somit effektiver und sicherer arbeiten. Darüber hinaus waren er und sein Unternehmen von Bedeutung für die Stadt Lübeck, in der er als etablierter Bürger Akzente in der Politik und der Förderung des Gemeinwohls setzte. Nicht zuletzt war er über Jahrzehnte Mittelpunkt der Familie Dräger und prägte mit seiner Arbeit auch sein direktes persönliches Umfeld, zu dem neben engsten Familienmitgliedern auch Verwandte, Freunde und Bekannte gehörten.

Damit sind auch schon die Ebenen benannt, die in der vorliegenden Biografie behandelt werden. Es geht um Bernhard Dräger, den Unternehmer, den Erfinder und Techniker, aber auch um den Bürger und schließlich um den Sohn, Bruder, Ehemann, Vater, also um den Familienmenschen. Und er ist Zeuge seiner Zeit: Geboren kurz vor der Gründung des Deutschen Kaiserreichs erlebte er den Ersten Weltkrieg, die Revolution 1918/19, die Gründung der Weimarer Republik und die Zwischenkriegsjahre.

Eine Besonderheit, die diese Biografie auszeichnet, ist das ungeheuer dichte Archivmaterial, das verwendet werden konnte. Die umfangreichen Quellen ermöglichen vielfältige, detaillierte Einblicke, so etwa in Betriebsabläufe des Unternehmens, in das Verhältnis von Firmenleitung zur Arbeiterschaft, in Arbeitsbedingungen, Fabrikarchitektur, Arbeitsorganisation und Arbeitsalltag. Auch die Forschungsarbeit, technische Entwick-lungs- und Versuchsarbeiten sowie die wissenschaftliche Kommunikation über die Themen, die Bernhard Dräger bearbeitete, sind umfassend und detailreich dokumentiert. Rechtliche Zusammenhänge wie Patentangelegenheiten, Fragen der Markterschließung, der Werbung, der Kundenkommunikation und die Schwierigkeiten, die mit all dem verbunden waren, können mithilfe der Quellen betrachtet werden. Das Material belegt zudem die Auswirkungen politischer Veränderungen, wie die des Ersten Weltkriegs, der Revolution von 1918/19 oder etwa die der Hyperinflation, auf Bernhard Dräger, seine Familie und das Unternehmen. Die Quellen ermöglichen zudem, politische und religiöse Anschauungen der Protagonisten darzustellen und deren Ideen von Bildung, Kunst und Architektur zu beschreiben.

Das Material ist so ergiebig, dass in allen Bereichen eine Alltagsgeschichte geschrieben werden kann: Der Alltag im Unternehmen wird genauso rekonstruiert wie der Alltag in der Familie. Durch das Archivmaterial gelingt es, den Privatmenschen, den Familienmenschen Bernhard Dräger darzustellen. Das beginnt mit Schule und Schulproblemen, reicht über Reisen, Studentenleben in Berlin, Freundschaften, Freizeitgestaltung wie Sport, Fotografieren und Filmen, über Liebe und Ehe, Sohn-Vater-Konflikte und Sohn-Vater-Innigkeit bis hin zu Kindererziehung, Ausbildung der Kinder, Familienvorstellungen, Essen, Trinken und Geschlechterrollen in der bürgerlichen Familie.2

Von bedeutenden Persönlichkeiten gibt es gemeinhin in erster Linie Berufsbiografien. Auch die Biografie von Bernhard Dräger ist eine solche, aber sie möchte mehr sein, sie ist der Versuch einer umfassenden Darstellung eines Lebens. Sie hat den Anspruch, eine Beschreibung der Zeit zu sein, in der Bernhard Dräger lebte, sie hat den Anspruch, einen Menschen und eine Familie in ihren Lebensumständen und in ihren Alltagssorgen und -freuden darzustellen.

Mag sein, dass einige Passagen episodenhaft erscheinen, aber die lebensnahe Beschreibung hat eine klare Funktion: Sie soll dazu führen, dass die Leserinnen und Leser den Protagonisten begleiten können. Sie sollen das Gefühl bekommen, sie würden in seine Welt eintauchen. Hierfür wird auch in vielen Fällen der O-Ton der handelnden Personen der Paraphrase vorgezogen. Die Personen sollen sprechen und sie sollen gehört werden. Diese Vorgehensweise steht der Analyse, der Beschreibung auf theoretischen Ebenen und der Einbettung in übergeordnete Zusammenhänge nicht entgegen, im Gegenteil: Sich den Menschen geradezu bildlich und lebendig vorzustellen, ihm nahezukommen und dann für Momente der Betrachtung aus der Vergangenheit herauszutreten, um in Zusammenhängen zu denken, erscheint als besondere Form des Verstehens.

Das Quellenmaterial erlaubt es, Bernhard Dräger in fast allen Facetten seines Lebens darzustellen. Ein ganzheitlicher Blick wird versucht, der auch weit in das Private und Persönliche hineinreicht. So sind etwa Liebe, Gefühlswelten, persönliche Konflikte, Körper, Gesundheit, Krankheit und Tod durchaus Themen, die angesprochen werden. Dabei gilt, dass eine Grenze gewahrt bleiben muss. Es wird mit Taktgefühl erzählt; zu intim darf die private Seite nicht beleuchtet werden. Krankheit etwa ist zwar Gegenstand der Darstellung, soll aber nicht zu detailliert ausgeführt werden.

Die Verarbeitung der Quellen und die Darstellungen der Personen geschahen durchaus wohlwollend, verständnisvoll, weil sich aus der intensiven Arbeit Sympathien für die Protagonisten entwickelt haben. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Personen unkritisch gesehen werden. Es gilt, auch Probleme und Schwierigkeiten zu erkennen und bestimmte Handlungsweisen zu hinterfragen. Auf Nähe folgt in Wechselwirkung immer wieder betrachtende Distanz.

Die Biografie über Bernhard Dräger versteht sich als Beitrag zur Unternehmer-Geschichtsschreibung, in der wirtschaftliche Prozesse sowie sozial- und allgemeinhistorische Zusammenhänge in Beziehung zueinander gesetzt werden. Unternehmergeschichte ist zugleich auch immer Unternehmensgeschichte, wobei hier stets darauf geachtet wird, dass die Hauptperson Bernhard Dräger im Zentrum der Betrachtung bleibt. Die Biografie soll auch ein Beitrag zur Technikgeschichte auf den Gebieten Atemschutztechnik, Schweißtechnik, Projektionstechnik, Narkosetechnik und Tauchtechnik sein. Werke zur Geschichte dieser Fachbereiche kommen am Drägerwerk nicht vorbei, also auch nicht an dem Erfinder Bernhard Dräger. Bisherige historische Darstellungen dieser Technikgebiete konnten, sofern es die Beiträge des Drägerwerks betrifft, nicht so in die Detailtiefe gehen, wie es hier geschieht.3

In dem Buch findet sich ebenso Material, das für Überlegungen zu Globalisierungstendenzen herangezogen werden kann, etwa auf technisch-wirtschaftlichem Gebiet in einem bestimmten Bereich. Die Organisation des Exports, der Aufbau von Vertretungen im Ausland und die frühe Etablierung eines Unternehmens in den USA sind Themen. Für die Erlangung des Wissens über die speziellen Techniken, für den Aufbau geschäftlicher Kontakte sowie für die Verbreitung von Produkten und wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse nutzte Bernhard Dräger Netzwerke, und er etablierte solche auch für sich. Dies ist ebenfalls Thema der Biografie. Insofern kann die Darstellung etwas zur Netzwerkforschung – auf empirischer Ebene zumindest – beisteuern.

Die vorliegende Biografie versteht sich zugleich als Beitrag zur Sozialgeschichte. Eine Person und eine gesamte Familie werden über fast 60 Jahre in ihrer Entwicklung, in ihrem Wirtschaften, Wohnen und Haushalten beschrieben. Für die weitere Forschung ergeben sich vielfältige Anknüpfungspunkte, um die dargestellte Lebenswelt der Familie Dräger für vergleichende und systematischere Studien heranzuziehen. Bezüge werden in der Biografie punktuell zwar hergestellt und sozialhistorische Dimensionen eröffnet, allerdings kann in einer Biografie diesbezüglich nicht alles systematisch ausgelotet werden. Das soll auch nicht geschehen, denn Bernhard Dräger wird nicht eingeordnet, sein Leben ist nicht Objekt der Geschichtswissenschaft, er bleibt Individuum.

Auch wenn es von Interesse ist, Zeitgeschehen und Zeitströmungen zu benennen, um Bernhard Dräger besser zu verstehen, und dabei Begriffe wie Kleinbürger oder Wirtschaftsbürger, Fortschrittsidee, Technikbegeisterung, Reformbewegung, liberal oder konservativ Verwendung finden, soll diesen begrifflichen Instrumenten nicht allzu viel Macht übertragen werden. Sie dienen nur als Anhaltspunkte zur Orientierung, wie Bernhard Dräger in einem Konglomerat von Haltungen, Werten und Ideen seiner Zeit zu verorten ist. Es geht darum, Verstehensräume zu schaffen, in denen sich die Leserinnen und Leser Bernhard Dräger vorstellen können, wie er sich darin bewegt und darin auch relativ frei ist. Er ist keinesfalls Gegenstand, sondern Mensch. Er ist nicht »Gegenstand« einer Betrachtung, sondern ihm wird ein Raum geboten, sich zu zeigen.

