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Sie sind Frankfurter. Sie sind Influencer. Sie sind verfeindet. Mainrausch und Lady F kommen sich ins Gehege, wenn es um Klicks, Likes und Follower geht. Bis er vor der Krawallschachtel tot aufgefunden wird. Die Mordkommission steht vor einem Rätsel. Mainrausch war sehr verbunden mit Frankfurt und hat über wichtige Themen der Stadt gebloggt, zum Beispiel über Handkäs und Ebbelwoi-Wirtschaften. Die erste Spur führt zu jemand, mit dem niemand gerechnet hat: Andreas Rauscher, suspendierter Kommissar der Kripo … Nach "Abgerippt", dem Eintracht-Krimi "Einzige Liebe", "Ebbelwoijunkie", "Frau Rauschers Erbe" und "Der Apfelwein-Botschafter" ein neues Krimi-Abenteuer mit dem vielleicht bekanntesten Ebbelwoiliebhaber Hessens: Kommissar Rauscher.
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Seitenzahl: 310
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Buch
In Kommissar Rauschers Bockenheimer Wohnung taucht ein unbekannter Besucher auf, der in einem besorgniserregenden Zustand ist. Flatternde Pupillen, verwirrter Blick, kaum aufnahmefähig. Rauscher macht sich Sorgen und passt eine Sekunde nicht auf: Der Besucher verschwindet so schnell, wie er gekommen war. Fragen bleiben: Wer war das? Was war mit ihm los? Was wollte er bei ihm?
Rauscher beginnt, die Identität des Besuchers zu recherchieren und findet heraus, dass sein Name Mainrausch ist, ein beliebter Frankfurter Influencer, der über viele Themen der Stadt geschrieben hat. Was Rauscher imponiert. Er macht sich auf die Suche nach ihm. Doch er kommt nicht weit, denn Mainrausch wird vor der „Krawallschachtel“ tot aufgefunden. Rauscher war der Letzte, der Kontakt mit dem Opfer hatte. Noch schlimmer: Rauscher gerät unter Mordverdacht und setzt alles daran, sich von diesem Vorwurf reinzuwaschen.
Der Autor
Gerd Fischer, 1970 in Hanau geboren, studierte Germanistik, Politologie und Kunstgeschichte in Frankfurt am Main, wo er seit 1991 lebt.
Fischer hat sich einen Namen gemacht mit seiner Frankfurter Krimi-Serie um Kommissar Andreas Rauscher. Bisher erschienen: „Mord auf Bali“2006 (Neuauflage 2011), „Lauf in den Tod“ 2010, „Der Mann mit den zarten Händen“ 2010, „Robin Tod“ 2011, „Paukersterben“ 2012, „Fliegeralarm“ 2013, „Abgerippt“ 2014, „Bockenheim schreibt ein Buch“ (Hrsg.) 2015, „Einzige Liebe – Eintracht-Frankfurt-Krimi“ Februar 2017, „Ebbelwoijunkie“ Dezember 2017, „Frau Rauschers Erbe“ 2018 und „Der Apfelwein-Botschafter“ 2021.
Zudem die Thriller „Rotlicht Frankfurt“ 2019 (LONGLIST Crime Cologne Award), „Seitenwende“ 2023 (gemeinsam mit Stefan Schweizer) und „Blaulicht Frankfurt“ 2024.
Gerd Fischer
Der zwölfte Fall für Kommissar Rauscher
Krimi
Mainrausch – Protagonist des Krimis – gibt es wirklich, beachten Sie dazu bitte die Danksagung am Ende des Buches. Alle weiteren Personen und Handlungen sind frei erfunden. Die den realen Personen des öffentlichen Lebens zugeschriebenen Handlungen und Dialoge entspringen ausschließlich der Fantasie des Autors.
Copyright © 2025
mainbook Verlag
Sophienstraße 77
60487 Frankfurt
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Mia Beck
Satz: Mara Frank
Titelmotiv: © Lukas Hüttner
ISBN 978-3-911008-28-0
Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de
Prolog
Teil 1 Mainrausch
1 Pfingsten 2018
2 Pfingstsonntag
3 Pfingstsonntag, später Vormittag
4 Pfingstsonntag, nachmittags
5
6 Riedberg, später Nachmittag
7
8 Pfingstmontag
9
10 Um die Mittagszeit
Teil 2 Handkäserei
11
12
13
Teil 3 LADY F
14
15 Pfingstmontag, abends
16 Wäldchestag
Teil 4 Melchior
17
18
Teil 5 Alina
19 Auf dem Wäldchestag
20 Dienstagabend
21 Dienstagnacht
22 Mittwoch morgens
Teil 6 Akin
23 Mittwoch nachmittags
24 Mittwochabend
25 Mittwoch auf Donnerstag nachts
26 Donnerstag
27 Donnerstagmittag
28 Donnerstag 14 Uhr
Teil 7 Gordon
29 Donnerstag 16.30 Uhr
30
31 Donnerstagabend
32 Freitag, Mittagszeit
Teil 8 Alina
33 Freitag, Nachmittag
34 Freitag, später Nachmittag
35 Freitag, früher Abend
36
37 Freitag, später Abend
38 Samstag, vormittags
39 Samstag, 10.30 Uhr
40 Samstag, später Vormittag
Teil 9 Täter und Opfer
41 Die Nacht von Freitag auf Samstag
42 Samstag, Mittagszeit
43 Samstag, Mittagszeit
44 Samstag, 13.30 Uhr
45 Samstag, 13 Uhr
46 Samstag, 14 Uhr, Grüneburgpark
47 Am Luisenplatz
Teil 10 Rauscher
48
49 Samstagabend
50 Samstag, später Abend
51
52 Samstagnacht
53 Sonntagmorgen
54 Sonntag, vormittags
55
56
57
Epilog
Anfang Juni 2018
Danksagung
Handkäs mit Musigg
1 Stk. Handkäs (200-240g)
8 EL Essig
4 EL Öl
4 EL Wasser
3 Zwiebeln
Salz und Pfeffer
Kümmel
Für die Soß Essisch, Öl un Wasser verriehrn, Zwiwwel klaaschneide un enin demit. Salz und Pfeffer mäßisch.
