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Seit seiner Rückkehr vom Bois Avenel, dem herrlichen Anwesen seines Freundes Georges in der Normandie, saß Ewen Kerber Tag für Tag in seinem Büro und versuchte, die liegengebliebenen Berichte zu ergänzen, abzuarbeiten und für die Archivierung vorzubereiten. Dieser schriftliche Kram gehörte wahrlich nicht zu seinen liebsten Beschäftigungen. So war es verständlich, dass Ewen beinahe froh war, als sein Kollege Paul Chevrier ins Büro kam und ihm einen neuen Fall ankündigte. In Locronan hatte ein Spaziergänger einen Toten gefunden. Einen Toten, so kurz vor dem "Pardon", einer der berühmtesten Wallfahrten in der Bretagne, das würde für Aufsehen sorgen. Als es dann aber nicht bei dem einen Toten blieb, musste Ewen Kerber von einem Serienkiller ausgehen. Die Jagd nach dem Mörder gestaltete sich schwierig.
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Seitenzahl: 363
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Jean-Pierre Kermanchec
Blutspur in Locronan
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Epilog
Andere Kriminalromane des Autors:
Kinderroman des Autors:
Vorankündigung:
Impressum neobooks
Der Heilige Ronan entstammte einer angesehenen irischen Fürstenfamilie. Seine Tage verbrachte er mit andächtigen Gebeten. An einem dieser Tage, während eines Gebetes, erschien dem Heiligen ein weiß gekleideter Engel.
„Ronan, Gott befiehlt Dir, diesen Ort zu verlassen, in die Cornouaille zu reisen und dort zu leben!“, sprach der Engel und verschwand sofort wieder. Der Heilige Ronan tat wie Gott es ihm durch seinen Engel befohlen hatte und machte sich auf den Weg über das Meer.
Vor der Küste des Leon hatten Fischer ihre Netze ausgeworfen und erhofften sich einen guten Fang. Plötzlich bemerkten sie, dass sich ein Felsen ihren Booten näherte. Der Felsen wurde von den Wellen wie Strandgut hin- und hergeworfen. Er kam immer näher, und ihre Angst wuchs. Ein solcher Felsen war imstande ihre Boote zu zerschlagen. Während sie sich noch gegenseitig fragten, was jetzt zu tun war, um das drohende Unheil abzuwenden, entdeckten sie plötzlich einen knienden Mann auf dem Felsen, der voller Inbrunst betete.
Sie riefen ihn an, aber der Mann reagierte nicht. Der Felsen kam immer schneller auf sie zu. Unfähig etwas zu unternehmen, sahen sie nur gebannt auf den sich rasch nähernden Felsen. Schon dachten sie, dass ihre letzte Stunde geschlagen hatte, als der Felsen mitten durch ihre Boote hindurchzog, ohne auch nur ein einziges zu berühren. Mit den Augen folgten sie dem Felsen, der sich weiter der Küste näherte.
Die Bewohner der Küste des Leon, auf die Gott den Felsen zutrieb, waren nicht gerade für ihre Gastfreundschaft bekannt. Sie waren nicht nur Fischer sondern auch berüchtigte Strandräuber.
Bei der Ankunft des Heiligen waren nur die Frauen an Land. Ihren Männern war der Heilige ja schon auf dem Meer begegnet. Die Frauen, die ihn jetzt empfingen, beschlossen sofort ihn auszurauben. Aber in seinem ärmlichen und zerlumpten, groben Wollkleid sah er so Mitleid erregend aus, dass sie davon Abstand nahmen.
Sofort nach seiner Ankunft begann der Heilige Ronan das Wort Gottes zu verkünden. Er bemühte sich, die Menschen von ihrem Piratenleben abzubringen. Die Bewohner machten sich jedoch keine Gedanken über seine Worte. Sie missachteten seine Lehren und drohten ihm sogar, ihn mit Gewalt zum Schweigen zu bringen, wenn er nicht endlich mit seinen Predigten aufhörte.
„Willst du unser Land zugrunde richten? Willst du unsere Frauen und Kinder der ärgsten Not aussetzen? Wenn das der Inhalt deiner Religion ist, dann halte deine Predigten woanders.“
Der Heilige Ronan sah ein, dass er mit seiner Überzeugungskraft alleine hier nichts erreichen konnte. Er bat Gott, seinem kleinen Glöckchen, das er stets bei sich trug, eine solche Kraft zu verleihen, dass der Klang des Glöckchens weithin über das Meer zu hören war. Gott erfüllte ihm diese Bitte und Ronan benutzte die Glocke, um die Schiffe auf dem Meer vor den Gefahren der armorikanischen Küste zu warnen, falls sie dieser zu nahekamen.
Als die Schiffe ausblieben und nicht mehr verunglückten, gaben die Bewohner Ronan die Schuld. Vor allem die Frauen ärgerten sich über ihn. Da beschloss der Heilige, den bösen Menschen zu entfliehen und sich in die Wälder zurückzuziehen. Zu jener Zeit war der größte Teil der Bretagne noch von Wäldern bedeckt.
Sein Felsen, mit dem er von Irland bis an diese Küste gelangt war, lag noch am Strand. Er setzte sich auf den Felsen, der sich sofort in eine steinerne Stute verwandelte, und eilte im Galopp davon. Zurück blieben die erstaunten Menschen. Der Heilige Ronan ritt mehrere Tage übers Land und hielt erst am Fuße eines hohen Berges an. Der Berg, der heute den Namen Ménez-Hom trägt, wurde von ihm ausgewählt, um dort seine Einsiedelei zu errichten. Er baute sich eine Hütte aus Lehm und Stroh und führte fortan ein asketisches Leben, das Leben das er so liebte. Der Ort erschien ihm gut gelegen. Er lag nicht weit vom Meer entfernt, direkt am Waldrand. Ronan wanderte den ganzen Tag. Am Morgen nach Osten und am Abend nach Westen. Er durchstreifte so die Gegend in unmittelbarer Nähe seiner Klause. Einmal in der Woche, bevor er sein Fasten unterbrach, unternahm er eine längere Wanderung von mehreren Meilen. Bei dieser Gelegenheit umrundete er die ganze Gegend seines neuen Zufluchtsortes.
In Erinnerung an die zwei Wanderungen des Heiligen Ronan, dem Tro-Menehi (Wanderung um die Herberge) und dem Tro-menez (Wanderung um den Berg), wird jedes Jahr eine eintägige Wallfahrt und alle sechs Jahre eine wöchentliche Wallfahrt zu Ehren des Heiligen Ronan abgehalten.
Ronan hatte sich entschieden, die Menschen nicht mehr bekehren zu wollen, sondern ein Leben als Einsiedler zu führen. Fortan sprach er nur noch mit den Bäumen, Pflanzen, Tieren und den Steinen. Selbst die Wölfe gehorchten dem Heiligen und benahmen sich in seiner Gegenwart so zahm und sanft wie Lämmer.