Ein solcher Interpretationsraum ist etwa das Narrativ des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs: Bernhard Dräger gehört zu den Erfindern und Unternehmern des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, denen es gelang, ihre technische Begabung in Anwendung umzusetzen – und das in einem wirtschaftlich relevanten Maßstab.

Damit war ein außerordentlicher finanzieller und gesellschaftlicher Aufstieg verbunden, der in der Biografie dargestellt wird. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts war Bernhard Dräger wohlhabend, er verfügte über Ressourcen, die mit denen eines Durchschnittsbürgers im Deutschen Reich nicht vergleichbar waren. Sein Wohlstand ermöglichte ihm ein luxuriöses Leben. Mit dem Aufstiegsnarrativ wird aber keinesfalls eine Heroengeschichte geschrieben. Die Schwierigkeiten und Probleme waren vielfältig, es gab Momente des Scheiterns und der Resignation. Bernhard Dräger musste sich den Wohlstand hart erarbeiten.

Es ist notwendig, in der Frage harter Arbeit eine Vergleichsperspektive hinzuzuziehen, denn die Werktätigen in den Betrieben des Kaiserreichs und der Weimarer Zeit arbeiteten ebenfalls hart. Der Lohn, den sie dafür erhielten, war so bemessen, dass sie sich, wenn alles optimal verlief, eine halbwegs erträgliche Existenz aufbauen konnten. Ihre Lebensverhältnisse waren aber nicht vergleichbar mit jenen, in denen Bernhard Dräger lebte.

In der Kriegs- und Nachkriegszeit war Bernhard Dräger besonders gefordert. Obgleich er Gewinne machte, die dem Familienwohlstand zugute kamen, ist aus seinen überlieferten Beschreibungen, aus seinen vielen Briefen der hohe Druck, unter dem er stand, herauszulesen. Dies war die Realität Bernhard Drägers, die ihn belastete. Auch wenn andere Schicksale in Zeiten von Krieg, Armut und Verelendung von existenzieller Bedrohung und unermesslichem Leid geprägt waren, muss der Biograf den subjektiv empfundenen Kummer seines Protagonisten ernst nehmen.

Das Drägerwerk zog Gewinne aus dem Krieg, allerdings unter höchster Anspannung aller Kräfte. Letztlich zehrten die Jahre in hohem Maße an Bernhard Drägers Gesundheit. Krankheiten wurden häufiger, schließlich starb er vergleichsweise früh. Wenn dies alles dargestellt wird, soll damit keinesfalls ausgeblendet werden, welches Leid Krieg, Revolutionswirren und Inflation vor allem den ärmeren Schichten brachten.

Der Aufstieg und der Wohlstand waren wie gesagt hart erarbeitet, und dies geschah innerhalb sich stark wandelnder politisch-wirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Arbeitsbelastung, Niederlagen und Enttäuschungen, aber auch der Erfolg, die Ehrungen und seine zunehmende Nähe zum Staat veränderten Bernhard Dräger. Während er vor dem Ersten Weltkrieg vergleichsweise zurückhaltend in der Präsentation des Erfolgs und Wohlstandes agierte, zeigte er Anfang der 1920er Jahre doch Züge einer zum Aristokratischen neigenden Lebenshaltung. Dies kann zum einen als Reaktion auf eine teilweise Entfremdung von der Arbeiterschaft und zum anderen als Ergebnis eines Zugehörigkeitsgefühls zu höheren Kreisen verstanden werden.

Wie bereits betont ist das Quellenmaterial außerordentlich ergiebig. Die Arbeit basiert in erster Linie auf dem reichen Quellenbestand im Familienarchiv und im Firmenarchiv. Die dort aufbewahrten Unterlagen sind eine Fundgrube für die Wirtschafts-, Technik- und auch Sozialgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Fülle ist derart, dass es eine Herausforderung war, der Informationsmenge Herr zu werden. Es mussten Schneisen geschlagen werden. Obgleich Familienarchiv und Firmenarchiv gut verzeichnet sind, fanden sich doch immer wieder Unterlagen, sei es im Unternehmen, sei es im Privatbereich, die außerhalb der Archive gelagert und für die Biografie relevant waren. Mit solchen Funden ist auch in Zukunft zu rechnen. Es ist aber nicht davon auszugehen, dass das Gesamtbild stark verändert werden würde; solche Funde wären vielmehr interessante Ergänzungen.

In anderen Archiven wurde punktuell recherchiert, wenn es um die Beantwortung konkreter Fragen ging oder die Parallelüberlieferung gegengeprüft werden musste. Das waren etwa Recherchen im Archiv der Hansestadt Lübeck, im Archiv des Patentamtes München und im Bundesarchiv/Militärarchiv in Freiburg.

Um hier nur kursorisch einen Eindruck von der Güte des Quellenmaterials zu geben, seien einige Bestände erwähnt. Bernhard Dräger war 1893 als Student in Berlin und verfasste zahlreiche Briefe an seinen Vater, die über sein Studium, sein Arbeiten und auch seine Freizeitgestaltung Auskunft geben. Er hielt Vorträge zu Fragen der Kohlensäure- und Sauerstoffverwendung, die für die Technikgeschichte von Bedeutung sind. 1907 entstand in den USA eine Dependance des Drägerwerks. Der Briefwechsel mit den Verantwortlichen vor Ort ist eine faszinierende Quelle für die Wirtschaftsbeziehungen mit den USA. Vor allem die Sondersituation des Ersten Weltkriegs ist von besonderem Interesse. Die Briefe, die Bernhard Dräger von seinen USA-Reisen nach Hause schickte, sind nicht nur eine Quelle für die Wirtschaftsgeschichte, sondern auch für die Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Die Schriftwechsel mit der Medizinalabteilung des Kriegsministeriums, mit dem Reichsmarineamt, mit der Inspektion für das Torpedowesen geben Einblicke in die Organisation des Gaskrieges und in die Verwendung von Sauerstoffgeräten in U-Booten. Briefe von und an den U-Boot-Kapitän Max Valentiner ergänzen hier das Material. Ab 1915 begann Bernhard Dräger Niederschriften zu bestimmten Themen im Unternehmen zu verfassen. Diese sind gute Quellen für die Geschichte des Managements und auch der Betriebsverhältnisse. Herausragend ist der Briefwechsel von Elfriede und Bernhard Dräger mit ihrem Sohn Otto Heinrich während des Krieges. Die Bestände lassen es zu, sich ein Bild des Alltags an der Front und in der Heimat zu machen. Der Briefwechsel mit Bernhards Schwager Carl Mühlenpfordt vor allem in der Umbruchphase 1918/19 ist für die Beschreibung verschiedener Positionen und Haltungen zu den Ereignissen in Deutschland interessant. Für die Lenkung des Unternehmens in dieser Krisenphase liegen Arbeiterausschussprotokolle und Protokolle von Sitzungen verschiedener Gremien im Betrieb vor.

Hinzu treten auch noch Erinnerungen von verschiedenen Personen im Umfeld von Bernhard Dräger. Während er selbst keine Erinnerungen oder Autobiografie geschrieben hat, taten dies sein Vater Johann Heinrich und seine Frau Elfriede. Diese Werke sind wichtige Quellen, die selbstverständlich kritisch hinterfragt wurden und der Absicherung durch archivalische Quellen bedurften.4 Das gilt auch für die Schriften von Johann Wilhelm Haase-Lampe, einem wichtigen Zeitzeugen, der über eine besondere Gabe der schriftlichen Darstellung verfügte und als Pressechef tätig war.5 Er hat viel geschrieben und dies mit Leidenschaft. Die Biografie zitiert ihn nicht selten, wobei aufgrund seiner oft unkritischen Nähe immer genau bezeichnet ist, was von ihm stammt.6 Es liegen auch Erinnerungen des Werkmeisters und Mitarbeiters der ersten Stunde Gustav Blume vor.7

Im Werk selbst fanden sich immer wieder Mitarbeiter, die Material zur Geschichte des Unternehmens und auch zur Geschichte der Familie zusammentrugen. So gibt es einiges zur Firmengeschichte und zur Biografie von Bernhard Dräger etwa in Zusammenstellungen von Heinz Cordes und Karl Hintze.8 Einige Mitarbeiter des Drägerwerks schrieben Abhandlungen zu Gerätegruppen.9 Literatur findet sich vor allem zu den Technikgebieten, in denen Bernhard Dräger zu Hause war.10 Einige Dissertationen unterschiedlicher Qualität sind erschienen. Sie entstammen wohl einem Programm, die Dräger-Techniken aufzuarbeiten.11

Über den Sohn Bernhard Drägers, Otto Heinrich, ist von Welf Böttcher und Martin Thoemmes ein Buch erschienen, in dem auch der Vater beschrieben wird.12 Im wissenschaftlich-systematischen Werk von Bernhard Lorentz, der Otto Heinrich Dräger als einen Repräsentanten der deutschen Wirtschaftselite untersucht, wird Bernhard Dräger ebenfalls erwähnt.13

Sich einen Weg durch all das Material zu bahnen und einen Zugang zur Person Bernhard Dräger zu finden, wäre ohne die große Hilfe vor allem von den Mitgliedern der Familie Dräger und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Drägerwerk nicht möglich gewesen. Das waren Dr. Christian Dräger, Theo Dräger, Matthias Dräger, Johanna Ahlmann, geb. Dräger, Hans-Julius Ahlmann und Marianne Dräger sowie der Betreuer des Dräger-Familienarchivs Ingo Welling. Matthias Dräger war sehr hilfreich bei der Sichtung, Auswertung und Einarbeitung von Audio- und Bildquellen. Von Marianne Dräger kamen bereichernde Bildhinweise, von Johanna Ahlmann besondere Quellenhinweise. Die Familienmitglieder gehören alle der zweiten Generation nach Bernhard Dräger, also der Enkelgeneration, an. Wichtig waren die vielen intensiven Gespräche im Familienkreis. Es kannte zwar keiner mehr Bernhard Dräger persönlich – er ist zu früh verstorben –, aber viele lernten noch Bernhards Frau Elfriede kennen, und in der Familie ist vieles auch mündlich überliefert worden. Besonderer Dank gilt Christian und Theo Dräger. Die Biografie ist ein Auftragswerk, aber Christian und Theo Dräger ließen dem Autor völlig freie Hand. Die Texte wurden vorab gelesen. Die Familienmitglieder hatten ergänzende und korrigierende Anmerkungen, die das Werk bereichert haben, aber es wurde nie im Sinne einer Zensur eingegriffen.