En zimmerwarme, durchgereifde Handkäs uff en klaane Deller lesche, die Soß drüwwer schüdde un ordendlisch durchziehe lasse.
Mansche streue e bissie Kimmel drüwwer, wer Kimmel ned ausstehe kann, nimmt e bissie Paprikapulver, des is erlaubt.
Ohne geht nadürlisch aach. Is sogar am besde.
Dann mit em Messer klaane Scheiwe Handkäs schneide un uff e frisch Brod mit ordendlisch Budder lesche, e Schnippelsche in die Schnuud und ferdisch isses Paradies.
Apropos: Handkäs mit Musigg werd ohne Gawwel gegesse.
Des is wichtisch. E Schöppsche gehört nadürlisch dezu.
Un nachem Mahl gern e bissie ablesche!
Wohlsein!
Du wirst es nicht glauben, aber wir haben in Tokio einen Japaner kennengelernt, der Frankfurt besucht hat.
„Do you know Goethe?“, habe ich ihn gefragt.
„No.“
„Do you know the Eintracht?“
„No.“
„Do you know Sven Väth or the Omen?“
„No.“
„Do you know Handkäs?“
„Yes! And of course I know the Gemalte Haus and Ebbelwoi.“ Ich dachte, es würde dich freuen, das zu lesen. Liebe Grüße auch an Jana aus dem Land des Lächelns. Drück Mäxchen von uns! Ingo und Elke
(Text einer WhatsApp-Nachricht von Kommissar Ingo Thaler an Andreas Rauscher)
Ich bin cool. Ich bin frei.
Ich lasse mir von niemandem reinreden. Schon gar nicht von irgendwelchen Möchtegern-Aufsteigern und Kleingeistern, die meinen, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen.
Ich weiß genau, was ich will, und habe noch viel vor.
Von diesem Weg lasse ich mich nicht abbringen. Und alle, die sich mir in den Weg stellen, werden es bitter bereuen.
Denn ich bin cool. Ich bin frei. Und ihr, ihr könnt mich mal!
Heute war Samstag, vielleicht der wichtigste in Frankfurt seit Menschengedenken. Es war der 19. Mai 2018. Finale in Berlin. Und in Bockenheim passte Kommissar Andreas Rauscher auf Mäxchen auf, weil Elke mit Ingo in Japan weilte.
Finale vorm Fernseher war angesagt. Aber gut, mit Jana gemeinsam zu erleben, wie ihre Eintracht den Pott holen würde, das wär's natürlich. Den ersten seit dreißig Jahren. Dreißig Jahre Sehnsucht nach diesem Gefühl. Dreißig entbehrungsreiche Jahre für die Fans und den Verein, in denen es gefühlt ständig auf und ab gegangen war. Jetzt standen nur noch die Bayern im Weg.
Nur noch, haha!
Seit Wochen war Jana hypernervös. Genau genommen seit dem Halbfinale, das sie gemeinsam auf Lanzarote gesehen hatten. Nach dem Fall des toten Apfelwein-Dezernenten schien eine Auszeit angebracht, besonders für Rauscher. Die Spuren des Falles trug er immer mit sich. Die Wunde am Hals war zwar verheilt, aber die Narbe juckte. Andere Narben waren ebenfalls geblieben und beschäftigten ihn. Die im Kopf und die auf der Seele wogen schwer, besonders dann, wenn er alleine war und Ruhe hatte. Das endlose Kreisen um die Geschehnisse rund um den Mord am Apfelwein-Dezernenten hatte zwar nachgelassen, dennoch blitzten immer wieder kleine Schnipsel im Kopfkino auf: die Garotte, die Stimme, die Pritsche.
Zum Glück gab es die Eintracht. Sie ersetzte mit der Zeit die bösen Gedanken. Seit Tagen freute sich Rauscher wie ein kleines Kind auf den heutigen Abend und das große Spiel. Doch heute Morgen hatte ihn die WhatsApp von Ingo ein wenig irritiert. Was wollte er ihm mit seiner Nachricht sagen?
Vorm Badezimmerspiegel, als er die Stelle am Hals mit Narbensalbe eincremte, dachte er darüber nach, was er Ingo antworten sollte.
Jana hatte die halbe Nacht vor Aufregung wach gelegen. Es war das größte Spiel ihrer bisherigen Fankarriere. Sie war erst gegen Morgen eingeschlafen und Rauscher ließ sie schlummern. Zumal Mäxchen bei ihr lag. Die beiden kuschelten sich oft aneinander. Rauschers Herz hüpfte bei diesem Anblick. Ende des Sommers würde sein Sprössling in die Schule kommen.
Und er war so froh, Jana zu haben. Nach seiner Reha in Bad Nauheim im März hatte sie Lanzarote als Reiseziel vorgeschlagen. Da war es um diese Jahreszeit warm und der Flug auf die Kanaren dauerte nicht allzu lange. Erst war Rauscher skeptisch gewesen. Eine solch lange Zeit ohne Frankfurt und Ebbelwoi hatte er zuletzt vor knapp fünfzehn Jahren erlebt, als er nach Bali in den Urlaub geflogen war.
„Du scheinst vergessen zu haben, dass du dem Tod von der Schippe gesprungen bist.“
Mit verschränkten Armen vor der Brust hatte sie vor ihm gestanden, was immer ein deutliches Zeichen war. Keine Widerrede, Herr Rauscher, sonst gibt's Saures!, bedeutete es.
Leider musste er ihr vollkommen recht geben. Als er dann noch erfuhr, dass die Spanier einen sehr angenehmen Cidre machten, wie ihm die clevere Jana mitteilte, und dieser auch auf Lanzarote zu bekommen war, ließ er sich gerne auf die Reise ein. Mit Apfelschaumwein, so bildete er sich ein, ließ sich die ebbelwoifreie Zeit irgendwie überbrücken.
