Blind Date - Die Welt mit meinen Augen sehen - Joana Zimmer - E-Book

Blind Date - Die Welt mit meinen Augen sehen E-Book

Joana Zimmer

4,9
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Von Geburt an blind: Joana Zimmer stellt sich dennoch mutig jeder Herausforderung. Mit ihrer einzigartigen Stimme erzählt sie in ihren Songs kraftvoll und feinfühlig Geschichten, die im Herzen lange nachklingen. In diesem Buch lässt sie uns teilhaben an ihren Abenteuern, Erfolgen, Zielen, Sehnsüchten und an ihrem sozialen Engagement. Beispielhafte Lektüre über Grenzen, die keine sein müssen, und wie man das Beste aus seinem Leben macht.



  • Die blinde Sängerin Joana Zimmer gibt Einblick in ihr Leben
  • Wie ein Handicap zu Höchstleistungen beflügelt
  • Die Welt mit anderen Augen sehen

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 176

Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
15
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Joana Zimmer

BLIND DATE

Die Welt mit meinen Augen sehen

Kösel

Verlagsgruppe Random House

Copyright © 2013 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Konzeption / Lektorat: Ulrike Reverey

Umschlag: T. Mutzenbach Design

Umschlagfotos: Steffen Thalemann, New York, www.thalemann.com

ISBN 978-3-641-10934-9

www.koesel.de

Für Großi

und

für alle,

die dem Leben mit seinen vielfältigen Facetten

in Liebe begegnen möchten

INHALT

Miss JZ in Concert

1Everything I Do

Über Elan, tägliche Herausforderungen, Kreativität, die Lust am Leben

Immer wieder neue Wege finden

Ich sehe was, was du nicht siehst

Kuck mal, wer da spricht

Helden des Alltags

Wer wagt, gewinnt!

Warum bedauern, was sein könnte, wenn es zu feiern gilt, was ist?

2Papa, Can You Hear Me?

Familie, Vertrauen, Bindung

»In der Bronx von Berlin« (Harro von Have)

Neue Väter

»Wochentags bei uns zu Haus« (Christiane und Werner)

3Don’t Let Go

Geborgenheit, Schule, Wert der Freundschaft

Gute Freunde sind wie ein Fels in der Brandung

»Die Fee im Showbiz« (Kiki)

Früh übt sich

Im Internat

Zusammenhalten ist alles

Hauptsache, erfinderisch

»Joie und ich« (Sandra)

»Ein Wiedersehen zwischen Einst und Jetzt« (Heide Popig)

4 Not Looking Back

Schwierigkeiten, Enttäuschungen, Blick nach vorn

Dünnhäutig

»Wenn eine Tür sich schließt, öffnet sich

eine andere« (Stefan Piendl)

5I Believe

Magie der Musik, Klang, Ton, Rhythmus, Melodie der Seele

Die Welle rollt

GOLD!

Ohne Fans keine Show

On The Road

»I Am Blessed« (Dolan José)

6Beyond The Dream

Sport, Yoga, Tanzen und mehr, Styling und Farben, Sinnlichkeit

Der Körper ist das wertvollste Haus, in dem wir leben

Innen und außen schön

Sinnlichkeit hat viele Namen

7 Dreaming People

Nichts ist unmöglich, Reisen, Abenteuer, Charity

Kleine Taten – große Wirkung

Joana allein in New York

The Answer Is YES!

8 With Love, Joana

Träume, Liebe, das Leben feiern – it’s ZIMMER time!

Sei bereit für deine Träume

Unvergessene Begegnungen

Music In The Air

Was trägt, ist die Liebe

Über den Horizont hinaus

Könnt ihr mich hören?

Blind Date – ein Nachwort (Dieter Flöge)

Special Thanks!

