Das Grab in der Ville-Close - Jean-Pierre Kermanchec - E-Book

Das Grab in der Ville-Close E-Book

Jean-Pierre Kermanchec

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Beschreibung

Bei Renovierungsarbeiten an der Festungsmauer der Ville Close von Concarneau finden Arbeiter ein menschliches Skelett. Handelt es sich dabei um einen Menschen, der vor Jahrhunderten ums Leben gekommen ist? Schnell wird klar, dass es sich bei dem Fund nicht um die sterblichen Überreste eines ehemaligen Verteidigers der Ville Close handelt, sondern um einen Mord, der höchstens 19 Monate zurückliegt. Die police judiciaire von Quimper muss eingeschaltet werden und nimmt die Ermittlungen auf.

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Seitenzahl: 361

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Jean-Pierre Kermanchec

Das Grab in der Ville-Close

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Epilog

Vorankündigung:

Impressum neobooks

Prolog

Es war ein wunderschöner Wintertag ohne Schnee oder Eiseskälte, eben ein Wintertag, wie er in der Bretagne üblich ist. Die Temperaturen lagen bei 7°C, die Sonne strahlte aus einem stahlblauen Himmel, nur vereinzelt waren kleinere Wolkengrüppchen auszumachen. Wie in jedem Jahr schmückten die Lichtergirlanden die Straßen und die Weihnachtsmänner die Fassaden.

Die Stadt Quimper erwachte an diesem Morgen zu neuem Leben, die Lieferwagen standen vor den Geschäften, blockierten die rechte Fahrspur des Boulevard Amiral de Kerguélen und verursachten einen größeren Stau, der bis ins Bahnhofsviertel zurückreichte. Der 14. Dezember 2001 rückte immer näher und mit ihm der Tag, an dem die Banken die ersten Tütchen mit der neuen Währung ausgeben würden. Aber noch war es nicht soweit. Der Euro war zwar in aller Munde, aber die Einwohner von Quimper bezahlten ihre Baguette, ihren Fisch, den Wein oder das Gemüse noch mit dem nouveau Franc. Die Bretonen rechneten den Franc sogar noch in den ancienne Franc um. Wie sollten sie einen Preisvergleich vornehmen, wenn jetzt noch eine dritte Größe dazukäme? Sie waren skeptisch gegenüber den Beschlüssen in Paris. Die Bevölkerung sorgte sich, um die Vergleichbarkeit der Preise und über die sicherlich steigenden Lebenshaltungskosten nach der Einführung des Euro. In der Markthalle drehten sich viele Gespräche nur um diesen Punkt. Der Fischhändler, gleich am Eingang der Halle, war besonders erbost. Er hatte bereits die Information erhalten, dass er seine Kasse so umstellen musste, dass auf den Kassenbelegen nicht nur der Betrag in der neuen Währung ausgewiesen wurde, sondern auch die Umrechnung zum nouveau Franc aufgedruckt war. Er brauchte ab dem 1. Januar eine neue Registrierkasse. Seine alte war dazu nicht in der Lage.

„Hoffentlich kommt das Geld, das ich für die neue Kasse ausgeben muss, auch wieder rein. Die in Paris machen uns das Leben unnötig schwer. Die basteln an neuen Gesetzen und Initiativen und wir Bretonen müssen die Suppe auslöffeln. Es wird Zeit, dass wir unsere Unabhängigkeit erlangen. Den Fischen dürfte es gleich sein, ob ich sie für Franc oder Euro verkaufe“, meinte er zu einer Kundin. Die ältere Frau nickte, nahm einen 100 Francschein aus ihrem Portemonnaie und bezahlte die erstandene Dorade.

In der nur 25 Kilometer entfernten Kleinstadt Concarneau saßen an diesem Tag drei Männer zusammen und schmiedeten einen Plan.

Jean Botlan, Marcel Jacq und Heneg Bolloc´h gehörten eher zu den Verlierern der Gesellschaft. Der älteste unter ihnen war Heneg Bolloc´h. Er war 65 Jahre alt, hatte seine Arbeit als Schweißer auf der Werft in Lorient verloren und lebte seit einigen Monaten von seiner bescheidenen Rente. Sein Alter sah man ihm nicht an, sein braugebrannter Teint und seine sportliche Erscheinung gaben ihm das Aussehen eines 50-jährigen Mannes. Die beiden anderen Männer hatten die 50 ebenfalls überschritten. Die beiden gingen schon seit längerer Zeit keiner geregelten Arbeit mehr nach. Mit Einbrüchen und kleineren Überfällen auf Tankstellen und Juwelierläden hielten sie sich über Wasser. Doch jetzt würden sie den größten Coup ihrer Laufbahn landen. Dafür hatten sie einen dritten Mann benötigt, den sie in Heneg Bolloc´h gefunden hatten.

Die Banken in der Bretagne und im restlichen Frankreich wurden mit der neuen Währung beliefert. Ab dem 1. Januar 2002 sollten die Franzosen, wie auch die anderen Teilnehmer der Eurozone, mit dem Euro bezahlen.

Ein Angestellter der BNP Paribas von Quimper witterte seine Chance an das große Geld zu kommen. Die streng geheimen Lieferungen des neuen Geldes, das die Banque de France an die Geschäftsbanken lieferte, bot die Gelegenheit zu einem großen Coup. Der Mann war bereit, für eine Beteiligung von 10% an der erbeuteten Summe, die genauen Daten für die Anlieferung und die exakten Zeiten zu verraten. In Jean Botlan und Marcel Jacq fand er die Männer, die sich bereit erklärten den Überfall durchzuführen. Die Bank würde bei der Lieferung 6 Millionen Euro erhalten.

Heneg Bolloc´h war als Fahrer des Fluchtwagens eingeteilt, während die beiden anderen den eigentlichen Überfall durchführen wollten. Der Geldtransporter würde am frühen Morgen mit der Öffnung der Bank eintreffen, so hatte der Angestellte ihnen gesagt. Um diese Zeit waren erfahrungsgemäß nur wenige Besucher in der Schalterhalle. In der Schalterhalle würde sich auch nur ein einziger Wachmann aufhalten, ein schon in die Jahre gekommener Herr. Um diese Zeit erwartete niemand einen Überfall. Der Plan, den die drei sich zurechtgelegt hatten, war etwas naiv und dilettantisch. Sie wollten, nachdem die Geldboten die Bank betreten hatten, in die Halle stürmen, den Geldkoffer an sich reißen und mit der Beute verschwinden. Ein jeder von ihnen würde 1,8 Million von der Beute erhalten, die restlichen 600.000 gingen an den Tippgeber aus der Bank.

„Lasst uns lange warten, bevor wir das Geld ausgeben“, warnte Heneg die beiden Komplizen im Vorfeld.