Und siehe da: Der Aufenthalt hatte ihm von Tag eins an gefallen. Sie wohnten in einem Bungalow in einer kleinen Ferienanlage mit traumhaftem Blumenschmuck. Sie schwammen jeden Tag im Pool, manchmal auch im wilden Atlantik. Sie besuchten die Stätten, die der heimische Künstler César Manrique entworfen hatte, und wanderten durch die Feuerberge mit ihrer bizarren Felslandschaft. Mit dem spanischen Cidre kam Rauscher auch klar. Er war natürlich nicht so sauer wie gewohnt, aber er prickelte und schmeckte. Und überhaupt: die Sonne, das Meer, die Luft.
Der schönste Moment fiel ihm wieder ein. Am 18. April 2018 hatte das DFB-Pokal Halbfinale auf Schalke stattgefunden. Nach einer Ecke gewann die Eintracht 1:0 auswärts durch einen wunderschönen Seitfußschuss von Luka Jovic, der den Ball ins hintere Eck lupfte, und zog ins Finale ein. Das Spiel sahen sie an ihrem letzten Abend. Es wurde eine feuchtfröhliche Nacht, die Vorräte der Bar an spanischem Cidre schrumpften stark und vom Rückflug am nächsten Morgen bekamen sie nicht viel mit.
Jeder Blick in den Spiegel weckte Erinnerungen. Obwohl er sich auf Lanzarote überwiegend im Schatten aufgehalten hatte, weil er die Narbe rund um seinen Hals nicht der direkten Sonneneinstrahlung aussetzen wollte, hatte er etwas Farbe bekommen. Inzwischen war leider nichts mehr davon zu sehen. Da er eine robuste Konstitution hatte, bereitete es ihm keine Sorge. Auch seine Energietanks waren wieder gefüllt. Im Prinzip fühlte er sich von Tag zu Tag ein wenig besser. Vom Pferdestehlen war er zwar noch weit entfernt, aber das würde schon wieder werden. Allerdings ging ihm dieses allmorgendliche Prozedere, die Stelle am Hals mit Narbensalbe einzucremen, gehörig auf den Senkel. Aber was blieb ihm übrig? Auch wenn die Narbe immer zu sehen sein würde, waren Rötung und Schwellung verschwunden und die Haut durch die Behandlung insgesamt viel geschmeidiger geworden.
Dennoch tat ihm die Zeit vorm Spiegel nicht gut. Er hatte eine weitere Entdeckung gemacht, die ihn beschäftigte: graue Haare. Sie sprossen überall auf seinem Kopf und waren zwischen den schwarzen gut zu erkennen. Anfangs zupfte er sie noch aus, aber es wurden immer mehr, es wurden zu viele. Bis er es sein ließ. Er war nicht mehr der Jüngste, immerhin einundvierzig Jahre alt. Irgendwann würde er nur noch graue Haare haben. Da musste er wohl durch. Der Rest von ihm war durchaus annehmbar, fand Rauscher. Vielleicht ein Kilo zugelegt im letzten Jahr, die Bauchrolle nicht sichtbar, nur fühlbar, und ein paar Falten mehr um die Augen. Ansonsten alles top und an der richtigen Stelle. Der Ebbelwoikonsum machte sich eben bezahlt.
Vom Bad lief Rauscher in die Küche seiner Bockenheimer Altbauwohnung und erschnupperte Handkäs mit Musik, den er am Abend zuvor eingelegt hatte. Der Handkäs schwamm in seiner Essig-Öl-Zwiebel-Marinade in einer alten Porzellanschüssel, die aus dem Haushalt seiner verstorbenen Erbtante Adelheid stammte. Ein Handkäs-Brot am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen. Nach diesem Motto lebte Rauscher schon länger. Mit dem Duft in der Nase schmierte er sich ein Brot mit dünn Butter, legte eine Scheibe Handkäs drauf und biss genüsslich hinein. Sogleich ging es ihm blendend, doch dann kam ihm Ingos App wieder in den Sinn. Japan und Handkäs, das brachte er einfach nicht zusammen. Er nahm sein Handy und tippte:
Sag mal, hast du zu viel Reisschnaps intus? Oder was soll die Nachricht?
Postwendend kam die Antwort.
Nein, echt jetzt. Handkäs ist mittlerweile der Exportschlager hier. Es gibt ihn sogar im Algenmantel mit Sushi-Geschmack.
Hatte er sich verlesen? In Rauscher zog sich alles zusammen. Welch ein Frevel! Aber er traute der Menschheit alles zu.
Ingoschriebweiter: Der Japaner, mit dem wir gesprochen haben, arbeitet für die Japanische Industrie- und Handelskammer und hat es sich nach einem Besuch in Frankfurt in den Kopf gesetzt, Handkäs und Ebbelwoi nach Japan zu exportieren. Hat wohl irgendwie funktioniert.
Rauscher schmunzelte. Was es alles gab. Aber er wollte sich nicht den Appetit verderben lassen. Außerdem musste er noch den Ebbelwoi fürs Spiel kaltstellen. Einige Flaschen vom Stier und vom Nöll hatte er noch. Und zudem hatte er seit knapp zwei Wochen keine Rindswurst mit Kraut mehr zu sich genommen, was in seinem Leben bisher selten vorgekommen war. Er schrieb einen Einkaufszettel. Was brauchten sie noch für den Abend? Ihre Eintracht-Schals natürlich. Sie hingen an der Garderobe vom letzten Stadionbesuch.
In diesem Moment kam Jana mit Mäxchen an der Hand herein. Beide hatten den Schlaf noch in den Augen. Als sie ihn mit dem Handkäsbrot erblickte, verzog sie das Gesicht.
Er holte ihren Eintracht-Schal, legte ihn ihr um den Hals und gab ihr einen Kuss.
„Jetzt besser?“
„Drei Tore wären mir lieber.“ Sie grinste.
Der Reigen begann mit diesem zugedröhnten Mädchen auf dem Jahrmarkt im Stadtwald. Ich stand im Nirgendwo zwischen dem Oberforsthaus, dem Wäldchesschießen, der Regenbogenbühne und zahlreichen Fressbuden und trat gerade meine Kippe im weichen Erdboden aus, als mir diese Kleine um den Hals fiel. Sie war gestolpert und ich konnte nicht mehr ausweichen.
