Bis wir uns wiedersehen - Daniela Felbermayr - E-Book

Bis wir uns wiedersehen E-Book

Daniela Felbermayr

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Beschreibung

Was, wenn das Schicksal dir eine zweite Chance schenkt? Scarlett Holloway lebt in New York. In ihrem Beruf als Ärztin erfolgreich, ist ihre Beziehung gerade zum Scheitern verurteilt, als sie bei ihrer verpatzten Geburtstagsparty den attraktiven - und ebenfalls vergebenen - Staatsanwalt Charlie kennen lernt. Die Funken zwischen den beiden springen sofort über und das Schicksal scheint es gut mit ihnen zu meinen - denn plötzlich laufen sie sich immer wieder über den Weg - und kommen sich langsam näher. Scarlett ahnt nicht, welch besondere Rolle Charlie in ihrem Leben einnehmen wird - und welche er schon lange darin spielt!

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Bis wir uns Wiedersehen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum:

© 2013 by Daniela Felbermayr

Text und Titel: Daniela Felbermayr

Kontakt: [email protected]

Titelbild: rausch-gold.com

1

 

Diesmal würde es ihr Traummann sein. Mit Sicherheit. Das wusste sie. Daran gab es gar keine Zweifel. Das hatte sie vom ersten Augenblick an gewusst, als sie seine Stimme am Telefon gehört hatte, und nachdem sie mehrere Stunden miteinander telefoniert hatten, war sie sich dessen sicher. Okay, zugegeben, sie hatte zwar schon hier und da ein Blind Date gehabt, und, ja, auch den einen oder anderen Jungen mehr als nur nett gefunden, aber diesmal war es etwas Anderes. Es war irgendwie magisch, wie gut sie zueinanderpassten, wie sie harmonierten, wie sie sich in den Anderen einfühlen konnten. Sie waren wie Seelenverwandte. Wie zwei Teile eines Ganzen, die einst zerbrochen worden waren. Er war genau der Richtige. Aber, diesmal hatte sie auch kein Date mit einem Jungen, sondern mit einem Mann. Mit einem Mann, der Werte und Prioritäten hatte, die weit über jenen der High School Jungs lagen, ein Mann, der nach einer langfristigen Beziehung suchte, die nicht nur auf einem Haufen Schminke und Haarspray aufbaute. Ein Mann, dessen Horizont nicht bei der Nasenspitze aufhörte. Ein Mann, mit dem sie die Zukunft planen konnte und der sie so nahm, wie sie war.

 

Chuck war kein unreifer, pubertierender High-School-Junge, dem das Aussehen wichtiger war, als der Charakter und der alles andere außen vor ließ. Das hatte er ihr mehrmals am Telefon versichert und sie glaubte ihm. Immerhin lebte er ganz allein in seiner Studentenbude in New York, bereitete sich auf das neue Studienjahr vor und hatte ihr mehrmals versichert, dass er diese künstlichen Tussis nicht ausstehen konnte, die einem an jeder Ecke begegneten. Er suchte nach etwas Greifbarem, nach etwas Fixem, etwas Sicherem. Nacht etwas, was sie von Grund auf war.

 

Wenn sie allerdings ehrlich mit sich war, dann hatten ihr das schon mehr Männer (nein, halt, mehr JUNGS aus der High School) erzählt, doch sie hatte gelernt, dass pubertierende High School-Jungs einem schlichtweg alles erzählten, wenn sie glaubten, es mit einer hübschen Cheerleaderin zu tun zu haben, und sich eine Chance ausrechneten, sie herumzukriegen. Wenn sie dann herausfanden, dass ihr Gegenüber bei der Selbstbeschreibung im Internet etwas (oder ziemlich) geschummelt hatte, waren sie meist ganz schön ungehalten. Aber so war das nun einmal. Hübsche Mädchen hatten es einfach. Mädchen wie sie hatten oft Tage, an denen sie am besten gar nicht erst aus dem Bett stiegen.

 

Chuck war mit Sicherheit anders. Er war über dieses Trophäen-sammeln an der High School längst hinaus. Das hatte er ihr gesagt. Chuck war auf dem College, somit hatte er eine komplett andere Weltanschauung, als die Idioten an der High School, die sie ohnehin nur mobbten und tyrannisierten, weil sie nicht unbedingt in das gängige Schönheitsideal hineinpasste. Das nahm sie zumindest an. Er hatte ihr auch bereits am Telefon bestätigt, dass ihm das Aussehen nicht so sehr wichtig war (vermutlich, weil er dachte, es mit einer Traumfrau zu tun zu haben, und wer würde vor einer Traumfrau schon zugeben, dass er sie nur wegen ihres Aussehens interessant fand)? Sie hatten eine ganze Weile über die Optik sinniert (sie hatte ihm immer noch nicht gebeichtet, dass sie bei ihrer Beschreibung am Telefon etwas geschummelt hatte), und waren zu dem Punkt gekommen, dass Optik allein in einer Beziehung einer der am wenigsten wichtigen Punkte war. Optik war zwar am Anfang enorm wichtig, doch mit der Zeit verlor sie an Gewichtung im Hinblick auf eine gemeinsame Zukunft. Dann war es wichtig, an einem Strang zu ziehen, gemeinsame Ziele zu haben und diese auch zu verfolgen.

 

Sie und Chuck hatten bereits eine Menge gemeinsame Ziele, die sie verfolgen konnten. Irgendwie hatte es sich ergeben, dass sich aus den oberflächlichen Gesprächen, die sie ganz zu Anfang miteinander geführt diese großartige Vertrautheit entwickelt hatte. Sie hatten zweifellos eine Menge gemeinsam. Sie verstanden sich prächtig. Und auch, wenn sie zu Anfang beide versucht hatten, das Ganze mit einer gewissen Nüchternheit zu betrachten, waren sie am Ende ein Liebespaar geworden. Ein Liebespaar, das sich auch eingestand, was es für den Anderen empfand, das eine gemeinsame Zukunft plante und das genauso war, wie die vielen anderen Paare, die einem tagein tagaus überall begegnen. Mit zwei kleinen Unterschieden. Der Erste war, dass sie sich noch nie gesehen hatten. Und der Zweite war, dass Chuck von einem Mädchen träumte, das ganz anders aussah, als jenes, das er bald treffen sollte. Und dennoch hatten sie gemeinsame Ziele. Sie wollte nach der High School nach Harvard und dort Medizin studieren. Wenn Chuck, der zur Zeit auf der Columbia war, mit seinem Studium fertig war, würden sie in eine gemeinsame Wohnung irgendwo in der Nähe von Boston ziehen, wo er einige Zeit nach seinem Abschluss arbeiten würde und wenn sie ihr Studium abgeschlossen hatte, würde – sie hatten es damals kaum auszusprechen gewagt – einer Hochzeit nichts mehr im Wege stehen. Sie wollten beide keine Kinder und sich stattdessen auf ihre Karrieren konzentrieren, wollten in einem Vorort in einem netten Haus leben und sich die Welt ansehen. Chuck hatte gesagt, er hätte bereits jetzt den perfekten Heiratsantrag für sie im Hinterkopf und sie hatte geantwortet, dass sie es kaum abwarten konnte, ihn zu hören. Es war so perfekt, wie es nur sein konnte, und sie hatte sich vorgenommen, die Geschichte irgendwann einmal aufzuschreiben, weil sie etwas Besonderes war. Die Geschichte aufzuschreiben und sie binden zu lassen würde übrigens auch ein perfektes Hochzeitsgeschenk für Chuck abgeben. Und gleichzeitig in weniger aufwändiger, verkürzter Form ein nettes Give-away für die Hochzeitsgäste darstellen.

