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Das Corona-Virus hat die Bretagne erreicht und wütet auch in dieser Region Frankreichs. Der Präfekt des Finistères achtet streng auf die Einhaltung aller Beschränkungen. Eine besonders aggressive Variante wird bei einem Patienten in der Klinik von Quimper isoliert. Der Mann stirbt nach wenigen Tagen. Obwohl der Präfekt sich an alle Vorsichtsmaßnahmen hält. Steckt er sich an und wird in die Klinik eingeliefert. Am Tag seiner Klinikeinlieferung meldet sich seine Frau bei der police judiciaire und zeigt einen Einbruchsversuch an. Gibt es einen Zusammenhang des Einbruchs mit seiner Erkrankung? Schnell stellt sich heraus, dass ein Mörder das Virus als Mordwaffe für sich entdeckt hat!
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Seitenzahl: 215
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum neobooks
Jean-Pierre Kermanchec
Das Virus
Das Virus
Jean-Pierre Kermanchec
Alle Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Impressum
© 2024 Jean-Pierre Kermanchec
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Prolog
Wuhan! Wuhan! Gleichgültig welche Zeitung man aufschlug, der Name der chinesischen Millionenstadt prangte auf den Titelseiten. Shanghai, die Metropole, die bedeutendste Industriestadt Chinas, Peking die Hauptstadt des Landes, diese Städte kannten die Menschen rund um den Globus. Aber Wuhan war vielen Menschen bis zum Jahr 2020 völlig unbekannt. Shanghai und Wuhans einzige Gemeinsamkeit ist ihre Lage am Jangtsekiang oder kurz Jangtse, dem gigantischen drittlängsten Fluss der Erde, der sich mit seinen 6.380 Kilometern Länge von den Gebirgen Tibets bis zur Mündung bei Shanghai ins ostchinesische Meer schlängelt.
Nicht die Lange der Stadt am Jangtse, sondern ein Virus hatte Wuhan mit einem Schlag weltweit bekanntgemacht. Ein neues Corona Virus, Covid-19 genannt, ebnete der Stadt ihren Aufstieg in das Bewusstsein der Menschen auf der ganzen Welt.
Anfang des Jahres 2020 traten die ersten Ausbrüche der Erkrankung in Wuhan aus. Die Welt betrachtete die Krankheit wie eine lokale Angelegenheit. Die täglich verbreiten Meldungen in den Nachrichten über die schnell steigende Anzahl der Erkrankten ließen erste Befürchtungen aufkommen. China sah sich gezwungen, die Stadt mit ihren 8 Millionen Einwohnern komplett abzuriegeln. Ein neues Krankenhaus wurde in einer Rekordzeit von nur 10 Tagen gebaut und tausende von Menschen darin behandelt. Doch es blieb nicht bei Wuhan und China. Schnell kamen Südkorea, Taiwan, die USA und andere Staaten hinzu. Aus der regionalen Erkrankung wurde eine Pandemie, eine weltumspannende Krankheit.
Grenzen wurden geschlossen. Die Weltwirtschaft kam zum Erliegen und die Intensivabteilungen der Krankenhäuser konnten in manchen Ländern die an Corona erkrankten Menschen nicht mehr aufnehmen. Der Bedarf an Schutzanzügen, Gesichtsmasken und Desinfektionsmitteln war nicht mehr gesichert. Ein Virus hielt der Menschheit wie ein Spiegel ihre Schwäche vor.
Es tauchten wieder Wörter auf, die man längst vergessen hoffte; confinément, Kontaktsperre, vulnerable, anfällig oder verwundbar. In Europa wurden die Bewegungsfreiheiten der Menschen radikal eingeschränkt. Es sollte Wochen und Monate dauern bis zu ersten Lockerungen.
Das Virus erfasste Frankreich, wie alle seine Nachbarstaaten. Die Krankenhäuser im Osten des Landes erreichten schnell die Grenze ihrer Aufnahmekapazität. Kranke wurden ins Ausland geflogen oder mit dem TGV in den Westen, Süden oder Südwesten des Landes verschoben. Das Händeschütteln sowie die Wangenküsse zur Begrüßung wurden verboten oder sollten gemieden werden, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern.