Meine Lieblingsbücher

Discografie

Kontakt

Bildteil

MISS JZ IN CONCERT

Der Wagen hält. Die wenigen Schritte zum Bühneneingang gehen wir gemeinsam. Ein Flur, links, rechts, verwinkelt, ein paar Stufen, wir gehen schweigend, konzentriert. Auf den Treppen eiliges Laufen, jeder hastet, ein Gruß, ein flüchtiges Lachen, Gesprächsfetzen, aufgeladene Stimmung. Ich gehe zügig, aber eigentlich habe ich keine Eile. Ich bin gerne pünktlich bei Konzerten und auch sonst in meinem Leben. Aus Respekt allen anderen gegenüber und auch vor mir selbst.

Eine Tür, ein Hallo. Wo kann ich mich umziehen? Im Geiste noch mal alle Songs durchgehen. Ich werde ganz still, atme, fokussiere mich, doch allmählich steigt der Puls. War es richtig, mit genau diesem Song beginnen zu wollen? Jetzt kann ich nichts mehr ändern. Die Band ist schon eingestimmt. Der Manager gibt letzte Infos. Jemand kämmt mein Haar. Farbe für die Lippen, Puder auf die Haut – Scheinwerfer mögen das …

Das Stimmengewirr der Menge dringt zu mir vor. Ausverkauft, heißt es. Was wird dieser Abend bringen? Wieder werde ich hinausgehen wie schon so oft – aber Gewohnheit wird es nie. Jedes Mal beginnt eine neue Reise ins Ungewisse. Freude und Beklommenheit mischen sich. Werde ich die anderen erreichen mit dem, was ich heute geben will?

Hinter dem Vorhang, der Moment vor dem JETZT. Plötzlich die Spots, nur wenige Schritte sind es zum Mikro. Applaus brandet auf, erwartungsvoll, abwartend, klingt aus. Ich spüre die Band hinter mir, kann mich auf alle verlassen, die mit mir sind. Doch in diesem Moment bin ich allein. Die Zeit scheint stillzustehen, mein Herz rast. Und dann, in die Ruhe der Menschen vor mir, fällt mein erster Ton. Mit ihm gehe ich in meine eigene Welt, die ich nun teilen will mit den anderen.

Es ist die immer wieder neue Begegnung mit Menschen, die in ebensolcher Ungewissheit sind wie ich selbst. Werden sie mich hören? Werden sie sich von den Songs berühren lassen, sich im Takt wiegen, träumen und erinnern können? Das Publikum will alles. Und ich will alles von ihm. Also gebe ich alles. Meine Stimme bahnt sich ihren Weg. Und so geht sie hinaus in das Wagnis, verbindet sich mit den Melodien, mit den Instrumenten, mit denen, die lauschen. Mit dieser Stimme erzähle ich Geschichten. Über Liebe, Schmerz, Hoffnung, Wagemut und Freude. Geschichten des Lebens, von anderen, von mir selbst.

Ich bin Joana. Ich bin blind.

1 EVERYTHING I DO …

Über Elan, tägliche Herausforderungen, Kreativität, die Lust am Leben

Ja, ich bin blind. Von Geburt an. Für mich ist das nichts Besonderes, denn ich kenne es nicht anders. Eigentlich ist es für jeden von uns das Gleiche: Wir schlüpfen aus einem warmen beschützenden Kokon, kämpfen uns nach draußen oder werden herausgehoben in eine völlig unbekannte Welt, die es von nun an zu erobern gilt. Was für eine abenteuerliche Situation! Warum nehmen wir das nicht als Leitmotiv fürs Leben? Denn wenn es mal nicht so rund läuft, Schwierigkeiten und Mutlosigkeit übergroß werden, könnten wir uns immer daran erinnern, dass wir als winzig kleine Wesen von Anfang an Großartiges geleistet und diese Fähigkeit mit Sicherheit nicht verloren haben.

Bei mir erhöhte sich beim Erobern dieser neuen Welt der Schwierigkeitsgrad, indem ich, wie sich herausstellen sollte, meine Augen nicht in gewohnter Weise würde einsetzen können. Ich habe Sehnerv-Schwund. Das bedeutet, dass ich nichts wahrnehmen kann außer generelles Hell und Dunkel, aber ohne jegliche Konturen. Sehr starkes Licht (Sonne, helle Lampen, Scheinwerfer etc.) empfinde ich als äußerst angenehm. Für den Sehnerv-Schwund gibt es bis heute keine genaue Erklärung. Meine Eltern haben natürlich alles erdenklich Mögliche unternommen, um medizinisch eine Korrektur herbeizuführen. Ich wurde sowohl in den USA als auch in Deutschland diversen Spezialisten vorgestellt, und trotz vieler Untersuchungen konnten keine anderen Prognosen gestellt werden.