Ich fing sie auf und atmete aus ihrem Mund einen Mix aus Schnaps und Zigaretten ein. Und etwas, das ich mir lieber nicht ausmalen wollte.
Wie ich diesen ganzen Dreck hasste. All die tanzenden Leute, die blaue Zuckerwatte und den Ochs am Spieß. Diese Volksfestjunkies mit ihren fettigen Pommes rot-weiß zwischen den Zähnen, Bier aus Plastikbechern und Spaßtechno in Dauerbeschallung.
Mir fiel also diese Schwarzhaarige um den Hals, die kaum achtzehn sein mochte, und ich hatte Mühe, mich ihrer zu entledigen. Wie eine Klette hing sie an mir. Wollte sofort was zu trinken. Oder Pillen, soweit ich verstand. Sie würde sich auch erkenntlich zeigen.
Ich riss ihre Arme weg. Genau in diesem Moment sah ich die kleine Ratte, wegen der ich seit Wochen halb Frankfurt durchpflügte. Keine zehn Meter vor mir stand er und zuckte bei meinem Anblick zusammen.
Zum Teufel auch! Jetzt hing dieses besoffene Etwas an mir und ich wurde sie irgendwie nicht los. Dementsprechend dauerte es etliche Sekunden, bis ich loshechten konnte, um ihn zu schnappen.
Leider waren es genau diese Sekunden, die ihm ausreichend Zeit gaben, sodass ich mein Vorhaben nicht realisieren konnte. Als ich endlich frei war, sprintete ich zwar wie von der Tarantel gestochen los, doch er hatte natürlich sofort geahnt, dass es jetzt Beef geben würde. Oder Zores, wie der Frankfurter sagt. Längst hatte er sich auf den Fersen umgedreht und das Weite gesucht.
Dies gestaltete sich jedoch als schwierig. Wir waren umgeben von Hunderten, wenn nicht Tausenden Leuten, die sich durch die engen Waldwege schlängelten und an den Buden stärkten, die auf den Freiflächen vor den Bühnen feierten und sich einen Wolf babbelten. Nicht zu vergessen die Eintracht-Fans, die in grölenden Horden dem Empfang ihrer Helden entgegenfieberten.
Ich sah ihn von hinten. Seine Rückseite war nicht annähernd so anziehend wie die Vorderseite. Shit! Der Typ sah aber auch verdammt gut aus. Kein Wunder, dass er solchen Erfolg hatte, und das nicht nur bei Frauen. Seine Frisur war schnittig, die Haare hochgestylt, er sah fast wie ein Irokese aus. Schmales Gesicht, einnehmendes Lächeln, schlanke Figur. So ne Art Posterboy, er könnte auch Sänger bei einer berühmten Boyband sein. Kombiniert mit seinen anderen Qualitäten brachte ihm das massenhafte Klickzahlen von seinen Followern. Wochenlang war ich der Flitzpiepe nirgends übern Weg gelaufen, was in Frankfurt selten vorkam. Aber jetzt schien der Moment, mein Moment, endlich gekommen. Diese Chance wollte ich mir nicht entgehen lassen. Ich würde nicht lockerlassen, bis ich die Ratte mit meinen eigenen Händen …
Nun konzentrierte ich mich erst mal auf die Verfolgung, wich alle halbe Sekunde jemand aus und schlängelte mich an den ausgelassen feiernden Eintracht-Fans vorbei. Leider kam ich dabei nicht richtig in Fahrt und verlor ihn rasch wieder aus dem Blick. Wieselflink hatte sich das kleine Arschloch in der Menge davongestohlen und unsichtbar gemacht, als hätte er eine Tarnweste an.
Ich stoppte und ließ meinen Blick schweifen. Weit konnte er nicht sein. Hatte er sich irgendwo verschanzt? Welche Möglichkeiten hatte er? Ich malte mir schon aus, wie ich ihn töten würde, wenn ich ihn in die Finger bekäme. Schmerzen. Auf jeden Fall sollte sein Tod mit großen Schmerzen verbunden sein.
Meine Blicke zuckten über die tobende Crowd. Ich überlegte, wohin er türmen konnte. Oberforsthaus, fiel mir ein, von da aus kam er am besten weg. Also schlug ich den Weg dorthin ein, und es dauerte nicht lange, bis ich die Schienen erreichte, kurz vor der Haltestelle, und sie überquerte. Ich sah schon die Straßenbahn einfahren. Auch hier waren überall Eintracht-Fans, die sich jetzt auf den Weg zum Römer machten. Seit gestern Abend herrschte in ganz Frankfurt Ausnahmezustand. Ringsherum vernahm ich im Rhythmus Schwarz-weiß wie Schnee, Im Herzen von Europa und Eintracht international. Der Beat steckte an. Es war so voll, wie ich es hier noch nie erlebt hatte.
Trotz des Gewusels sah ich ihn plötzlich an der Station stehen. Ich duckte mich weg, behielt ihn aber im Blick. Er stieg vorne in die Straßenbahn ein, ich nahm die letzte Tür, verbarg mich hinter einer Gruppe von Leuten. Seinen Ausstieg wollte ich auf keinen Fall verpassen.
Rauscher war wie beseelt.
„Schau, Mäxchen!“
Er schnappte sich den schwarz-weißen Lederfußball, den er vor Urzeiten von seinem Vater geschenkt bekommen hatte, führte ihn am Fuß übers Parkett durch die Wohnung und knallte ihn in ein mit Sofakissen gebautes Tor. Riss die Arme hoch. Hielt den Eintracht-Schal übern Kopf und brüllte: „Und wir haben den Pokal!“ Rauscher kriegte sich gar nicht mehr ein.
Mäxchen freute sich mit und lachte. „Noch mal, Papa!“
Hundertmal, oder noch öfter, war seit gestern Abend die gleiche Szene in Rauschers Kopf abgelaufen: Gaćinovićs Lauf übers ganze Feld mit dem Ball am Fuß, quasi bis ins gegnerische Tor. Und die Bayernspieler versuchten, zunehmend verzweifelt, an ihn heranzukommen, um ihn zu stoppen. Ohne Chance. 3:1. Das Stadion bebte. Endstand. Pokalsieg. Das würde bleiben. Für immer.