 

Sie hatte Chuck im Internet, im Heartbeat-Chat kennengelernt, der Plattform, die sie am meisten zum Chatten nutzte. Sie war dort als „Barbie-Baby1980“ registriert, einen Nickname, den sie aus dem Grund gewählt hatte, weil er auf Jungs anziehender wirkte, als wenn sie sich selbst „übergewichtiges Pickelgesicht mit Plastikhaaren“ genannt hätte. Für Scarlett Holloway war Barbie der Inbegriff von Schönheit und genau das Ideal, von dem sie selbst so weit entfernt war wie vom Mond. Barbie war schön, Barbie war schlank. Barbie hatte Freunde, sah immer gut aus, und jeder wollte mit ihr befreundet sein. Jeder Typ war scharf auf langhaarige, schlanke Blondinen und jeder Typ war scharf auf Barbie. Genau aus diesem Grund hatte sie sich zum Geburtstag auch die hellblonden Extensions gewünscht, gegen die ihre Mutter sich ewig lange verwehrt hatte und die mittlerweile zwar etwas ausgefranst aussahen, die sie aber immer noch ihrem Traum etwas näher brachten: sie hatte lange blonde Haare und musste zumindest in diesem Punkt nicht schwindeln, wenn sich sich im Chat selbst beschrieb.

 

Sie hatte an jenem Abend, der ihr junges trostloses Leben als pummelige Einzelgängerin so derart verändern sollte, eigentlich mit einem Columbia-Studenten namens Andrew Sutherfield gechattet, der langweilig zu sein schien, nur ganz langsam zurückschrieb und irgendwann dann völlig verschwunden war, ohne sich von ihr zu verabschieden. Um ihm noch eine letzte Chance zu geben, schrieb sie nach einer ganzen Weile „noch da“ in das Chatfenster, das sie für den Privatchat mit Andy geöffnet hatte, doch es kam nichts mehr zurück. An diesem Abend würde sie wohl niemanden mehr kennenlernen, registrierte sie und klickte das Chatfenster weg. Es war schon nach neun und der Chatroom war wie leergefegt – was zum einen wohl daran lag, dass Frühsommer war und fast jeder etwas draußen mit Freunden unternahm, und zum Anderen, dass am nächsten Tag Schule, und es gerade die Zeit der Abschlussklausuren war. Jeder Zweite hatte hier und dort noch eine Prüfung, musste diesen oder jenen Test schreiben oder stand in dem Einen oder anderen Fach auf einer Note, die es noch zu verbessern galt. Sie war gerade dabei gewesen, den Computer herunter zu fahren, als das Chatfenster von Andrew Sutherfield wieder aufpoppte.

„Hy“ stand da geschrieben.

„Andy?“ tippte sie zurück. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte sie. Vielleicht könnte sie diesem Andy die Telefonnummer entlocken und später noch etwas mit ihm telefonieren. Sie hatte herausgefunden, dass sie am Telefon irrsinnig anziehend auf Jungs wirkte und fast jeden zu einem Date überreden konnte. Und irgendwann würde sie den einen Richtigen auf diese Art und Weise bestimmt finden. Den Einen, dem es nicht so wichtig war, dass sie nicht rank und schlank war. Den Einen, der in ihr sah, wer sie war, und nicht, wie sie aussah. Irgendwo da draußen würde er sein. Vielleicht war es Andy.

„Nicht Andy“, stand wenige Sekunden späte in dem kleinen Feld vor ihr. Sie war überrascht, wie schnell die Antwort gekommen war.

„Sondern?“ schrieb sie zurück. Sie setzte sich wieder auf ihren Schreibtischsessel und zog ihn zum Tisch heran.

 

Anfangs hatten sie sich über ganz belanglose Dinge unterhalten, wie, wo sie zur Schule ging, woher sie kamen und was sie in ihrer Freizeit machten. Chuck hatte auf sie gleich wie jemand gewirkt, der sie unglaublich interessierte. Er kam irgendwie so...selbstbewusst, fast ein wenig arrogant herüber, sodass sie zu Anfang beinahe darum kämpfen musste, mit ihm zu chatten. Er meinte, er wäre nicht hier, um zu chatten, sondern um etwas für eine Arbeit zu recherchieren, dass er auf ein Buch wartete, das gerade ein Kommilitone verwendete, und dass er offline gehen würde, sobald das Buch frei wäre, und außerdem hätte er nachher noch eine Verabredung. Er sagte ihr unverhohlen, dass er eigentlich kein Interesse an einem so jungen Mädchen wie ihr hatte, immerhin war sie erst siebzehn und er bereits fünfundzwanzig.

 

Sie hatten sich anfangs über ganz unverfängliche Dinge unterhalten, wie etwa, dass sie beide gerne ins Kino gingen und dass sie beide Reeses Peanutbuttercups (die mit weißer Schokolade) liebten, dass sie den Film „Independence Day“ cool fanden und dass sie beide mit den Green Bay Packers beim Superbowl mitgefiebert hatten. Irgendwann hatten sie festgestellt, dass sie ziemlich viel gemeinsam hatten und nach zwei Stunden im Chat hatten sie Telefonnummern ausgetauscht. Chuck hatte ihr erzählt, dass die Bibliothek, von der aus er chattete, in Kürze schließen würde, dass das Buch, weswegen er gekommen war, mittlerweile von einem anderen Studenten mitgenommen worden war und dass er das Date mit dem Mädchen schon vor einer Stunde abgesagt hatte. Als die Bibliothekarin durch die Gänge marschierte und die wenigen verbliebenen Leser aufforderte, zusammenzupacken und aufzubrechen, hatten Chuck und sie bereits Telefonnummern und E-Mail-Adressen ausgetauscht und vereinbart, noch am selben Abend – bzw. in derselben Nacht, immerhin war es schon fast Mitternacht – zu telefonieren.

 

Nach einigen Tagen hatten sie begonnen, ihre "Beziehung" zu vertiefen. Hatten sich zuerst zaghaft gesagt, dass sie einander wirklich mochten und die Telefonate genossen, sich schließlich mit "Ich hab dich lieb" verabschiedet, sich Nachrichten, wie "du fehlst mir" gesimst und jeden Morgen nach dem Aufstehen kurz miteinander telefoniert. Obwohl sie es hasste, morgens früh raus zu müssen, war sie für Chuck immer schon um halb sieben aufgestanden. Er musste um sieben zu seinem Job im Kopierladen und zu den Vorlesungen, sodass sie praktisch nur diese halbe Stunde am Morgen, und natürlich die Abende zum Telefonieren hatten. Sie richteten ihre Tagesabläufe nach den Telefonaten aus, Chuck legte Kopierladendienste und Vorlesungen so, dass er abends Zeit hatte, sagte sämtliche Dates und Verabredungen ab und traf sich nur noch selten mit seinen Freunden. Sie selbst lernte den Nachmittag über, ging abends mit den wenigen Freundinnen, die sie hatte, kaum noch weg und hielt sich die Abende für Chuck frei. Es war schön, frühmorgens mit ihm zu telefonieren, während sie beide noch in ihrem Betten lagen. Es war fast so, als würden sie nebeneinander aufwachen, nachdem sie auch jeden Abend vor dem Einschlafen miteinander telefoniert hatte. Es war schön, jemanden zu haben, von dem man wusste, dass er an einen dachte, und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie das Treffen noch eine Weile vor sich hergeschoben. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass sie jemanden aus dem Internet traf, und es war auch nicht das erste Mal, dass sie für jemanden intensivere Gefühle hatte, so wie für Chuck jetzt. Klar, er war wirklich etwas Besonderes. Allein schon, weil er ein Student und kein High School-Junge war, ein Mann, der mitten im Leben stand, einer, der kein Problem damit hatte, seine Gefühle auszusprechen und ihr seine Zuneigung zu zeigen. Doch alles in allem kam ihr das aktuelle Szenario ziemlich bekannt vor. Und würde es so enden, wie bisher, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als das Treffen noch etwas hinauszuschieben.