„Es fällt auf, wenn wir nach dem Raub mit einem Leben auf großem Fuß beginnen. Wir lenken die police judiciaire sonst sofort auf uns“, meinte Heneg weiter.

„So dumm sind wir auch nicht, Heneg“, erwiderte Marcel und grinste Heneg an.

„Keine Sorge, wir machen so etwas nicht zum ersten Mal“, meinte Jean Botlan und schlug Heneg freundschaftlich auf die Schulter.

Der Überfall sollte am nächsten Tag stattfinden. Sie verabredeten sich für acht Uhr vor der Wohnung von Marcel. Dann ging es nach Quimper, um das Geld abzuholen, wie Marcel sich ausdrückte.

Pünktlich am nächsten Morgen starteten sie in Concarneau und erreichten nach einer knappen halben Stunde den Bahnhofsvorplatz in Quimper. Aber von dort kamen sie nur noch im Schneckentempo weiter.

„Verdammt, mit so einem Stau haben wir nicht gerechnet. Hoffentlich schaffen wir es pünktlich zur Bank“, meinte Heneg und versuchte sich auf dem zweispurigen Boulevard Amiral de Kerguélen an dem einen oder anderen Wagen vorbeizumogeln. Es war inzwischen fünf vor neun, und sie hatten noch mindestens dreihundert Meter bis zur Bank zurückzulegen.

„Du kannst dich beruhigen, Heneg, schau nur, der Geldtransporter steckt auch fest.“ Jean deutete auf das Fahrzeug, das auf der rechten Spur stand und auch nicht schneller vorankam als sie.

„Wir müssen versuchen einen Parkplatz zu finden, auf dem du auf uns warten kannst, Heneg“, meinte Marcel.

„Wenn ihr nur für kurze Zeit im Gebäude seid, dann bleibe ich mit eingeschalteter Warnblinkanlage einfach vorne an der Ampel stehen. Der Eingang zur Bank ist doch genau dort. Und sobald ihr mit dem Geld aus der Bank kommt fahre ich los. Wir verlassen die Stadt über die Allée de Locmaria, da ist um diese Zeit kein Verkehr. Bis die Flics eintreffen sind wir weg. Ein Problem kann das Nummernschild sein. Wenn sich das einer merkt, kommen sie uns schnell auf die Spur.“

Marcel sah Jean an und verzog sein Gesicht zu einer grinsenden Fratze, zum Ausdruck, dass Heneg ein absoluter Anfänger war.

„Heneg!“, redete Jean ihn an und sah gleichzeitig zu seinem Kumpanen.

„Wir haben ein falsches Nummernschild angebracht. Das richtige ist im Kofferraum. Sobald wir die Stadt verlassen haben, tauschen wir die Schilder aus.“

Der Geldtransporter hatte die Bank inzwischen erreicht und war halb auf den Bürgersteig gefahren. Die beiden Geldboten stiegen aus und gingen mit zwei Alukoffern auf die Eingangstür zu. Heneg stand jetzt genau an der Ampel, den Fahrer des Geldtransporters konnte er in seinem Rückspiegel sehen. Marcel und Jean zogen sich ihre Sturmhauben über, nahmen ihre Waffen in die Hand und stürmten hinter den beiden in die Bank. Heneg drückte den Knopf der Warnblinkanlage und blieb vor der grünen Ampel stehen. Sofort setzte ein Hupkonzert ein. Heneg achtete nicht darauf, er beobachtete den Fahrer des Geldtransporters und sah sich nach Polizeifahrzeugen um. Das wäre jetzt die größte Gefahr, eine Polizeibesatzung die zufällig an der Bank vorbeifuhr. Nach wenigen Minuten hörte Heneg einen Schuss, der sogar das Hupkonzert der Fahrzeuge übertönte. Kurz darauf stürmten seine beiden Komplizen aus der Bank und warfen zwei Geldkoffer auf den Rücksitz, setzten sich in den Wagen und Heneg gab Gas, obgleich die Ampel auf Rot stand, und die ersten Fußgänger schon auf die Straße treten wollten. Mit quietschenden Reifen fuhr er an, missachtete auch die nächste rote Ampel, so dass mehrere Fahrzeuge eine Notbremsung hinlegen mussten und überquerte die Odet-Brücke.

„Wir haben es geschafft, wir haben das Ding durchgezogen“, schrie Jean und zog sich die Sturmhaube vom Kopf.

„Was war das für ein Schuss?“, fragte Heneg als sie bereits mit deutlich überhörter Geschwindigkeit auf der Allée de Locmaria fuhren.

„Der Wachmann wollte unbedingt ein Held werden und hat seine Waffe gezogen. Da musste Marcel schießen.“

„Und? Ist der Mann tot?“

„Kann ich nicht sagen, wir haben nur zugesehen, dass wir schnell wegkommen“, antwortete Marcel.

„Wenn er tot ist bekommen wir lebenslänglich, ist euch das klar? Wir haben doch ausgemacht, dass niemand verletzt wird.“

„Halts Maul, Heneg, sieh lieber zu, dass du uns aus der Stadt rausbringst. Mit deinem Anteil von 1,8 Millionen kannst du dir ein gutes ruhiges Leben finanzieren. Was schert dich der Wachmann!“

Heneg Bolloc´h drosselte die Geschwindigkeit etwas als sie ein gutes Stück aus der Stadt waren.

„Such eine Möglichkeit, etwas versteckt zu parken, dann können wir die Kennzeichen ändern“, meinte Jean und sah durch das Heckfenster, ob sie verfolgt wurden. Die Straße hinter ihnen war zwar nicht leer aber es schien, dass ihnen niemand folgte. Sie fuhren inzwischen auf der Rue de Bénodet, durchfuhren den Rond-Point du Frugy und bogen auf die D 34 ab. Am Einkaufszentrum vom Géant fuhren sie auf den großen Parkplatz. Heneg stellte den Wagen am äußersten Ende des Parkplatzes zwischen zwei Fahrzeugen ab und ließ Jean aussteigen. Der machte sich sofort an die Arbeit die beiden Nummernschilder auszutauschen. Der Tausch der vorderen Plakette war kein Problem, der Parkplatz war hier von Bäumen umgeben und gab keine Sicht auf ihn frei. Die Rückseite war etwas schwieriger, beständig fuhren Fahrzeuge vorbei.

„Heneg, kannst du den Wagen wenden, dann kann man mich nicht beobachten“, fragte er.

Heneg startete den Motor, fuhr aus der Lücke heraus und parkte den Wagen rückwärts ein. Nachdem das hintere Kennzeichen auch getauscht war verließen sie den Parkplatz und fuhren nach Concarneau zurück.

Mit ihnen fuhren sechs Millionen Euro, die Ungewissheit über den Zustand des Wachmanns und die Angst gefasst zu werden.