Selbst in der entfernt gelegenen Bretagne begann sich das Virus langsam auszubreiten. Auch die Bretonen durften sich, wie die Bewohner des restlichen Landes, nur in einem Umkreis von einem Kilometer um ihren Wohnsitz herum frei bewegen. Wer sich für seinen Bedarf an Lebensmitteln darüber hinaus entfernen musste, musste ein Formular ausfüllen und darin bestätigen, dass er nur zum Einkaufen fuhr. Die Polizei führte intensive Kontrollen durch, um die angeordneten Verbote durchzusetzen. Nur die Geschäfte, die den Grundbedarf der Menschen deckten, wie Bäckereien oder Lebensmittelgeschäfte blieben geöffnet. Spirituosengeschäfte zählten selbstverständlich zu den Versorgern der Grundbedürfnisse. Hotels, Restaurants, Bars, Geschäfte oder Fabriken wurden geschlossen, alle Großveranstaltungen abgesagt und Fußballspiele gestrichen. Über zwei Monate lang wurden diese strengen Maßnahmen aufrechterhalten. Danach erlaubte die Regierung, dass man sich wieder in einem Umkreis von 100 Kilometern um seinen Wohnsitz herumbewegen durfte. Die Strände, die ebenfalls geschlossen worden waren, wurden wieder geöffnet. Und die Bevölkerung griff nach der wiedergewonnenen Freiheit und stürmte die Küste. Aber nur der Spaziergang war erlaubt. Wer beim Sonnenbad erwischt wurde, bezahlte eine Strafe von 135 €.
Das Leben, ja die Welt hatte sich komplett verändert. Das Tragen von Mundschutzmasken, früher nur in den Operationssälen oder aus der Berichterstattung über die im Smog erstickenden Städte Chinas im Fernsehen zu sehen, wurde Pflicht, sobald man sich in den öffentlichen Transport begab oder in die wenigen geöffneten Geschäfte ging. Handwerker trugen Masken. Willkommen in der Neuen Welt.
Kapitel 1
Alain Kerdroan war seit drei Jahren Präfekt des Finistère. Damit stand er den 4 Arrondissements mit 27 Kantonen und 279 Gemeinden vor. Mit knapp 910.000 Einwohnern gehört das Finistère zu den größeren Departements Frankreichs. Unter den vier bretonischen Departements hatte nur Ille-et-Vilaine mehr Einwohner. Alain Kerdroan war allseits beliebt und gehörte der Partei Les Républicains an, wie sie sich seit einigen Jahren nannte.
Covid-19 brachte alles durcheinander. Auch im Finistère mussten die strengen Vorgaben aus Paris umgesetzt werden, obwohl die Anzahl der vom Virus infizierten Menschen hier deutlich niedriger war als in den stärker betroffenen Regionen im Osten oder rund um die Hauptstadt. Alain Kerdroan war sich bewusst, dass die Bevölkerung die Beschränkungen nicht honorieren würde, aber er war überzeugt, dass sie Leben retteten. Täglich saß er mit seinem Kabinettschef und den vier Vorsitzenden der Arrondissements zusammen und bewegte die aktuelle Lage.
Tanguy Le Mennec, der Leiter von Quimper, ergriff heute als erster das Wort.
„Monsieur Le Préfet, die erhaltenen Meldungen der Gendarmerie zeigen, dass das confinement nicht eingehalten wird. Die Strände müssen stärker kontrolliert werden, und wir sollten den Menschen nochmals die Notwendigkeit dieser Beschränkungen erklären. Wir sollten zudem überdenken, ob es bei den drastischen Strafen bleibt. 135 €, weil ein Bewohner einen Spaziergang am Strand unternommen hat, erscheint mir unangemessen“, erklärte Le Mennec.
„Ich möchte dem zustimmen. Auch in Brest haben die Gendarmen es mit ähnlichen Problemen zu tun. Viele Bewohner halten die Maßnahmen für überzogen und rebellieren dagegen, indem sie mit dem Auto zur Halbinsel Crozon fahren und dort provozierend spazieren gehen“, erklärte Ravan Peuzist, der Vertreter von Brest.
Die anderen beiden stimmten den Aussagen zu.