2

 

 

Scarlett Holloway war in diesem Sommer siebzehn Jahre alt und würde im Herbst ihr letztes Jahr an der Casco Bay High School in Portland antreten. Sie war nicht gerade das, was man als einen Traumteenager bezeichnen würde und sie konnte in späteren Jahren auch nicht auf Pyjamaparties mit Freundinnen, den ersten Kuss auf dem Schulball oder das erste Mal Sex auf der Rückbank des Autos des Quarterbacks zurückblicken. Stattdessen würden einsame Abende zu Hause vor dem Computer oder dem Fernseher oder hinter einem Buch einmal ihre Erinnerungen dominieren, Abende, in denen sie sich fragte, warum ihr all die Erfahrungen, die andere in ihrem Alter machten, verwehrt blieben.

 

Scarlett war etwa einen Meter siebzig groß und wog an die einhundertundsiebzig Pfund. Mindestens. Sie hatte sich eine ganze Weile lang nicht mehr auf die Waage gestellt, weil diese ohnehin immer nur deprimierende Ergebnisse lieferte und sie sich lieber sagte, dass sie sicher ein, zwei Pfund abgenommen hatte, anstatt das Gegenteil bestätigt zu bekommen. Ihr langes Haar, das eigentlich aus Extensions bestand, die etwas ausgefranst waren und schon einmal bessere Tage gesehen hatte, und die fast bis zu den Hüften reichten, hatte sie vor Kurzem strohblond gefärbt, weil sie dachte, dass Blondinen eben "bevorzugt" würden, wirkte längst nicht mehr so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Man konnte die knubbeligen Übergangstellen erkennen und an den Spitzen waren sie so ausgedünnt, dass sie wirkten, als hätte ein Schwarm Spechte sich daran zu schaffen gemacht. Alles in allem würden Blondinen vermutlich auch bevorzugt werden, Blondinen jedoch, die mindestens einhundertundsiebzig Pfund wogen, wurden jedoch nur in Sachen Mobbing an der Schule bevorzugt, sonst aber auch nirgendwo.

 

Ihr Gesicht kam einem Schlachtfeld gleich. Es war übersät mit Pickeln und Narben von Pickeln, weil sie, als sie in die Pubertät gekommen war, unter keinen Umständen Pickelcreme und Gesichtswasser verwenden wollte. Pickelcreme und Gesichtswasser waren für sie, genauso wie BHs, eindeutig Zeichen des Erwachsenwerdens, sodass sie so lange wie möglich darauf verzichtete. Mittlerweile waren die Pickel aber gottseidank nicht mehr so schlimm. Klar, es waren immer noch jede Menge davon auf ihren Wangen, ihrer Stirn und seitlich am Kopf, aber im Vergleich zu früher sah sie nicht übel aus.

 

Scarlett lebte in den geordneten Verhältnissen einer Patchworkfamilie in einer ruhigen Wohngegend in der Nähe des Piers in Portland. Ihre Mutter Grace hatte vor zwei Jahren ihren Stiefvater Anthony geheiratet, der zwei Söhne im Alter von sieben und fünf Jahren mit in die Beziehung brachte. Für Scarlett, die die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens als Einzelkind verbracht hatte, war die Umstellung auf ein Leben als „Große Schwester“ nicht immer einfach gewesen und vielleicht war auch die neue Familie mit ein Grund, warum sie sich so sehr nach einer Beziehung sehnte, in der sie die Nummer eins sein konnte und sich diesen Platz nicht mit ihren neuen Stiefbrüdern teilen musste.  

Sie hatte lange auf den besonderen Tag des Treffens hingefiebert. Mit gemischten Gefühlen war sie an jenem Morgen aufgewacht, just in dem Moment, als Chuck sie anrief. Sie wollten beide nicht auf ihr Morgentelefonat verzichten, bevor Chuck sich auf den Weg nach Portland machte. Die Fahrt sollte an die sechs Stunden dauern. Um vier Uhr nachmittags wollten sie sich im Bayside Cafe treffen. Immer wieder fragte sie sich während sie telefonierten, ob dies das letzte Mal sein würde, dass sie und Chuck liebe Worte austauschten, miteinander lachten, scherzten und sich sagten, dass sie sich lieb hatten. Sie wischte die Gedanken beiseite und versuchte, sich selbst einzureden, dass es auch gut möglich war, dass sie schon bald in Chucks Armen aufwachen würde. Doch die kleine, schwarze Wolke in ihren Gedanken saß hartnäckig fest. Was, wenn Chuck enttäuscht von ihr war? War es wirklich schon der richtige Zeitpunkt für ein Treffen? Die ersten Wochen hatten sie und Chuck sich angenähert, wollten nichts überstürzen und sich von Grund auf kennenlernen. Für Scarlett war es anfangs schwierig gewesen, sich damit anzufreunden, Chuck tatsächlich zu treffen. Je lieber sie ihn gewann, umso lieber hätte sie sich nicht mit ihm getroffen. Ihr war klar, dass er von ihrem Aussehen enttäuscht sein würde, würde er sie zu Gesicht bekommen. Sie hatten beschlossen, sich keine Fotos zu mailen, weil sie sich eben immer und immer wieder prophezeiten, dass ihnen das Aussehen des jeweils Anderen egal war. Und auch, wenn sie in den letzten Tagen oft darüber gesprochen hatten, dass es ihnen gar nicht mehr wichtig war, wie der jeweils

Andere aussah, so sah Scarlett dem Treffen mit gemischten Gefühlen gegenüber.

 

Sie hatte die Pickel mit einer dicken Schicht des billigen Make ups überdeckt, das sie extra für dieses Date im Drugstore am Ende der Straße besorgt hatte und das Make up mit einer ebenso dicken Schicht billigen Puders fixiert. Sie war kein Profi, was Make up betraf und jeder, der etwas geübter war als sie selbst, hätte sie wohl auf den furchtbaren Schminke-Rand aufmerksam gemacht, der entlang ihres Haaransatzes, vorbei an den Ohren bis hinab zum Kinn und auf der anderen Seite wieder hoch zur Stirn, verlief. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, da sie bei dreißig Grad im Schatten leicht darunter zu schwitzen begann und die Übergänge der alten Haarverlängerung so nicht so gut zu sehen waren. Sie hatte ihr Lieblingsdeo vom Regal genommen und sich die Achseln, den Hals und den Bereich hinter den Ohren eingesprüht, dann die Dose in ihrer braunen Handtasche verstaut und sich schließlich auf den Weg zu ihrem Date gemacht.

 

Bevor sie das Haus verlassen hatte, hatte sie noch einmal in den Spiegel gesehen und war mit sich selbst zufrieden. Sie trug die rote Stoffhose, die sie ihre Mutter überredet hatte, ihr zu kaufen, obwohl diese der roten Hose gegenüber skeptisch war. Sie war ziemlich eng geschnitten und hatte im Bootcut-Style ausgestellte Beine, die bei Scarlett aber aufgrund ihrer kräftige Waden eher wie Leggings wirkte. Alles in allem hatte die Hose einen Schnitt, der ein Kampfgewicht von einhundertundsiebzig Pfund nicht gerade vorteilhaft präsentierte. Dazu trug sie ein weißes Spaghetti-T-Shirt aus Stoff, dass, zugegeben, auch etwas zu eng geschnitten war und mehr Unvorteilhaftes zeigte, als dass es verbarg, aber sie hatte auf die Schnelle nichts Passenderes finden können. All ihre Ausgeh-Shirts waren in der Wäsche und mit einem flatterigen T-Shirt, das sie zu Hause anhatte, wollte sie nicht zu ihrem Date. Ihre Füße steckten in den schwarzen Turnschuhen, die den Buffalo-Schuhen so ähnlich sahen, die sie nie bekommen würde, weil ihre Eltern der Meinung waren, dass man niemals knappe zweihundert Dollar für ein paar Schuhe ausgeben sollte, wenn man nicht mit Nachnamen Rockefeller hieß. So hatte sie zu Weihnachten diese Schuhe bekommen, die zwar so ähnlich aussahen, wie Buffalo-Schuhe, aber nur die Hälfte davon kosteten und im Großen und Ganzen auch nicht übel waren.