Der Idee des Begleitens, dass also die Leserinnen und Leser an der Seite des Protagonisten im Text voranschreiten können, entspricht der streng chronologische Aufbau des Buches. Selbstverständlich muss thematisch auch zusammengefasst werden, sonst würde das Buch zur Chronik herabsinken, aber auch diese thematischen Gruppierungen sind in chronologischer Ordnung vorgenommen. Es gibt Schwerpunktbildungen. So gelingt es, dass der Hauptdarsteller nicht plötzlich jünger ist, wenn man mit ihm im nächsten Unterkapitel wieder zusammentrifft.

Die Intensität des Lebens wird auch in der unterschiedlichen Ereignisdichte der Kapitel deutlich. Die vier Jahre des Ersten Weltkriegs beanspruchen weit mehr Seiten als etwa die Kindheitsjahre. Das liegt nicht vorrangig an der Quellendichte, sondern ist wahrlich der Ereignis- und Problemfülle geschuldet.

Auch mit dem Aufbau soll also der begleitenden Nähe zum Protagonisten entsprochen werden. Insofern bietet sich hier und jetzt als Einstieg in das Buch eine Beschreibung von Bernhard Drägers körperlicher Erscheinung an. So können sich die Leserinnen und Leser ihn sogleich bildlich als Person vorstellen. Das Gemälde auf dem Titel unterstützt dies sicher.

Bernhard Dräger war von schmaler Konstitution und mit circa 1,66 Meter Körpergröße schon für damalige Verhältnisse eher klein. Er war damit auch deutlich kleiner als sein Vater Johann Heinrich, der 1,82 Meter groß war.14 Wie Fotografien zeigen, war Bernhard Dräger zeitlebens sehr schlank, fast mager. Der Vergleich von Fotografien, die Bernhard in verschiedenen Lebensaltern zeigen, belegt, dass er sich gewichtsmäßig eher im unteren Normbereich befunden haben dürfte, das heißt, dass er schätzungsweise circa 60 Kilogramm wog.15 Für seine zierliche Statur hatte Bernhard Dräger verhältnismäßig große, aber wohlgeformte Hände mit langen schlanken Fingern.16

Bernhard Dräger hatte ein schmales, ovales, fein gezeichnetes Gesicht mit hoher, gewölbter, »geistvoller« Stirn, einer weit vorspringenden Adlernase und einem schwach ausgebildeten Kinn. Die Ohren waren groß und etwas abstehend, genau wie bei seinem Vater.17 Bernhard Dräger hatte wache, freundliche und eindringlich blickende, große braune18 Augen, die Haase-Lampe einmal als »merkwürdig tief«19 bezeichnet hatte, und einen schmalen Mund mit auffallend geschwungener Oberlippe.20 Diese Merkmale hatte er ganz offensichtlich von seiner Mutter geerbt.21

In seiner Jugend hatte er volles dunkles, in seinem späteren Leben graumeliertes, glattes, scheitelloses Haar, das sich im Stirnbereich schon mit Beginn des vierten Lebensjahrzehnts zu lichten begann.22 Bernhard Dräger trug schon in jungen Jahren einen Bart, wobei die Bartformen wechselten. Zeitweise hatte er einen spitzen, kurz geschnittenen Vollbart, der sein eher zartes Gesicht breiter und männlicher wirken ließ. Zwischendurch trug er aber auch einen kurzen Kinnbart oder nur einen breiten Oberlippenbart.23

Für das nun folgende erste Kapitel muss man ihn sich aber selbstverständlich als Kind vorstellen. Als Kind wird Bernhard von einem Freund der Familie als ein bisschen »piepsig«, als ein eher zurückhaltender, »kleiner, feingliedriger Junge mit klugen, lieben Augen« beschrieben.

1Wichtige biografische Werke liegen für einige dieser Personen vor. Siehe etwa Bähr, Johannes: Werner von Siemens. 1816–1892, München 2016; Szöllösi-Janze, Margit: Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie, München 1998; Andere maßgebende Biografien sind etwa: Feldman, Gerald D.: Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen. 1870–1924, München 1998; Becker, Bert: Michael Jebsen. 1835–1899. Reeder und Politiker, Kiel 2012; Plumpe, Werner: Carl Duisberg. 1861–1935. Anatomie eines Industriellen, München 2016.

2Rauh-Kühne, Cornelia: Zwischen »verantwortlichem Wirkungskreis« und »häuslichem Glanz«. Zur Innenansicht wirtschaftsbürgerlicher Familien im 20. Jahrhundert, in: Dieter Ziegler (Hrsg.): Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 215–248. Rauh-Kühne stellt einen Fragenkatalog zum Thema wirtschaftsbürgerliche Familie auf und sie bedauert die zumeist schwierige Quellenlage, die die Beantwortung der Fragen erschwert. Mithilfe des Materials zu Bernhard Dräger können viele Fragen der Forschung exemplarisch bearbeitet werden.

3Eine Ausnahme ist Goerig, Michael/Schulte am Esch, Jochen: Die Entwicklung des Narkosewesens in Deutschland von 1890–1930, unter Berücksichtigung der Pionierleistungen Hamburger Ärzte, Lübeck 2012. Hier werden die Dräger-Geräte detailliert vorgestellt.

4Elfriede Dräger: Lebenserinnerungen, Lübeck 1990; Dräger, Heinrich: Lebenserinnerungen (Erstausgabe 1913), St. Goar 1995. Die lebendig und amüsant geschriebenen Lebenserinnerungen sind wertvolle Quellen für das Leben der Familie Dräger. Wie alle Lebenserinnerungen sind sie zwar ein subjektives Zeugnis, aber sie dienen der Charakterisierung von Umständen und Tendenzen, wie sie von den Zeitgenossen wahrgenommen und empfunden wurden. Siehe zur Einordnung von Lebenserinnerungen und autobiografischen Schriften von Unternehmern Markus, Sandra: Bilanzieren und Sinn stiften. Erinnerungen von Unternehmern im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002.

5Haase-Lampe, Johann Wilhelm: Vom Elbdeich zum Finkenberg. Die Geschichte zweier Männer, (nicht veröffentlicht), ca. 1948. Dieses bereits gesetzte Manuskript sollte im Antäus-Verlag Lübeck erscheinen, was aber nicht geschah. Ein weiteres Typoskript, welches auch nicht veröffentlicht wurde, ist: Haase-Lampe, Johann Wilhelm: Arbeit für das Rettungswesen. Aus dem Leben zweier Männer, wie ich sie selbst erlebte, 1948. Ersteres Werk enthält mehr Informationen als das zweite. Auf Basis der Typoskripte wurde 2007 eine kürzere Version veröffentlicht: Haase-Lampe, Johann Wilhelm: Von der Biermaschine zum Rettungswesen. Die Aufbaujahre des Drägerwerks, Lübeck 2007. Sofern sich Informationen hier finden, wird das veröffentlichte Werk zitiert.

6Haase-Lampe neigte stilistisch zu recht blumiger, oft gefühliger Sprache, vor allem wenn es um die Ausmalung persönlicher Bemerkungen oder Andeutungen Bernhards und Johann Heinrichs ging. Deshalb sind gerade bei diesen Passagen Abstriche bezüglich der Zuverlässigkeit seiner Überlieferung zu machen.

7Aus den nur durch Zufall gefundenen Aufzeichnungen und Erinnerungen Gustav Blumes über die Entwicklung des Unternehmens entstand das Buch »Zur Geschichte des Drägerwerks von 1889 bis 1936 – Erinnerungen eines Werkmeisters«. Gustav Blume, geb. 1870, arbeitete zunächst an den beiden Drehbänken, die Johann Heinrich Dräger aus Vierlanden mitgebracht hatte. Er war bis 1943 im Drägerwerk tätig und verstarb 91-jährig im April 1961. Blume, Gustav: Zur Geschichte des Drägerwerks von 1889 bis 1936. Erinnerungen eines Werkmeisters, Lübeck 1994.

8Firmenarchiv Dräger, XI, 4.2, Hintze, Karl: Das Dräger-Unternehmen. Geschichtlicher Werdegang, unveröffentlichtes Manuskript, Lüneburg 1969; Familienarchiv Dräger, BS II, 15.10, Cordes, Heinz: Aufzeichnungen zum Lebenslauf von Bernhard Dräger und zur Firmenentwicklung, ca. 1975.

9Schmitt, Heinrich/Drägerwerk AG (Hrsg.): Die Dräger-Druckgastechnik. Entstehung und Entwicklung 1889–1975, Lübeck 1988; Haupt, Josef: Die Geschichte der Dräger-Narkoseapparate, Bd. 1, Hamburg 1996.