„Wir müssen die Vorgaben umsetzen. Es kann nicht sein, dass wir im Finistère einen anderen Weg gehen als im restlichen Land. Wie sollen wir im Extremfall rechtfertigen, wenn die Opferzahlen bei uns ansteigen und in den anderen Regionen rückläufig sind? Wir erhielten kein Lob für unseren Sonderweg, im Gegensatz, die Opposition würde uns genüsslich zur Rechenschaft ziehen. Es bleibt uns nichts anderes übrig als diese Vorgaben strikt umzusetzen“, stellte Kerdroan fest.
Er hoffte, dass die Maßnahmen bald wieder gelockert würden. Ihm blieb das Unbehagen der Bevölkerung nicht verborgen. Seine Frau berichtete fast täglich von aufgebrachten Mitbürgern, die ihrem Ärger über seinen privaten Anschluss Luft machten. Ein Anrufer ging sogar deutlich darüber hinaus. Er drohte seiner Frau, dass er zum Äußersten bereit sei, falls ihr Mann die Sanktionen nicht aufheben würde. Sie solle ihrem Mann ausrichten, dass er gefährlich lebt.
„Aber die Anordnungen kommen doch nicht von meinem Mann, es sind die Beschlüsse der Regierung in Paris“, hatte sie ihm geantwortet.
„Was geht mich Paris an! Wir sind hier in der Bretagne und hier hat ihr Mann das Sagen. Also richten Sie ihm meine Warnung aus. Wenn er die Beschränkungen nicht zurücknimmt, stirbt er am Virus. Sagen Sie ihm das“, erwiderte der unbekannte Anrufer und legte auf.
Alain Kerdroan nahm die Drohung ernst und wandte sich an die police judiciaire. Die konnte jedoch nur feststellen, dass der Anruf aus einem Hotel am Bahnhof von Quimper gekommen war. Die sofortige Überprüfung des Hotels ergab, dass besagter Anruf von einem Gast stammte, der sich eine Nacht im Hotel aufgehalten hatte. Der angegebene und registrierte Name des Gastes stellte sich als falsch heraus und das Personal konnte keine Beschreibung des Mannes geben. Kerdroan wurde unter Polizeischutz gestellt, sein Fahrzeug von einem Einsatzfahrzeug der Polizei begleitet und sein Haus Tag und Nacht beobachtet.
Nach einer Woche bat Kerdroan darum, den Schutz einzustellen. Er betrachtete den Anrufer mittlerweile als einen Spinner, der seine Drohungen sicher nicht umsetzen würde. Den Polizeischutz weiter aufrechtzuerhalten wäre eine Verschwendung von Ressourcen.
Die Polizei war nicht derselben Meinung, kam jedoch dem Wunsch des Präfekten nach und zog die Bewachung zurück.
In den folgenden drei Wochen geschah nichts Besorgniserregendes. Die Bevölkerung gewöhnte sich langsam an die Beschränkungen. Nur die gesperrten Strände sorgten weiterhin für Unmut. Als eine 93-jährige Frau in Penmarch einen Strafbefehl über 135 € erhalten hatte, weil sie unerlaubt über den Strand spaziert war, hagelte es Proteste. Die Strafe war dem aktuellen Gesetz entsprechend legitim, sie blieb dennoch unverständlich. Die Gendarmerie wurde angewiesen, den Strafbefehl in eine Verwarnung abzuändern, und die Frau wurde aufgeklärt, ihre Spaziergänge für die Dauer des Ausnahmezustandes einzustellen.
Inzwischen waren sechs Wochen vergangen und ein Ende war nicht abzusehen. Die Kliniken waren mit erkrankten Bürgern überfüllt und die Zahl der Verstorbenen stieg an. Das Virus hatte sich auch in der Bretagne festgesetzt.
Kapitel 2
Die Intensivabteilung der Klinik war bis auf den letzten Platz belegt, das Personal arbeitete am Limit. Mit Sonderschichten versuchte man, die Behandlung der Schwerstkranken zu bewältigen. Die Abteilung war durch die hohe Nachfrage vergrößert worden, statt der ursprünglich 12 Betten waren es nun 20.