Eine Augenspezialistin war der Meinung, dass die Sehbeeinträchtigung durch einen Defekt im Fötus-Stadium ausgelöst worden sein könnte. Ich bezeichne es als Herausforderung. Da ich im Allgemeinen sehr schnell denken und entscheiden kann, eher ungeduldig mit mir bin und mich vor allem in der Schulzeit so enorm unter Leistungsdruck setzte, dass ich mir damit oft im Weg stand, denke ich: In diesem Leben lehrt mich das Nichtsehenkönnen vielleicht, Geduld zu haben. Das ist leichter gedacht als getan: Denn sowohl geistig als auch körperlich war ich von Anbeginn im Höchsteinsatz.

Immer wieder neue Wege finden

Meine Mutter erkannte früh meinen hohen Bewegungsdrang, und glücklicherweise hat sie mich nie darin eingeschränkt. Stattdessen fand sie Mittel und Wege, wie ich mich austoben konnte. Da wir später in der Stadt lebten, gab es nicht immer einen Garten dafür. Also erfand sie beispielsweise das »Um-sie-herum-lauf-Spiel«: Dabei gab sie mir erst die eine, dann die andere Hand, während ich in rasendem Tempo um sie herumrannte – mal in die eine oder in die andere Richtung. Sie ließ mich auch auf freien Plätzen allein herumrennen, ohne dass ich mich beängstigend weit von ihr entfernte.

Für all das bin ich unendlich dankbar. Denn so lernte ich, dass es in dieser von mir erkundeten Welt zwar jede Menge Hindernisse gab, die ich erst mal be-greifen musste (im wahrsten Sinne des Wortes!), aber ich machte auch die Erfahrung, dass diese Welt nicht einfach irgendwo aufhört, sondern sich immer wieder neue Wege und Möglichkeiten auftun. Für einen Sehenden ist dies oft »vorhersehbar«, ich musste dafür Instinkt, Intuition und Vertrauen einsetzen. Und dann das herrliche Trampolin! Stundenlang konnte ich darauf herumspringen, während ich gleichzeitig mein Kopf-Kino trainierte, indem ich mir Gedichte aufsagte, sang oder mir Geschichten erzählte.

Die Geschichten, die wunderbaren Geschichten. Ich hatte das Glück, in einem künstlerischen, sogenannten schöngeistigen Elternhaus aufzuwachsen. Und dort wurde mir sehr viel vorgelesen. Mein Lieblingssatz war: »Liest du bitte weiter?« Ich konnte nicht genug bekommen von Geschichten, die mir ganz neue Welten eröffneten und mich verzauberten. Zum Einschlafen hörte ich oft Der Kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry. Auch die ellenlangen Gedichte von Schiller oder Ringelnatz, die ich spielend auswendig lernte, sorgten dafür, dass ich mich nie langweilte.

Dann kam der Tag, an dem mein Vater mir einen wunderschön lackierten Kassetten-Koffer schenkte. In ihm befanden sich unter anderem von Michael Ende die Unendliche Geschichte, Momo und Der kleine Lord. Ich liebte diese Geschichten! Auch wenn ich heute weiß, dass ich Michael Endes Werk erst als Erwachsene vollständig verstanden habe, entzündete die Lektüre während der Kindheit meine Leidenschaft für Literatur und für die Schönheit der deutschen Sprache – auch der englischen, weil ich zweisprachig aufwuchs.

Sehen und Nichtsehen sind also relativ. Auch ohne den gewohnten intakten Sehnerv lassen sich vielfältige, kunterbunte, faszinierende Welten erschließen. Umgekehrt können manche Menschen mit Augenlicht trotzdem nicht sehen, was vor ihnen liegt. Will heißen: Die Erkenntnis dessen, was ist, zeigt sich für Sehende und Nichtsehende oft auf ganz andere, überraschende Weise.