 

Obwohl sie und Chuck sich erst für vier Uhr im Bayside Cafe verabredet hatten, war Scarlett schon um fünf Minuten vor halb vier dort. Sie wollte keinesfalls riskieren, dass sie sich verspätete und er wieder fuhr, und glaubte, versetzt worden zu sein.

 

Im Bayside war es dank der Klimaanlage im Vergleich zur Straße draußen angenehm kühl. Das Cafe war fast menschenleer, nur im hinteren Bereich saß ein kleines Grüppchen von alten Damen, das sich angeregt unterhielt und Kuchen aß. Scarlett lugte neugierig hinüber um festzustellen, ob sie eine von ihnen kannte, und stellte beruhigt fest, dass dem nicht so war. Ihre Großmutter war im Seniorenbund von Portland ziemlich engagiert und kannte eine Menge Rentner, die wiederum auch wussten, dass Scarlett ihre Enkeltochter war. Das Letzte, was sie wollte, war, dass sie auch noch erkannt wurde und Freundinnen ihrer Großmutter bei ihrem Date mit Chuck anwesend waren. Ihr Großvater scherzte immer, dass sie jeden Einwohner Portlands, der über sechzig war, samt seinem Lebenslauf kannte. Doch unter diesem Grüppchen befand sich kein bekanntes Gesicht. Eine Kellnerin stand hinter dem Tresen und wischte ihn mit einem Lappen ab.

 

Sie sah auf ihr Nokia. Es war gerade mal fünfundzwanzig Minuten nach drei, also noch kein Grund, nervös zu werden – oder etwa doch? Immerhin würde sie in kurzer Zeit den Mann treffen, mit dem sie darüber gesprochen hatte, wie sie einmal gerne heiraten würde, wo sie wohnen wollte und was sie am liebsten nachts im Bett trug.

 

„Na, was kann ich dir bringen?“

Scarlett wurde aus ihren Gedanken gerissen und sah die Kellnerin mit großen Augen an, die vor ihr aufgetaucht war. Es war eine Frau um die vierzig, die mit Sicherheit schon einmal bessere Tage gesehen hatte. Ihr kinnlanges, dünnes, braunes Haar fiel ihr in das eingefallene Gesicht, das einen gleichgültigen, beinahe verhärmten Eindruck machte.

„Ich hätte gerne Pfirsich-Eistee“, bestellte Scarlett, und sah erneut auf die Uhr, als die Kellnerin auf dem Absatz umdrehte und hinter dem Tresen verschwand.

 

Die Minuten vergingen wie Stunden, wie Ewigkeiten. Aber vielleicht war das auch gut so, sagte sich Scarlett. Das sind wohl die letzten paar Minuten, in denen du Single bist. In der nächsten halben Stunde ändert sich dein Leben komplett. Wenn im Herbst die Schule wieder beginnt, bist du nicht nur im Abschlussjahr, sondern du kannst offiziell jedem erzählen, dass du einen Freund hast, einen Freund, der noch dazu aufs College geht. Einen Freund mit einem eigenen Wagen, mit dem er dich vermutlich dann sogar von der Schule abholen wird. Du hast jemanden, mit dem du zum Schulball gehen kannst und jemanden, der mit dir zu den Spielen der High School Liga geht. Jemand, der samstags mir dir vor dem Fernseher liegt und sonntags an den Familiengrillnachmittagen teilnimmt.

 

Ohne es zu bemerken, hatte sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht festgesetzt.

 

„Hier, dein Eistee!“ Die Kellnerin war zurückgekommen und stellte ein großes Glas Eistee, in dem einige dicke Eiswürfel schwammen, vor ihr ab.

„Danke“, sagte Scarlett und nahm einen kleinen Schluck, um ihren trockenen Mund entgegen zu wirken. Verstohlen holte sie noch einmal ihr Deo aus der Tasche und sprühte es sich unter die Achseln. Dann steckte sie sich einen Kaugummi in den Mund.

 

„Was, wenn er selber hässlich ist“ schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Sie hatte sich schon ab und zu den Gedanken gemacht, was wohl passieren würde, wenn Chuck hässlich war. Wenn er dasselbe Spiel mit ihr spielte, dass sie mit ihm spielte. Was, wenn er richtig fett und ungepflegt war? Was, wenn er aussah, wie diese furchtbaren Bauarbeiter, mit einem ungepflegten Vollbart, einem Bauch, der über seine Hose quoll (noch mehr als ihr eigener) und wenn er grauenvoll stank, weil er es mit der Körperhygiene nicht so genau nahm? Doch sich darüber Gedanken zu machen, hatte sie keine Zeit mehr. Vor dem Cafe fuhr ein grüner 1976er Plymouth Fury vorbei, der seine Glanzzeiten längst hinter sich hatte. An der Beifahrerseite hatte er eine leichte Delle und die Radläufe waren angerostet. Auf der Heckscheibe prangte ein Aufkleber der Columbia, der fast die ganze Scheibe für sich einnahm. Der Wagen fuhr am Bayside vorbei auf einen der Parkplätze, die sich an der linken Seite des Gebäudes befanden. Kurze Zeit später verstummte das Brummen des Motors und man hörte eine Autotür zuknallen.

 

Scarlett schwitzte. Obwohl es hier drin angenehm kühl war, hatten sich Schweißperlen auf ihrer Stirn gebildet und vermehrten sich im Sekundentakt – gerade im „richtigen“ Moment. Schnell wischte sie mit dem linken Unterarm über ihre Stirn, um sie zumindest vorübergehend trocken zu bekommen, was von wenig Erfolg gekrönt war, da sich gleich wieder neue bildeten. Es war okay, zu schwitzen, immerhin traf man ja nicht jeden Tag den Mann seiner Träume.

 

Die Zeit schien still zu stehen. Sie hatte versucht, einen Blick auf den Fahrer des Fury zu erhaschen, als dieser am Fenster des Bayside vorbeigefahren war, doch bis auf die Tatsache, dass Chuck zumindest nicht wirklich überaus fett war, hatte sie nichts erkennen können. Sie sah noch einmal auf die Uhr und fragte sich, wie lange er wohl brauchte, um vom Parkplatz bis ins Cafe zu kommen. Die Sekunden zogen sich unendlich dahin und mit jedem Augenblick fühlte sie ein immer größer werdendes Kribbeln in ihrer Magengegend.