Die Bewohner dieser Gegend fürchteten sich jedoch vor ihm. Er war ein Fremder, der aus einem unbekannten Land hierhergekommen war. War er vielleicht ein Zauberer? Ein böser Geist? Oder vielleicht sogar der gefürchtete Werwolf?
Sobald etwas Unvorhergesehenes in der Gegend passierte, wurde es ihm angelastet. Wenn bei Waldarbeiten ein Baum einen Holzfäller erschlug, waren die Menschen überzeugt, dass Ronan einen Fluch ausgesprochen hatte. Es dauerte nicht lange und eine Anzahl Menschen schloss sich zusammen, um den Einsiedler in der Nacht im Schlaf zu überfallen. Sie machten sich gerade auf in den Wald zu gehen, als der Penntiern von Kernevé sie aufhielt. Er war der Chef des Stammes und sein Ansehen war so groß, dass die Leute auf ihn hörten.
„Wenn Ronan ein Zauberer ist, kann er sich eurer Angriffe erwehren. Trägt er aber keine Schuld an den Unglücken, so begeht ihr eine Tat, die nur verdammt werden kann. Ich werde zu dem Einsiedler gehen und mit ihm sprechen.“
Er machte sich auf den Weg zu dem Einsiedler. Ronan empfing ihn freundlich und sprach mit ihm über seinen Glauben. Der Penntiern war so beeindruckt von dem Heiligen Ronan, dass er fortan an seiner Seite leben wollte. Ronan wollte das nicht und überzeugte ihn, wieder zu seinen Leuten zurückzugehen und ihnen seine Botschaft des Friedens zu überbringen. Der Stammeschef versuchte immer wieder zu ihm zurückzukehren und sein Schüler zu werden. Er bemühte sich sehr, brachte es aber nicht fertig, ein so asketisches Leben zu führen wie Ronan. Die Frau des Penntiern, Kébén (der Name gilt heute als Schimpfwort und bezeichnet eine bösartige Frau) hinderte ihn daran. Die Beziehung ihres Mannes zu Ronan war ihr ein Dorn im Auge. In ihren Augen trug der Heilige die Schuld daran, dass ihr Mann sie vernachlässigte. Sie wollte Ronan loswerden. Um ihr Ziel zu erreichen, schloss sie sich mit den anderen Feinden des Heiligen zusammen und überzeugte sie, dass sie seine Hütte in Brand setzen mussten.
In der darauffolgenden Nacht schlichen die Brandstifter zu Ronans Klause. Plötzlich erwachte die steinerne Stute aus ihrem langjährigen Schlaf, erhob sich und wieherte laut. Daraufhin ergriffen die Brandstifter eiligst die Flucht. Kébén rief ihnen Schmähungen nach, bezeichnete die Männer als erbärmliche Feiglinge und ging alleine zu Ronan. Durch das Wiehern seiner Stute war er erwacht und stand vor seinem Eingang. Er befahl der Frau sich sofort zurückzuziehen. Sie wollte nicht gehorchen und ging weiter auf ihn zu. Plötzlich wurden ihre Beine schwerer und schwerer und fühlten sich wie gelähmt an. Erst als Ronan ihr ihre Kräfte wieder zurückgab, konnte sie weglaufen.
Sie gab sich aber nicht geschlagen. Wenn sie ihn nicht mit Gewalt vertreiben konnte, würde sie es mit List versuchen. In der folgenden Nacht nahm sie ihre kleine Tochter, den Liebling ihres Mannes, des Penntiern, aus dem Bett und schloss das Kind in eine hölzerne Truhe ein. Diese versteckte sie hinter einem Holzstoß. Dann erzählte sie den Leuten vom Verschwinden ihres Kindes und behauptete felsenfest, dass der Werwolf, also Ronan, das kleine Mädchen geholt hatte. Die ganze Gegend wurde von ihr aufgehetzt, und alle forderten Gerechtigkeit. Kébén ging jetzt persönlich zum König Gradlon und beschuldigte Ronan in aller Öffentlichkeit der Zauberei.
Der König galt als gerecht und weise. Er versprach, die Vorwürfe zu überprüfen. Er forderte den Heiligen Ronan auf, zu ihm zu kommen. Ronan ging zum König und beteuerte seine Unschuld, nachdem er die Vorwürfe angehört hatte. Da Gradlon nicht wusste, wie er die Wahrheit herausbekommen konnte, entschied er sich zu einem Gottesurteil.
„In meinem Hundezwinger habe ich zwei fürchterliche Bulldoggen. Sie können mit ihren Zähnen jedes Lebewesen zerfleischen gegen das man sie hetzt. Wir werden ihnen befehlen, sich auf Ronan zu stürzen. Wenn er unschuldig ist, wird seine Unschuld ihn retten.“
Die Hunde wurden von der Kette gelassen und wollten sich auf Ronan stürzten. Der Heilige aber erhob die Hand, machte das Kreuzeszeichen und befahl:
„Gehorcht dem Allmächtigen!“
Sofort wurden die Hunde friedlich und leckten seine Füße. König Gradlon bat den Einsiedler daraufhin um Verzeihung.
Ronan versicherte dem König seine Ergebenheit und war bereit, die Angelegenheit aufzuklären. Er bat, dass man die Truhe holen sollte, die hinter einem Holzstoß beim Haus der Klägerin verborgen war. Als die Truhe gebracht wurde, befahl er, sie zu öffnen. Alle Anwesenden sahen das tote Kind in der Truhe liegen. Da begann Kébén erneut mit ihren Beschuldigungen, um Ronan die Schuld an dem Tod des Kindes zu geben. Doch plötzlich richtete das Kind sich auf und warf sich in die Arme seines Vaters. Jetzt erkannten alle die wahre Schuldige. Die Menschen forderten ihre Bestrafung für die infamen Lügen. Die Bewohner wären sogar bereit gewesen, die Frau zu steinigen. Aber der Heilige Ronan verlangte, dass sie unversehrt nach Hause gehen durfte.
Von da an wurde Ronan von allen verehrt und hoch geachtet. Ronan verzieh allen, wollte aber weiterhin nicht mehr in der Gegend leben. Er zog aus der Cornouaille weg und verbrachte seine letzten Jahre in der Nähe der Stadt Saint-Brieuc. Dort verstarb er an einem Abend vor Karfreitag.