10Etwa Strätling, M./Schmucker, P.: 100 Jahre Sauerstofftherapie (1902–2002) – Eine medizinhistorische Neubewertung. Teil I: Der lange Weg von der Entdeckung des Sauerstoffs bis zu seinem Durchbruch bei der therapeutischen Anwendung in der Anästhesiologie und Rettungsmedizin, in: Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Schmerztherapie, Nr. 37 (2002), S. 712–720; Teil II: Die Bedeutung des Roth-Dräger-Narkoseapparates (1902) und weiterer Entwicklungen aus 100 Jahren Dräger-Medizin- und Anästhesietechnik für die Etablierung der Sauerstoffanwendung im therapeutischen Methodenspektrum, in: Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Schmerztherapie, Nr. 38, (2003), S. 4–13.

11Peters, Anja: Dr. Bernhard Dräger (1870–1928) als Erfinder: Seine Beiträge zur Weiterentwicklung der Druckgastechnik und deren Bedeutung für die Entwicklung einer modernen medizintechnologischen Verbundforschung, Diss. Med. Lübeck Univ., 2007; Wüllenweber, Kathrin: Die Entwicklung der Dräger-Grubenrettungstechnologie und des Atemschutzes (1902–1918) im internationalen Vergleich. Eine Auswertung der Archive der Drägerwerk-AG, Diss. Med. Lübeck Univ., 2007; Schmidt-Rimpler, Rogan: Die Entwicklung der Dräger-Anästhesietechnik (1902–1918) im internationalen Vergleich, Diss. Med. Lübeck Univ., 2008; Seydel, Michael: Die Entwicklungs- und Nutzungsgeschichte der Tauchretter des Drägerwerkes, Diss. Med. Lübeck Univ., 2010; Niggebrügge, Hans Christian: Die Geschichte der Beatmung – Analyse und Neubewertung am Beispiel der Geschichte des »Pulmotor« Notfallbeatmungs- und Wiederbelebungsgeräts der Lübecker Drägerwerke, Diss. Med. Lübeck Univ., 2011.

12Böttcher, Welf/Thoemmes, Martin: Heinrich Dräger. Eine Biographie, Neumünster 2011.

13Lorentz, Bernhard: Industrieelite und Wirtschaftspolitik 1928–1950. Heinrich Dräger und das Drägerwerk, Paderborn/München 2001.

14Nach einem von Bernhards Hand markierten Meterstab, den Haase-Lampe in der sogenannten »Traditionsnische« von Haus Finkenberg fand. Hier waren die Größen aller Familienmitglieder angezeichnet. Haase-Lampe: Vom Elbdeich zum Finkenberg, S. 300.

15Eine Gewichtsangabe ist in keiner der vorliegenden Quellen, wie Pässe und Ausweise oder ärztliche Unterlagen, vorhanden und kann deshalb nur geschätzt werden.

16Elfriede Dräger: Lebenserinnerungen, S. 35.

17Familienarchiv Dräger, BS II, 15.16, Heyen, Heye: Die beiden Dräger. Lübecker erzählen aus jüngster Vergangenheit, 4. Oskar Schweichler, in: Der Volksbote, Nr. 5, 8.2.1936. Siehe auch Foto von 1916 bei Elfriede Dräger: Lebenserinnerungen, S. 35, 124.

18Zu Augenfarbe und Ausdruck siehe Ausweis mit Lichtbild: Familienarchiv Dräger, BS II, 6.15, Inhaber-Ausweis für ein Schiff des Seemannsamts Lübeck 17.5.1923. Siehe auch Haase-Lampes Eindruck, der von großen, leuchtend braunen Augen spricht: Haase-Lampe: Vom Elbdeich zum Finkenberg, S. 287.

19Haase-Lampe, Johann Wilhelm: Bei Drägers, in: Die Heimat, 27. Jg., Nr. 1 (Januar 1917), S. 26–32, hier S. 26.

20Foto von Bernhard Dräger von 1916 in Elfriede Dräger: Lebenserinnerungen, S. 35.

21Siehe Bild seiner Mutter ebenda, S. 51.

22Foto von 1911, das Bernhard Dräger mit 41 Jahren zeigt. Familienarchiv Dräger, BS II, Dr. Ing. h. c. Alexander Bernhard Dräger, Fotografien, Bd. I, 1870–1917.

23Elfriede Dräger: Lebenserinnerungen, S. 124; Siehe Foto von Bernhard Dräger von 1888: Familienarchiv Dräger, BS II, Dr. Ing. h. c. Alexander Bernhard Dräger, Fotografien, Bd. I, 1870–1917; Foto von Bernhard Dräger von 1894 bei Elfriede Dräger: Lebenserinnerungen, S. 54.

Bernhard im Alter von neun Jahren.Seine Kindheit verbrachte er in Kirchwerder bei Hamburg.

1

Kindheit und Jugend

1870 bis 1888

Das Jahr 1870

Bernhard Dräger wurde im Jahr 1870 in Kirchwerder in den Vierlanden bei Hamburg geboren. Es war das Jahr, in dem Preußen und andere deutsche Staaten gegen Frankreich Krieg führten. Am Ende des Krieges stand die von vielen Deutschen lang ersehnte nationalstaatliche Einheit: Im Spiegelsaal des Schlosses Versailles, am 18. Januar 1871, proklamierten die deutschen Fürsten und Vertreter der Freien Städte den preußischen König Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser. Sie riefen zugleich das Deutsche Kaiserreich aus.1

In eine Zeit großer Umbrüche wurde Bernhard Dräger hineingeboren. Politisch, wirtschaftlich und kulturell kam es in Deutschland schon durch die Reichsgründung zu vielen Veränderungen. So nahm das Deutsche Reich ökonomisch einen ungeheuren Aufschwung. In den sogenannten Gründerjahren herrschte Hochkonjunktur. Zwar gab es zwischenzeitlich immer wieder auch Wirtschaftskrisen, aber insgesamt gesehen erlebte Deutschland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Blütephase.2

Die nationalstaatliche Einigung führte zu einer enormen Mobilisierung wirtschaftlicher Kräfte. Schon mit der Gründung des Norddeutschen Bundes, zu dem auch Hamburg und die Vierlande gehörten, war ein größerer einheitlicher Wirtschaftsraum geschaffen worden, und nun wuchs das deutsche Wirtschaftsgebiet als gemeinsamer Markt für Produzenten und Händler nochmals beachtlich. Auch im Zuge dessen entstanden immer mehr Unternehmen. Innovationen in allen Bereichen förderten die wirtschaftliche Entwicklung; eine Zeit ungeheurer Dynamik auf den Gebieten der Wissenschaften und der Technik brach an; eine Atmosphäre der Euphorie und des grenzenlosen Optimismus herrschte im Deutschen Reich. Viele Menschen betrachteten diese Phase als besondere Chance für ihr eigenes persönliches Fortkommen und auch für das der gesamten Nation.3

Die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen hatten zunächst zwar keinen unmittelbaren Einfluss auf die Familie Dräger in Kirchwerder, da sie in einer kleinen Gemeinde auf dem Lande lebte. Aber dass Unternehmer und Unternehmen sich in einer Aufbruchstimmung befanden und die sich neu bietenden Chancen wahrnahmen, beeinflusste über kurz oder lang jeden nachgeordnet Wirtschaftenden, wirkte er auch noch so fern von den politisch-wirtschaftlichen Zentren des Reiches.

Die Aufbruchstimmung – diese besondere Atmosphäre der 1870er Jahre – sollte auch in der zukünftigen Entwicklung der Familie Dräger eine Rolle spielen. Vor allem Johann Heinrich Dräger, der Vater Bernhard Drägers, setzte große Hoffnungen auf die neue, bessere Zeit. Ihn erfasste geradezu »ein Taumel der Begeisterung«, wie er selbst in seinen Lebenserinnerungen schrieb. Die Reichseinigung war für ihn mit der Vorstellung einer neuen Größe des Vaterlandes und einer glorreichen Zukunft verbunden. Johann Heinrich und Emma Dräger, die Eltern von Bernhard Dräger, zeigten zu jener Zeit einen Optimismus, der sicherlich auch besondere Kräfte bei der eigenen Lebensgestaltung freisetzte.4

Johann Heinrich Dräger hatte das Privileg gehabt, in Kirchwerder die Zollenspieker-Schule besuchen zu können, an der es einen ausgebildeten Lehrer gab, während es an anderen Schulen durchaus möglich war, dass etwa nur ein einfacher Wachtmeister im Ruhestand unterrichtete. Der Besuch einer guten Schule, das war dem Vater auch für seinen Sohn Bernhard sehr wichtig, bei allen Schwierigkeiten, die Johann Heinrich in der Schule hatte. Mit einer guten Schulbildung sollte sich in den Zeiten des Aufbruchs so einiges bewegen lassen, so die feste Meinung des Vaters.5