Vor der Klinik in Quimper hielt ein schwarzer Renault Clio. Der Insasse stieg aus seinem Fahrzeug, nahm die mitgebrachte Plastiktüte und alle notwendigen Utensilien mit, und betrat das Krankenhaus. Er kannte den Weg von seinem Erkundungsgang. Nach dem Eingang links, dann geradeaus in den langen Flur und bis zur zweiten Tür. Er betrat die leere Herrentoilette, versperrte die Tür hinter sich und schloss sich in einer Kabine ein. Er zog den mitgebrachten Schutzanzug an, band den Mundschutz um und zog die Kopfbedeckung darüber. Zum Abschluss setzte er sich die Schutzbrille auf. Die Plastiktüte, in der er alles transportiert hatte, versteckte er tief im Mülleimer, er würde sie später wieder brauchen. Er vergewisserte sich, dass ihn niemand gesehen hatte, dann verließ er die Toilette. Er folgte dem Gang weiter und gelangte bei der Intensivabteilung an, seinem Ziel.
Dem entgegenkommenden Personal nickte er freundlich zu und trat zielstrebig und unerkannt in eines der Krankenzimmer. Auf dem Bett lag ein Patient auf dem Bauch, ein Beatmungsgerät versorgte ihn mit Sauerstoff. Seine Lunge schien nicht mehr im Stande zu sein, seinen Körper mit dem lebensnotwendigen Gas zu versorgen. Der Besucher prüfte, ob er unbeobachtet war, dann zog er die mitgebrachte Einmalspritze aus der Tasche, drückte den Kolben nach unten und führte die Spitze mehrfach in den Mund des komatösen Patienten. Jedes Mal zog er den Kolben mit Speichel des Kranken zurück und füllte die Spritze so. Er prüfte seine Ernte, es waren 8 bis 10 Milliliter. Zufrieden verließ er den Raum und strebte zum Ausgang. Sorgfältig verwahrte er die Spritze mit dem für ihn wertvollen Stoff in seiner Tasche. Bei der Tür zur Herrentoilette holte er die Plastiktasche aus dem Mülleimer, betrat wieder eine freie Kabine und schloss die Tür hinter sich. Er zog den Schutzanzug aus und verstaute alles in der Plastiktüte. Er würde die Ausrüstung noch einige Male benötigen. Er verließ die Klinik, ohne von jemandem beachtet worden zu sein. Seinen Kopf hielt er vorsichtshalber gesenkt und seine Schirmmütze war tief in die Stirn gezogen. Der Umsetzung seines Plans stand nichts mehr im Wege.
Es war ein teuflischer, ein mörderischer Plan. Die Idee war ihm in den letzten Wochen gekommen. Er hatte sich alles genau überlegt und die Vorbereitungen minutiös durchgeführt. Es wäre für die police judiciaire unmöglich, eine Spur zu ihm zu finden. Vergnügt lächelnd schlenderte er zu seinem Wagen.
Er legte die Spritze in die vorbereitete Kühltasche, damit die Probe die nächsten Tage nicht an Wirksamkeit verlor. Er hoffte, dass alles, was er über die Haltbarkeit des Virus gelesen hatte, zutraf. Er brauchte jetzt etwas Zeit, um die letzten Vorbereitungen seines Plans zu tätigen, bevor er sich an die Umsetzung machen konnte.
„Monsieur Le Préfet, du kannst deine Tage zählen“, sagte er laut, als er sich hinters Steuer setzte.
Er fuhr die Rue du Frugy hinunter, folgte der Allée Locmaria und kam an der Präfektur vorbei. Genüsslich blickte er aufs Gebäude und grinste vor sich hin, dann fuhr er zurück zu seiner Wohnung. Mit der kleinen Kühltasche in der Hand stieg er die Treppe zur Haustür hoch, legte die Spritze in den Kühlschrank und durchdachte ein weiteres Mal sein Vorgehen.