Die ganze Bretagne stritt darüber, wer jetzt eine Begräbnisstätte für Ronan bereitstellen durfte. Da man sich nicht einigen konnte, bekamen die Menschen Angst, denn falls sie eine falsche Stelle auswählten, würde der Heilige Ronan bestimmt die Pest über den Landstrich ausbrechen lassen oder die ganze Region in ein Moor verwandeln. Ihn in einer Kirche zu beerdigen schien ebenfalls nicht die richtige Entscheidung zu sein, schließlich versammelte sich dort das Volk, und Ronan hatte zu Lebzeiten die Gesellschaft der Menschen gemieden. Die Stammesführer der Bretagne standen um den Leichnam herum und überlegten, was zu tun sei. Da machte einer der ehrenwerten Herren einen weisen Vorschlag:
„Wir haben ihn zu seinen Lebzeiten nie verstehen können. Es ist einfacher gewesen, den Zug der Schwalben am Himmel, als die Spur seiner Gedanken nachzuvollziehen. Nun da er tot ist, soll er ebenso auf seine Art entscheiden. Lasst uns einen Wagen aus Holzstämmen bauen, vor den wir vier Ochsen spannen. Er wird den Karren bis zu der Stelle lenken, an der er begraben werden möchte.“
So geschah es! Die Ochsen zogen den Wagen immer geradeaus durch den dichten Wald, wie von unsichtbarer Hand Ronans gelenkt. Die Bäume neigten sich oder brachen unter ihren Tritten mit furchtbarem Krachen. Als sie die Mitte des Waldes erreicht hatten und der Wagen anhielt, verstanden alle den Wink des Himmels, der Heilige wurde an jener Stelle beerdigt, und man errichtete ihm zu Ehren eine Kirche.
Noch heute ist das Grabmal des Heiligen in der Chapelle du Penity, der Kapelle der Einsiedelei, in der Kirche von Locronan zu sehen.
(Modifiziert nach: Q.-L. Aubert, KeltischeLegenden aus der Bretagne, 1992 Coop Breizh, Kerangwenn 29540 Spézet)
Die Pardons von Locronan standen wieder bevor. Die Troménies, wie sie auch genannt werden, sollen ihren Namen von einem im 11. Jh. gegründeten Benediktinerpriorat erhalten haben, das Asyl gewähren durfte. Die bretonische Bezeichnung, Tro Minihy, Gang zum Asyl, soll der Ursprung sein. Die kleine und die große Troménie wechseln sich ab. Alle sechs Jahre findet die große Troménie statt.
Nicht alle glaubten an diesen Ursprung für die Wallfahrt. Viele waren sicher, dass der Ursprung in der Legende über den Heiligen Ronan exakter und glaubwürdiger beschrieben war.
Die Planung war im vollem Gang. Diesmal durfte Didier Kerduc zum ersten Mal der Association Ronan vorstehen und Einfluss auf die Planung nehmen. Sein Vorgänger, der legendäre Elouan Pennoù, der beinahe dreißig Jahre lang die Troménies organisiert hatte, war feierlich im letzten Jahr verabschiedet worden, nachdem er die Altersgrenze von 6o Jahren erreicht hatte, die in den Statuten der Organisation für einen Wechsel in der Führung vorgesehen war. Davor war er regelmäßig alle sechs Jahr zum Vorsitzenden der Vereinigung, die sich dem Erbe des Heiligen Ronan verschrieben hatte, gewählt worden.
Didier Kerduc erklärte bei seinem Amtsantritt, dass er die Wallfahrt der heutigen Zeit anpassen wollte. Die Touristen erwarteten, dass die Pardons zu einem Volksfest wurden. Da Locronan zum überwiegenden Teil vom Tourismus lebte konnte man nicht einfach an dem Althergebrachten festhalten. Es gab viele, die die Behauptung aufstellten, dass Locronan ohne den Tourismus ein dem Untergang geweihter Ort wäre. Vom Tourismus lebten die Künstler, der Glasbläser, die Keramiker, die Skulpteure, die kleinen Boutiquen, die Andenkenläden, die Restaurants und natürlich auch die Bistros. Die Saison war kurz. Von Juni bis September kamen beinahe 80% der Besucher, so dass die Wallfahrt im Juli wichtig war und als Publikumsmagnet wirken sollte.
Didier Kerduc schlug vor, auf dem 12 Kilometer langen Weg rund um den Berg, den die Wallfahrer nahmen, Getränkebuden zu errichten und auch den Verkauf von Andenken vorzusehen. So konnten die Touristen, die es nicht so genau mit der Wallfahrt nahmen, Pausen einlegen, etwas trinken und rasten, sich nach einem Mitbringsel umsehen und dann gemütlich zur nächsten Station ziehen. Er ging davon aus, dass auf diese Art und Weise mehr Geld im Ort bliebe. Der erhöhte Umsatz würde bestimmt zu einer Steigerung der Gemeindeeinnahmen führen. Das Geld wurde dringend gebraucht, um Ausbesserungsarbeiten an den Wegen und Straßen durchzuführen.
Der Maire und der Stadtrat stimmten dem Vorschlag zu, und so konnten die Vorbereitungen sofort beginnen. In der Stadt selber wurde der Vorschlag durchaus kontrovers diskutiert. Die Geschäftsleute fanden ihn gut, der eine oder andere der älteren Einwohner wiesen auf den Ursprung der Troménie hin und meinten, dass der Heilige Ronan die Änderungen nicht für gut befunden hätte.
Alle waren nach der Sitzung des Gemeinderates auf ein Glas ins benachbarte Bistro gegangen und diskutierten dort nun weiter.
„Ihr kennt die Sage! Was dem Heiligen nicht gefällt, das wird er bestimmt nicht tolerieren. Vergesst nicht, unser Ortsname kommt von ihm, und wir sind letztlich die Hüter seiner Grabstätte“, meinte der frühere Maire der Gemeinde, Pereg Quemen, und griff zu seinem Glas Cidre, das vor ihm auf der Theke des Bistros stand.
Er bezog sich auf die Bedeutung des Ortsnamens. Loc bedeutet in der bretonischen Mundart Heilig. Locronan ist somit die Stätte des Heiligen Ronan.
„Wir können aber nicht nach über 1000 Jahren unser Leben an eine Sage binden“, antwortete Kerduc auf den Einwand.
„Der Heilige Ronan liegt in seinem Grab in der Kapelle und wird uns bestimmt nicht verurteilen, nur weil wir dem Ort eine bessere Zukunft bescheren wollen“, ergänzte Marc Legall und sah in die Gesichter der Ratsmitglieder, die gerade mit ihrer Stimme für die Änderungen gestimmt hatten.
„Ich habe mich entschlossen, ganz neue Skulpturen herzustellen, moderner und schlichter und nicht mehr so religiös wie die alten. Die Leute möchten die Skulpturen nicht für einen privaten Altar haben, sondern als Schmuck in ihrer Wohnung“, ergänzte er seine Aussage.“
„Dem kann ich nur zustimmen“, meinte Yann Morgat, der dem Tourismusbüro vorstand.
„Wenn die Besucher zu uns ins Büro kommen, dann höre ich des Öfteren aus ihren Gesprächen, dass sie sich über die heiligen Bilder und Skulpturen amüsieren. Neues und vielleicht auch mehr Künstlerisches kommt bestimmt besser an.“
Als die Bistrobesucher auseinandergingen waren die Meinungsverschiedenheiten zwar immer noch nicht ausgeräumt, aber man hatte sich etwas angenähert.