Kirchwerder gehört zu den Vierlanden, die von der Bille und Elbe durchflossen werden und von zahlreichen Entwässerungskanälen durchschnitten sind. Diese Landschaften waren und sind sehr fruchtbar. Viehwirtschaft wurde hier betrieben, Geflügel aller Art, große Getreide-, besonders Weizenfelder, Gemüse- und Blumenzucht sowie Obst von bester Qualität gab es in der Region. Das Marschland versorgte Hamburg und gab von seinem Überfluss auch noch vieles in den Handel über die Nordsee ab. Die Bewohner des Landes, die Vierländer, hatten sich bis weit in das 19. Jahrhundert hinein infolge der eingeschränkten Zugänglichkeit des Gebietes und der dadurch bedingten jahrhundertelangen, strengen kulturellen Abgeschiedenheit viele eigene Sitten und Gebräuche erhalten, sodass sie inmitten ihrer Umgebung wie ein eigener Volksstamm erschienen. Dazu kamen die vielen sogenannten Inheiraten, durch die fast alle Vierländer miteinander verwandt waren.6

Den Vierländern sagte man gemeinhin nach, sie hätten ein gutes Gespür für Geschäft und Gewinn, könnten hart arbeiten, scheuten keine Strapazen und wüssten eine Sache mit Erfolg anzupacken. Dies zeigten die Vierländer zum Beispiel beim schwunghaften und einträglichen Handel mit Blutegeln. Hamburger Apotheker waren die besten Abnehmer, und als die Blutegel-Bestände in Vierlanden und Mecklenburg abnahmen, reisten die Vierländer letztlich weit bis nach Südrussland, um die Tiere zu beschaffen.7

Die Vorfahren und die Tradition der Feinmechanik

Unter den väterlichen Vorfahren Bernhard Drägers befanden sich viele Handwerker. Schon der Familienname »Dräger« verweist darauf, dass die Vorväter im Handwerk verwurzelt waren, denn »Dräger« geht auf niederdeutsch »drehen« oder »Drechsler« zurück.8 Offenbar hatte technisch-handwerkliches Geschick einem sehr frühen Vorfahren diesen Namen eingebracht.9

Vom Ururgroßvater Bernhards, Jürgen Friedrich Dräger, heißt es, er sei in der Bearbeitung von Metall erfahren gewesen und habe Teile für Webstühle hergestellt. Allerdings waren das nur Nebentätigkeiten, denn er lebte in erster Linie vom Gemüseanbau. Seine Heimat war Bardowick bei Lüneburg, und er verheiratete sich dort 1793 mit Elisabeth Böttcher.10

1794 wurde in Bardowick Johann Heinrich Dräger geboren – Bernhard Drägers Urgroßvater. Dieser Johann Heinrich Dräger war der erste Uhrmacher in der Dräger-Linie. Zugleich arbeitete er auch als Webstuhlmechaniker. Seine Frau war Caroline Freudenthal, und 1818 wurde den beiden in Bardowick Sohn Ernst Friedrich – Bernhards Großvater – geboren. Ernst Friedrich wurde ebenfalls Uhrmacher.11

Der Großvater verließ 1843 seinen Heimatort, um nach Kirchwerder überzusiedeln. Vermutlich erhoffte er sich eine Verbesserung seiner beruflichen und wirtschaftlichen Situation. Zwar wird Bardowick in einer zeitgenössischen Veröffentlichung als ein Zentrum des Gemüseanbaus und bedeutender »Flecken« bezeichnet, aber die Kauf- und Pachtpreise für die Böden waren wegen der starken Konkurrenz unter den Gemüsebauern derart hoch, dass die Einnahmen nur dürftig ausfielen.12 Kirchwerder war zur Gemüsekammer Hamburgs avanciert.13 Dort florierte die Wirtschaft, während sie in Bardowick stagnierte und es hier für einen Uhrmacher nur noch wenig zu tun gab. Ernst Friedrich Dräger hatte in Bardowick vermutlich von der Landarbeit gelebt und die Uhrmacherei nur nebenbei betrieben, so wie dann auch in Kirchwerder, wo er tagsüber als Knecht des Bauern Puttfarcken den Acker bestellte, um abends seinen handwerklichen Neigungen nachzugehen und Uhren zu reparieren.14

Bernhards Großvater, Ernst Friedrich Dräger, pachtete in Kirchwerder am Elbdeich 47, auf der Howe, eine Kate mit einem großen Gemüsegarten. 1845 heiratete er Anna Lührs. Die erstgeborene Tochter starb kurz nach der Geburt. Zwei Jahre später, am 29. Juli 1847, bekamen sie einen Sohn, den sie Johann Heinrich nannten. Das war Bernhard Drägers Vater.15

Mit der Zeit erarbeitete sich Ernst Friedrich Dräger einen guten Ruf als Uhrmacher, sodass er seine landwirtschaftliche Arbeit aufgeben und sich ganz dem Handwerk widmen konnte. Er beschritt dabei auch ganz neue Wege, er reparierte nicht nur, sondern stellte Uhren auch her.16

Die Kate auf der Howe, die die Familie in Kirchwerder bewohnte, war ein strohgedecktes Fachwerkhaus. Der vordere Teil des Hauses war dem Elbdeich zugekehrt. Vor der Rückfront des Wohnhauses befand sich ein Stall und hinter diesem ein Treibhaus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag der »Sulzbrack«, ein klares, mit Schilf umrandetes Gewässer.17

Hauptraum des Hauses war die Diele, daneben gab es wohl drei zusätzliche Räume. Die mit »hühnereigroßen Feldsteinen« gepflasterte Diele muss verhältnismäßig groß gewesen sein. Die Fenster waren in Blei gefasst. Einzelne Scheiben zierten Malereien, etwa ein Schiff oder ein Menschenpaar, darunter standen Namen. Johann Heinrichs Mutter erklärte, dass es die Namen von Nachbarn, Verwandten und Freunden seien, die die Fenster gestiftet hatten, um damit dem ursprünglichen Erbauer des Hauses zu helfen. An den Wänden der Diele standen große, prächtig gearbeitete Schränke aus Mahagoniholz, die aus Hamburg stammten.18

Bernhards Vater Johann Heinrich berichtet von der »primitiven Beleuchtung« im Haus, die ihm die Schularbeiten erschwert hätte. »Die Flamme verbreitete ungefähr so viel Licht wie ein schwedisches Zündholz, nur mit dem Unterschied, dass die Flamme durchgehend brannte.« Zum Heizen stand in jedem Zimmer ein mit biblischen Darstellungen geschmückter Kachelofen. Diese Öfen waren an einen zentralen Ofen, der sich in der Diele befand, angeschlossen. Das Heizen war offensichtlich nicht besonders effektiv, denn Johann Heinrich schreibt: »Der Kachelofen war ein hohler Kasten, in dem von der Diele aus mit Busch und Torf geheizt werden musste. Der Rauch blieb wie der des Herdfeuers auf der Diele, von der er durch Türen und Dach ins Freie entwich. Bei größerer Kälte war die Temperatur im Zimmer nur in der Nähe des Ofens erträglich.« Später wurden zusätzlich für die beiden Wohnräume zwei einzelne offene Feuer in verschließbare Wandschränke eingebaut. Diese beiden Feuer dienten ebenso wie der Ofen in der Diele zum Kochen und zum Heizen. In der Kate wohnten wohl zunächst noch weitere Personen.19

Die Anfänge der Drägers in Kirchwerder waren also recht bescheiden, und die Situation wurde für die Familie schwieriger, als im August 1853 der Vater – Bernhard Drägers Großvater – starb. Ursache seines frühen Todes war eine Cholera-Erkrankung, mit der er sich während eines Besuches bei Verwandten in Finkenwerder angesteckt hatte. Er starb noch vor Ort in Finkenwerder und wurde dort auch beigesetzt.20

Kirche in Kirchwerder.Die Vorfahren von Bernhard Dräger stammten aus Bardowick bei Lüneburg. 1843 verließ Bernhards Großvater Bardowick, um sich in Kirchwerder bei Hamburg in den Vierlanden niederzulassen. Holzschnitt von Anna Dräger, der 1887 geborenen Schwester von Bernhard Dräger.

Vierländer Landschaft.Das Foto zeigt, in welcher Umgebung die Familie lebte. Abgebildet ist die Elbe bei Kirchwerder.

Der Tod von Ernst Friedrich Dräger bedeutete für seinen kleinen Sohn Johann Heinrich nicht nur den Verlust des Vaters, sondern es gingen auch die »erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten der drei vorhergehenden Generationen« verloren. Johann Heinrich Dräger erbte von ihm »nur die Tradition, die Neigung und das väterliche Werkzeug«, wie er in seinen Lebenserinnerungen ausführt. Allerdings hatte die Mutter vom Vater zumindest das Löten erlernt.21

Nun waren Bernhards Großmutter Anna und ihr Sohn, der erst sieben Jahre alte Johann Heinrich, auf sich allein gestellt. Anna Dräger blieb nichts anderes übrig, als sich nach einer Verdienstmöglichkeit umzusehen. Es scheint, dass Johann Heinrichs Mutter ein kämpferisches Naturell besaß. Sie ließ sich auch durch einige missglückte Versuche des Neuanfangs nicht entmutigen und sann über Mittel und Wege nach, wie sie sich und ihrem Sohn die Existenz sichern konnte. Im Handel mit Manufakturwaren fand sie schließlich eine lohnende Erwerbsquelle und eröffnete ein kleines Geschäft. »Hamburg lag in der Nähe; dort bot sich immer Gelegenheit, billig einzukaufen. Ihre Nachbarn und Freunde waren willige Abnehmer.« Und da sie den Betrieb gut führte, erwarb sie sich schnell einen großen Kundenkreis. Zum Erfolg trug auch ihr Ehrverständnis beim Warenhandel bei. So lautete ihr Wahlspruch: »Lewer Schaden as Schimp!«, also »Lieber Schaden als Schande!«, eine Maxime, die auch für die folgenden Generationen Grundlage ihres geschäftlichen Wirkens werden sollte.22