Kapitel 1

Die Entscheidung, die alte Stadtbefestigung zu reparieren und das Begehen der Mauerkrone an der seit Jahren fürs Publikum geschlossenen Stelle wieder zu ermöglichen, fiel im Stadtrat von Concarneau einstimmig. Die ehrwürdige Ville Close war die Hauptattraktion der Stadt und der Publikumsmagnet. Mehr als 1,5 Millionen Besucher kamen pro Jahr, um die von Vauban befestigte kleine Insel im Hafenbecken der Stadt kennenzulernen. Die Entscheidung, Geld in die Restaurierung zu investieren, war in den letzten Jahren immer wieder hinausgezögert geworden. Mal brauchte man das Geld für die Schule beim Sables Blancs, mal musste ein neuer Eisturm für die Fischer gebaut werden, ein anderes Mal brauchten die Straßen einen neuen Belag. Gründe für eine Verzögerung oder ein Hinausschieben der notwendigen Arbeiten in der Ville Close hatte es auch diesmal gegeben. Dennoch hatten sich jetzt diejenigen Vertreter durchgesetzt, die der Geschäftswelt der Stadt und dem Office de Tourisme nahestanden. Die Arbeiten sollten sofort beginnen und möglichst noch vor dem Start in die neue Saison beendet sein.

Der logistische Aufwand war enorm, und vielen Vertretern der Stadtverwaltung waren die angesetzten Kosten für die Instandsetzung anfangs nicht verständlich gewesen. Ebbe und Flut brachten es mit sich, dass auch der Wasserstand erheblichen Einfluss auf die Kosten hatte. Man musste den Arbeitern entsprechenden Zuschlag zahlen, wenn sie nachts arbeiten sollten, um das Material mit dem Schiff auf die Insel zu bringen. Dennoch starteten die Arbeiten pünktlich und die Fortschritte waren bald sichtbar.

Die letzten Besucher der Saison schlenderten noch durch die engen Gassen als die ersten Arbeiten bereits einsetzten. Die Gerüste wurden aufgebaut, die beschädigten Steine aus der Mauer entfernt und durch neue ersetzt. Die Fundamente an der Stadtmauer, die unmittelbar an den Yachthafen grenzt, sollten überprüft und die Spazierwege erneuert werden. Der dazu benötigte Maschinenpark musste in die Stadt gebracht werden. Die schmale Zufahrt ließ das Befahren mit großem Gerät nicht zu, so war klar, dass nur kleine Bagger oder Fahrzeuge zum Einsatz kommen konnten. Soweit es möglich war, wurde ein Teil des Materials auf dem Wasserweg zur Baustelle transportiert.

Dem Ouest France waren die Arbeiten eine halbe Seite Berichterstattung wert. Es gab auch Gegner in der Bevölkerung, die die Arbeiten als Geldverschwendung bezeichneten. Geld, das man besser in den Aufbau von bretonischen Schulen hätte stecken sollen und nicht in altes Gemäuer.

Aber im großen Ganzen war man zufrieden, dass die Ville Close einer Instandsetzung und der Wiederherstellung des früheren Zustandes unterzogen wurde. Viele Bewohner der Stadt und der näheren Umgebung waren von der Tourismusindustrie abhängig. Angefangen von den zahlreichen Verkäuferinnen in den kleinen Boutiquen der Altstadt, über die Köche und das Bedienungspersonal der Restaurants, bis hin zu den Angestellten und Arbeitern in den Fabriken, die die hier verkauften Waren herstellten. Die Nachfrage nach den Ohrenbols mit dem Namenszug, den Tellern und Schüsseln aus den Faïencerien, den Fischkonserven, den Galettes bretonnes, den Keksen und den Produkten der Chocolaterie, den gestreiften T-Shirts, Pullovern von Saint-James oder Armor-lux und den in Deutschland unter dem Namen Friesennerz bekannten Segeljacken aus dem Hause Guy Cotten, der seine Fabrikation nur wenige Kilometer von der Ville Close entfernt hatte, riss nicht ab. Alle Beteiligten in und um die Stadt herum profitierten von dem Touristenstrom, der sich jährlich über die Ville Close ergoss.

„Wie weit sind wir mit den Grabungen am Fundament?“, fragte Yann Goarec seinen Vorarbeiter.

„Gestern haben wir begonnen, es zieht sich etwas, wir haben nur einen kleinen Bagger zur Verfügung.“

„Ich habe für die Arbeiten eine Woche eingeplant, schaffen wir es in der Zeit?“

„Das wird schwierig, aber ich versuche es. Vielleicht müssen wir Überstunden einplanen.“

„Aber nicht zu viele, sonst laufen uns die Kosten aus dem Ruder. Du weißt, dass wir der Stadt ein Festangebot unterbreitet haben?“

„Ja Chef, ich versuche mit meinen Leuten den Zeitplan einzuhalten.“

Yann Goarec wusste, dass er sich auf seinen Vorarbeiter verlassen konnte. Tanguy Trébaul arbeitete schon seit mehr als zwanzig Jahren für ihn. Manchmal konnte man den Eindruck haben, dass er der Chef war, wenn zum Beispiel die Gewerkschaft zu einem Streik aufgerufen hatte, und er die Arbeiter dazu ermutigte weiterzuarbeiten, um einen wichtigen Auftrag zum Abschluss zu bringen. Er kam dann zu ihm und verhandelte die Gehaltssteigerungen anstelle der Gewerkschaft aus. Und dabei hatte er sowohl seine Kollegen als auch die Firma im Auge. Bei manchen Verhandlungen holte er mehr für die Leute raus als die Gewerkschaft ursprünglich gefordert hatte, bei anderen gaben sich die Arbeiter mit einem geringeren Zuschlag zufrieden. Für dieses Entgegenkommen hatte Yann Goarec sich erkenntlich gezeigt und noch nie einen Arbeiter entlassen. Yann gehörte zu den wenigen Unternehmern, dem das Wohl der Mitarbeiter und der Firma gleichermaßen am Herzen lagen. Seine Baufirma gehörte nicht zu den großen der Branche, aber sie war solide. Sein Vater hatte die Firma vor über sechzig Jahren in Trégunc gegründet. Er hatte sie nach dem Tod des Vaters übernommen und weitergeführt. Seine Auftraggeber wussten, dass sie sich auf seine Angebote verlassen konnten. Bei Ausschreibungen erhielt Yann Goarec selten einen Zuschlag. Er war nicht billig. Aber er hielt sich an seine Kostenvoranschläge. Es kam bei ihm nur ausnahmsweise vor, dass er während der Arbeiten von unerwarteten Kosten sprechen musste, die sein Angebot nicht berücksichtigt hatte.