Kapitel 3
Delval saß in seinem Büro und kaute genüsslich seine caramels-au-beurre-salé. Dann machte er sich auf den Weg in die Bäckerei, in der er seit einigen Monaten seine Croissants und die Bonbons kaufte. Für ihn war die Versorgung mit diesen Bonbons essenziell. Hoffentlich führte die sanitäre Situation den Hersteller nicht zum Schließen. Enzo betrat die Bäckerei und bat um 10 Tüten seiner geliebten Bonbons. Die Verkäuferin sah ihn erstaunt und leicht verwundert an und sagte:
„Die gehen uns normalerweise nicht aus, wir haben genügend Vorrat auf Lager.“
„Das dachte man vom Klopapier auch“, antwortete Enzo und erntete ein mitleidiges Lächeln, was ihm egal war. Er nahm die Tüte mit den 10 Bonbontüten, bezahlte und verließ die Bäckerei. Zufrieden marschierte er wieder ins Kommissariat. Das wichtigste des heutigen Tages zur Befriedigung seines Gemütes war erledigt. Er hoffte, dass der Vorrat über die zu erwartende Durststrecke reichte. Länger als drei oder vier weitere Wochen dauerten die Restriktionen bestimmt nicht an, hoffte er.
Seit dem Mordfall des Herstellers der Galettes aus Concarneau war es ruhig geblieben. Die alten Morde waren aufgeklärt, und im Fischereihafen der Stadt hatten sich die Gemüter beruhigt. Die Morde hatten nichts mit den Fangquoten des roten Thunfisches zu tun gehabt, wie sie anfänglich dachten.
Seit den ersten Märztagen bestimmte das Covid-19-Virus, (coronavirus disease 2019) wie es allgemein genannt wurde, die Schlagzeilen der Zeitungen weltweit und hatte das Handeln der Staatsführung erobert. Das Finistère war nicht verschont geblieben, auch wenn die Stärke, mit der das Virus im Elsass zugeschlagen hatte, in der Bretagne nicht ebenso verlief.
Für Enzo war das eine gelungene Gelegenheit, mit den Kollegen im Kommissariat besser bekannt zu werden. Auch wenn er inzwischen schon seit Monaten die Leitung der Mordkommission in Quimper innehatte, kannte er nur die Abteilungen, mit denen er regelmäßig zusammenarbeitete.
Seine Wochenendausflüge in die nähere Umgebung hatte das Virus ausradiert. Er konnte sich nur im Umkreis von einem Kilometer um seinen Wohnort bewegen, da blieb er genauso gut zuhause. Mit seinem Dienstausweis wäre er sicherlich durch alle Kontrollen gekommen aber das widersprach seinem Gerechtigkeitssinn. Er blieb auf seinem Balkon.
Was gäbe er jetzt für einen vernünftigen Liegestuhl. Er hatte sich den Kauf bisher immer erspart, weil er sich lieber auf eine Wiese als auf einen Stuhl auf dem Balkon gelegt hatte. Aber die Rasenflächen waren jetzt verbotenes Terrain. So gab Enzo sich eben auf dem Balkon mit einem Küchenstuhl zufrieden.
Enzo saß, ein Bonbon kauend, in seinem Büro. Kein Kondensstreifen war in dem Blau des Himmels zu entdecken, das Wetter war gnadenlos mit den Menschen. Seit Wochen war kein Regen mehr gefallen. Die Bauern lamentierten, ihnen drohte, die Saat zu vertrocknen.
„Hallo Enzo, sagst du mir bitte, wie man einen Mordfall aus dem Homeoffice löst?“ Monique riss ihn mit ihrem Anruf aus seinen Träumereien.
„Homeoffice? Aber du hast doch ein Büro, wozu brauchst du ein Homeoffice?“
„Nourilly hat soeben eine Mail an alle Abteilungen gesandt, mit der Aufforderung, aus Sicherheitsgründen von zu Hause aus zu arbeiten“, antwortete Monique.
„Die Mail habe ich nicht einmal gelesen. Ich war mit meinem Vorrat an caramels-au-beurre-salé beschäftigt. Man weiß ja nicht, welche Auswirkungen das Virus noch mit sich bringt. Denk an das Toilettenpapier!“
Monique lachte. „Das ist inzwischen wieder überall vorrätig.“
„Es gab eine Durststrecke. Das soll mir mit den Bonbons nicht passieren.“
„Genau durch diese Haltung war das Toilettenpapier ausverkauft.“
„Ich kann die Menschen gut verstehen. Es sind doch beschissene Zeiten. Ich kann nicht einmal meinen Spaziergang frei wählen. Was hat das mit dem Virus zu tun?“
„Es soll verhindert werden, dass es sich weiter ausbreitet“, meinte Monique.