Dazu passt wunderbar ein Gedicht des von mir verehrten Michael Ende, das ich an dieser Stelle gern mit einer Verneigung vor ihm wiedergeben möchte. Und lächelnd sei angemerkt: Es illustriert auch auf nahezu geniale Weise, wie es ausgehen kann, wenn ein Sehender versucht, einem Nichtsehenden zu beschreiben, was wie ist.

DER WIRKLICHE APFEL

»Ein Mann der Feder, berühmt und bekannt

als strenger Realist,

beschloss einen einfachen Gegenstand

zu beschreiben, so wie er ist:

Einen Apfel zum Beispiel, zwei Groschen wert,

mit allem, was dazugehört.

Er beschrieb die Form, die Farbe, den Duft,

den Geschmack, das Gehäuse, den Stiel,

den Zweig, den Baum, die Landschaft, die Luft,

das Gesetz, nach dem er vom Baume fiel …

Doch das war nicht der wirkliche Apfel, nicht wahr?

Denn zu diesem gehörte das Wetter, das Jahr,

die Sonne, der Mond und die Sterne …

Ein paar tausend Seiten beschrieb er zwar,

doch das Ende lag weit in der Ferne;

denn schließlich gehörte er selber dazu,

der all dies beschrieb, und der Markt und das Geld

und Adam und Eva und ich und du

und Gott und die ganze Welt …

Und endlich erkannte der Federmann,

dass man nie einen Apfel beschreiben kann.

Von da an ließ er es bleiben,

die Wirklichkeit zu beschreiben.

Er begnügte sich indessen

damit, den Apfel zu essen.«

Michael Ende (Copyright © by Nachlass Michael Ende. Vertreten durch AVA international GmbH; München, www.ava-international.de)

Ist es nicht großartig, zu solch immer neuen Horizonten aufzubrechen? Was mir die Literatur an Lebensweisheit mit auf den Weg gab und immer noch tut, was mir als Kind an Liebe und Geborgenheit geschenkt wurde, damit ich experimentieren, mich selbst erproben konnte, hat ganz wesentlich auch meinen Umgang mit den ganz alltäglichen Herausforderungen geprägt. Und die warten als Nichtsehende in einer visuell orientierten Umwelt zuhauf auf mich.

Ich sehe was, was du nicht siehst …

Wenn man sich den Herausforderungen des Alltags stellt, kommt es generell – bei mir aber fast existenziell – auf die Konzentration an. Klar, ich selbst muss mich sicherlich noch stärker als andere auf alles konzentrieren, damit die Dinge glattlaufen und gelingen. Deshalb ist es ganz wichtig und enorm erleichternd, wenn alle Sachen, die ohnehin einen festen Platz haben, zum Beispiel in der Wohnung, auch tatsächlich an diesem Platz sind. Natürlich habe ich mir diesbezüglich immer mal wieder neckende Kommentare von lieben Mitmenschen anhören müssen wie: »Aha, das muss also unbedingt so oder so sein, damit du dich wohlfühlst?« etc. Stimmt.

Auch ist meine Tasche immer bestens sortiert. Ich habe dafür ein ganz cooles System entwickelt, sodass ich gleich finde, was ich brauche. Ich wurde damit sogar schon von Kollegen parodiert: »Hast du mal ein Taschentuch?« – und wupp – da ist es! Die anderen finden es lustig, für mich ist es ein Riesenkompliment! Ich bin sehr erstaunt, dass Menschen, die sehen können, diese Ordnung nicht haben und erst mal in den Tiefen ihrer Tasche herumwühlen müssen – vielleicht sie sogar noch ausschütten –, damit sie das Portemonnaie oder einen Stift finden. Bei mir ist so ein Stift immer gleich zur Stelle. Ich weiß eigentlich gar nicht, warum, denn ich schreibe kaum: Außer meiner Unterschrift kann ich ja mit der Hand nichts schreiben. Aber der Stift ist da.