Yann verließ die Baustelle und machte sich auf den Weg zur nächsten. Er durchschritt die fast menschenleere Rue Vauban zum Ausgang der Ville Close. Er hatte seinen Wagen außerhalb der Altstadt stehen gelassen, obwohl es eine Kleinigkeit gewesen wäre eine Zufahrtserlaubnis zu erhalten. Etwas Bewegung konnte ihm nicht schaden, zumal sein Blutzucker seit geraumer Zeit nicht mehr im Normbereich lag. Sein Arzt erinnerte ihn bei jedem Besuch daran, dass er sein Körpergewicht verringern und seine körperliche Aktivität erhöhen sollte. Aber seine Arbeit war nun einmal hauptsächlich eine sitzende Tätigkeit. Sitzen im Wagen, Sitzen am Schreibtisch, Sitzen bei Verhandlungen. Seit einigen Wochen versuchte er die Anzahl seiner Schritte zu erhöhen. Seine Frau hatte ihm einen Schrittzähler geschenkt, den er seither am Gürtel trug. Der erinnerte ihn jedes Mal, dass er weit von den empfohlenen zwanzigtausend Schritten pro Tag entfernt lag.

Er durchschritt den Torbogen am Ende der Rue Vauban, überquerte den kleinen Platz vor dem zweiten Torbogen, ging über die alte Brücke und kam an dem großen Anker vorbei, der vor einigen Jahren ins Hafenbecken geworfen worden war. Obwohl der Anker an die zwei Tonnen wog, hatten Jugendliche es geschafft ihn über die Mauer zu hieven.

Der Anker, einst von einem Fischkutter aus dem Meer vor der irischen Küste gefischt, hatte zu dem Schiff SS Great Eastern gehört, ein englischer Kabelleger, der im 19. Jahrhundert ein transatlantisches Kabel verlegt hatte. Der Anker bewachte seit über 50 Jahren den Eingang zur Ville Close und gehörte zu den meist fotografierten Motiven der Altstadt.

Yann mochte den Anker, den er seit seiner Kindheit kannte, ein Fixpunkt in seinem Leben. Die Zeit nagte ständig an diesem braunroten, schweren, verrosteten Stück Metall. Wie mochte er wohl ausgesehen haben als er noch an der Ankerkette an der Außenwand des Kabellegers gehangen hatte? War er schwarz? War er auch damals schon von Rost überzogen gewesen? Wie oft hatte er auf dem Grund des Meeres gelegen um das Schiff zu fixieren? Yann hätte zu gerne Antworten auf diese Fragen gehabt.

Er überquerte den Quai Peneroff und ging zu seinem Auto.

Kapitel 2

Anaïk Bruel hatte ein herrliches Wochenende verbracht. An das Kommissariat in Quimper und seinen sparsamen Polizeichef hatte sie sich inzwischen gewöhnt. Die Arbeit mit ihrer jungen Kollegin, Monique Dupont, machte Spaß. Auch ihr Kampfsporttraining war nicht zu kurz gekommen. Seitdem Monique ihr eröffnet hatte, dass auch sie diese Sportart betrieb, hatte sie eine Partnerin gefunden, mit der sie regelmäßig trainieren konnte. Im Kommissariat hatten die beiden Frauen inzwischen den Spitznamen les intouchables, die Unberührbaren oder ziemlich beste Freunde, wie der Film in der deutschen Übersetzung hieß.

Anaïk hatte vor einigen Wochen einen Mann kennengelernt, der als Schiffsbauingenieur auf einer Werft in Concarneau arbeitete. Er war ein profunder Kenner der Inseln rund um die Bretagne. Mit seiner kleinen Segelyacht unternahm er regelmäßige Ausflüge dorthin. Er versuchte die Geheimnisse der Inseln zu erkunden. Anaïk war am letzten Wochenende zum ersten Mal seiner Einladung gefolgt und hatte zwei Tage mit ihm auf dem Boot verbracht. Sie waren zur Île de Sein, oder Enez Sun wie die Bretonen sagen, gesegelt. Die Insel, südsüdwestlich von der Pointe du Raz gelegen, gehört zu den am meist gefährdeten Inseln rund um die Bretagne. Ihre knapp 200 Einwohner müssen bei jedem Wintersturm um ihre Insel fürchten. Regelmäßig zerstören die Orkane einen Teil der Insel und verkleinern so den Lebensraum der Insulaner, der Suniz. Im Gegensatz zur Insel Ouessant, die bis zu sechzig Meter aus dem Meer emporragt, erreicht der höchste Punkt der Île de Sein gerade einmal 9 Meter. Es ist daher kein Wunder, dass die exponiertesten Stellen der Insel immer wieder überschwemmt werden.

Brieg Pellen führte Anaïk über die Insel mit ihren 1,8 Kilometern Länge und 800 Metern Breite an der weitesten Stelle. Sie hatten den Grand Phare, den großen Leuchtturm der Insel, bestiegen und den Blick über die zahlreichen kleinen Felsenriffe bis zur Pointe du Raz genossen. Sie waren durch die kleinen Gassen spaziert, über die Hafenmole geschlendert und hatten in einem Restaurant am Hafen ausgezeichneten Fisch gegessen. Die Insulaner, größtenteils Fischer, große Landwirtschaft gab auf der kleinen Insel nicht, landeten kleine Teile ihres Fanges auf der Insel an, der größere Teil wurde in Douarnenez abgeliefert, so dass die wenigen Restaurants immer mit frischem Fisch versorgt waren. Haupteinnahmequelle der Bewohner war der Tourismus. Jetzt im Herbst kamen die Touristen nicht mehr so zahlreich, so dass die Bewohner immer öfter unter sich blieben. Brieg war auf der Insel bestens bekannt. Der Briefträger, inzwischen ein guter Freund, grüßte von Weitem, der Inhaber des Souvenirladens auf der Hafenmole lud sie heute zu einem Kaffee ein, und der etwas schrullige Künstler, der sein Atelier auf der dem Westen zugewandten Seite der Insel hatte, führte sie durch seinen Kunstgarten und sein Atelier. Auf Anaïk machte der Garten eher einen verwahrlosten Eindruck.

Brieg informierte sie über die Druiden, die einst hier auf der Île de Sein eine Zufluchtsstätte gefunden hatten, er erzählte von den Fischern, die sich während des zweiten Weltkriegs von hier aus mit ihren Schiffen auf den Weg nach England gemacht und sich den Streitkräften des freien Frankreichs angeschlossen hatten. Anfangs machten sie fast ein Viertel der sogenannten freien französischen Marine aus, was General de Gaulle zu dem Ausspruch verleitet hatte „Die Île de Sein ist ein Viertel von Frankreich.“ Anaïk lauschte Briegs Erzählungen mit Interesse.

Jetzt saß sie wieder in ihrem Büro und ließ das Wochenende Revue passieren. Sie musste zugeben, dass es sich sehr gut angefühlt hatte einmal wieder eine Nacht gemeinsam mit einem Mann verbracht zu haben.