Wer konnte das ahnen, dass die Eintracht den Bayern die Lederhosen ausziehen würde? In einem Finale! Es war unwirklich. Sie hatten den restlichen Abend und die halbe Nacht gefeiert. Normalerweise wäre er heute wie gerädert gewesen, aber davon war nichts zu merken. Es ging ihm blendend. Während Jana noch ihren Rausch ausschlief, spielten Rauscher und Mäxchen die entscheidenden Szenen des Finales nach, wieder und wieder. Und am liebsten hätte er nie mehr damit aufgehört.
Drei Jahrzehnte Entbehrung gehörten seit gestern der Vergangenheit an.
Sein Herz raste, als er die Straßenbahn erreichte. Schweiß stand auf seiner Stirn. So schnell war er seit Jahren nicht mehr gerannt.
Na, wohl eher geflüchtet.
Er pustete dreimal kurz durch. Das war knapp gewesen. Ausgerechnet der Person zu begegnen, der er auf keinen Fall übern Weg laufen wollte, und auch noch auf seinem geliebten Wäldchestag. Von klein auf hatte ihn seine Oma jedes Jahr am Pfingstdienstag mit in den Stadtwald genommen. Wenn ihm der typische Geruch nach Popcorn und gebrannten Mandeln in die Nase stieg, wurde er ihn tagelang nicht mehr los. Dann ging ihm das Herz auf. Wenn er ein Jahr nicht dort gewesen war und endlich wieder diesen Duft erschnuppern durfte, wardas wie Weihnachten im Mai. Die Jetons fürs Karussell, neonpink oder grellrot mit silberner oder goldener Prägung, fühlten sich vertraut an. Er mochte sie nie aus der Hand geben. Seine Kindheit war es, die ihn mit der Stadt verband. Erlebnisse wie der Wäldchestag würden immer seine Erinnerung beherrschen, bis in alle Zukunft.
Außer heute. Heute war es anders. Heute war Gefahr in Verzug. Und deshalb musste er sich schleunigst absetzen. Zum Glück hatte er unbeschadet die Straßenbahn am Oberforsthaus erreicht, die sofort losfuhr.
Er schwang sich auf einen der letzten freien Plätze und ließ seinen Blick schweifen. Der Wagen war brechend voll. Unmöglich auszumachen, ob er weiterhin verfolgt wurde. Sein Atem galoppierte. Je näher sie Richtung Main und Innenstadt kamen, desto mehr Eintracht-Fans tummelten sich auf den Straßen. Richtig! Gestern hatte die Eintracht den Pokal geholt, heute wurde die Mannschaft am Römer empfangen. Die Stadt würde aus allen Nähten platzen. Das war seine Chance. In dem Gewühl war es fast unmöglich, ihm zu folgen.
Als er am Baseler Platz ausstieg, um von dort aus – über die Gutleutstraße, den Willy-Brandt-Platz, die Weißfrauenstraße und die Münzgasse oder die Bethmannstraße – in die Feierzone zu laufen, hatte sich sein Pulsschlag wieder einigermaßen beruhigt. Doch das änderte sich erneut abrupt, je näher er dem Areal rund um den Römer kam. Ihm wurde klar, dass er die Lage falsch beurteilt und unterschätzt hatte, wie viele Fans sich auf den Weg gemacht hatten. Sie standen auf Dächern, hingen an Laternenmasten und jubelten, in ein Meer aus schwarzweißen Fahnen und Schals getaucht. Die Fans der Eintracht, viele von ihnen in schwarz-rote Trikots gehüllt, schwelgten am Tag nach dem Pokaltriumph in den historischen Bildern des Sieges. Der legendäre 70-Meter-Tor-Sprint von Gaćinović, der Granate von Rebić. Sie sangen, lagen sich in den Armen, tranken, grölten. Die Straßen waren verstopft, es ging weder vor noch zurück. Kurz: Es herrschte Ausnahmezustand, auch in der kleinsten Seitengasse.
Bis zum Willy-Brandt-Platz war er gut vorangekommen, doch spätestens in der Weißfrauenstraße fing es an zu stocken. In die Bethmannstraße kam er schon kaum mehr rein. Zu viele drängten Richtung Paulskirche. Aus einigen Wortfetzen von Fans hatte er heraushören können, dass der Flieger gelandet und die Mannschaft in Cabrios unterwegs in die Innenstadt war. Hunderttausende säumten die Straßen, um den Autocorso zu begleiten und ihren Stars zu huldigen.
Auf den ersten Blick folgte ihm niemand, aber in diesem Gewusel war es kein Wunder, dass er den Typen nicht ausmachen konnte. Er hetzte weiter, wurde von der Masse geschoben, schlängelte sich wie an Slalomstangen an Leuten vorbei, die Tränen in den Augen hatten. Tränen der Freude. Sie schunkelten und jauchzten, schwelgten im siebten Eintracht-Himmel. Alle, die nicht älter als fünfunddreißig waren, hatten so etwas noch nie erlebt.
Er kämpfte sich weiter vorwärts, immer weiter, bis er sich etwa achtzig Meter vorm Paulsplatz befand. Wie er es dorthin geschafft hatte, wusste er nicht mehr. Er schwitzte wie ein Schwein. Angstschweiß? Sein Puls raste und seine Augen flatterten.
Auf dem Trottoir lag ein Eintracht-Schal, den offensichtlich jemand verloren hatte. Er nahm ihn an sich, hielt ihn hoch und blickte sich um. In seinen Augen die Frage: Wem gehört der? Aber niemand beachtete ihn. Also legte er ihn sich selbst um den Hals. Als Tarnung konnte er nicht schaden.