Ewen Kerber und Paul Chevrier saßen in ihren Büros und arbeiteten diverse Papiere durch. Es war ruhig geworden in Quimper, wenigstens für die Mordkommission. Nicht, dass Ewen den Mangel an Toten bedauerte, er freute sich sogar, wenn alles ruhig blieb und die Menschen sich nicht gegenseitig umbrachten, aber der liegengebliebene Papierkram, den er dann erledigen musste, gehörte nicht zu seinen liebsten Aufgaben. Auch wenn ein Großteil der schriftlichen Arbeiten von seiner Sekretärin, Anne Kerflor, übernommen wurde, blieb trotzdem noch genügend für die Kommissare übrig. Manches konnten nur die wissen, die mit der Lösung des Falles betraut waren, und das waren nun einmal in einem Mordfall die Herren Kerber und Chevrier.
Der Sommer zeigte sich schon seit Wochen von seiner schönsten Seite. Die Temperaturen schwankten beständig zwischen 23 und 25°C. Häufig wehte ein leichter Wind, so dass das Wetter auch ideal für die Freizeitkapitäne war, die jetzt das Meer entlang der bretonischen Küste bevölkerten. Kerber gehörte nicht dazu. Die Kosten für eine Segelyacht, für den Liegeplatz und die weiteren Gebühren, waren für einen Kommissar der police judiciaire einfach zu hoch. Aber Ewen wäre auch bestimmt kein Freizeitkapitän geworden, wenn er das nötige Kleingeld dafür gehabt hätte. Er neigte dazu recht schnell seekrank zu werden. Schon die Überfahrten zu den Inseln mit den recht ansehnlichen Fähren machte ihm bei einem stärkeren Seegang zu schaffen. Carla, seine Frau, lag ihm seit einigen Tagen in den Ohren, die Insel Groix zu besuchen. Auf France 3 hatte sie eine Dokumentation über die Insel gesehen und war sofort Feuer und Flamme für einen Besuch gewesen. Ewen war nicht abgeneigt die Insel anzusehen, zumal er vor geraumer Zeit in einem Buch, das Carla im geschenkt hatte, über den Mineralienreichtum der Insel gelesen hatte, von dem konvexen Strand und vielen anderen interessanten Dingen. Wenn da nicht die Überfahrt wäre. Es war nur eine kurze Fahrt, höchstens vierzig Minuten, dennoch war es eine Barriere, die Ewen erst einmal überwinden musste.
Vor einigen Wochen war er mit Carla zu seinem Freund Georges Ehinger gefahren, der in der Normandie das Château Bois Avenel erworben hatte. Bei dem Aufenthalt war er in die Vorbereitungen eines Attentats auf den Präsidenten geraten und hatte an der Lösung des Falles mitwirken können. Die Schreibarbeit zu diesem Fall war ihm erspart geblieben, die durfte jetzt sein Kollege, Eric Mortain, in Saint-Lô erledigen. Das war eine ganze Menge.
Seit seiner Rückkehr saß er nun Tag für Tag in seinem Büro und versuchte die liegengebliebenen Berichte zu ergänzen, abzuarbeiten und für die Archivierung vorzubereiten.
„Ewen, wir haben einen neuen Fall“, eröffnete ihm Paul, der in der Tür zu seinem Büro stand.
„Ein neuer Fall!“ Ewen rief es, als sei dies eine freudige Botschaft.
„Gerade habe ich von der Zentrale die Nachricht bekommen, dass es in Locronan einen Toten gibt. Ein älterer Spaziergänger hat einen Mann gefunden. So wie es aussieht, ist er wohl erstochen worden.“
Ewen ließ sofort den Kugelschreiber fallen, den er noch in der Hand hielt, stand auf, nahm sein Jackett vom Besucherstuhl und verließ mit Paul das Büro. Trotz der Temperaturen ließ Ewen es sich nicht ausreden, auf das Sakko zu verzichten.
„Ein Kommissar ohne Sakko sieht aus wie ein zufällig vorbeigekommener Spaziergänger“, pflegte er immer zu sagen.
Locronan lag knappe achtzehn Kilometer nordwestlich von Quimper. Für die Strecke würden sie weniger als zwanzig Minuten benötigen. Sie stiegen in ihren Dienstwagen, einen Citroën C5, ein bretonischer Wagen, weil er in Rennes gebaut worden war, und fuhren in den weithin bekannten kleinen mittelalterlichen Ort. In Locronan hatte es in all den Jahren, in denen Ewen Kerber die Leitung der Mordkommission bei der police judiciaire von Quimper innehatte, noch nie einen Mord gegeben.
Die Ortschaft war weit über die Grenzen der Bretagne hinaus bekannt. Die alten Häuser dienten so manchem Regisseur als Filmkulisse. Namhafte Filmproduzenten, unter anderem auch Roman Polanski, hatten bereits in dieser Stadt gedreht. Dabei hatten die Filme nicht einmal in der Bretagne spielen müssen. Der Austausch von einigen Schildern hatte bereits genügt, um aus dem bretonischen Ort eine Ortschaft in England entstehen zu lassen.
Ewen war schon mehrfach mit Carla in den kleinen Ort gefahren, um die Glasbläserei zu besuchen, oder weil Carla bei den Troménies dabei sein wollte.
„Wo liegt der Tatort?“, fragte Ewen seinen Kollegen während der Fahrt.
„In der Verlängerung der Rue de la Montagne, genauer gesagt, in der Rue de la Troménie, ich habe die Kollegen von der Spurensicherung schon informiert, und auch Yannick Detru müsste bereits unterwegs sein“, antwortete Paul und sah in sein Notizbüchlein.
„Wusstest du, Paul, dass die Route der Wallfahrt, vor allem die der großen, beinahe in einem Viereck um den Berg von Locronan führt? Ich habe das gelesen. Der Tatort liegt also nicht auf der Wallfahrtsstrecke.“
„Das macht doch keinen Unterschied?“
„Natürlich nicht, Paul, ein Mörder nimmt in der Tat keine Rücksicht auf einen heiligen Ort. Selbst die heiligsten Orte werden heute zum Schauplatz von Gewaltverbrechen.“
Sie erreichten Locronan und fuhren mit gemäßigtem Tempo durch die Fußgängerzone. Der Ort war in den Sommermonaten für den Verkehr gesperrt, mit dem Blaulicht durften die Kommissare aber das Zentrum durchfahren. Vorbei an der Glasbläserei, die Ewen bereits besucht hatte, fuhren sie in die Rue de la Montagne. Nach wenigen hundert Metern sahen sie bereits die Einsatzfahrzeuge der Gendarmerie und die Bänder der Fundortabsperrung. Ewen parkte den Wagen, die beiden Kommissare stiegen aus und näherten sich der Absperrung. Sie zeigten dem Gendarmen, der den Zugang kontrollierte, ihren Ausweis und gingen auf die Leiche zu.
Yannick Detru, der Pathologe des Kommissariats, stand bereits bei der Leiche und Dustin Goarant, der Leiter der Spurensicherung, sammelte mit seinen Leuten alles auf, was sich im Umfeld des Toten finden ließ.