Monique Dupont klopfte, dann betrat sie Anaïks Büro.

„Hallo Anaïk, hast du dich am Wochenende gut erholt?“

„Es war ein tolles Wochenende, Monique, das schönste seit Monaten.“

„Das hört sich spannend an, ein bisschen nach neuer Errungenschaft und ein bisschen nach Befriedigung?“

„Du liegst genau richtig. Bei Gelegenheit erzähle ich dir davon. Gibt es etwas Neues?“

„Aus meiner Sicht nicht, ich habe wenigstens nichts vernommen. Es gibt nur kurze Zeiten, in denen Quimper ein totes Nest zu sein scheint, eine Stadt in der nichts passiert.“

„Ich bin froh, wenn die Menschen ihre Probleme nicht mit der Pistole oder einer Eisenstange lösen.“

„Da bin ich bei dir! Aber wenn nichts passiert sitzen wir hier und drehen Däumchen.“

„Ich ziehe Daumendrehen vor, besser als Tote sezieren zu lassen und nach Mördern zu fahnden.“

Kapitel 3

Tanguy Trébaul war zu dem kleinen Bagger zurückgegangen, neben dem er gestanden hatte als sein Chef auf der Baustelle erschienen war. Seine Leute waren dabei, an der inneren Ostseite der Ville Close, Teile der Stadtmauer freizulegen. Zahlreiche Steine der unteren Lagen des Mauerwerks, die die mächtigen Aufbauten trugen, mussten erneuert werden. Der kleine Bagger hob bei jedem Eintauchen in den Boden vierzig bis fünfzig Zentimeter von dem steinigen Erdreich aus. Jede Schaufelladung kippte er auf einer großen Plastikfolie aus. Die Erde musste nicht abgeführt werden, sie brauchten sie später zum Verschließen des Lochs. Seit drei Stunden baggerte der Arbeiter jetzt schon an der Mauer, der Graben war bestimmt schon dreißig Meter lang. Deutlich waren die beschädigten und verfallenen Stellen der Mauer zu erkennen. Im Untergrund hatten die Erbauer damals nicht so sorgfältig gearbeitet wie an den oberen Mauerabschnitten. Wieder führte der Baggerfahrer die Schaufel in den Graben und hob die nächsten Zentimeter, in einer Tiefe von etwa einem halben Meter, aus. Die Schaufel fuhr hoch, der Arbeiter schwenkte sie wieder nach links zur Folie und kippte ihren Inhalt aus. Er wollte die Schaufel gerade wieder zurückführen als er plötzlich innehielt. Er blickte wie gebannt auf ein menschliches Skelett. Er ließ die Schaufel oben stehen, stoppte den Bagger, schaltete den Motor aus und stieg aus. Er trat an den Aushub.

Es gab keinen Zweifel, es handelte sich tatsächlich um ein menschliches Skelett. Francis Merer schluckte mehrmals. Es war das erste Skelett, das er mit seinem Bagger freigelegt hatte. Auch wenn es sich nur noch um Knochen handelte, er empfand Pietät und ehrfürchtigen Respekt vor dem Toten.

„Tanguy, Tanguy, schau dir das an!“, rief er aufgeregt zu seinem Vorarbeiter.

Tanguy kam näher und folgte dem Blick seines Kollegen.

„Scheiße!“, rief er.

Tanguy wusste genau, dass dieser Fund das Zeug hatte ihre Baustelle für Stunden, wenn nicht sogar für Tage, lahm zu legen. Dieser Fund würde den Zeitplan und die Kalkulation von Yann Goarec durcheinanderwirbeln. Aber welche Möglichkeiten gab es sonst noch? Weitermachen und sich nicht um die Knochen kümmern, so zu tun, als habe man das Skelett nicht bemerkt? Nein, das konnten sie nicht bringen. Wenn später durchsickern würde, dass sie ein Skelett gefunden hatten, kämen sie in Bedrängnis und sogar in Erklärungsnot. Es blieb nichts anderes übrig, er musste die Polizei informieren. Vielleicht hat der Mensch ja schon seit zweihundert Jahren an dieser Stelle gelegen, das sollten die Fachleute ermitteln. Sie könnten sagen, ob es sich um einen gefallenen Soldaten handelt, der damals bei der Verteidigung der Ville Close ums Leben gekommen war.

Tanguy griff zu seinem Mobiltelefon und wählte die Notrufnummer, teilte den Fund mit und erhielt die Anweisung, alle Arbeiten sofort zu stoppen. Nachdem er aufgelegt hatte rief er seinen Chef an und informierte ihn über den grausigen Fund. Yann Goarec bestand darauf die Autoritäten zu informieren.

„Wir nehmen lieber ein paar Stunden Verzögerung in Kauf, als dass wir uns der Mittäterschaft oder des Vorwurfs der Vertuschung aussetzen.“

Die Polizei von Concarneau war nach wenigen Minuten vor Ort und begutachtete das freigelegte Skelett. Schnell war entschieden, dass es sich hier um eine Aufgabe für die Mordkommission handelt. Der Beamte informierte umgehend Quimper und riegelte die Umgebung der Fundstelle ab.

Tanguy Goarec, der sich bereits auf den Weg zur nächsten Baustelle nach Trégunc gemacht hatte, machte auf der Stelle kehrt und fuhr zurück nach Concarneau. Er wollte die Information aus erster Hand erhalten. Die Information über eine mögliche Verzögerung oder schlimmstenfalls über eine Einstellung der Arbeiten. Wieder stellte er sein Fahrzeug auf dem Parkplatz gegenüber der Ville Close ab, überschritt den Quai Peneroff und die Brücke zur Ville Close und durchquerte die Rue Vauban. Schon von Weitem sah er die weitläufige Absperrung und alle Besucher, die, angezogen von den Polizisten, an der Absperrung standen und gafften. Obwohl es nichts zu sehen gab, außer einem großen Erdhaufen, starrten die Zuschauer auf die Fundstelle, so als gäbe es etwas wahnsinnig Sehenswertes zu begutachten. Jeder fragte seinen Nachbarn worum es sich hier handelte. Und jeder Nachbar zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf. Aber den Platz verlassen wollte dennoch niemand.

Kapitel 4

Monique Dupont unterhielt sich mit Dustin Goarant, dem Leiter der Spurensicherung, über die neuesten Erkenntnisse der kriminaltechnischen Untersuchungsmöglichkeiten als Anaïk Bruel in Moniques Büro trat.

„Bonjour Anaïk“, grüßte Dustin, „schönes Wochenende gehabt?“

„Danke der Nachfrage, ich kann nicht klagen. Ich würde mich ja gerne noch mit euch über mein Wochenende unterhalten, aber wir müssen aufbrechen. Es gibt einen Fall.“

Monique sah Anaïk verblüfft an.