Genau in diesem Moment stoppte der Pulk. Es ging keinen Millimeter weiter. Wieder drangen Nachrichten an sein Ohr, die diesmal für Entsetzen sorgten. Der Römerberg war dicht. Die Polizei bat alle Fans, davon abzusehen, zum Römer gelangen zu wollen. Ein Polizeihubschrauber kreiste über der Stadt und machte Lärm. Für eine kurze Weile waren die Gesänge der Fans nicht mehr zu hören.
Instinktiv postierte er sich hinter einem Stromkasten. Hier konnte er sich im Notfall mühelos wegducken.
Er ließ die Augen über die Straße schweifen, konnte aber seinen Verfolger nirgends entdecken. Wahrscheinlich hatte er ihn schon am Oberforsthaus abgehängt. Umso besser.
In diesem Moment wogte eine Welle durch die Menge und das Gegröle nahm atemberaubende Ausmaße an, sodass er sich die Ohren zuhalten musste. Die ersten Polizeimotorräder bahnten sich im Schritttempo eine Schneise durch die Fans, die sich vor Aufregung nicht mehr einkriegten.
Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, sackte ihm das Herz in die Hose. Beinahe hätte er sich eingenässt, denn er hatte gar nicht mitbekommen, dass jemand unmittelbar neben ihn getreten war. Langsam drehte er den Kopf und blickte einem etwa sechzigjährigen Eintracht-Fan in die leuchtenden Augen, in denen das Wasser stand. Er hielt ihm eine Dose Adler-Schoppen vor die Nase, die er einem kleinen Eintracht-Jutebeutel entnommen hatte.
„Siehst aus, als könnste was zu dringge brauche“, sagte der Mann. Die Stimme hörte sich heiser an. Er schmunzelte. „Ich bin de Harry.“
Er griff zu, setzte ein Lächeln auf, öffnete die Dosenlasche und stieß mit Harry an.
„Prösterchen!“
„Tut gut“, sagte er zu seinem Gönner. Harry sah mit seinen grauen langen Haaren, die unter einer Eintracht-Basecap herausquollen, aus, als habe er die Nacht durchgemacht. Er konnte sich aber gut artikulieren. Seine Eintracht-Kutte mit den vielen Stickern wies ihn als Edelfan aus. Er entdeckte 59er-, Adlerfront- und G-Block-Aufnäher.
„Warst du in Berlin?“, fragte er ihn.
„Ei no, was dann? Mir sin mim Audo gefahrn un erst vor aaner Stund zerückgekomme. Die Rückfahrt hammer durchgesunge, deswesche is mei Stimmsche aach e bissie schwach uff de Brust.“ Harry reckte immer wieder den Kopf über die Menge, hielt Ausschau nach den ersten Wagen. „Eischendlisch wollt ich uff de Römerbersch, awwer des kann ich mer abschmingge.“
Er hoffte, dass Harry ihn nicht fragen würde, wo er das Spiel gesehen hatte. Denn das hätte ihn in Erklärungsnöte gebracht, die er derzeit nicht gebrauchen konnte. Aber er hatte Glück. Die Welle wogte wieder auf sie zu, der erste Wagen kündigte sich an.
Ein offener Cabrio kam angerollt und Harry drängte sich nach vorne zur Fahrbahn. Er erhaschte einen Blick auf den Fußballgott, Alex Meier, auf Fredi Bobic und Prince Boateng.
„Eintracht, Eintracht“, erschallte es von überallher.
Die Fans brüllten wie am Spieß, gingen auf die Knie, verbeugten sich, versuchten die Jungs abzuklatschen, ihnen aus purer Dankbarkeit die Hände zu schütteln. Und einige Glückliche erwischten tatsächlich eine Hand oder einen Finger von Meier oder Bobic.
Bald stellte er fest, dass er von seinem Plätzchen aus eine gute Sicht hatte. Er hielt seinen schwarz-weißen Schal hoch und jubelte den Helden des Endspiels zu, als sie in der Wagenkolonne an ihm vorbeirollten, keine zwei Meter entfernt. Näher war er ihnen nie gewesen.
Und so ging es weiter. Ein Cabrio nach dem anderen kam an, es saßen immer drei oder vier Spieler darin, meistens jemand aus dem Trainerstab oder dem Vorstand und dem Management.
Doch plötzlich sackte ihm das Herz in die Hose. Was, wenn sein Verfolger ihm immer noch auf der Spur war und ihn hier aufstöberte? Dann wäre er verloren. Hier konnte er ihm nicht entkommen, hier wäre er ihm ausgeliefert wie auf einem Präsentierteller. Und alle rundherum waren so mit der Anbetung ihrer Heiligen beschäftigt, dass niemand registrieren würde, was sein Feind mit ihm anstellte. Er könnte ihn abstechen oder erwürgen, es würde niemand stören, weil es niemand bemerken würde.
Diese Erkenntnis machte ihn fertig. Sein Magen schlug Kapriolen. Sein Nervenkostüm war sowieso seit einigen Vorfällen in letzter Zeit nicht das stabilste. Sein Atem galoppierte, er stand kurz vorm Hyperventilieren.
Da er schon öfter Hass und Anfeindungen im Internet ausgesetzt gewesen war, hatte er sich vorbereitet. Nie ging er ohne einen Vorrat an Pillen aus dem Haus. Für den Notfall gab es Anti-Angst-Pillen; das waren keine Antidepressiva, denn depressiv war er nicht, aber sie reduzierten prächtig den Stress im Kopf und brachten ihn runter. Ruhe und Klarheit waren ihm wichtig. Auch jetzt. Gleichzeitig fühlte er sich so schlapp, dass er Energie benötigte. Dafür hatte er immer einige Benzos dabei. Chemie bewirkte Wunder. Ob es eine gute Idee war, beide gleichzeitig zu nehmen?
Scheiß drauf, die Situation verlangte es. Er legte sich beide Pillen auf die Zunge, schluckte sie runter und spülte mit Apfelwein nach, bis die Dose leer war. Er bückte sich und entsorgte sie auf dem Boden neben dem Schaltkasten.
Als er sich wieder erhob und dabei nach links schaute, setzte sein Herzschlag für einige Sekunden aus. Da war er! Er erkannte seinen Verfolger, der sich etwa dreißig Meter weiter an einem Laternenmast hochgehangelt hatte, um einen Rundumblick zu haben. Gerade ließ er seine Augen über die Menge schweifen.