„Bonjour Yannick, was kannst du uns schon sagen?“
„Noch relativ wenig. Der Mann ist mit einem Messer erstochen worden. Die Einstichstellen sind hier auf dem Rücken zu sehen. Der Angreifer ist wohl auf Nummer sicher gegangen. Der Tote hat insgesamt vier Einstichstellen. Um was für ein Messer es sich genau gehandelt hat kann ich erst nach der Autopsie sagen.“
„Hat der Angreifer ihm alle Stiche verpasst, solange der Mann noch aufrecht gestanden hat?“
„Das kann ich mir schwerlich vorstellen. Das Opfer dürfte bereits nach dem ersten Stich zusammengesackt sein. Wenn der Täter nicht über enorme Kräfte verfügt hat, um ihn mit einer Hand festzuhalten, muss er ihm die anderen Verletzungen zugefügt haben als der Mann schon auf dem Boden lag. Aber Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich die Einstichwinkel untersucht habe.“
Ewen sah sich die Einstichstellen auf dem Leichnam an. Der Tote lag auf dem Bauch, und die Wunden auf seinem Rücken waren deutlich zu erkennen. Der Mann trug einen dünnen, hellblauen Baumwollpullover, ein kariertes Hemd, eine ältere Jeans und Wanderschuhe. An den Einstichstellen hatten sich vielfältige Blutflecken gebildet, die auf dem Pullover entsprechende Spuren hinterlassen hatten. Paul hatte zwischenzeitlich einen der Gendarmen gefragt, wer den Toten gefunden hatte.
„Der ältere Herr dort drüben. Wir haben ihn gebeten auf Sie zu warten.“
Paul bedankte sich bei dem Kollegen und ging auf den Mann zu. Er schätzte den Mann auf Mitte sechzig, etwa einen Meter achtzig groß. Sein ovales Gesicht war für sein Alter erstaunlich glatt. Er trug einen Schnurrbart, ähnlich dem von Ewen. Die grauen Haare, die unter der Hutkrempe herausragten, verliehen ihm ein weises Aussehen. Paul trat näher an den Mann heran und konnte seine braunen Augen erkennen, die sehr wach die Umgebung zu betrachten schienen. Die buschigen Augenbrauen erinnerten Paul an Jemanden, ohne dass er sagen konnte an wen. Auf dem Rücken trug der Mann einen Rucksack.
„Bonjour Monsieur, mein Name ist Paul Chevrier, ich bin Kommissar der police judiciaire aus Quimper. Sie haben den Toten gefunden?“
„Bonjour Monsieur le Commissaire, mein Name ist Elouan Pennoù. Ja, ich habe Didier gefunden.“
„Sie kennen den Toten?“
„Aber sicher, Monsieur le Commissaire, wir kennen, ich meine wir kannten uns seit mehr als zwanzig Jahren. Er ist mein Nachfolger als Präsident des Organisationskomitees der Pardons.“
„Dann können Sie mir bestimmt sagen, wie der Tote mit Nachnamen heißt?“
„Natürlich kann ich das. Sein vollständiger Name ist Didier Kerduc.“
„Haben Sie etwas beobachtet als Sie hierhergekommen sind? Eine Person die sich entfernt hat oder sonst etwas Auffälliges?
„Nein, überhaupt nichts, ich bin von meinem Spaziergang zurückgekommen, und da habe ich ihn dort liegen gesehen. Ich habe sofort die Gendarmerie informiert, und die sind auch schon nach wenigen Minuten hier gewesen.“
„Haben Sie etwas verändert an der Leiche? Zum Beispiel die Lage?“
„Nein, wo denken Sie hin. Ich habe sofort die Gendarmerie informiert und hier gewartet.“
„Geben Sie mir doch bitte Ihre Adresse und Ihre Telefonnummer, damit wir Sie erreichen können, falls noch Fragen auftauchen.“
„Ich wohne in der Rue de la Montagne.“ Er nannte Paul seine Telefonnummer, und Paul ging zurück zu Ewen.
Ewen Kerber war im Gespräch mit Dustin Goarant von der Spurensicherung, als Paul wieder zu ihnen trat.
„Ich habe den Namen des Toten erfahren, Ewen“, sagte er zu seinem Freund.
„Das ist gut, Paul. Dustin sagt mir gerade, dass der Tote keinerlei Papiere oder ein Portemonnaie bei sich getragen hat. Nur ein Hausschlüssel ist in der Hosentasche gewesen. Entweder sind ihm die Sachen gestohlen worden, dann können wir von einem Raubmord ausgehen, oder sie befinden sich alle in seiner Wohnung. Wie heißt der Mann?“
„Didier Kerduc, er wohnt in der Rue de la Montagne. Wir sind auf dem Weg hierher durch die Straße gefahren.“
„Dann sehen wir uns sein Haus anschließend gleich an. Seinen Hausschlüssel haben wir ja in der Hosentasche gefunden.“
„Kennt unser Zeuge den Toten gut?“
„Er sagt, dass sie über zwanzig Jahre lang im Organisationskomitee der Pardons von Locronan gewesen sind. Der Tote ist der Nachfolger unseres Zeugen.“
„Wie heißt der Mann?“
„Elouan Pennoù, ein seltener Name.“
„Der Name klingt so, als sei der Mann ein Nachkomme einer uralten, bretonischen Familie. Ich würde mich auch noch gerne mit dem Mann unterhalten.“ Ewen ging auf den älteren Herrn zu.