Ordnung zu halten ist für mich eine Art Verpflichtung – nicht nur mir selbst, sondern auch aus Respekt anderen gegenüber. Wenn ich mich beispielsweise beim Gehen bei jemandem unterhake, habe ich das so organisiert, dass ich mit dem anderen Arm in meiner Tasche sofort das greifen kann, was ich brauche. Ich müsste ja sonst jedes Mal denjenigen, der mich begleitet, loslassen oder ihn bitten, anzuhalten. Also versuche ich, so strukturiert zu sein, dass es gar nicht groß auffällt. Natürlich könnte ich auch unordentlicher sein, dann müsste ich eben öfter jemanden fragen. Ich weiß auch, dass mir jeder behilflich sein würde, aber ich möchte dies nicht als grundsätzliche Haltung annehmen. Ich finde, man sollte seine Sache so gut und so weit, wie es geht, selbst machen. Was nicht heißt, dass ich nicht flexibel bin. Ich versichere Ihnen, jeder neue anbrechende Tag wäre für mich sonst ziemlich schnell zum Scheitern verurteilt.

HOTEL: Da ich durch meinen Beruf viel auf Reisen bin, werde ich oft gefragt, ob es nicht schwierig sei, sich in Hotelzimmern zurechtzufinden. Keineswegs. Denn sie sind eigentlich immer nach einem bestimmten Schema eingerichtet: Beim Reinkommen befindet sich links oder rechts das Badezimmer, und im Wohnraum sind Bett, Schrank, Schreibtisch, Nachttisch nach einem ähnlichen System angeordnet, in dem man sich schnell orientieren kann. Aber ich bevorzuge Zimmer mit Aussicht – und ernte damit an der Rezeption meist ein vorsichtiges Lächeln.

Training ist für die Orientierung übrigens unerlässlich. Ich habe mich viele Jahre darauf trainiert, mich sofort zurechtzufinden (nicht nur in Hotelzimmern) und möglichst ohne fremde Hilfe auszukommen. In diesem Zusammenhang macht es richtig Spaß, kreativ zu sein und der Sache System zu geben. Beispielsweise reise ich stets mit einem kleinen Klappregal – ich nenne es »mein kleines Zelt«. In meiner Lieblingsfarbe Pink steht es auf dem Nachttisch, sodass mir auch Kleinigkeiten nicht runterfallen können und mir so nervtötende, gegebenenfalls erfolglose Suchaktionen erspart bleiben. Alles Wichtige ist nun immer griffbereit, und ich kann so unabhängig wie möglich sein.

Heutzutage gibt es für Nichtsehende eine Fülle von Hilfsmitteln, die für alle möglichen Situationen nützlich sein können. Ob jemand dieses Angebot nutzt, ist individuell verschieden. Ich selbst bin nicht unbedingt darauf aus, alles »vorgekaut« zu bekommen, denn ich will meine Spürnase und meinen wachen Geist auf Trab halten. Also gieße ich mir die Limo ins Glas ohne ein Gerät, welches mit einem Signalton anzeigt, dass das Glas nun voll ist.

ESSEN UND TRINKEN: Ich kann nach Geräusch eingießen und mit den Fingern spüren, was Sache ist.Meine geliebten und raffinierten Tee-Varianten trinke ich am liebsten mit einem Strohhalm, so gibt’s keine überschwappenden Überraschungen. Und im Restaurant oder zu Hause schlägt ja auch kein Gerät Alarm, das mir meldet, ob das Salatblatt rechts oder links auf dem Teller liegt und die Kartoffeln oben und so weiter. Mit der Gabel abtasten heißt das Zauberwort! Ich habe, wie man mir nachsagt, eine rasante Geschwindigkeit darin entwickelt, die Köstlichkeiten auf dem Teller zu orten, und bekomme mit Sicherheit das auf die Gabel, was ich möchte. Sind größere Teile zu schneiden, wie Fleisch zum Beispiel, lasse ich mir jedoch gern helfen. Und sitzen wir zu mehreren zusammen, erleichtern ganz selbstverständliche kleine Infos der anderen das Ess- und Trinkvergnügen. Eine gepflegte Atmosphäre ist mir persönlich sehr wichtig. Und über kleine Kleckereien von Sehenden »sehe« ich großzügig hinweg. 