Instinktiv ging er in die Hocke und verkrümelte sich hinter dem Stromkasten. Hoffentlich hatte er ihn nicht erblickt.
Was sollte er nun tun? Sein Herz pumpte auf Hochtouren. Sich hier unbemerkt aus dem Staub zu machen, würde verdammt schwer, wenn nicht unmöglich werden. Er war eingekesselt von Hunderten schwelgender Fans. Außerdem wusste er nicht, wohin. Der Römerberg war abgeriegelt. Er war in einer Sackgasse, kein Ausweg war in Sicht. Panik stieg in ihm auf, erreichte seinen Kopf. Oder waren es die Pillen in Kombination mit dem Alk? Ein Schweißausbruch jagte den nächsten. Vor seinen Augen flimmerte es. Er brauchte eine Lösung, einen Unterschlupf, wo er zur Not einige Tage bleiben konnte. Aber ihm fiel auf die Schnelle nichts ein. Sein Kopf spielte nicht mehr mit. Er hatte das Gefühl, nicht mehr denken zu können. Sein Gehirn lief Amok. Er war verwirrt, konnte keinen Gedanken festhalten, fühlte plötzlich Todesangst. Seine Pumpe geriet in Wallung. Bloß weg hier!
Mit zitternden Händen zog er sein Handy aus der Hosentasche. Wen konnte er um Hilfe bitten? Alle Namen in seinem Kopf waren wie ausgelöscht. Er öffnete sein Adressbuch und wischte rasch nach unten. Das Scrollen stoppte bei AL… Ein Name sprang ihm ins Auge. Eine Online-Freundin. Sie war clever. Sie konnte seine Rettung sein. Er tippte eine WhatsApp:
ICE!!! Bin am Arsch! Hilf mir! Muss zwei, drei Tage unterschlüpfen! Ne Idee wo? Thank you so much!
Er starrte das Handydisplay an wie ein Wahnsinniger. Hoffentlich kam bald eine Antwort, sonst würde er ausrasten. Er konnte sich nicht länger hier verstecken, musste wieder in Bewegung kommen. Er hielt es nicht mehr aus. Geduckt ging er deshalb Schritt für Schritt, was schwierig war, denn er konnte kaum nach vorne schauen. Ständig stolperte er gegen Bäuche und Beine, denen er versuchte auszuweichen, doch daneben standen bereits wieder andere Fans und versperrten ihm den Weg. Einige ignorierten ihn, andere wollten ihn zum Mitjohlen anstacheln, wieder andere fragten besorgt, ob alles klar bei ihm war. Die meisten konzentrierten sich jedoch voll und ganz auf die Spieler in den vorbeirollenden Wagen. Die Meute hüpfte, jubelte und sang aus voller Kehle.
Sein Handy vibrierte. Eine Sprachnachricht. Gut. Er hörte sie ab, fischte einen Bleistift und sein kleines Notizbuch, das er immer bei sich trug, aus der Hosentasche. Er hatte immer etwas zum Schreiben dabei. Wenn er unterwegs war, hatte er die besten Ideen für seine Artikel, die er sogleich notierte, um nichts zu vergessen. Er schrieb rasch Namen, Straße und Hausnummer auf, die Alina ihm am Ende ihrer Nachricht draufgesprochen hatte, und steckte alles wieder ein.
Auf einmal kippte alles. Die vielen Menschen, die Enge und die Gesänge lösten einen Alarm bei ihm aus. Er zwinkerte. Die Pillen, der immer stärker ausbrechende Schweiß, das Herzflattern. Er zitterte wie Espenlaub, obwohl es scheißschwül war.
Als er für wenige Sekunden den Kopf hob, blickte er in ein Gesicht, das vor allem eines zeigte: Entschlossenheit. Sein Verfolger stand keine fünf Meter weiter und drängte vorwärts. Dort, wo normalerweise seine Augen liegen müssten, erschienen zwei glühende Briketts, die Blitze in seine Richtung schossen. Es waren nur noch wenige Leute zwischen ihnen, die der Typ mit beiden Händen aus dem Weg räumte. Wie aus einem Reflex heraus schwang er seine Rechte nach vorne und verpasste dem Verfolger einen Schlag. Er erwischte ihn an der Schläfe, sodass der Typ nach hinten taumelte und von ein paar Fans aufgefangen wurde, sonst wäre er zu Boden gegangen. Ein entscheidender Move, denn der verschaffte ihm einige Sekunden, bis sich der andere wieder berappelt hatte.
Er machte auf den Hacken kehrt und versuchte, panikartig in die entgegengesetzte Richtung zu verschwinden. Wie ein Berserker rannte er immer weiter. Tunnelblick. Nur weg! Nur weg! Er atmete schwer, Schweiß brannte in den Augen, sein Puls flog. Mit der Zeit gelang es ihm besser, den Fans auszuweichen und schneller voranzukommen. Aber er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Trotzdem weiter, weiter, wie in Trance, immer schneller. Er durfte nicht anhalten, er durfte sich nicht umblicken. Nackte Angst kroch ihm in den Nacken und auf seinem Rücken bildete sich eine brutale Gänsehaut.
Irgendwann tauchte die Spitze der Bockenheimer Warte auf. Endlich Land in Sicht. Er beschleunigte nochmals, holte ein letztes Mal alles aus sich raus. Bog einmal rechts ab, einmal links. Las das Straßenschild. Richtig. Klappte fast zusammen. Die wenigen Meter bis zur Haustür kroch er. Mit letzter Kraft kam er noch einmal auf die Beine, hob den Arm und drückte die Klingel.