„Ich sage dir doch, es vergeht kein Monat und wir haben wieder zu tun.“

„Hast du Yannick schon Bescheid gegeben?“, fragte Dustin. Yannick Detru, der Pathologe der police judiciaire von Quimper gehörte zum festen Bestandteil der Mannschaft, die bei einem Mord zum Tatort fuhr.

„Nein, ich glaube, dass er nicht sofort dabei sein muss“, antwortete Anaïk und drehte sich zum Gehen.

„Nicht sofort dabeisein? Aber Yannick ist doch immer dabei?“

„Diesmal gibt es aber keine Leiche, nur eine Sammlung von Knochen.“

„Nur Knochen?“ Dustin schien noch mehr verwirrt.

„Ich habe gerade einen Anruf erhalten, in der Ville Close von Concarneau hat ein Arbeitstrupp ein Skelett gefunden, das unmittelbar neben der Stadtmauer vergraben gewesen ist. Die Leute haben mir nicht viel gesagt. Ich weiß nur, dass es sich um ein Skelett handelt. Ich gehe davon aus, dass Yannick das Gerippe untersuchen kann.“

Anaïk ging in ihr Büro zurück und rief Yannick an, der sofort zusagte nach Concarneau zu kommen. Dann machten sie sich auf den Weg in die Ville Close.

Von Quimper aus war die Altstadt von Concarneau schnell zu erreichen, zehn Minuten über die Voie Express Richtung Lorient bis zur Ausfahrt Concarneau, dem drittgrößten Fischereihafen der Bretagne. Von der Ausfahrt bis zur Altstadt brauchten sie dann noch einmal so viel. Sie fuhren mit dem Wagen in die Altstadt hinein, bogen gleich hinter dem zweiten Torbogen in die Rue Théophile Louarn ein und parkten ihren Dienstwagen am Ende der Straße. Die Information über die genaue Lage des Fundes hatte Anaïk von dem Polizisten Romain Bozec erhalten, der hatte sie angerufen. Die weiträumige Absperrung war sofort zu sehen. Anaïk und Monique, gefolgt von Dustin, gingen auf den Bagger und den davor wartenden Arbeiter zu.

„Anaïk Bruel, police judiciaire“, stellte sie sich vor. „Meine Kollegen, Monique Dupont und Dustin Goarant, wo finden wir das Skelett?“

Francis Merer begrüßte die Beamten und zeigte auf das vor einer Stunde ausgehobene Grab.

„Gleich unter der Baggerschaufel. Ich habe gerade die nächste Bodenschicht abheben wollen, da habe ich die Knochen entdeckt.“

Anaïk und Monique zogen sich Plastikhauben über ihre Schuhe und traten näher an den Fundort. Das Skelett war deutlich zu sehen. Kein Zweifel, es sah nach einem Verbrechen aus, schon von oben konnte Anaïk den eingeschlagenen Schädel erkennen. Dustin trat mit seinem Alukoffer an den Graben.

„Na, das sieht ja mal ganz anders aus als die üblichen Tatorte“, meinte er und wollte in den Graben steigen.

„Kannst du bitte warten bis ich mir das Opfer angesehen habe?“, hörten die drei jetzt eine Stimme hinter sich. Yannick Detru war eingetroffen und kam rasch auf sie zu.

„Selbstverständlich Monsieur Detru“, scherzte Dustin und winkte Yannick an sich vorbei.

Yannick stieg in den Graben. Nach ein paar Minuten wandte er sich seinen Kollegen zu.

„So wie es aussieht, haben wir es mit einem Verbrechen zu tun!“

„So weit war ich auch schon“, meinte Anaïk und sah gespannt auf Yannick.

„Das Opfer ist erschlagen worden. Dem Loch im Schädel nach zu urteilen vermutlich mit einem scharfkantigen Gegenstand. An den Knochen finden sich noch kleine Reste von organischem Material. Vielleicht reicht es aus um eine DNA zu erhalten. Sicher bin ich nicht. Ich schätze, dass der Leichnam höchstens 17 bis 19 Monate hier liegt. Die Haare und Nägel sind noch nicht völlig zersetzt.“

„Das bedeutet, dass unsere Leiche vor höchstens zwei Jahren ermordet worden ist?“

„Wie ich schon gesagt habe, Anaïk, eher zwischen einem und eineinhalb Jahren. Genaueres kann ich euch erst sagen wenn ich mit meinen Untersuchungen fertig bin, das kann aber diesmal deutlich länger dauern.“

„Es ist doch schon einmal ein Anhaltspunkt. Wir suchen nach einem Menschen, der inzwischen seit über einem Jahr vermisst wird. Vielleicht findet Dustin ja noch weitere Hinweise in dem Grab oder in dem Aushubmaterial auf der Plane.“ Er zeigte auf das Erdreich, das der Arbeiter auf eine ausgebreitete Plastikplane geworfen hatte.

„Es ist doch möglich, dass darin noch Reste von seiner Kleidung oder anderen Gegenständen verborgen sind.“

„Lass dich nicht von der Arbeit abhalten, Dustin“, meinte Anaïk und wandte sich dem Baggerfahrer zu.

„Sie haben das Skelett freigelegt?“

„Ja! Ich sagte Ihnen bereits, ich war dabei den Graben auszuheben, damit wir an die tiefergelegenen Mauerschichten kommen können. Von der Hafenseite kann man nämlich deutlich sehen, dass die Mauer im unteren Bereich stark beschädigt ist. Wir gehen deswegen von der Innenseite in die Tiefe, die Mauer ist hier mit Erde stabilisiert worden. In den letzten zwei- oder dreihundert Jahren sind in diesem Bereich Bäume gewachsen, das Wurzelwerk hat sich bis zur Mauer ausgebreitet und sie beschädigt.“

„Haben Sie zu Beginn der Arbeiten den Eindruck gehabt, dass der Boden hier aufgegraben worden ist?“

„Aufgegraben? Nein! Wie auch! Wenn man mit einem Bagger in den Boden geht kann man nicht feststellen, ob die Erde weicher oder fester ist. Da müssten Sie besser meine Schaufel fragen.“ Francis Merer grinste über seinen Witz.

„Danke, das wars fürs Erste“, antwortete Anaïk und sah Monique an.

„Hier können wir im Moment nichts mehr machen, lass uns nach Quimper zurückfahren.“

Die beiden Kommissarinnen wandten sich um und gingen zur Absperrung zurück. Ein etwa 50-jähriger und 100 kg schwerer Mann mit dunkelgrauem Schnurrbart, rundlichem Gesicht und einer halben Glatze kam auf die beiden Kommissarinnen zu.