„Im Wald? Am Strand? Ich denke, dass es sich um Verallgemeinerungen handelt, eine pauschale Entscheidung eben. Unsere Strände sind so lang und breit, dass man nicht aufeinanderliegen muss“, sinnierte Enzo.
„Aber jetzt zurück zu meiner Frage. Hast du eine Vorstellung, wie man vom Homeoffice aus einen Fall löst?“ Monique kam auf ihre Eingangsfrage zurück.
„Vielleicht durch das Studieren der Akten? Falls du den Täter ermittelt hast, schickst du ihm die Nachricht, dass er sich sofort in eine Zelle begeben soll“, meinte Enzo.
„Du nimmst weder mich noch Nourilly ernst, Enzo. Nourilly will von uns wissen, ob wir aus dem Homeoffice arbeiten könnten.“
„Dann schreib ihm ein klares und kurzes NEIN! So ein Unsinn. Darauf würde ich nicht einmal antworten, geschweige denn, mir Gedanken machen.“
«Du bist mir keine große Hilfe. Nur gut, dass wir zurzeit keinen Fall haben.»
„Wenn aktuell jemand das Haus nur im Umkreis von einem Kilometer verlassen darf, kann er nur in seiner Wohnung oder in diesem Umkreis einen Mord begehen. Der Mörder müsste dann doch schnell gefunden werden, außer er hält sich nicht an die Beschränkungen“, meinte Enzo und entnahm seinem Vorrat ein weiteres Bonbon.
Kapitel 4
Der Anschlag auf den Präfekten sollte in der kommenden Nacht stattfinden. Alles war geplant und vorbereitet. Nur ein Zufall würde den Präfekten noch retten.
Er würde seine Wohnung in der Nacht verlassen und zu Fuß das Wohnhaus des Präfekten aufsuchen. Er brauchte eine Stunde von seiner Wohnung bis zum Haus des Präfekten in der Route de Bénodet. Ein Fahrzeug wäre zu riskant und könnte die Polizei auf ihn aufmerksam werden lassen.
Er hatte das Haus des Präfekten bei einem nächtlichen Spaziergang ausgekundschaftet. Das Haus mit Blick auf den Odet und Schwimmbad lag im Ortsteil Kernoter, einer bevorzugten Wohnlage von Quimper. Von einem Nachbargrundstück würde er sich Zutritt zum Anwesen verschaffen. Weder der Nachbar noch der Präfekt hatten einen Hund, was ihm gelegen kam. Seinen Rucksack packte er sorgfältig; eine Brechstange, Latexhandschuhe, seinen kompletten Schutzanzug, damit er keinerlei Spuren hinterließ, und einen Dietrich.
Er verließ seine Wohnung gegen 22 Uhr und schlich sich durch die Straßen von Quimper. Sein Weg führte ihn durch die Innenstadt. Am Kreisverkehr vom Place Alexandre folgte er der Straße hinunter an den Odet, vorbei an der Post, überquerte den Fluss und gelangte auf den Boulevard Dupleix. Das war das heikelste Stück seines Weges. Hier könnte er von einer Polizeipatrouille gesehen werden. Aber er hatte Glück und traf auf niemanden. Auch wenn es kürzer gewesen wäre durch die Rue Théodore le Hars zu gehen, wählte er die kleine Allée Françoise Truffaut, ging über die Rue Jean Jaurès bis zu einem schmalen Fußweg, der ihn zur Straße Rue de Pen ar Stang führte. So umging er eine Polizeistation mit ihrer Videoüberwachung. Er erreichte die Rue Emile Zola, der er bis zur Rue de Bénodet folgte. Immer wieder versteckte er sich in dunklen Hauseingängen, um nicht gesehen zu werden. Er war erstaunt, wie viele Menschen trotz der verhängten Ausgangssperre auf den Straßen waren. Als er den Schulkomplex an der Rue de l’Université unerkannt erreicht hatte, atmete er auf. Der restliche Weg führte an Grünanlagen vorbei, die ihm genügend Möglichkeit boten, sich schnell mal zu verstecken. Nach einem weiteren Kilometer hatte er das Grundstück des Präfekten erreicht.