Die letzten Monate war es gut gelaufen mit Mäxchen. Rauscher dachte an den Deal, den er mit Elke ausgehandelt hatte. Er durfte Mäxchen zweimal die Woche nachmittags von der Kita abholen und mit nach Hause nehmen. Klar, er wusste, dass das eine Art Test war. Elke wollte ihn prüfen. Ob es funktionierte, ob er funktionierte. Bislang war alles gut gegangen. Er war immer pünktlich gewesen, sie hatte sich bei den Erzieherinnen erkundigt. Alles einwandfrei, hatten diese bestätigt. Geht doch! Vater und Sohn harmonierten und hatten viel Spaß zusammen. Dennoch: Rauscher ahnte, dass sie ihm nie ganz trauen würde. Von heute auf morgen konnte sie den Deal zurücknehmen. Die Gelegenheit, ihr endgültig zu beweisen, dass er es mit Mäxchen draufhatte, war der Japan-Urlaub, den sie mit Thaler angetreten hatte. Liebesurlaub im Land des Lächelns. Als Rauscher es erfahren hatte, war er mordsmäßig erstaunt gewesen. Aber er freute sich auch. Für Elke, für Ingo. In den letzten Monaten hatten die beiden zusammengefunden. Er drückte ihnen die Daumen. Und sich auch. Dass er es nicht vermasseln würde mit seinem Kleinen, der mittlerweile so klein auch nicht mehr war. Immerhin kommt er Anfang September in die Schule, dachte er und freute sich ein Bein ab.
Ein Klingeln an der Haustür lenkte ihn von seinen Gedanken ab. Er erwartete niemand und sprach in die Gegensprechanlage: „Hallo, wer ist da?“ Stille, bis Rauscher ein Röcheln vernahm. „Hallo? Wer ist denn da?“ Je weniger er hörte, desto mehr Sorgen machte er sich. Daher drückte er den Türöffner. Die Haustür fiel unten ins Schloss.
Aber es kam niemand die Treppe hoch. Er trat einen Schritt hinaus ins Treppenhaus. „Hallo? Ist da jemand?“
Er beugte sich übers Treppengeländer und sah nach unten. Da lag jemand. Er konnte zwei Beine erkennen. War der Klingler etwa kurz nach seinem Eintreten zusammengebrochen?
Um Himmels willen, dachte er, und sprintete augenblicklich die etwa zwanzig Stufen hinunter.
Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich. Auf den Fliesen im Eingangsbereich, genau vor der Haustür, lag ein Mann. Er war jung, schlank, groß. Auffällige Frisur mit hochgestellten braunen Haaren und blonden Strähnen, stylish, allerdings nass von Schweiß, T-Shirt, enge Jeans, Chucks. Er schien ohnmächtig geworden zu sein.
Rauscher ging direkt neben ihm auf die Knie und suchte seinen Puls. Fand ihn rasch. Er galoppierte. Hatte der Mann sich überanstrengt, war er besoffen, oder was war los mit ihm? Alkohol roch er nicht. Er sah auch nicht verwahrlost aus.
Wenn er hier reingekommen ist, kann es nicht ganz so schlimm sein, dachte Rauscher. Er gab dem jungen Mann eine leichte Backpfeife, um ihn aufzuwecken.
Eine Regung. Die Augen wie Schlitze. Pupillen nicht erkennbar. Kein Laut war zu vernehmen.
Rauscher richtete den Oberkörper des Mannes auf, schob ihm seinen Arm unter die Achsel und versuchte, ihn hochzuhieven. Das war ein schwieriges Unterfangen, aber nach einigen Versuchen gelang es ihm einigermaßen. Bis in den ersten Stock würde er ihn schleppen können.
Es dauerte eine Weile, aber er schaffte es, den jungen Mann in die Wohnung zu ziehen und auf der Couch im Wohnzimmer abzulegen. Er war immer noch wie weggetreten. Wenn er nichts getrunken hatte, gab es weitere Möglichkeiten: Drogen oder andere Substanzen. Medikamente? Vielleicht hatte er etwas nicht vertragen. Er holte ein Glas Mineralwasser aus der Küche. Das wirkte manchmal Wunder. Sollte er einen Notarzt anrufen?
Er zog sich einen Stuhl heran, setzte sich vor die Couch und betrachtete das Gesicht eingehend. Schmal, hohe Wangenknochen, markantes Kinn, blaue Augen. Einprägsame Züge. Hätte als Shootingstar der deutschen Filmbranche durchgehen können. Aber er kam Rauscher nicht bekannt vor. Hatte ihn noch nie gesehen. Warum hatte er ausgerechnet bei ihm geklingelt? Oder war es Zufall und er war so schwach gewesen, dass er einfach die nächstbeste Klingel gedrückt hatte?
Schwer zu sagen.
Er probierte es wieder mit einer leichten Backpfeife, in der Hoffnung, er würde den jungen Mann damit ins Hier und Jetzt zurückholen können.
Und tatsächlich öffnete dieser die Augen einen Spaltbreit. Der Blick war leer. Der Mann wirkte apathisch. Was war nur mit ihm los? Langsam schien er zu sich zu kommen. Er starrte Rauscher an.
„Wer bist du?“, fragte Rauscher und fasste ihm sanft an den Hals, um seinen Puls zu fühlen.
Dies schien den jungen Mann jedoch nicht zu beruhigen, denn plötzlich nahm seine Atmung Fahrt auf und er begann zu hyperventilieren. Er öffnete leicht den Mund, aber es kam kein Ton heraus.
„Du hast bei mir geklingelt“, fühlte sich Rauscher bemüht, ihm die Situation zu erklären. „Und bist unten im Hausflur zusammengebrochen.“
Die Augen weiteten sich, als schien sich der Mann an etwas zu erinnern, was aber keine gute Erinnerung sein konnte, denn die Atmung wurde nun noch schneller und unregelmäßiger. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Er wollte etwas sagen, seine Lippen bewegten sich, aber immer noch bekam er kein Wort heraus. Dafür riss er nun die Augen weiter auf, die starr nach vorne blickten, als säße ihm das leibhaftig Böse gegenüber. Rauscher bekam eine Gänsehaut. So was war ihm noch nie passiert. Er fühlte sich hilflos. Was konnte er tun? Wen konnte er verständigen?
„Ich heiße Rauscher“, sagte er, weil ihm nichts anderes einfiel. „Andreas Rauscher. Du bist hier in Bockenheim in meiner Wohnung.“