„Bonjour Mesdames, Yann Goarec mein Name. Ich bin der Unternehmer, der die Arbeiten hier an der Mauer ausführt. Ich habe von meinem Arbeiter Francis gehört, dass ein Skelett gefunden worden ist. Ich möchte Sie in ihrer Arbeit unterstützen aber unsere Arbeiten dürfen keine langen Unterbrechungen haben, meine Termine mit der Stadt müssen eingehalten werden. Wir müssen vor der neuen Saison fertig sein. Daher meine Frage, wie lange werden wir die Arbeiten hier unterbrechen müssen?“

„Bonjour Monsieur Goarec, ich kann das Anliegen sehr gut verstehen, im Augenblick können wir diese Frage aber nicht beantworten. Wir haben erst vor wenigen Minuten mit unserer Arbeit begonnen. Bevor die sterblichen Überreste geborgen sind und das gesamte Umfeld durchsucht worden ist können wir die Baustelle nicht freigeben. Ich gehe schon davon aus, dass wir hier ein oder zwei Tage benötigen um alles zu sichern.“

„Zwei Tage? Geht es nicht etwas schneller?“

„Wie ich schon gesagt habe, wir müssen alles genau durchsuchen. Vielleicht geht es ja auch schneller, versprechen kann ich Ihnen aber nichts.“

„Nun ja, dann hoffe ich, dass Sie es schneller schaffen. Au revoir.“ Damit verließ Yann Goarec die beiden Kommissarinnen und ging zu seinem Vorarbeiter.

„Tanguy, die beiden Kommissarinnen haben mir gesagt, dass die Arbeiten an dieser Stelle für vielleicht zwei Tage ruhen müssen. Können wir solange an einer anderen Stelle weiterarbeiten?“

„Wir können die Ausbesserungen an der Mauer an der Porte aux Vins beginnen. Die Arbeiten haben wir uns zwar für den Schluss aufgehoben, weil sie zeitlich besser zu kalkulieren sind, aber es wird kein Problem sein sie vorzuziehen.“

„Gut Tanguy, dann geht ihr am besten sofort zur Porte aux Vins, ich veranlasse, dass euch alles benötigte Material umgehend gebracht wird. Nur gut, dass wir die Steine schon seit Längerem auf Lager haben.“

Yann Goarec griff zu seinem Mobiltelefon und rief den Lagermeister in Trégunc an. Er orderte den Transport des Materials für die Ausbesserungen an der Mauer der Porte aux Vins.

Kapitel 5

Anaïk Bruel und Monique Dupont standen vor der leeren Pinnwand und begannen damit, die ersten Informationen anzubringen.

„Wir haben ein Skelett. Der oder die Unbekannte liegt seit höchstens zwei Jahren dort vergraben. Das heißt, wir suchen nach einem Menschen, der in den letzten zwei Jahren verschwunden ist. Alle vorher verschwundenen Personen können wir ausschließen. Ich werde mich sofort mit der Vermisstenabteilung in Verbindung setzten und nachfragen.“

„Der zwischen 17 und maximal 20 Monaten verschwunden ist“, korrigierte Monique.

„Du hast natürlich recht, Monique, unsere Leiche liegt ja erst seit höchstens eineinhalb Jahren an dieser Stelle. Sobald Yannick uns sagen kann, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt können wir die Suche weiter einengen. Ich überlege schon die ganze Zeit, wie jemand auf die Idee kommen kann, in der Ville Close eine Leiche zu vergraben?“

„Die Frage habe ich mir auch gestellt. Ein Grab in der Ville Close kann doch schneller gefunden werden als ein Grab in einem Wald in der Umgebung. Abgesehen davon, dass es doch auffällt, wenn man hier anfängt zu graben. Ich kann mir nur vorstellen, dass unser Mörder den Mord hier begangen hat und den Leichnam sofort verscharren wollte. Damit könnten wir die Tat auf die Stunden nach Mitternacht eingrenzen. Vorher sind ja immer Menschen in der Ville Close unterwegs. Außer in den Wintermonaten, da dürfte es viel früher menschenleer sein.“

„Ja, Anaïk, das sehe ich auch so, aber hatte der Mann sofort eine Schaufel zur Hand? Das kann bedeuten, dass der Täter hier in der Ville Close wohnt und sich eine Schaufel schnell besorgen konnte, oder hat er eine Schaufel mitgebracht?“

„Lass uns alles zusammentragen, was wissen wir bisher oder nehmen es an? Vielleicht ergibt sich daraus ja schon ein Muster. Also, da ist das Skelett, gefunden an der Mauer, ca. 180 Meter von der Anlegestelle der Fähre entfernt, die nach Le Passage Lanriec fährt.“

Anaïk malte einen Kreis und schrieb Opfer in die Mitte. Danach zeichnete sie eine kleine Skizze von der Ville Close und markierte darin den Fundort. Auf der linken Seite notierten sie ihre Fragen. Warum in der Ville Close? Warum das Grab an der Mauer? Woher hatte der Täter das Werkzeug? Wie konnte er das Grab in der Kürze der Zeit ausheben?

„Wir haben bis jetzt noch nicht sehr viele Anhaltspunkte“, sagte Monique und sah sich die Notizen an.

„Ich habe mir die Fundstelle genau angesehen“, meinte Anaïk, „der Leichnam lag in einer Tiefe von fast 80 Zentmetern. Mit einem Bagger hat man eine solche Tiefe schnell erreicht. Aber mit einer Schaufel dauert das bestimmt ein oder zwei Stunden.“

„Und auch dann nur, wenn der Boden nicht allzu hart ist und möglichst wenig Steine aus dem Weg zu räumen sind. Ansonsten gräbt man viel länger“, meinte Monique.

„Ich glaube, wir können eine Frau als Täterin ausschließen. Eine Frau schafft es nicht ein solches Grab auszuheben, wenigstens nicht in einer halben Nacht. Schließlich musste die Arbeit beendet gewesen sein, bevor die ersten Bewohner erwachen. Aus verschiedenen Häusern hat man durchaus einen Blick auf den Mauerabschnitt“, sagte Anaïk.