„Bonjour Monsieur Pennoù, mein Name ist Ewen Kerber von der police judiciaire aus Quimper. Ich leite hier die Ermittlungen. Sie haben einen seltenen Namen.“
„Da haben Sie Recht, Monsieur le Commissaire. Der Name geht zurück bis in das 10. oder 11. Jahrtausend. Ich gehöre somit zu den Ureinwohnern, wenn man es so ausdrücken kann.“
„Monsieur Pennoù, Sie haben den Toten gefunden, und mein Kollege hat mir gesagt, dass Sie ihn sehr gut gekannt haben.“
„Das ist richtig, er ist mein Nachfolger im Vorstand der Association Ronan, wir organisieren die Pardons. Ich habe das Amt beinahe 30 Jahre lang inne gehabt.“
„Ja, das Alter, irgendwann muss man die Aufgabe in jüngere Hände geben.“
„Ach, das Alter spielt hier keine Rolle. Körperlich und geistig hätte ich die Leitung noch einige Jahre ausüben können. Aber unsere Statuten sagen, dass man mit 60 Jahren die Leitung an einen Nachfolger übergeben muss.“
„Hat Sie das traurig gemacht?“
„Was heißt schon traurig, ich bin zwar nicht erfreut, aber wenn die Statuten es so vorschreiben, dann beugt man sich denen eben.“
„Dafür haben Sie jetzt mehr Zeit, ihr Leben zu genießen und zu wandern. Sagen Sie, gehen Sie regelmäßig diesen Weg?“
„Ja, sehr oft. Ich gehe jeden Tag ungefähr sechs Kilometer. Sehr oft führt mich mein Weg hier vorbei.“
„Haben Sie den Toten gefunden, als Sie sich auf den Weg gemacht haben oder auf dem Rückweg?“
„Ich bin auf dem Rückweg gewesen, als ich ihn gefunden habe.“
„Wie lange gehen Sie üblicherweise?“
„Monsieur le Commissaire, für den ganzen Weg, also für die sechs Kilometer, benötige ich eine Stunde und dreißig Minuten.“
„Können Sie mir sagen, wie lange Sie von hier aus gegangen sind, bis Sie diesen Punkt wieder erreicht haben?“
„Das kann ich Ihnen genau sagen. Für die ganze Strecke benötige ich eine Stunde und dreißig Minuten. Bis zu diesem Punkt somit eine halbe Stunde. Ich war also nach einer weiteren halben Stunde wieder an diesem Punkt. Also genau um 10 Uhr 30.“
„Das ist eine sehr präzise Auskunft.“
„Monsieur le Commissaire, ich bin Lehrer gewesen, unter anderem für Mathematik. Da werde ich doch noch so eine einfache Rechnung hinbekommen.“
„Da haben Sie natürlich Recht, aber ich mache auch ganz andere Erfahrungen.“
„Kann ich mir sehr gut vorstellen, nicht alle meine Schüler haben das jeweilige Klassenziel erreicht.“
Ewen lachte bei dieser Bemerkung. Wie Recht der Mann hatte.
„Sie tragen einen Rucksack, das ist eher ungewöhnlich für einen Spaziergang?“
„Nicht wenn man älter ist, Monsieur le Commissaire. Ich muss immer etwas zu trinken mit mir führen. Mein Arzt hat mir gesagt, dass ich ansonsten in der Sonne austrockne.“
Ewen nickte und bedankte sich bei Elouan Pennoù und ging wieder zu Paul zurück.
„Wenn die Aussage unseres Zeugen stimmt, ist Didier Kerduc zwischen 10 und 10 Uhr 15 ermordet worden. Um 10 Uhr 30 ist Pennoù bereits wieder an dieser Stelle gewesen, und um 10 Uhr hat Kerduc noch nicht hier gelegen.“
„Das gibt uns einen ziemlich genauen Todeszeitpunkt“, meinte Paul und notierte sich die Uhrzeit sofort in sein schwarzes Büchlein. Dann überließen sie die weitere Bearbeitung des Tatortes den Kollegen von der Spurensicherung und fuhren zum Wohnhaus des Toten.
Es lag nur etwas mehr als zwei Kilometer vom Tatort entfernt, und so hatten sie das Haus des Mannes schnell erreicht. Der Tote hatte seine Hausschlüssel bei sich getragen, so dass sie jetzt die Haustüre öffnen und das kleine, beinahe mittelalterliche Haus betreten konnten. Ein aus Granit gebautes Haus mit kleinen Fenstern und blauen Fensterläden. Die Eichentür, mit dem schwarzen Löwenkopf als Klopfer, öffnete sich erstaunlich leicht, ohne einen Quietschton von sich zu geben.
Sie betraten den Flur, von dem aus eine Treppe ins Obergeschoss führte. Ewen und Paul sahen sich zuerst die unteren Räumlichkeiten an. In der vielleicht fünf Quadratmeter großen Küche standen neben einer Spüle, einem Gasherd und einem Kühlschrank noch zwei Schränkchen, ein Tisch und zwei Stühle. Alles war ordentlich aufgeräumt. Hier lag kein Portemonnaie herum.
Das Wohnzimmer, das die Fenster nach hinten hatte, gab den Blick auf einen gepflegten Garten frei. Der bretonische Schrank an der Wand links neben der Tür fiel Ewen sofort auf. Seine Eltern hatten in ihrem Haus auch einen solchen Schrank stehen. Heute finden sich recht gut erhaltene Stücke noch bei den diversen Trocs et Puces und bei den Verkaufsstellen von Emmaüs. Ewen besaß so ein wuchtiges und mit zahlreichen Schnitzereien versehenes Möbelstück nicht. Er öffnete die einzelnen Türen des Schranks und zog die Schubladen auf.
„Sein Portemonnaie habe ich gefunden“, rief er Paul zu, der sich in dem kleinen Flur umsah.
„Ein Raubmord scheidet damit aus. Hast du etwas Brauchbares gefunden?“
„Nein, Ewen, bis jetzt nichts.“
Ewen sah sich weiter in dem Raum um, der aber nicht den Anschein machte, als ob er durchwühlt worden war. Auf einer Kommode lagen etliche Schriftstücke. Ewen sah sie sich näher an. Es handelte sich um Protokolle von den letzten Sitzungen der Association Ronan, und es ging um die Troménie. Ewen las das letzte Protokoll durch. Hauptthemen waren die geplanten Neuerungen und Erweiterungen der Pardons. Die Wallfahrt sollte den Touristen schmackhafter gemacht werden und die Anzahl der Besucher damit deutlich gesteigert werden. Er las von den Einwänden, die drei der Mitglieder vorgebracht hatten, wobei es im Wesentlichen darum ging, dass der kirchliche Aspekt durch die geplanten Änderungen verwässert würde, und der monetäre Aspekt einen zu großen Einfluss erhielte. Die Abstimmung ergab eine Zustimmungsquote von 80%, und so waren die angedachten Reformen angenommen worden.
Ewen nahm die Protokolle an sich und sah sich weiter in dem Raum um. Anderes, das mit dem Tod von Kerduc in einen Zusammenhang gebracht werden konnte, war nicht zu finden.
Auch in den Räumen auf der oberen Etage deutete nichts auf einen Einbruch hin. Ewen wusste nicht so recht, nach was er überhaupt suchen sollte. Er hatte gehofft, irgendetwas zu finden, das einen Hinweis für den Grund der Ermordung aufzeigen würde. Aber nichts dergleichen war zu finden, wenn er von dem Protokoll der Sitzungen absah.
„Was meinst du, Paul, sollen wir Dustin bitten, das Haus gründlich zu untersuchen?“
„Ich glaube nicht, dass er hier etwas finden wird, was uns weiterhilft“, meinte Paul.
„Das sehe ich genauso. Aber sicherheitshalber werde ich ihn bitten, sich umzusehen. Lass uns ins Kommissariat fahren.“
Ewen musste auf der ganzen Strecke über die Aussage des einzigen Zeugen nachdenken. Wobei der Ausdruck Zeuge schon etwas übertrieben war. Der Mann hatte die Leiche gefunden, aber gesehen hatte er dem Anschein nach nichts. Ewen beschäftigte die Aussage des Mannes trotzdem. Der Tote war zu seinem Nachfolger gewählt worden, wobei er nach eigenen Angaben die Nachfolge nur gezwungener Maßen an den Mann übergeben hatte. Mehrfach hatte er die Statuten des Vereins erwähnt. Konnte er etwas mit dem Tod des Mannes zu tun haben? Warum hatte er den Fund der Leiche gemeldet? Eine Handlung, die eher nicht auf eine Tatbeteiligung hinwies.