 

Im nächsten Moment ging die Tür des Cafes auf und ein Schwall heißer Luft drang ins Innere. Ein junger Mann in hellblauen Jeans, Turnschuhen und einem T-Shirt der Columbia University, der seinen Schlüsselbund in der linken Hand hin und her schwenkte, kam herein. Er trug eine Sonnenbrille, die er in jenem Augenblick abnahm, als er das Cafe betrat. Sein Haar war dunkel und er war groß. Mit Sicherheit über einsachtzig. Sein markantes Gesicht war frisch und wirklich attraktiv, er hatte meerblaue Augen und wirkte sportlich durchtrainiert. Er blieb stehen und sah sich im Cafe um, strahlte genau die Anziehungskraft aus, die Scarlett schon gespürt hatte, als sie gerade ein paar Worte miteinander gechattet hatten und sie hoffte, dass das, was er in Bezug auf Aussehen und Optik gesagt hatte, wirklich stimmte, und dass er das nicht nur erzählt hatte, weil er dachte, er würde sich mit einem „BarbieBaby“ treffen. Sein Blick schwang rechts die Reihe mit den Tischen an den Fenstern entlang, nach hinten zu den alten Damen, die gerade laut lachten und dabei mit ihren Tassen klapperten, vorbei am Tresen, den die Kellnerin immer noch lustlos mit dem Lappen abwischte, und schließlich fiel sein Blick auf den Tisch gleich links neben der Tür, den Tisch, an dem Scarlett saß und erwartungsvoll zu ihm aufsah.

 

„Scarlett?“ fragte er und man konnte einen leichten Anflug von Enttäuschung in seinem Gesicht erkennen.

„Ja, ich bin's“, sagte sie, grinste ihn breit an und stand so ruckartig auf, dass ihr relativ massiger Bauch den Tisch berührte und das Eisteeglas umwarf. Im nächsten Moment ergoss sich der Eistee über den kleinen, quadratischen Tisch, lief an den Ecken hinunter und tröpfelte auf den Boden. Die Kellnerin rief verärgert „Ach herrje“ und sprintete mit dem Lappen hinter dem Tresen hervor, bedachte Scarlett mit einem giftigen Blick und begann, den Eistee aufzuwischen.

Der junge Mann blieb einige Sekunden lang stehen und sah Scarlett an. Er wirkte schockiert, hatte fast einen Blick drauf, als wäre er zu einem Unfall geraten und wusste nicht, was er sagen sollte.

„Ist…ist alles in Ordnung“, fragte sie.

„Ich hätte es wissen müssen“, sagte er und machte Anstalten, wieder zu gehen.

„Du hättest was wissen müssen“, rief Scarlett so laut, dass die Damen im hinteren Bereich des Cafes kurz aufhorchten, und machte sich dazu bereit, Chuck zu folgen. Sie konnte ihn nicht einfach so wieder gehen lassen. Er hatte noch nicht einmal ein richtiges Wort mit ihr gewechselt, geschweige denn, ihr den Begrüßungskuss gegeben, den er ihr versprochen hatte. Die Kellnerin hörte auf, den Boden zu wischen, richtete sich auf und beobachtete die Szene ebenfalls. Scarletts Herz hämmerte wie irre, zum einen, weil sie ihn am liebsten umarmt und geküsst hätte, wie sie es sich immer vorgenommen hatten, als sie telefonierten, weil er so wunderbar war, so attraktiv, so...perfekt. Und zum Anderen aus Angst, dass er wieder gehen könnte, dass er nur wenige Sekunden Teil ihres Lebens war. Und nicht, wie geplant, für immer.

„Ich hätte wissen müssen, dass es zu schön war, um wahr zu sein, was du mir am Telefon vorgelogen hast“, sagte Chuck verärgert.

„Aber, ich habe dir nichts vorgelogen, alles, was ich gesagt habe, hat gestimmt!“

„So? Du hast mir aber nicht erzählt, dass du aussiehst wie eine fette Mastsau. Hast du dich schon einmal im Spiegel betrachtet? Ich hab noch nie jemanden gesehen, der so furchtbar abartig aussieht, wie du. Eine wie dich würde ich noch nicht einmal mit der Kneifzange anfassen, denkst du, mir ekelt vor gar nichts? Hast du tatsächlich angenommen, ICH würde mich mit DIR abgeben? Ich würde zur Lachnummer werden, wenn ich mich mit dir zeigen würde!“

Scarletts Lippen bebten. Ja, sie hatte Chuck nichts von ihrem Übergewicht erzählt, aber er hatte ja auch gar nicht danach gefragt. Und er hatte gesagt, dass ihm das Aussehen nicht wichtig war, solange der Charakter stimmte. Vermutlich war es aber genau umgekehrt. Es war Chuck egal, wie der Charakter eines Mädchens war, solange sie gut aussah.

„Warum müsst ihr hässlichen Weiber immer lügen“, rief er jetzt so laut, dass sie die Aufmerksamkeit der Kaffeerunde weiter hinten und der Kellnerin endgültig für sich gewonnen hatten.

„Aber…aber…aber..“, begann Scarlett, und brachte keinen vollständigen Satz über die Lippen. Er hatte ihr noch nicht einmal eine Chance gegeben, ihn näher kennenzulernen. Sie hatten sich noch nicht einmal unterhalten und die vielen Telefonate frühmorgens und abends, die SMS und E-Mails, in denen sie so viele verliebte Worte füreinander gefunden hatten, schienen hundert Jahre her zu sein.

 

„Aber…aber…aber“, äffte Chuck sie nach. „Du bist ein hässliches, fettes, abartiges Stück Scheiße, du hast meine Zeit gestohlen und ich hab auch noch ein kleines Vermögen an Telefonkosten mit dir vertelefoniert. Sieh dich doch nur einmal an, du fettes Luder. Deine Wampe hängt über die Hose wie bei einem verdammten Sumoringer. Dein Gesicht sieht aus, als wäre es das Ergebnis eines Atomunfalls. Am besten, du stürzt dich irgendwo runter, fettes Miststück!“

Mit diesen Worten verließ er das Cafe. Die Kaffeerunde starrte sie mit offenen Mündern an, die Bedienung schien zur Salzsäule erstarrt und starrte ebenfalls. Dass der Eistee am Boden verklebte, schien ihr egal zu sein.

 

Scarlett hatte Tränen in den Augen. Ihr Herz klopfte, als würde es im nächsten Moment zerspringen. Sie fühlte sich, als wäre das alles ein schlimmer Traum und hoffte, dass in ein paar Minuten der Wecker klingelte, es halb sieben war und sie Chuck anrufen und ihm von ihrem furchtbaren Traum erzählen konnte, in dem er sie hässlich geschimpft und gleich wieder weggefahren war. Er würde sie trösten, ihr sagen, dass er sie nie hässlich nennen würde, weil er sie liebte und dass er sie nie verlassen würde. Doch das hier war kein Traum und sie würde auch nie wieder die Möglichkeit dazu haben, mit Chuck zu telefonieren. Ihm zu sagen, wie gern sie ihn hatte und die lieben Worte zu genießen, die er ihr durchs Telefon flüsterte.

 

Sie sprang wie vom wilden Affen gebissen los, als sie registrierte, dass dies ihre letzte Chance war, Chuck aufzuhalten, rannte aus dem Cafe, stürzte die Stufen hinunter und auf den Plymouth zu, der gerade rückwärts aus seiner Parklücke herausgefahren wurde. Sie wollte die Sache klären, sie durfte Chuck nicht einfach so gehen lassen. Das alles konnte man bestimmt bereden und sie konnte abnehmen. Sie würde sich wochenlang von Karotten und Wasser ernähren, wenn sie dafür mit Chuck zusammen sein konnte. Sie würde jede freie Minute mit Sport verbringen, laufen, schwimmen und Radfahren gehen, solange er ihr nur eine Chance gab. Vielleicht konnte sie ihn dazu überreden, sich in zwei Wochen noch einmal mit ihr zu treffen. Wenn sie noch heute mit ihrer Diät und dem Sport begann, und jeden Tag zwei, drei Karotten aß und Wasser trank, dann musste sie in zwei Wochen eine Menge Gewicht verloren haben. Vielleicht gab Chuck ihr dann eine Chance, wenn er sah, dass sie abnahm, vielleicht…. vielleicht ließ er sich dazu überreden, immerhin hatte er sie am Telefon so gern gehabt.