Er hatte länger gebraucht. Es war bereits halb zwei. Vorsichtig schlich er sich auf das Nachbargrundstück, durchquerte den Garten und erreichte die Mauer, die das Grundstück des Präfekten umschloss. Sicherheitshalber sah er sich um, niemand war zu sehen. Hinter allen Fenstern war es tiefschwarz. Dennoch hatte er den Eindruck, dass ihn die schwarzen Fensterscheiben anstarrten, so als wollten sie ihn einschüchtern und von seinem Vorhaben abhalten. Ignorant nahm er den Rucksack vom Rücken und holte den Schutzanzug heraus. Sorgfältig zog er ihn über seine Kleidung, befestigte den Mundschutz hinter den Ohren und setzte die Haube und Brille auf. Seine Bewegungsfreiheit war zwangsläufig eingeschränkt.
Die Sträucher entlang der Mauer waren nicht dicht, sodass er leicht hinaufklettern konnte. Der Präfekt hatte auf seiner Seite keinerlei Bepflanzungen vorgenommen. Eine großzügige Rasenfläche dehnte sich bis zum Schwimmbad und dem dahinterliegenden Wohnhaus. Er schlich sich bis zur Eingangstür. Erneut sah er sich um. Er horchte an der Tür. Im Haus war alles still und dunkel. Er holte den Dietrich, die Taschenlampe und zur Sicherheit die Brechstange aus dem Rucksack und schwang ihn wieder auf den Rücken. Mit dem Dietrich bearbeitete er zuerst etwas erfolglos das Schloss, er war nicht geübt in dieser Tätigkeit. Die Kratzer am Türbeschlag störten ihn nicht. Nach einigen Fehlversuchen hatte er die erste Verriegelung geknackt, weitere zwei Minuten später schlich er ins Haus. Vorsichtig beleuchtete er die Umgebung des Eingangs. Der Lichtstrahl seiner Taschenlampe zeigte jetzt auf die Treppe zum Obergeschoss. Er stieg die Stufen hinauf. Vier Türen gab es auf der Etage. Auf leisen Sohlen schlich er über den Flur und öffnete die erste Tür. Es war das Badezimmer. Die gegenüberliegende Tür schob er langsam auf. Es war das Schlafzimmer des verhassten Präfekten.
Der Mann lag alleine im Bett. Welch ein Glück! Seine Frau hatte wohl ihr eigenes Schlafzimmer. Damit war es deutlich einfacher, seine Tat umzusetzen. Er nahm die vorbereitete Spritze aus der Tasche und schlich sich an sein Bett. Sein gleichmäßiges Atmen signalisierte, dass der Mann fest und tief schlief. Er drückte den Kolben der Spritze leicht, dabei fiel ein kleiner Tropfen aus der Nadel auf den Pyjama des Präfekten. Dann senkte er die Spritze an seinen Mund und drückte den Kolben erneut. Die Spritzer trafen auf die Lippen des Präfekten. Er hatte es im Schlaf bemerkt und fuhr mit der Zunge über seine Lippen.
„Perfekt! Jetzt hast du das Virus intus“, dachte er und verließ leise das Zimmer, schloss die Tür hinter sich und stieg die Treppe hinunter. Er verließ das Haus und kletterte über die Mauer zurück. Dann entledigte er sich des Schutzanzugs. Er stopfte alles wieder in den Rucksack und begab sich auf den Rückweg.
Er hatte das perfekte Verbrechen begangen; der Präfekt würde an dem Virus sterben und niemand könnte ihm die Tat anlasten. Das Virus könnte sich der Präfekt weiß Gott wo eingefangen haben. Im Haus hatte er, dank des Schutzanzugs, keinerlei Spuren hinterlassen. Auf ihn deutete nichts.
Zufrieden spazierte er durch die Grünanlagen zurück. Er gab acht, dass ihn niemand bemerkte. In der Innenstadt wäre es nicht mehr tragisch, falls ihn eine Polizeikontrolle bemerken würde. Er zahlte dann eben eine Strafe , weil er sich nicht an die Ausgangsbeschränkungen gehalten hatte. Der Tod des Präfekten wog die Strafe auf.