Im Kommissariat begann das übliche Spiel auf Ewens Pinnwand. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, dass er alle einzelnen Befunde, Bilder, Hinweise oder Motive auf seiner Pinnwand festhielt. Der Tote stand dabei stets im Mittelpunkt und alle anderen Details gruppierten sich drumherum. Bei dem letzten Fall, den er mit seinem Kollegen, Eric Mortain aus Saint-Lô in der Normandie, lösen durfte, hatte ihm eine solche Pinnwand gefehlt. Es war ja nicht möglich gewesen, im Haus seines Freundes, Georges Ehinger, bei dem er während seiner Urlaubstage mit Carla gewohnt hatte, eine Pinnwand aufzustellen. Für ihn war ein solches Vorgehen aber stets hilfreich.
Noch waren an der Wand nicht viele Details eingetragen. Immerhin wussten sie wer der Tote war, welche Ämter er begleitet hatte, und sie kannten den ungefähren Todeszeitpunkt. Weitere Ergebnisse würden Dustin und der Pathologe, Yannick Detru, ihnen bestimmt in Kürze übermitteln.
Ewen betrachtete seine Eintragungen. Neben dem Namen des Toten hatte er den Hinweis Leitung der Troménie geschrieben. Sie mussten sich mit der Association beschäftigen. Vielleicht hatte es in den letzten Tagen Streitigkeiten gegeben, vielleicht waren Drohungen ausgesprochen worden, oder es hatte Unstimmigkeiten gegeben, die zu einer Kurzschlusshandlung geführt hatten. Paul, der mit Ewen im Büro an der Pinnwand stand, notierte ebenfalls Einzelheiten, die er seinem Notizbuch entnahm.
„Wir sollten uns eine Liste der Vorstandsmitglieder des Vereins besorgen, die sich mit der Durchführung der Troménie beschäftigen und sie nach den letzten Sitzungen befragen. Ich könnte mir vorstellen, dass der Mord etwas damit zu tun haben könnte. Dann brauchen wir auch den Verbindungsnachweis von Kerduc von seinem Handy und Festnetztelefon. Ich wüsste gerne, mit wem er zuletzt gesprochen hat.“
„Ich kümmere mich sofort darum. Wieso meinst du, dass der Mord mit der Organisation der Pardons zu tun haben könnte?“
„Es ist nur eine vage Idee. Sie ist mir in den Sinn gekommen, als ich mich mit Elouan Pennoù unterhalten habe. Er ist nicht sehr glücklich darüber gewesen, dass er den Posten des Vorsitzenden hat aufgeben müssen.“
„Auf mich hat er nicht den Eindruck eines eiskalten Killers gemacht.“
„Da bin ich bei dir, Paul, auf mich ebenfalls nicht. Aber es kann doch sein, dass die Association Ronan eine gewisse Rolle spielt. Der Mann ist wahrscheinlich völlig unschuldig. Wir sollten uns mit den anderen Mitgliedern im Vorstand des Vereins unterhalten. Ich habe im Haus von Kerduc einige der letzten Protokolle von den Vorbereitungsgesprächen für die Wallfahrt gefunden. Da sind durchaus skeptische Stimmen darunter gewesen.“
Ewens Mobiltelefon meldete sich. Ewen griff nach dem Apparat auf seinem Schreibtisch. Er sah sofort, dass seine Frau Carla versuchte ihn zu erreichen. Sehr ungewöhnlich, Carla rief ihn so gut wie nie im Dienst an.
„Hallo Carla“, meldete er sich.
„Schatz, ich will dich nicht lange stören. Ich habe nur eine Bitte, könntest du heute etwas pünktlicher nach Hause kommen, es gibt eine Kleinigkeit zu feiern, und ich werde versuchen, auch etwas früher zurück zu sein, um meine Vorbereitungen erledigen zu können.“
„Feiern? Was feiern wir?“
„Lass dich einfach überraschen, mein Schatz.“ Carla beendete das Gespräch und legte auf. Ewen versuchte sofort nachzudenken, ob er eventuell einen Hochzeitstag, einen Geburtstag oder sonst ein Gedenktag vergessen hatte. Er konnte sich aber an keinen speziellen Tag erinnern der sich heute jähren würde.
Paul Chevrier verließ das Gebäude der police judiciaire kurz nach 19 Uhr. Eine halbe Stunde zuvor hatte sich auch Ewen auf den Weg nach Hause gemacht, denn er hatte Carla versprochen, etwas früher zurück zu sein. Paul setzte sich in seinen Renault Megane und fuhr nach Brest. Am heutigen Freitagabend fand ein Heimspiel seiner Mannschaft statt.
Brest, genauer gesagt Stade Brestois 29, hatte es leider nicht geschafft in die erste Liga aufzusteigen und musste weiterhin in der zweiten spielen. Paul stand zu seiner Mannschaft und versuchte, wenn es seine Arbeit als Kommissar zuließ, jedes Heimspiel zu besuchen. Er hatte sich eine Dauerkarte für die Tribüne Foucauld gekauft, eine der Haupttribünen des Stadions. Die etwas mehr als 15.000 Tribünenplätze waren meistens belegt. Entlang der Seitenlinien lagen die beiden Haupttribünen, die Foucauld und die Tribüne Crédit Mutuel Arkéa, die größte Tribüne mit ihren 6548 Plätzen. An den Torseiten lagen die kleineren, die Tribüne Route de Quimper und die Tribüne Eurodif. Heute kam die Mannschaft aus Niort, die auf dem 13. Platz der Tabelle lag, während Brest sich wieder in Richtung eines Aufstiegsplatzes vorgearbeitet hatte und jetzt an vierter Position lag. Für Paul stand fest, dass Brest dieses Spiel für sich entscheiden würde. Alles andere kam nicht in Frage. Fußball war die einzige Leidenschaft, die Paul neben seinem Beruf besaß. Er war unverheiratet, und so brauchte er keinerlei Rücksicht auf eine Frau oder Familie zu nehmen. An manchen Tagen wurde ihm das Alleinsein schmerzlich bewusst, wenn er in seinen vier Wänden saß und entweder über einen aktuellen Fall nachdachte oder von einem Fernsehsender zum nächsten zappte. Aber selbst das riesige Angebot an Sendern, die der Zugang des Telefonanbieters Orange ermöglichte, bot ihm an manchen Tagen keine adäquate Zerstreuung.