Des Vaters Schulzeit, Beruf und Familiengründung

Die Mutter nahm den Sohn notgedrungen mit in die Pflicht, und er half bereitwillig im Haus und im Geschäft. Johann Heinrich war bewusst, dass er mitverdienen musste, und die beiden kamen gut voran: Das Manufakturwarengeschäft florierte und war einigermaßen einträglich.23

Mittlerweile besuchte Johann Heinrich auch die Schule. Obgleich er ein sehr interessierter und außerordentlich wissbegieriger Junge war, ging er nicht gerne zur Schule; kein Wunder, angesichts der damaligen Lehrmethoden. Die Schule leitete ein alter Lehrer namens Schilling, der viel zu viele Kinder in einer Klasse zu betreuen hatte. Johann Heinrich Dräger nannte die Zahl 250. Es kam vor, dass der aufgeweckte Knabe seinen Lehrer mit Fragen in Verlegenheit brachte und statt Antworten Prügel erhielt. Vor allem das verhasste Auswendiglernen von Bibelsprüchen und Katechismusversen bereitete Johann Heinrich Kummer. Er war darin nicht besonders eifrig und wurde für seine Nachlässigkeit regelmäßig bestraft. So war ihm, wie er später in seinen Lebenserinnerungen vermerkte, »die Bibel und was damit zusammenhängt … systematisch und nachhaltig ausgeprügelt worden«.24

Johann Heinrich Dräger,Bernhards Vater. Johann Heinrich wurde am 29. Juli 1847 in Kirchwerder geboren. Seinem Sohn war er als Techniker und Unternehmer ein Vorbild. Er prägte Bernhard entscheidend, unter anderem in dessen Technikbegeisterung. Das Foto stammt aus dem Jahr 1874.

Das Haus rechtsist das Geburtshaus von Johann Heinrich Dräger, dem Vater von Bernhard Dräger.

Bis zum zwölften Lebensjahr hatte Johann Heinrich Dräger nur notdürftig Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt. Trotz aller schlimmen Erfahrungen brachte er seinem Lehrer Schilling doch eine gewisse Hochachtung entgegen. So schrieb er, dass seine Schule im Land sehr angesehen war. Der Sohn des Lehrers wurde immerhin ein Pionier der Gastechnik und war Begründer der Zeitschrift Schillings Gastechnisches Journal.25

Wissbegierde und Interesse ließ sich Johann Heinrich von der Schule nicht austreiben. Daheim las er Bücher über naturwissenschaftliche Themen. Seine Distanz zur Kirche resultierte nicht nur aus den Erziehungsund Lehrmethoden, die auch der Kirchwerder Pastor anwandte, sondern zudem aus seinem Wissensdrang. So geriet er etwa über sein Interesse an den Schriften von Charles Darwin mit dem Pastor in Konflikt. Er schrieb hierzu in seinen Erinnerungen: »Ich bat den Pastor, mir Literatur über die Darwinschen Erkenntnisse zugänglich zu machen. Schade, daß ich den Sermon, den der erzürnte Priester auf mein sündiges Haupt prasseln ließ, nicht auf einer Grammophonplatte festhalten konnte. Ich glaube, es wäre ein ausgezeichnetes Kulturdokument.«26

Außerdem hantierte Johann Heinrich gerne mit dem Werkzeug seines Vaters. In einem Raum der Kate stand auf einem Tisch vor dem Fenster eine Bohrmaschine mit Teilscheibe. Zudem gab es eine Drehbank, einen Schraubstock und einen Amboss; dazu kamen Spezialvorrichtungen. Hier lagerten sogar noch einige Achttageuhren, zum Teil halbfertig. Bei solchen Uhren war es erst nach einer Woche erforderlich, sie manuell wieder aufzuziehen – daher die Bezeichnung. Auch Wand- und Taschenuhren gab es.27 Johann Heinrich erinnerte sich später: »Das Wohnzimmer war zugleich Schlafzimmer und Werkstätte. … An den Wänden hing eine Menge Uhren, die alle durcheinander tickten und tackten. Vor den Fenstern sah ich Werktische mit gar mannigfaltigen Maschinen und Geräten aufgestellt, an denen mein Vater in der Regel arbeitete. Mein größtes Glück war, wenn ich den Geheimnissen seiner Tätigkeit nahe sein durfte.«28

Dies alles faszinierte den Jungen, und zum Glück wendete sich das Blatt in der Schule zu seinen Gunsten. Ein neuer Lehrer kam, Lehrer Jürgens, der Johann Heinrichs jugendlichen Erfindergeist erkannte und es verstand, den Schüler anzuregen und zu ermutigen. Für diesen Lehrer baute er sogar einmal ein Tellurium, eine Planetenmaschine zur Demonstration der Bewegungen von Erde und Mond. Das Tellurium funktionierte ausgezeichnet, und eine Schilderung dieses Schulereignisses diktierte Johann Heinrich Dräger Jahre später als Erwachsener auf einen Diktierphonographen mit Edison-Walze. Das Tondokument ist erhalten geblieben.29

Johann Heinrichs Frohnatur und seine Lebenskraft brachen wieder durch und gaben ihm geistigen und seelischen Schwung. Zeitgenossen beschrieben ihn als rege, humorvoll und von allerlei technischen Ideen erfüllt. »He har beeten veel Phantasie«, »Er hat ein bisschen viel Phantasie«, hieß es. Gartenarbeit, die traditionelle Beschäftigung seiner Herkunftsregion, liebte er dagegen nicht, was ihm den Ruf einbrachte, in gewisser Weise »arbeitsscheu« zu sein. Dabei war er jenseits jeglicher Gartenarbeit sehr fleißig und widmete sich technischen Aufgaben gern, auch wenn sie viel Mühe kosteten.30

Nach der Konfirmation beendete Johann Heinrich Dräger die Schule. Bei der Frage, was er einmal werden wolle, orientierte er sich am Beruf des Vaters und entschied, das Handwerk des Uhrmachers zu erlernen. In erster Linie musste er jetzt aber Geld verdienen. In seinen Lebenserinnerungen heißt es hierzu: »Zuerst half ich meiner Mutter beim Handeln und bei den Gartenarbeiten. Dann kamen Nachbarn und baten mich, ihre stehengebliebenen Uhren wieder in Gang zu setzen. Ich beschränkte mich zuerst darauf, die Uhren zu ölen. Aber allmählich bekam ich Mut. Ich nahm die Uhren mit nach Hause, nahm sie auseinander, reinigte die einzelnen Teile, putzte die Messingteile hübsch blank, setzte sie wieder zusammen. Wenn die Uhren dann ihre Schuldigkeit taten, bezahlte man mir gern meine Tätigkeit. … Mutter förderte mit Rat und Tat meine neue Tätigkeit. Genau wie früher ihrem Manne, half sie mir häufig, die Uhren zu neuem Glanz herzurichten. Ganz allmählich wurden mir auch Taschenuhren anvertraut. Doch auf diesem Felde merkte ich bald die Unzulänglichkeit meines Könnens. Besonders Taschenuhren, in denen Teile zerbrochen waren, widerstanden meiner Kunstfertigkeit. Wollte ich diese Aufgabe bewältigen, mußte ich Unterricht nehmen.«31

Sein Blick richtete sich auf die nahegelegenen Orte Winsen und Bergedorf. In Winsen gab es, nach Johann Heinrich Drägers Erinnerung, nur einen Uhrmacher; dieser schlug dessen Anfrage, ob er ihn als Lehrling aufnehmen könne, aus. In Bergedorf hatte er vorerst auch keinen Erfolg.32

Aber Johann Heinrich blieb hartnäckig. Sein Berufswunsch stand fest. Letztlich fand er in Bergedorf doch noch einen alten Uhrmacher, der kein Geschäft mehr betrieb und dem jungen, wissbegierigen Dräger Unterricht erteilte. Die Lehre trug Früchte und Johann Heinrich reparierte bald neben Wanduhren auch die kompliziertesten Taschenuhren.33

So war er also zunächst in die Fußstapfen seines Vaters und Großvaters getreten und arbeitete als Uhrmacher. Daneben betrieb Johann Heinrich noch einen Uhrenhandel. Die Uhren bezog er aus Hamburg. Es zeigte sich bald, dass der Handel mehr einbrachte als die Reparaturen.34

In seiner freien Zeit beschäftigte sich Johann Heinrich mit seiner »geliebten Naturlehre«, wie er es selbst ausdrückte. Viel wurde experimentiert und »allerlei kleine Apparate« wurden gebaut.35

Auch mit dem Geschäft der Mutter ging es erfolgversprechend weiter. 1864 verfügte sie über genügend finanzielle Mittel, um auf der Howe einen Bauplatz für ein eigenes Haus zu erwerben. Im Herbst begann der Bau eines Doppelhauses am Süder Querweg 328. Wegen der Nähe zur Elbe musste das Grundstück vor Baubeginn mit Sand aufgeschüttet werden. Während der Arbeiten wohnten Mutter und Sohn bei Hein Timmann, dessen Haus, in dem er eine Gastwirtschaft betrieb, an der Anlegestelle Hobrack lag. Timmann war ein Jugendfreund Johann Heinrich Drägers.