 

Chuck hatte den Wagen gewendet und war gerade dabei, vom Parkplatz zu fahren, als Scarlett ihm vor den Wagen sprang, stolperte, auf die Knie fiel, sich gleich wieder aufrichtete und wild mit den Händen fuchtelte, um ihn zum Anhalten zu bewegen. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, ihr Pferdeschwanz hing windschief an ihrem Kopf, ihre Plastikhaare standen zu allen Seiten ab und ihr Make up war fleckig geworden. Ihr Tanktop hatte sich am Saum etwas aufgerollt sodass eine dicke, bleiche Speckrolle zu sehen war, die über den Hosenbund quoll. Der Wagen bog scharf nach rechts ab und fuhr knapp an ihr vorbei. Chuck sah sie nicht an, er zeigte ihr nur den Mittelfinger, als er an ihr vorbei- und dann davonfuhr.

3

 

 

Scarlett war den Weg durch den kleinen Wald zurück zu ihrem Elternhaus gegangen, der ein Stück hinter ihrem Grundstück begann. Während des Rückweges hatte sie immer wieder Heulkrämpfe über sich ergehen lassen, mehrere Male war ihr schwarz vor Augen geworden, einmal hatte sie sich in eine Hecke übergeben und sie hatte ein Gefühl als würde sie ohnmächtig werden. Die Strecke über die Hauptstraße zurück wäre zwar um fast die Hälfte kürzer gewesen, aber durch den Wald hatte sie Zeit genug, um sich auszuweinen, ohne jemandem zu begegnen, den sie kannte und vor dem sie sich hätte rechtfertigen müssen. Sie fühlte sich, als hätte man ihr das Herz herausgerissen, es in tausend Stücke zerfetzt und wäre darauf herumgetrampelt. Es fühlte sich an, als hätte sie Chuck verloren, als wäre er gestorben, als wäre er aus ihrem Leben gerissen worden. Und eigentlich war er das ja auch. Nein, nicht gerissen worden. Er hatte sich selbst daraus wegkatapultiert, weil er sie hässlich fand und weil er nichts mit fetten, hässlichen Mädchen wie ihr zu tun haben wollte. Sie hatte ungefähr dreißig Mal seine Nummer gewählt und beim einunddreißigsten Versuch hatte er das Gespräch dann endlich angenommen. Für einen kurzen Augenblick hatte ihr Herz höher geschlagen, doch dann hatte er sie gefragt, was sie wollte und sie hatte ihm angeboten, dass sie abnehmen konnte. Hatte ihm den Karottenplan erklärt und war schockiert darüber, wie kalt, abweisend und hart seine sonst so liebevolle Stimme klang. Die Stimme, die ihr so oft gesagt hatte, dass er sie liebte, die Stimme, die von einem Heiratsantrag erzählte, der wie geschaffen für Scarlett war. Die Stimme, die das Letzte war, was sie abends hörte, und das Erste, was morgens an ihr Ohr drang. Er hatte ihr kaltschnäuzig gesagt, dass ihn das alles nicht interessiere. Sie hatte schluchzend gefragt, was sie jetzt machen sollte und Chuck hatte sie wieder nachgeäfft und geantwortet, dass ihn nicht interessierte, was SIE jetzt machte, sondern dass er wusste, was ER jetzt machte, nämlich zu einem Mädchen namens Sharon zu fahren, das er ordentlich vögeln würde. Bevor er auflegte, sagte er noch, dass er Sharon schon seit drei Monaten vögelte und er dieser Sexbeziehung auch keinen Abbruch getan hatte, als er mit ihr telefonierte, weil er schon damit gerechnet hatte, dass sie eine abartige, fette Vogelscheuche war. Dann hatte er ihr gesagt, sie solle es nicht noch einmal wagen, ihn anzurufen, da es sonst sehr unangenehm für sie werden könnte, und hatte das Gespräch beendet.

 

Scarlett hatte etwa fünfundvierzig Minuten auf einer Bank im Wald gesessen und bitterlich geweint, bis ihre Augen brannten, sie alles verschwommen sah und keine einzige Träne mehr weinen konnte, nachdem Chuck ihr von Sharon erzählt hatte. Sie wusste im jenem Moment nicht, ob es sie mehr traf, dass er generell kein Interesse an ihr hatte, oder aber, dass er sie während ihrer Telefonbeziehung „betrogen“ hatte. In ihrem ganzen bisherigen Leben hatte sie so einen Schmerz noch nicht gefühlt. In den letzten Wochen hatte Chuck so sehr in ihr Leben Einzug gehalten, dass sie sich nicht vorstellen konnte, wie es jetzt ohne ihn weitergehen sollte. Zusammengesunken saß sie auf der Bank im Schatten, während eine leichte Sommerbrise ihre Tränen und das durchgeschwitzte Shirt trocknete.

 

Sie sah an sich herunter. Ihre Haut war beinahe so bleich wie das Shirt, das sie trug, der dickliche Bauch wölbte sich zu einer enormen Kugel unterhalb ihrer Brüste und ihre Oberschenkel, die in den roten Hosenbeinen steckte, waren wabbelige, fette Stängel voller Cellulite. Ihre Waden waren so dick, dass die Hose, die eigentlich ausgestellte Beine hatte, wie Leggings wirkten. Und ihr Haar hing verfilzt und zerzaust, in alle Richtungen abstehend in ihr Gesicht. Sie schwitzte und der Rest des billigen Make up lief in Strömen ihre Wangen hinunter. Immer und immer wieder liefen die Szenen der vergangenen zwei Stunden vor ihrem geistigen Auge ab. Wie Chuck enttäuscht ausgesehen hatte, als er herausfand, dass sie diejenige war, mit der er soviel Zeit verbracht hatte. Als er sie beschimpft hatte, sie fett und hässlich nannte, als er ihr von dem Mädchen erzählte, dass er die ganze Zeit über gevögelt hatte, weil er schon geahnt hatte, dass Scarlett hässlich war.

 

Als sie durch den Hintereingang in die Küche des hübschen Vorstadthauses in der Robin-Hood-Lane kam, hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie hatte ihre Tränen mit einem Taschentuch getrocknet und im Rückspiegel des Wagens ihrer Mutter kontrolliert, ob ihre Augen nicht zu rot waren. Wenn sie Chuck nicht haben konnte, wollte sie keinen anderen haben. Und einen anderen würde sie ohnehin nicht bekommen. Chuck hatte gesagt, sie sollte sich wo runterstürzen. Und das würde sie auch tun. Was für einen Sinn hatte ihr Leben denn noch? Sie würde immer die fette, hässliche Kuh sein, die von allen ausgelacht und gehänselt wurde. Sie würde mit vierzig noch bei ihren Eltern leben, fetter und fetter und hässlicher und hässlicher werden und für alle eine Belastung sein. Sie war auf der Welt so überflüssig wie Krebs oder HIV. Niemand brauchte sie. Niemand wollte sie.

 

Scarletts Mutter Grace war gerade dabei, den Küchenboden zu wischen, als sie ins Haus kam, und hatte so gottseidank kaum Zeit, ihre Tochter genau anzusehen.

„Hallo Schatz, na, warst du drüben bei Sandra?“

„Ja, war ich!“

„Habt ihr euch gezofft – normalerweise kommst du nicht vor sieben nach Hause?“

„Nein, sie musste noch was für ihre Sommerkurse machen, da wollte ich sie nicht stören“, log Scarlett und setzte sich an den Tisch, um die Reklame durchzublättern, die dort abgelegt worden war. Sie musste so normal wie möglich agieren. Am liebsten wäre sie zwar auf ihr Zimmer gerannt und hätte dort weiter geweint, doch dann hätte ihre Mutter sicher bemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmte, sodass sie sich nun einfach zusammenreißen musste.