Er hatte noch genügend Material in der Spritze, um weitere unliebsame Mitbürger zu beseitigen. Alle, die ihn jemals beleidigt, verhöhnt oder verletzt hatten, würden ihrer gerechten Strafe zugeführt werden können, ohne dass er auch nur in Betracht käme, etwas damit zu tun zu haben. Der Präfekt war nur das erste Opfer gewesen. Von ihm war die Anordnung zur Ausgangsbeschränkung gekommen. Und diese Anordnung hatte in seinen Augen zu seiner Entlassung geführt. Ohne dieses Papier wäre es nicht zur Überprüfung der Bestände an Mundschutzmasken gekommen.
Er erreichte seine Wohnung, ohne angehalten worden zu sein. In den nächsten Tagen würde er die Nachrichten genau verfolgen und auf die Klinikeinlieferung des Präfekten warten. Bis zum Ausbruch der Erkrankung könnte es noch einige Tage dauern. Er deponierte die Spritze wieder im Kühlschrank und legte sich dann für die restlichen Stunden der Nacht ins Bett.
Kapitel 5
Die Nachricht der Erkrankung des geschätzten Präfekten erregte grosses Aufsehen im Finistère. Die Person, die über die Einhaltung aller Maßnahmen zur Umsetzung der Bekämpfung der Pandemie wachte, war kontaminiert. Dabei hatte der Präfekt sich penibel an alle Anordnung gehalten. Er war zu Besprechungen oder Pressekonferenzen immer mit Mundschutz erschienen. Er fuhr seinen Dienstwagen selbst, um nicht von einem Fahrer angesteckt zu werden.
Erstaunlich war der fulminante Verlauf der Erkrankung bei dem Mann. Einen solchen Verlauf hatte es bis jetzt nur bei einem Patienten gegeben, und das war ebenfalls ein Patient aus Quimper gewesen. Trieb in Quimper ein besonders virulenter Virenstamm sein Unwesen?
Alain Kerdroan war in die Universitätsklinik nach Brest gebracht und dort auf der Intensivabteilung behandelt worden. Trotz aller Interventionen verstarb der Präfekt fünf Tage später.
Am Tag seiner Klinikeinlieferung hatte sich seine Frau bei der police judiciaire gemeldet und angezeigt, dass bei ihnen vermutlich ein Einbruchsversuch verübt worden sei. Sie hatte am Schloss der Haustür Kratzer entdeckt, die vor der Erkrankung ihres Mannes nicht dort gewesen waren. Die police judiciaire nahm eine solche Angelegenheit normalerweise auf die leichte Schulter. Da es sich aber um die Ehefrau des erkrankten Präfekten handelte, wurden die Kratzer untersucht. Dustin Goarant war mit der Untersuchung beauftragt worden. Er kam zu dem Ergebnis, dass es sich tatsächlich um Spuren eines primitiven Dietrichs handelte, typische Kratzer, die entstehen, wenn an einem Schloss manipuliert wird.
Bei der police judiciaire frage man sich, ob jemand ins Haus eingebrochen war, um das Virus beim Präfekten einzuschleusen?
Den Leichnam von Monsieur Kerdroan untersuchte Yannick Detru, der Pathologe der police judiciaire.
„Als ob ich nicht schon genug zu tun habe“, schimpfte er nach dem Auftragseingang.
Unter großen Sicherheitsmaßnahmen ging er vor. Vielleicht würde Dustin ihm behilflich sein und die Kleidung des Verstorbenen untersuchen.
„Dustin, ich brauche deine Hilfe“, sagte Yannick am Telefon und erklärte ihm sein Problem.
„Falls der Mann wirklich bewusst infiziert worden ist, kann das nur in seinem Haus passiert sein. Aufgrund der Spuren am Beschlag der Haustür gehe ich davon aus, dass sich jemand Zutritt zum Haus verschafft hat. Er könnte den Präfekten im Schlaf infiziert haben“, meinte Dustin.
„Dann müssen wir die Kleider des Präfekten auf fremde DNA untersuchen, auch seinen Schlafanzug“, schlug Yannick vor.
„Wenn ich etwas finde, führst du die Analyse aus, Yannick.“
„Wer denn sonst? Klar mache ich dann die Analyse“, erwiderte Yannick, legte den Hörer auf und rief in der Klinik an, um sich mit dem behandelnden Arzt von Kerdroan verbinden zu lassen.