Ostern 1865 konnten die Drägers den rechten Teil des neuen Hauses beziehen.36 Es war ein solider Backsteinbau mit Dachplatten und zwei Schornsteinen. Zur überdachten Eingangstür gelangte man über eine von zwei Seiten begehbare Treppe aus Stein. Im Keller des Hauses richtete sich Johann Heinrich eine Werkstatt für seine Uhrreparaturen ein.37

Das Haus von Margarete Hey in Kirchwerder.Es ist zwar nicht das Haus der Familie Dräger in Kirchwerder, aber das Foto gibt eine Vorstellung von den Wohnverhältnissen der Drägers in jener Zeit. Margarete Hey war eine Verwandte der späteren Ehefrau von Bernhard Dräger und war in der Familie als Tante Hey bekannt.

Innenansicht des Hauses von Tante Heyin Kirchwerder. Ähnlich mag es bei den Drägers auch ausgesehen haben.

Vierländer Kinderbeim Spielen. Auch diese Fotografie vermittelt einen Eindruck von den Lebensverhältnissen, in denen Bernhard Dräger aufwuchs.

Der junge Mann zeigte sich aber auch ganz anderen geschäftlichen Aktivitäten gegenüber offen. So hatte ihm ein Freund eine Feuerversicherungsagentur übertragen, die sich recht lukrativ entwickelte. Zudem wurden durch die Agentur seine Beziehungen zu Hamburg enger, und er machte mit Georg Neidlinger Bekanntschaft, einem Generalagenten des US-amerikanischen Nähmaschinen-Herstellers Singer für Europa.38

Damals gab es für US-Nähmaschinen, die bereits seit 1853 in Europa verkauft wurden, keine nennenswerte Konkurrenz. Dies ermöglichte es Firmen aus den USA, den europäischen Markt rasch zu erobern. Führend war hierbei die Firma Singer.39 Im Jahr 1865 erhielt der 22-jährige Georg Neidlinger den Auftrag, von Hamburg aus ein Filialnetz für Singer in Kontinentaleuropa aufzubauen. Er hatte mehrere Jahre in der New Yorker Singer-Fabrik als Mechaniker gearbeitet, wo er in kurzer Zeit ins Fabrikestablishment aufgestiegen war. In Hamburg gründete er zunächst die Firma »Singer-Generalvertretung Georg Neidlinger«, richtete Verkaufsräume sowie eine Werkstatt ein und machte sich dann zu Vertriebszwecken auf den Weg durch ganz Europa.40

Durch den Kontakt zu Neidlinger kam Johann Heinrich Dräger zu einer neuen geschäftlichen Aufgabe: Er handelte nun auch mit Nähmaschinen. Zum Verkauf besuchte er die Bauersfrauen der Umgebung. Das war ein mühsames Geschäft, da die Bevölkerung auf großer Fläche verteilt lebte. Ein Verkehrsmittel war das Dampfschiff. Johann Heinrich Dräger ging aber sehr viel zu Fuß. »Räder gab es damals noch nicht«, wie er selbst schrieb. Doch er war zäh und verkaufte Nähmaschinen mit gutem Erfolg.41

Auch im Privatleben kam es zu einschneidenden Veränderungen: Am 6. August 1869 heiratete Johann Heinrich Dräger die 19 Jahre junge Emma Maria Magdalena Puls, eine Schneiderin aus Altengamme. Geboren wurde sie am 18. November 1849 in Billwerder an der Bille. Sie war die Tochter von Johann Jürgen Tönnies und Katharina Puls, geborene Pruter. In den Quellen wird der Vater als »Ökonom im Armenhaus« genannt; das heißt, er war Verwalter eines Armenhauses.42

Als Johann Heinrich heiratete, war er 22 Jahre alt. Eine erhaltene Porträtzeichnung von Emma zeigt eine hübsche Frau mit großen hellen und wachen Augen. Zugleich hat ihr Blick einen leicht melancholischen Ausdruck.43 Das junge Paar und Johann Heinrichs Mutter Anna lebten zusammen in dem Haus am Süder Querweg, in dessen Dachstube schließlich am 14. Juni 1870 Alexander Bernhard Dräger auf die Welt kam. Sein Rufname war Bernhard.

Bernhard Drägers Kindheitsjahre in Kirchwerder

Bernhard Dräger wuchs in einem kleinbürgerlichen Milieu auf, das ihn prägte und dessen Werte und Tugenden er verinnerlichte. Kleinbürgerlich – das hieß, man war pünktlich, verfolgte konsequent einen Lebensplan, mehrte seinen Besitz, war verlässlich und prinzipientreu sowie gesellig mit seinesgleichen. Produktivität, Arbeitsfleiß, erarbeitetes Glück, Ordnung und Verachtung der Revolte gelten als weitere Wesenszüge des Kleinbürgers.44

Jene Wesenszüge finden sich auch bei der Familie Dräger, was etwa an vielen Stellen der Lebenserinnerungen des Vaters deutlich wird. Hier geht es um Familie, Fleiß, Arbeit, Aufstiegspläne und Verlässlichkeit. Dass Johann Heinrich Dräger zum Beispiel jeder radikalen politischen Umwälzung abgeneigt war, kann aus einer Schilderung der revolutionären Ereignisse im Jahr 1848 in Kirchwerder geschlussfolgert werden, die despektierliche Züge trägt. So machte er sich über die Einwohner lustig, die nach Bergedorf zogen, um politische Forderungen durchzusetzen, aber angeblich gar nicht wussten, was sie eigentlich wollten. Schließlich seien die vermeintlichen Revolutionäre unverrichteter Dinge zurückgekehrt. Der Großteil hätte ohnehin, so Johann Heinrich Dräger, sogleich bei Ankunft in Bergedorf das Wirtshaus aufgesucht.45

An einer Stelle in den Lebenserinnerungen heißt es: »Ganz allmählich haben mich Arbeit und Leben – oder ist nicht die Arbeit das Leben? – zur Höhe der Gegenwartskultur hinaufgetragen.«46 Arbeit und Leben sind gleichgesetzt, was Voraussetzung für seinen Aufstieg war, der für Handwerker oder Kleinhändler als ein zentrales Lebensziel galt. Die Verhältnisse, in denen man lebte, wurden nicht als statisch angenommen. Mit den Tugenden des anständigen Bürgers war es vielmehr möglich, weiterzukommen und die eigene Lebenssituation zu verbessern.47

Gerade die Idee des Aufstiegs ist in Johann Heinrich Drägers Lebenserinnerungen sehr präsent: So werden die Lebensverhältnisse der Familie Dräger als bescheiden beschrieben. Es wird deutlich, dass die Familie streng haushalten musste. Vornehmliches Ziel des Uhrmachers und Nähmaschinenverkäufers war es, aufzusteigen. Johann Heinrich Dräger stellte im Zusammenhang mit den einfachen Verhältnissen, die seine Kindheit bestimmten, sogar einen Bezug zu den Lehren Ernst Haeckels her, der Ende des 19. Jahrhunderts zu den vehementesten Vertretern fortschrittstheoretischer Anschauungen gehörte. Johann Heinrich Dräger schrieb: »Wenn ich heute an unser Heim zurückdenke, so empfinde ich die Einfachheit der damaligen Lebensweise als etwas fast Unmögliches. Nach Haeckel muß jedes Einzelwesen in großen Zügen den Entwicklungsgang der ganzen Gattung noch einmal zurücklegen. Wenn dieser Satz ursprünglich auch nur für die biologische Entwicklung geprägt ist, für mich gilt er auch äußerlich. In der Kindheit lebte ich vollständig unter mittelalterlichen Verhältnissen, ich möchte fast sagen: Ausgang der Steinzeit.« Durch seine Arbeit hatte er aber in die Höhen der Gegenwartskultur emporsteigen können. Er schrieb: »Der Kontrast zwischen dem materiell armen Knaben und dem jetzigen Manne, dem alle Kulturmittel zur Verfügung stehen – er ist riesengroß.«48

Basis für einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg war für den Kleinbürger die Familie, die idealerweise einen Handwerksbetrieb unterhielt. Am besten befand sich dieser im eigenen Haus. Die Einheit von Haushalt und Produktion galt als optimal. So war der Kleinbürger räumlich im Kleinbetrieb, in einer Werkstatt oder einem Laden verortet; seinen sozialen Ort bildete die Familie.49

Bei den Drägers waren all diese Haltungen und Voraussetzungen gegeben, und das zeitigte auch erste Erfolge: Das Geschäft der Mutter ging nach wie vor gut, Johann Heinrich hatte sein Auskommen als Uhrmacher, und er hatte eine Familie gegründet, die in einem neuen Haus wohnte, das schon komfortabler war als die Kate, die dessen Vater bei seiner Ankunft in Kirchwerder bezogen hatte. Wichtig war, dass die Drägers das neue Haus als Eigentum besaßen. Ein erster Aufstieg war also schon geschafft.

Die Welt der Drägers in Kirchwerder schien in Ordnung zu sein. Johann Heinrich schrieb: »Die Zeit war wieder im Geleise. Ich lief wieder hinter meinen Uhren- und Nähmaschinenkunden her, und meine Mutter stand ihrem Handel mit Manufakturwaren vor.«50

Das Geburtshausvon Bernhard Dräger um 1880. Emma und Johann Heinrich heirateten 1869. Am 14. Juni 1870 bekamen sie ihr erstes Kind: Bernhard Dräger.

Emma Dräger, geborene Puls,Bernhards Mutter. Emma wurde am 18. November 1849 in Billwerder geboren. Die Zeichnung fertigte ihr Bruder Rudolph im Jahr 1866 an.