Paul erreichte rechtzeitig das Stadion an der Rue de Quimper und stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz beim Schwimmbad Saint Marc ab. Die wenigen Meter bis zum Eingang legte er zu Fuß zurück. Mit seiner Dauerkarte war er schnell durch die Kontrolle und stieg sofort die Treppe nach oben hoch. Er setzte sich auf seinen Platz und sah den Menschen zu, die sich ihren Weg zu den Sitzplätzen bahnten. Teilweise bewaffnetmit Bier und Chips. Eine gut aussehende Frau, so um die dreißig mit braunen Haaren, zwängte sich durch die Reihe, so dass Paul seine Beine etwas einziehen musste, um ihr ein Vorbeigehen zu ermöglichen. Dann setzte sich die Frau genau neben Paul und sah ihn mit einem strahlenden Lächeln an. Paul musste wohl etwas verdutzt dreingeschaut haben, denn sie sprach ihn sofort an.
„Sie wundern sich bestimmt, mich hier zu sehen, an Stelle meines Vaters?“
Paul war in der Tat erstaunt. Den älteren Monsieur, Jean-Luc Branilec, der üblicherweise neben ihm saß, kannte er schon seit Jahren. Der Mann verpasste kein Spiel der Mannschaft. Branilec war ein pensionierter Eisenbahner, und während der Pausen oder vor dem Spielanfang unterhielten sie sich immer miteinander.
„Wenn ihr Vater Jean-Luc Branilec ist, dann wundere ich mich wirklich. Er versäumt doch kein einziges Match, im Gegensatz zu mir. Mein Beruf zwingt mich manchmal, einem Spiel fernzubleiben.“
„Ja, das ist mein Vater. Er hat sich leider in die Klinik begeben müssen, um seine Hüfte operieren zu lassen.“
„Ist er in der Cavale Blanche?“
„Nein, er hat nicht ins Universitätsklinikum gehen wollen. Er hängt mehr am Hôpital Morvan. Er sagt immer, das liegt wenigstens mitten in der Stadt.“
„Das Morvan ist ja beinahe wie ein Universitätsklinikum. Ich habe selbst einmal die Klinik aufgesucht. Ihr Vater hat Sie bestimmt gebeten, seine Mannschaft zu unterstützen, damit das Spiel gut ausgeht.“
„Genauso ist es, er ist der Meinung gewesen, dass wenigstens einer aus der Familie hier sein müsste.“
„Ich nehme an, dass ihr Mann sich bereit erklärt hat, auf die Kinder zu achten.“
Die Frau lachte jetzt schallend und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
„Nein, nein! Erstens habe ich keine Kinder und zweitens auch keinen Mann. Ich bin nicht verheiratet. Irgendwie bin ich nie dazu gekommen, einen Mann fürs Leben zu finden. Sie haben vorhin gesagt, dass ihr Beruf Sie manchmal daran hindert, ein Spiel zu besuchen. Bei mir ist es so, dass mich mein Beruf bis jetzt so in Anspruch genommen hat, dass ich nur wenig Zeit für ein Privatleben aufgebracht habe. Aber das muss sich jetzt ändern. Deshalb bin ich der Bitte meines Vaters gerne nachgekommen.“
„Darf ich Sie fragen, welchen Beruf Sie ausüben?“
„Ich bin bei der police judiciaire in Brest.“
„Bei der police judiciaire in Brest? Das ist aber ein Zufall. Ich bin bei der police judiciaire in Quimper, bei der Mordkommission.“
„Was? Sie sind auch bei der police judiciaire? Das nenne ich wirklich einen Zufall. Ich heiße Alice Branilec.“
Madame Branilec reichte Paul die Hand.
„Paul! Paul Chevrier mein Name. Sagen Sie nicht, dass Sie auch bei der Mordkommission arbeiten.“
„Nein, das ist nichts für mich, ich mag nicht mit körperlichen Brutalitäten konfrontiert werden. Meine Tätigkeit beschränkt sich auf reine Büroarbeit. Ich bin in der Abteilung für Cybercriminalitébeschäftigt. Ich sitze den ganzen Tag, und manchmal auch in der Nacht, vor dem Computer und versuche die Täter, die auf der ganzen Welt verstreut sein können, zu identifizieren. Leider beschränkt sich diese Kriminalität nicht auf ein Land. Wir arbeiten daher mit praktisch allen Polizeistellen auf der Welt zusammen.“
„Bestimmt eine ganz spannende Geschichte?“
„Oh ja, man erlebt hautnah, wie wir ausspioniert, betrogen, ausgeraubt und verleumdet werden können. Die meisten Täter gehen davon aus, dass sie nicht erwischt werden. Leider hat ein Großteil auch Recht damit. Aber wir kommen ihnen immer mehr auf die Spur. Auch wir rüsten sozusagen auf und werden immer besser.“
„Davon müssen Sie mir mehr erzählen, das interessiert mich. Vielleicht können wir uns nach dem Spiel noch etwas unterhalten. Ich würde Sie gerne zu einer Tasse Kaffee oder auch einem Glas Wein einladen.“
Paul war von einem Moment auf den anderen Feuer und Flamme für Alice Branilec. Er war bis jetzt ein eingefleischter Single gewesen, aber mit dieser Frau konnte er sich durchaus vorstellen, etwas Gemeinsames zu beginnen. Mit seinen 42 Jahren wurde es langsam Zeit, falls er wirklich an eine Familiengründung dachte. Aber natürlich musste er sie erst besser kennenlernen und feststellen, ob auch er ihr sympathisch war.
„Das können wir gerne machen, ich habe mir heute frei genommen. Normalerweise werden mir die Wochenenddienste angedreht, weil ich ja schließlich keine Familie habe die zu Hause auf mich wartet. Aber an diesem Wochenende habe ich mir frei genommen, um meinen Vater in der Klinik besuchen zu können.“
„Abgemacht, ich freue mich schon auf das Ende des Spiels!“
„Aber nur wenn Brest auch gewinnt!“
Alice Branilec lachte und zeigte dabei ihre makellosen Zähne. Ein Bekannter von Paul hatte so ein gleichmäßiges Gebiss einmal als Hollywood-Gebiss bezeichnet. Paul musste jetzt daran denken.
Das Spiel entwickelte sich zäh. Niort war drauf und dran ein Tor zu schießen, und Brest schien den Rückwärtsgang eingelegt zu haben, anstelle Angriffe auf das Tor von Niort zu starten. Die erste Halbzeit endete wenigstens mit einem Unentschieden. Keine Seite konnte einen Treffer erzielen. In der zweiten Hälfte kam, in den Trikots von Brest, eine neue Mannschaft auf den Rasen, wenigstens hatte es den Anschein. Jetzt brach ein rechter Sturmlauf über die Mannschaft von Niort herein. Angriff über Angriff rollten auf das gegnerische Tor, und der Torhüter von Niort hatte alle Hände voll zu tun, um den Ball nicht hinter die Torlinie kommen zu lassen. Doch in der sechzigsten Minute war es dann soweit. Brest ging in Führung, und Paul wäre am liebsten seiner schönen Nachbarin in die Arme gefallen. Als das Spiel dann abgepfiffen wurde, konnte Brest den Platz als Sieger verlassen. Mit drei zu Null entschied die Mannschaft das Spiel für sich, und Paul war bester Laune.