„Wir suchen also nach einem Mann, der die Tat vor über einem Jahr begangen hat. Die Suche wird sich nicht ganz einfach gestalten. Fingerabdrücke werden wir nach so langer Zeit nicht mehr finden.“

„Du meinst auf einer Schaufel oder einem Spaten, falls wir den bei einer verdächtigen Person finden sollten?“

„Ja, zum Beispiel, wir müssen dem Verdächtigen schließlich nachweisen, dass er das Grab ausgehoben hat.“

„Nun, das Holz am Stiel einer Schaufel ist poliert. Darauf sind Fingerabdrücke lange nachweisbar. Wenn der Mann auch noch Schweiß an den Fingern gehabt hat hält sich der Abruck noch länger. Beim Ausheben einer solchen Grube kommt man doch ins Schwitzen, ob sich die Abdrücke aber über ein Jahr lang halten? Es ist müßig darüber nachzudenken, wir haben noch nicht einmal einen Verdächtigen, geschweige denn die Schaufel. Wenn es soweit ist überlassen wir Dustin den Rest.“

„War ja auch nur eine Überlegung. Natürlich müssen wir zuerst einmal einen Verdächtigen finden.“

„Ich wäre froh, wenn wir wenigstens einen Anhaltspunkt hätten, in welche Richtung wir suchen müssen. Ich hoffe, dass Yannick uns weiterhelfen kann. Wenn er eine brauchbare DNA findet bekommen wir vielleicht raus wer der Tote ist.“

„Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, dass der Mörder in der Ville Close wohnt, engt das den Kreis der möglichen Verdächtigen schon erheblich ein.“

„Aber nicht so, dass wir unseren Mörder nur noch herauspicken müssen. In der Ville Close leben bestimmt zwei- oder dreihundert Menschen. Außerdem, Monique, es ist nur eine Vermutung. Der Mörder kann auch außerhalb der Ville Close wohnen.“

„Ja Anaïk, wir dürfen unsere Suche nicht einengen. Warten wir ab was Yannick findet.“

Kapitel 6

Dustin lag auf dem Bauch in dem ausgehobenen Graben und bemühte sich die Erde unter dem Skelett, das vor wenigen Minuten sorgfältig herausgenommen worden war, zu untersuchen. Vorsichtig trug er Zentimeter für Zentimeter des Bodens mit einer kleinen Blumenschaufel ab, sah den Inhalt auf der Schaufel an, um nur nichts zu übersehen und warf das Erdreich danach weg. Seine Ausbeute war gering. Immerhin hatte er ein kleines Schnapsfläschchen und zahlreiche Knöpfe, die vermutlich von den Kleidern des Toten stammten, gefunden. Reste der Kleidung waren von einem Kollegen sichergestellt worden. Seine weitere Suche förderte noch einige Münzen und ein Portemonnaie zu Tage. Jetzt galt es kleinere oder kleinste Spuren zu sichern. Langsam arbeitete er sich vor. Dustin stach mit seiner kleinen Schaufel erneut ins Erdreich und hob einen weiteren Zentimeter Erde aus als er auf der Schaufel eine kleine dunkle dünne Scheibe entdeckte, deutlich vom langen Liegen angegriffen. Er nahm sie in die Hand und betrachtete sie sorgfältig. Vorsichtig rieb er die Erde ab. Er war überrascht, eine alte Münze in der Hand zu halten. Er tippte auf eine Kupfermünze, die aber bestimmt schon sehr lange hier lag. Auch wenn die Münze wahrscheinlich nichts mit dem Mord zu tun hatte, legte er den Fund in eine Plastiktüte. Nach zwei weiteren Stunden des Grabens hatte er einen Zigarettenstummel, ein kleines Stück Eisen, ein Stück Ölpapier und Reste einer Plastiktüte gefunden.

Dustin stieg zufrieden aus dem Graben. Erst jetzt merkte er, dass ihn sein Brustraum schmerzte. Das lange Liegen auf dem Bauch war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Nach einigen Minuten beruhigte sich der Druckschmerz wieder und Dustin widmete sich seiner Ausbeute. Die Reste der Kleidung des Toten würde er sich genauer ansehen müssen. Vielleicht wären sie zur Identifizierung des Mannes hilfreich. Vorsichtig öffnete er das Portemonnaie, dessen Leder zwar angegriffen aber nicht zerstört war. In der Münztasche lagen drei Euro in kleinen Einheiten von 50, 20 und 10 Cent Münzen. Die Scheinfächer waren leer. Dustin legte das Portemonnaie wieder in die Plastiktüte und betrachtete die anderen Fundstücke. Sein Interesse galt vor allem dem kleinen Stück Ölpapier. Was war in diesem Papier eingewickelt gewesen? Er betrachtete das Stück genauer. Es war etwas Herausgerissenes, wie ein Fetzen eines aufgerissenen Pakets. Er legte es wieder zurück in die Tüte. Dann machte er sich mit seinen Kollegen an die Arbeit, den Grasboden rund um den Graben abzusuchen. Die Arbeit erschien ihm eigentlich sinnlos, denn im Laufe der letzten Monate hatten sich bestimmt hunderte von Menschen hier aufgehalten.

Der kleine Bagger, mit dem der Graben ausgehoben worden war, hatte tiefe Spuren in dem Grasboden hinterlassen, so dass es nicht viel Sinn machte hier weiter zu suchen. Dustin ordnete an, die weitere Suche einzustellen. Die Männer packten ihre Utensilien zusammen und machten sich zurück auf den Weg ins Kommissariat. Die Ausbeute ihrer akribischen Arbeit war zufriedenstellend. Seine wichtigste Arbeit begann, sobald er die einzelnen Fundstücke einer genauen Prüfung in seinem Labor unterzog. Manchmal genügte schon ein Blick durchs Binokular auf den Gegenstand um wichtige Hinweise zu finden.

Dustin begann mit seiner Arbeit, die er am liebsten alleine und in völlig ungestörter Umgebung absolvierte. Jedes Geräusch störte ihn, er konnte weder Musik noch das Klingeln eines Telefons gebrauchen. Aber genau in diesem Moment klingelte das Telefon und störte ihn in seiner minutiösen Arbeit.

„Goarant“, meldete er sich mürrisch, ohne auf die Nummer von Anaïk zu achten, die das Display signalisierte.

„Dustin, Anaïk hier, ich möchte wissen, ob du etwas Brauchbares gefunden hast?“

„Hallo Anaïk, ich habe gerade erst mit der Untersuchung der Fundstücke begonnen. Wir haben eine ganze Reihe von Gegenständen gefunden. Wenn ich von den Kleiderresten absehe haben wir noch ein Portemonnaie, ein kleines Schnapsfläschchen, zahlreiche Knöpfe, einen Zigarettenstummel, eine recht alte Kupfermünze, ein kleines Stück Metall, vermutlich Eisen, ein Stück Ölpapier und Reste einer Plastiktüte gefunden. Aber ich muss mir alles genauer ansehen, bevor ich eine Aussage machen kann.“

„Dustin, ich will dich nicht drängen, aber wir haben bisher so wenige Anhaltspunkte, dass wir uns an jedem Strohhalm festhalten.“

„Anaïk, gib mir noch einige Stunden Zeit, dann kann ich dir vielleicht etwas mehr sagen. Hast du schon mit Yannick gesprochen? Ich könnte mir vorstellen, dass er mit seinen Untersuchungen etwas schneller ist.“

„Nein, habe ich noch nicht. Dustin, ich gehe davon aus, dass der Mediziner länger braucht als du.“

„Alte Schmeichlerin, aber danke, tut gut.“

„Dustin, ich warte geduldig ab und versuche in der Zwischenzeit bei Yannick mein Glück.“