DER STOCK: Für blinde Menschen oder auch für diejenigen mit größerer Sehbehinderung ist er eine unglaublich große Hilfe. Ein »Zauberstab«, mit dem wir uns draußen so selbstständig wie möglich bewegen können. Der »Weiße Langstock« – umgangssprachlich einfach »Blindenstock« genannt – ist eine tolle Erfindung. Er wird in vielen verschiedenen Materialien und Bauweisen angeboten. Mit ihm lassen sich unter anderem Stufen und Rillen oder Schlaglöcher ertasten, die gesamte Bodenbeschaffenheit. Der Einsatz erfolgt meist über eine Pendeltechnik, mit der die unmittelbare Umgebung erkundet wird. Ohne Training geht es bei der Benutzung mit dem Stock jedoch nicht. Dafür gibt es speziell ausgebildete Lehrer, die sogenannten Mobilitätstrainer. Zusätzlich helfe ich mir mit bestimmten Lauten wie Schnipsen oder Schnalzen, um wie nach dem Fledermaus-Prinzip Hindernisse zu hören.

Aber auch ohne Ultraschall »hört« der Stock durch seinen Klang, wenn ich mich zum Beispiel auf den Eingang eines Gebäudes zubewege oder wenn vor mir eine Wand oder ein sonstiges Hindernis auftaucht. Bei einer Bergwanderung ist mir der Stock ebenfalls ein verlässlicher Gefährte, denn dort oben liegen Höhen und Tiefen buchstäblich nah beieinander. Natürlich kann ich mich an meinen Wanderfreunden orientieren, aber der Stock gibt mir zusätzlich eine gewisse Freiheit.

Auch hier zeigt sich wieder, dass neue Technologien eine enorme Erleichterung für einen Nichtsehenden bedeuten. Doch alle Technik nimmt einem nicht ab, wachsam und präsent zu bleiben. Die Intuition leistet dabei das eine, das andere ist der schon erwähnte tägliche Höchsteinsatz an Konzentration!

In der Tat ist für Nichtsehende Struktur und Konzentration immens wichtig. Dinge, die eigentlich Kleinigkeiten sind, gestalten sich für uns meist viel anstrengender, sie kosten viel mehr Energie. Kein Wunder, dass man nach einem ereignisreichen Tag dann abends schon mal schneller müde ist. Ich selbst lasse das oft nicht so gern zu, weil ich generell viel Kraft habe und von mir verlange, dass ich mein Pensum bewältige. Aber es ist sicher gut, ab und an zu akzeptieren, dass manche Alltagssituationen einfach mehr Kraft brauchen und Ausruhen eine Würdigung all dessen sein kann.

Kuck mal, wer da spricht …

UHRZEIT: Den Konstrukteuren sei Dank, dass es inzwischen eine Menge sprechender Uhren gibt oder solche, die man abtasten kann. Fragen Sie mich gern, wie spät es ist – und Sie werden eine verlässliche Auskunft bekommen. Pech haben Sie nur, wenn ich gerade eine Uhr trage, die zwar nicht sprechen kann, mich aber in Form und Farbe so verzaubert hat, dass ich sie unbedingt hin und wieder anlegen will. Das ist sicher nicht vernünftig, macht aber Spaß.

MAILS: Die neue Technologie ist auch hier ein Segen. Eingehende Mails bekomme ich durch ein Sprachprogramm vorgelesen, dessen Geschwindigkeit individuell eingestellt werden kann. Kriegt das bei mir jemand mit, habe ich schon oft gehört, dass man bei dem schnellen Wortsalat nichts verstehen könne. Kein Problem für Nichtsehende – durch die trainierte, hohe Konzentration können wir mühelos durch den rauschenden Wörterfluss gleiten.Und auch sofort antworten, was ebenfalls manchmal zur Verblüffung bei anderen sorgt. So mancher scheint sich vorzustellen, dass ein blinder Mensch fortwährend von einem Schatten namens »Nanny« begleitet wird, die ihrem Schützling jegliche Aufgaben im Alltag abnimmt. Aber warum denn bloß, wenn’s auch selber geht?