„Am Sonntag kommen übrigens Grandma und Grandpa zum Barbecue vorbei, und Tonys Eltern auch“, plauderte Grace drauf los, während sie den Wischmop im Eimer auswrang.

„Klasse“, sagte Scarlett und überflog eine Zeitungsanzeige, die für zwei Zahnbürsten zum Preis von einer warb.

„Wenn du möchtest, kannst du deinen Freund auch einladen!“

Die Zahnbürsten waren plötzlich uninteressant geworden.

„Was?“

„Scarlett – der junge Mann, der seit einigen Wochen jeden Tag ein- bis zweimal hier anruft und mit dem du jeden morgen telefonierst, bevor du aufstehst. Meinst du, wir hätten nicht bemerkt, dass es immer derselbe ist, und dass du immer grinst wie ein Honigkuchenpferd, wenn das Telefon klingelt?“ Grace grinste ihre Tochter an.

„Das stimmt nicht“, rief Scarlett aufgebracht. „Das war Dan, aus der Schule. Wir arbeiten gemeinsam an einem Projekt für den Schulbeginn! Mischt euch nicht ständig in meine Angelegenheiten ein!“

„Scarlett, Liebes, ist alles in Ordnung?“ Grace sah im Gesichtsausdruck ihrer Tochter, dass etwas nicht stimmen konnte.“Ach, lasst mich doch alle in Ruhe, haltet euch aus meinem Leben raus, und zwar alle. Und spioniert mir bloß nicht noch einmal hinterher“, rief Scarlett, sprang vom Tisch auf und lief in den ersten Stock.

 

 

Die Tränen vermischten sich mit dem heißen Duschwasser, das Scarlett über Kopf und Körper lief. Unter dem heißen Wasser fühlte sie sich etwas besser. Sie wollte sich am liebsten auflösen und durch den Ausguss gespült werden. Die rote Hose und das weiße Shirt hatte sie vor der Dusche auf den Boden geworfen. Ebenso wie ihre falschen Buffalo-Schuhe. Sie hatte es wieder einmal geschafft – ihr war wieder einmal klar geworden, dass sie ein kleiner, hässlicher, fetter Verlierer war und es für immer bleiben würde. Es gab niemanden, der, nur weil sie vermutlich ein ganz nettes Mädchen war, über ihr furchtbares Äußeres hinwegsehen würde. Sie würde für immer ein Versager sein und Chuck war bestimmt nicht der Letzte, der ihr so wehtat. Alles, was sie in ihrem Leben jemals erreichen würde, wäre eine Beziehung am Telefon, die sie auf Lügen aufbauen musste. Noch nicht einmal die hässlichen Typen würden sich für sie interessieren. Weil die hässlichen Typen selbst immer noch besser aussahen, als sie. Sobald jemand herausfand, wer Barbie-Baby1980 wirklich war, würde es genauso enden, wie die Sache mit Chuck, der jetzt wahrscheinlich mit dieser Sharon im Bett lag. Der abends seinen Kumpels von der hässlichen, fetten Kuh erzählen würde, die ihn wochenlang verarscht hatte. Und die ihm wie eine Idiotin nachgelaufen und sogar hingefallen war, als er ihr die Meinung gegeigt und sie beschimpft hatte. Vermutlich würde er sie ebenso nachäffen, wie er es im Bayside getan hatte, und sich danach mit seinen Kumpels über sie totlachen. Sie überlegte, wie Sharon wohl aussehen mochte und kam zu dem Entschluss, dass sie schlank, dunkelhaarig und schön sein musste. Eines jener Mädchen, das so schön war, dass sie weder Make up noch andere Schminke notwendig hatte. Ein Mädchen, das so schön war, dass sie sogar frühmorgens gut aussah, oder, wenn sie in Sportklamotten auf der Couch saß und zerstrubbelte Haare hatte. Ein Mädchen, das so schön war, wie sie selbst es nie sein würde. Sie war ein Versager. Und würde es für immer bleiben. Sie setzte sich in die Badewanne, steckte den Badewannenstöpsel in den Ausguss und ließ heißes Wasser einlaufen. Dann stand sie wieder auf und nahm Anthonys Rasiermesser.

4

 

Sie stellte die Dusche ab, stieg aus der Duschwanne heraus und fischte sich eines der purpurfarbenen großen Handtücher heran, mit dem sie ihren Körper einwickelte. Dann nahm sie ein zweites purpurfarbenes Handtuch, warf den Kopf nach vorne und wickelte ihr dunkles langes Haar darin ein. Es war wunderbar gewesen, unter dem heißen Wasser zu stehen und sich wohlig-geborgen darin zu fühlen, die Tropfen über den Rücken prasseln zu lassen und die Verspannungen dort zu lockern. Sie setzte sich kurz auf den Rand des Whirlpools, der in der linken hinteren Ecke des hellen Badezimmers stand und seufzte. Sie hatte eigentlich keine große Lust, ihren zweiunddreißigsten Geburtstag in diesem merkwürdigen "Zazzy's" zu feiern, das Jay vorgeschlagen hatte. Eigentlich war es IHR Geburtstag, und nicht Jays, aber dennoch hatte sie zugestimmt. Zum einen, weil sie gerne mit ihren Freunden feiern wollte (auch, wenn ihre Interpretation von "Feiern" ein Essen in einem guten Restaurant und anschließend einem Cocktail in einer Bar in Manhattan bedeutet hätte), und zum anderen wollte sie der Diskussion mit Jay aus dem weggehen, die zweifellos vom Zaun gebrochen wäre, hätte sie sich gegen das "Zazzy's" ausgesprochen. Jay hätte wieder seine alten Argumente hervorgekramt, und ihr vorgeworfen, dass sie prüde und langweilig wäre, sich für etwas Besseres hielt und man mit ihr keinen Spaß haben konnte. Außerdem wäre es ein weiterer Sprung in der ohnehin schon angeschlagenen Beziehung zu Jay gewesen, die sie immer noch zu retten versuchte, wenn sie einen Gegenvorschlag zum „Zazzy’s“ gebracht hätte. Vermutlich wäre ein handfester Streit daraus geworden, Jay wäre wieder einmal ausfällig geworden, hätte mit Beleidigungen unterhalb der Gürtellinie um sich geworfen und sie hätte sie wie so oft gefragt, warum sie eigentlich noch immer mit ihm zusammen war. Alles in allem war es einfacher, diesen Abend über sich ergehen zu lassen, als mit Jay durchzudiskutieren, warum das Zazzy's vielleicht doch nicht der ideale Ort war, um ihren Geburtstag zu feiern.

 

Nachdem sie in frische Unterwäsche geschlüpft war, ihr Haar geföhnt, sich dezent geschminkt und ein schwarzes Cocktailkleid angezogen hatte (vermutlich etwas overdressed für ein Lokal wie das Zazzy's, das laut seiner Homepage ein „Partyschuppen für das Feiervolk“ war, aber ihr Kleiderschrank gab leider nichts her, was für eine drittklassige Spelunke geeignet war, die sich auf Singles spezialisiert hatte) lief sie ins Wohnzimmer um dort gemeinsam mit Jay auf die anderen zu warten, die sie in zwanzig Minuten abholen wollten.