Doch dann erkrankte Bernhard Drägers Mutter plötzlich schwer.51 Schon im Frühjahr 1873 – Bernhard war damals etwas über zweieinhalb Jahre alt – hatte sie ernste Beschwerden gehabt. Die Krankheit wurde schlimmer und im Herbst konnte Emma Dräger sich nicht mehr um ihren Sohn Bernhard kümmern. So kam ihre Mutter, Katharina Puls, nach Kirchwerder, um die kranke Tochter zu pflegen. Johann Heinrichs Mutter, Anna, sorgte von nun an für Bernhard. Anna Dräger ging offensichtlich besonders liebevoll mit ihrem Enkelkind um. Johann Heinrich schrieb in seinen Lebenserinnerungen: »Sie hatte eine brave Ziege und bei deren Milch gedieh der Knabe. Zum Dank liebte er seine Großmutter und seine Ziege über alles. Ich konnte also beruhigt meinem Geschäfte nachgehen.«52

Für Bernhards Mutter gab es keine Rettung mehr. Sie starb am 17. März 1874, nicht einmal 25-jährig, und hinterließ ihren Mann mit dem nicht ganz vierjährigen Sohn.53

Damals war es üblich, dass verwitwete Ehepartner relativ schnell wieder heirateten, vor allem damit unmündige Kinder versorgt waren. Tatsächlich fand Johann Heinrich Dräger schon ein Jahr nach dem Tod von Bernhards Mutter in Antonie Petersen, genannt Tony, eine neue Frau. Im Herbst 1875 fand in Kirchwerder die Hochzeit statt.54

Antonie Petersen, geboren am 13. Oktober 1852, stammte aus Lübeck. Ihr Vater war Kaufmann und Inhaber eines Porzellangeschäfts in der Lübecker Sandstraße.55 Für die Städterin war es zunächst nicht leicht, sich in die neuen Verhältnisse einzufinden. Johann Heinrich Dräger schrieb: »Meine Frau, die ihre Kindheit in städtischen Verhältnissen verlebte, konnte sich schwer an das mehr als einfache ländliche Leben gewöhnen, obgleich sie sich alle Mühe gab.«56 So erlernte sie »mit wahrer Leidenschaft« die Gemüsegärtnerei, war offensichtlich also von Anfang an darauf bedacht, das Bestehende zu pflegen und sich für den Lebensunterhalt und das Fortkommen der Familie zu engagieren.57

Bernhard Drägerim Alter von etwa fünf Jahren. Als er vier Jahre alt war, starb seine Mutter. Sein Vater Heinrich heiratete wieder, und zwar Antonie Petersen aus Lübeck.

Bernhard Dräger als Schuljunge um 1877.Er sitzt als Erster in der zweiten Reihe links vor der Zollenspieker-Schule in Kirchwerder mit Lehrer Fischer, dessen Ehefrau und anderen Schülerinnen und Schülern.

In sozialer Perspektive kann die Heirat für Johann Heinrich Dräger als vorteilhaft bezeichnet werden: Antonie Petersen kam aus der Hansestadt Lübeck und war eine Kaufmanns-Tochter. Er war dafür ein »stattlicher Kerl«, wie Bernhard später einmal schrieb, und galt wohl ob seines Ehrgeizes und seiner Talente als in beruflicher Hinsicht vielversprechend.58

Es ist nicht überliefert, wie der kleine Bernhard den Tod der Mutter überwunden hat. Der Vater und seine Großmutter werden ihm eine Stütze gewesen sein. Zu seiner Stiefmutter hatte Bernhard zunächst ein recht schwieriges Verhältnis, wie ein spätes Zeugnis seiner Gefühlswelt zeigt. Einmal vertraute er sich Johann Wilhelm Haase-Lampe an.59 Bernhard soll gesagt haben: »Das einzige, was mich im Leben viel gequält und bedrückt hat, ist das Verhältnis zu meiner zweiten Mutter. Ich kann Ihnen die seelischen Schmerzen, die ich als Knabe durch diese Frau habe erleiden müssen, nicht im Einzelnen schildern. Mein Vater sah wohl, wie es um das Verhältnis zwischen mir und meiner Mutter stand und die Folge davon war, dass er mir seinen besonderen Schutz angedeihen ließ. Meine Mutter erblickte darin eine Bevorzugung meiner Person und es entstand bei ihr ein unausrottbares Gefühl stärkster Eifersucht. Diese Eifersucht auf mich ließ sie mich seelisch und körperlich auf das Schwerste fühlen.«60

Sein Vater Johann Heinrich Dräger berichtete in seinen Lebenserinnerungen allerdings an keiner Stelle, dass das Verhältnis von Stiefmutter und Stiefsohn in irgendeiner Weise getrübt gewesen sei. Auch sind keine weiteren Äußerungen Bernhards über seine Stiefmutter bekannt, die einen ähnlichen Tenor hätten. Die vorhandenen Quellen wie Briefe und ein Gedicht Bernhards zeichnen vielmehr das Bild einer harmonischen Familie, in der die Mutter immer um das Wohl ihrer Kinder bemüht ist.61 Das einzige Zeugnis für die erlittenen körperlichen und seelischen Schmerzen sind die Aufzeichnungen des stilistisch zur Gefühligkeit neigenden Journalisten Haase-Lampe. Wie das Verhältnis wirklich war, lässt sich aus den vorhandenen Quellen nicht rekonstruieren. Jedenfalls gab Bernhard Dräger in dem Gespräch mit Haase-Lampe an, dass mit der Geburt seines Halbbruders Siegmund sein Verhältnis zur Stiefmutter besser geworden sei.62Bernhards Bruder Siegmund wurde am 5. September 1876 in Kirchwerder geboren.63

Man muss bedenken, dass Bernhard damals erst fünf Jahre alt war. Möglicherweise war er durch den frühen Tod seiner leiblichen Mutter traumatisiert und von dem raschen Auftreten einer »neuen« Mutter seelisch überfordert, weswegen sie ihm vielleicht negativer vorkam als sie es in der Realität war. Denkbar ist aber auch, dass für die junge Frau ihre neue Rolle als Erziehungsberechtigte eines um seine Mutter trauernden Jungen zu schwer war und sie seinen emotionalen Bedürfnissen deswegen nicht Genüge tun konnte. Aus jener Zeit stammt eine Fotografie des vielleicht fünf Jahre alten, herausgeputzten Bernhard, auf der er etwas verloren wirkt und traurig unter seinem kleinen Hut hervorblickt. Ob dies Ausdruck seiner Trauer um die Mutter oder der ungewohnten Situation im Fotoatelier geschuldet war, darüber lässt sich im Nachhinein nur spekulieren.64

Aus den 1870er Jahren sind noch weitere Aufnahmen von den Drägers überliefert. Die erste erhaltene Fotografie von Johann Heinrich Dräger stammt aus dem Jahr 1874.65 Ein Foto von Siegmund, Tony und Bernhard und eines von der ganzen Familie, ebenfalls Atelieraufnahmen, datieren auf das Jahr 1879.66 Damit nahm die Familie an der neu aufgekommenen Mode des Fotografierens teil, die in wenigen Jahren auch die unteren bürgerlichen Schichten erreicht hatte. Das Fotografieren wurde für das Bürgertum generell zu einem wichtigen Medium der Selbstdarstellung. Einzelporträts und Gruppenaufnahmen der Familie setzten die Ideen einer bürgerlichen Kultur ins Bild. Die Atelierfotografien der Familie Dräger sind insofern auch als ein Ausdruck von Johann Heinrich Drägers Anspruch und seines Selbstverständnisses zu verstehen, zum Bürgertum dazuzugehören.67

Ein Unterschied zu den damals üblichen bürgerlichen Fotografien ist, dass Requisiten, die im Atelier gemeinhin eingesetzt wurden, um ein bürgerliches Ambiente zu schaffen, fehlen. Während die Existenz der Fotos an sich auf den Wunsch nach Teilhabe verweist, ist das eigentliche Arrangement wohl den bescheideneren Lebensumständen in den Vierlanden geschuldet. Auffallend ist bei dem Bild von Tony Dräger und den beiden Kindern Bernhard und Siegmund allein, ohne den Vater, dass sich Tony in Vierländer Tracht zeigt. Die Tracht, die Tony Dräger trägt, ist ein Ausdruck ihrer Zugehörigkeit zur Heimat ihres Mannes. Aus den Vierlanden stammte sie selbst nicht, trug hier für das Foto aber die traditionelle Kleidung der Region.68

Bernhard Dräger war ein eher zurückhaltendes Kind. Darauf verweisen die Erinnerungen von Hein Timmann, dem Schulfreund Johann Heinrich Drägers: »Bernhard war ein kleiner feingliedriger Junge mit klugen, lieben Augen. Er sah büschen piepsig aus; aber im Spiel mit den anderen Jungs am Hobrack war er zäh und überlegen, oft still und scheu. … Wie damals alle Vierländer Jungs trug er von Mutter und Großmutter eigengemachtes Zeug, er hatte dabei Fußzeug, wie es für unser Marschland gut war. Wir lebten – wenn wir das Heute mit Früher vergleichen – in einer von Sparsamkeit regierten Zeit.«69

1876 kam Bernhard in die Schule. Zu Ostern wurde er in die Zollenspieker-Schule, die auch schon sein Vater besucht hatte, aufgenommen. Von Bernhards Kirchwerder Schulzeit ist außer den kurzen Einblicken in Johann Heinrich Drägers Lebenserinnerungen nichts überliefert. Hier heißt es: »Er ging in dieselbe Schule, in der ich mein ABC