Bei den Mails, die von Blinden geschrieben werden, hilft mittlerweile sogar eine Spracheingabe. Aber wer kann, entscheidet sich für die ganz normale Eingabe über die Tastatur. Ich selbst hatte zum Glück in der Schule Schreibmaschinen-Unterricht und lernte – wie auch jede Sekretärin – blind zu schreiben (in diesem Fall im wahrsten Sinne des Wortes). Und meine Mails kommen schnell und gut an, wie es heißt.

NAVI ZU FUSS: Gern sei noch erwähnt, dass durch die integrierten Funktionen bei Smartphones das Navigationsgerät einen auch als Fußgänger sicher durch ein unbekanntes Straßengewirr lotst.

BÜCHERLESEN: Meine große Leidenschaft! Mit den heutigen supercoolen Geräten kann ich dieser Leidenschaft nun noch ungezügelter frönen, denn das Einscannen ist schnell erledigt. Vor nicht allzu langer Zeit war das noch ganz anders. Da verlangte die damalige Technik geradezu märtyrerhafte Qualitäten, um an die ersehnten Seiten zu kommen. Und das ging so: Früher hatten nur die wirklich großen Computer auch Scanner. Und so habe ich manches Wochenende nicht in der Disco verbracht, sondern oft in Gesellschaft meiner besten Freundin Bücher eingescannt (danke, Sandra!). Hundert Seiten brauchten ungefähr eine Stunde, ein »dicker Schinken« etwa acht Stunden. Dann lag endlich die Datei vor, sodass ich mir über ein Sprachprogramm dieses Buch reinziehen konnte. Hungrig und süchtig nach den ersehnten Wortwelten saß ich oft stundenlang vorm Computer, bis ich fast vom Stuhl kippte. Warum sollte es mir anders gehen als einem Sehenden, der sich ebenfalls nicht von seiner Lektüre trennen kann?

Die Umsetzung von Geschriebenem in Sprachprogramme hat sich durch die sich rasant entwickelnde Technologie glücklicherweise gravierend verändert und verbessert. Bis hin zu Geräten, die von Steve Jobs entwickelt wurden, bei denen die Sprache bereits integriert ist. Als einer der ersten hat er solche Geräte entwickelt, unter der Prämisse, sie allen zugänglich zu machen. Für Blinde bedeutet das, dass sie keine kostspieligen Extra-Programme mehr hinzukaufen müssen, wie zum Beispiel beim Handy, sondern sie können die jeweiligen Funktionen nun rasch und unkompliziert nutzen. Dank der Zunahme von E-Books auf dem Buchmarkt kann das Buch durch die Sprachausgabe jetzt sofort gelesen werden, das umständliche Einscannen entfällt.

HÖRBUCH: Ein besonderer Genuss ist natürlich der Ohrenschmaus eines Hörbuchs! Für Nichtsehende haben sich damit geradezu Galaxien eröffnet: Egal ob anspruchsvolle Literatur, Schmöker-Romane, Gedichte oder Sachbücher – es ist einfach herrlich, irgendwo und überall ohne großen technischen Aufwand schnurstracks in das abzutauchen, was einen interessiert. Da die meisten Hörbücher von professionellen Sprechern gelesen und Sachbücher in der Regel auch dramaturgisch bearbeitet werden, bekommt der ursprüngliche Stoff eine zusätzliche Komponente, die das Ganze häufig noch verdichtet, weiter formt, die eigene Fantasie auf neue Fährten lockt. Und oft möchte ich beim Hören dann wie in meiner Kindheit sagen: »Liest du bitte weiter?«

Helden des Alltags

Jeder Nichtsehende wird mir zustimmen: Es gibt sie. Menschen, die uns die eben beschriebenen Dinge zugänglich machen und die Lebensqualität enorm verbessern. Unvergessen Louis Braille