 

"Du bist ja noch nicht einmal geduscht", rief Scarlett, als sie vom Flur in das große, helle Wohnzimmer des Appartements kam, das sie nun seit fünf Jahren bewohnte. Es lag im 36. Stockwerk eines Wohngebäudes nahe am Central Park und sie hatte sich im ersten Augenblick in das helle, große und offene Appartement verliebt. An klaren Tagen konnte man bis hinunter an den Hudson sehen, der Park war direkt vor der Nase und das Appartement wirkte, wie ein Luxus-Spa, mit seiner Sonnenterrasse, dem Whirlpool und dem hellen Ambiente. Eigentlich war sie, im Gegensatz zu Jay, nicht jemand, der der Dekadenz zugetan war, doch in das Appartement hatte sie sich vom ersten Augenblick an verliebt. Im Kellergeschoss gab es ein großes Fitnessstudio, eine Sauna und ein Hallenbad, das Gebäude hatte einen Portier und war für Scarlett ganz einfach eines der schönsten Fleckchen Erde, das sie sich vorstellen konnte.

 

Jay lag auf der weißen Relaxliege, die neben dem großen Panoramafenster an der rechten Seite des Raumes stand, hatte seinen Laptop auf dem Schoß und blickte wie hypnotisiert auf den Bildschirm. Vermutlich war er wieder einmal dabei, sich mich irgendwelchen schrägen Typen über Handy-Apps auszutauschen. Scarlett war es ein Rätsel, wie ein Mann von dreiunddreißig Jahren sich so intensiv für kleine, sinnlose Gratis-Handyprogramme interessieren konnte, die er noch nicht einmal mehr benutzte, sobald er sie heruntergeladen hatte.

 

Er reagierte wie so oft nicht, als Scarlett ihn ansprach. In den letzten zwei, drei Jahren ihrer Beziehung war es immer öfters vorgekommen, dass sie scheinbar gegen eine Wand sprach. Sie wusste nicht, ob Jay tatsächlich so konzentriert war, und sie nicht hörte, oder aber, ob er durch das nicht-reagieren einfach seine „Macht“ über sie demonstrieren wollte – als würde er sagen wollen „es ist nicht selbstverständlich, dass du eine Antwort von mir bekommst, also sei dankbar, wenn ich mich dafür entscheide, dir zuzuhören“. Sie setzte sich gegenüber an die Frühstücksbar, die den Wohnbereich vom Küchenbereich trennte, und beobachtete Jay, der immer noch wie gebannt auf seinen Laptop starrte, hin und wieder etwas tippte und dann auf ein Neues zu starren begann.

 

"Er ist so ganz und gar nicht das, was du dir unter deinem Traumtypen vorstellst", sagte sie in Gedanken zu sich selbst. Sie wusste selbst nicht mehr, warum sie vor elfJahren gedacht hatte, dass Jay Peterson der Richtige für sie sein würde. Sie hatte ihn durch eine Freundin, Lori, kennengelernt, mit der sie gemeinsam studiert und sich auf der Uni ein Appartement geteilt hatte. Lori hatte Jay bei einer Verbindungsfeier abgeschleppt und ihn mit nach Hause genommen, und als er am nächsten Morgen aufwachte und sich mit Scarlett unterhielt, fand sie ihn ziemlich witzig. Die beiden hatten ziemlich viel gemeinsam und dieselbe Art von Humor. Während Lori noch schlief, hatte sie Jay Frühstück gemacht und sich fast den ganzen Vormittag mit ihm unterhalten. Einen Tag später war er vor dem Appartement gestanden und hatte Scarlett gefragt, ob sie ihn ins Kino begleiten wolle. Anfangs war sie zwar etwas skeptisch gewesen, zum einen, weil sie ihn Lori nicht ausspannen wollte, und zum anderen, weil er vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden mit ihrer Mitbewohnerin in der Kiste gewesen war, doch - daraus waren nun elf Jahre geworden und von dem witzigen, charmanten Kerl, der seine Freundin auf Händen trug und auf sie einging, mit dem sie ganze Nächte lang herumalbern und lachen konnte, war wenig übrig geblieben. Der nette charmante Kerl hatte einem rüpelhaften Egomanen Platz gemacht, der sich nur für sich selbst interessierte und seinen Willen mit aller Macht durchsetzen wollte - daher auch der Abend im "Zazzy's". Jay hatte von Kollegen im Büro - er arbeitete als Sportreporter bei Kanal Neun - davon gehört, dass das "Zazzy's" DIE Anlaufstelle für durchfeierte Nächte und Frauenüberschuss war und war seit diesem Tag Feuer und Flamme für den Club. Als er vorgeschlagen hatte, Scarlett könnte ihren zweiunddreißigsten Geburtstag im Zazzy's feiern, wusste sie nichts darauf zu erwidern. Jay wollte ins Zazzy's und würde sie ihm etwas anderes vorschlagen, würde es ohnehin nur eine sinnlose Diskussion geben, die sie letztendlich damit beenden würde, dass sie Jays Vorschlag zustimmte. "Nicht gerade die optimalste Beziehungssituation", murmelte sie vor sich hin. Dann stand sie auf und ging auf Jay zu.

 

"Solltest du dich nicht langsam anziehen? Du hast noch fünfzehn Minuten, bis wir abgeholt werden und du hast noch nicht einmal geduscht!" Sie versuchte, weder genervt noch verärgert zu klingen. Etwas, worin sie bereits Übung hatte. Jay reagierte nicht. Er las etwas auf seinem Bildschirm, tippte eine Antwort, las wieder und blickte sie nach fast einer Minute genervt an.

"Was?"

"Es ist viertel vor sieben, Ron und die anderen werden gleich da sein!"

Er blickte von seinem Laptop auf, an die Uhr, die an der Wand vor ihm hing.

"Meine Güte, dann müssen die anderen eben warten", meinte er, als wäre es Scarletts Schuld, dass er nur noch fünfzehn Minuten Zeit hatte, bis die anderen kamen, bevor er seinen Laptop zuklappte und sich schwerfällig aus der Liege erhob. Obwohl er weder dick noch ungepflegt war, musste Scarlett in diesem Augenblick unvermittelt an einen Bauarbeiter denken, dessen Hintern halb aus der Hose quoll, der eine Flasche Bier in der Hand hielt und obszöne Sprüche los lies, wenn irgendwo eine hübsche Frau vorbeiging.

"Meinetwegen müssen wir nicht gehen", lag ihr auf der Zunge, doch sie sprach die Worte nicht aus. Würde sie jetzt sagen, dass sie eigentlich keine große Lust hatte, auszugehen, würde es genauso eine Diskussion geben, als wenn sie sich gegen das Zazzy's ausgesprochen hätte.

5

 

Wenig später, und nachdem Jay es zu Scarletts Überraschung doch geschafft hatte, sich von seinem Computer loszueisen, saßen sie im Wagen ihres Freundes Ron und waren auf dem Weg nach New Jersey, wo sich das Zazzy's befand. Ron war ein Jugendfreund von Jay, einer der wenigen, der sich noch nicht von ihm abgewandt hatte, und der mit Jays egoistischen und manchmal wirklich plumpen Ansichten - einstweilen noch - gut umgehen konnte. Jays Laune hatte sich gebessert, seit sie in den Wagen gestiegen waren und je näher sie der Stadtgrenze von New Jersey kamen, umso besser wurde sie. Er riss Witze, sang zu den Songs mit, die im Radio liefen, und wirkte wie ausgewechselt. Wieder einmal überlegte Scarlett, wie sie mit Jay Schluss machen konnte. Sagte sich, während er zu „Highway to Hell“ grölte, dass es ohnehin keinen Sinn mehr machte, die Beziehung weiter aufrecht zu erhalten, weil sie beide sich in derart unterschiedliche Richtungen entwickelt hatten, dass sie sich nichts mehr zu sagen hatten.

---ENDE DER LESEPROBE---