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In der berüchtigten Strömung des Fromveur, unmittelbar vor der Küste der Insel Ouessant, treibt ein Fischerboot, scheinbar führerlos, in die Richtung der Hauptroute des Ärmelkanals. Vergeblich hat die Seeüberwachung versucht Funkkontakt mit dem Boot zu bekommen. Eine ernste Angelegenheit, denn eine Kollision mit einem Tanker oder Frachter könnte zu einer Havarie, bis hin zu einer erneuten Ölpest an der französischen Küste führen. Die französische Küstenwache, die Gendarmerie maritime, wird umgehend informiert. Ein Fischer der Insel Ouessant wird erschossen auf dem Boot gefunden. Das zuständige Kommissariat in Brest bittet, zur Aufklärung des Mordes, um Unterstützung durch die Kollegen aus Quimper. Die Kollegen in Brest sind mit der Aufklärung einer anderen Mordserie ausgelastet. Kommissar Kerber und sein Kollege Chevrier werden auf die Insel Ouessant geschickt, um diesen Mord zu untersuchen.
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Seitenzahl: 453
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Jean-Pierre Kermanchec
Schnee auf Ouessant
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Epilog
Andere Kriminalromane des Autors:
Kinderroman des Autors:
Vorankündigung
Impressum neobooks
Kommissar Kerber war erstaunt, als sein OPJ ihm mitteilte, dass er mit seinem Kollegen, Paul Chevrier und den Kollegen von der Spurensicherung, auf die Île d´Ouessant fliegen sollte, um dort einen Mordfall aufzuklären. Die eigentlich zuständigen Kollegen in Brest, waren mit einer Mordserie beschäftigt und damit voll ausgelastet. Sodass sie keine Zeit und keine Männer für die Untersuchung eines Mordes auf Ouessant zur Verfügung stellen konnten.
Ewen Kerber hatte gerade erst seinen letzten Fall abgeschlossen, einen Mord im Park von Trévarez. Jetzt sollte er in wenigen Stunden bereits nach Ouessant fliegen, warum er?
Die Frage war unnötig, wenn nicht er, wer denn sonst. Er war der Leiter der Mordkommission von Quimper und damit der zuständige Ermittler, falls die Kollegen in Brest um Unterstützung baten.
Er musste zuerst nach Hause fahren und sich wenigstens einige Sachen einpacken. Ein Mord würde nicht in ein paar Stunden aufgeklärt werden. Ewen griff zum Telefon und wählte die Nummer seiner Frau, beim BNP Paribas.
„Carla, Ewen hier. Gut, dass ich dich erreiche.“
„Aber Ewen, ich bin doch beinahe immer zu erreichen, wenn ich im Büro bin. Was gibt es denn Wichtiges?“
„Nourilly hat mir soeben mitgeteilt, dass ich einen neuen Fall habe.“
„Oh, schon wieder ein Toter in Quimper?“
„Nein, diesmal ist der Tote nicht hier in der Cornouaille. Wir müssen“, Ewen hielt für einen kurzen Moment inne, „halte dich fest, nach Ouessant fahren.“
„Bitte, du musst nach Ouessant? Ach, mein armer Liebling, hoffentlich übersteht dein Magen diese Reise?“
„Ich muss nicht auf ein Schiff gehen, wir bekommen den Hubschrauber gestellt. Ich will dir nur sagen, dass ich ein paar Kleider zusammenpacken werde und mich dann auf den Weg mache. Wir fliegen bereits in wenigen Stunden los. Paul und Dustin werden mich begleiten. Nourilly hat uns bereits Zimmer im Hotel Le Fromveur reserviert.“
„Dann kannst du ja unseren letzten Kurzurlaub auf der Insel revue passieren lassen.“
„Nur, wenn ich Zeit dazu habe. Ich melde mich am Abend bei dir.“
Ewen verabschiedete sich und ging nach Hause. Zwei Stunden später war er wieder im Büro. Paul und Dustin warteten bereits auf ihn, gemeinsam fuhren sie zum Flughafen. Nourilly hatte ihnen noch die Kopien der ersten wenigen Ermittlungsunterlagen mitgegeben, damit sie sich in den Fall einlesen konnten.
„Das sehen wir uns auf der Insel an. Wir gehen sofort nach der Landung ins Hotel, geben unser Gepäck ab und setzen uns mit der ortsansässigen Gendarmerie in Verbindung.“
„Du kennst dich doch gut auf der Insel aus Ewen, oder etwa nicht?“
„Paul, du wirst es selbst erleben, sobald wir auf der Insel sind. Es gibt nicht viel, um sich dort auszukennen. Die Insel ist gerade einmal sieben Kilometer lang und drei Kilometer breit. Wir haben damals alle Wege zu Fuß erkundet. Ich gehe davon aus, dass man uns einen Polizeiwagen, oder wenigstens ein paar Fahrräder zur Verfügung stellen wird.“
Dustin hatte das Geplänkel zwischen Paul und Ewen mit angehört.
„Kann mir einer sagen, warum ich dann auf die Insel soll? Bei so einem kleinen Flecken, da kann es doch schon fast keine neuen Spuren geben. Bestimmt ist alles bereits vollständig zertrampelt.“
„Dustin, ohne dich sind wir aufgeschmissen, das weißt du ganz genau. Und im Übrigen, das Auffinden von Fingerabdrücken, DNA und was es sonst noch alles an Spuren gibt, kann keiner besser als du, unser Spezialist.“
„War auch nur ein Spaß.“ Dustin wusste zwar, dass Ewen ihn eher auf den Arm nehmen wollte, als seine besonderen Fähigkeiten herauszustellen, er hörte diese Lobeshymne dennoch gerne.
Der Hubschrauber stand bereit, als sie am Flughafen ankamen und ihren Wagen auf dem Platz der Flughafenbehörde abstellten. Die Strecke nach Ouessant legte der Hubschrauber in knappen 40 Minuten zurück. Kein Vergleich zu den zweieinhalb Stunden, die das Schiff von Brest aus benötigt hätte.
Sie landeten auf dem eigens für Hubschrauber angelegten Landeplatz vor dem Radarturm, der die Rail d´Ouessant überwachte. Mit über 60.000 Schiffen war die Route durch den Kanal die am stärksten befahrene Passage in Europa. Gleichzeitig mussten die Schiffe auch die Fromveurströmung, die gefährlichste Europas, passieren.
Als Ewen Kerber mit seinen Kollegen aus dem Hubschrauber kletterte, kam ihnen bereits ein junger Gendarm entgegen. Der Beamte war beauftragt worden, die Messieurs les Commissaires, abzuholen und sie ins Hotel Le Fromveur zu bringen.
„Bonjour les Commissaires“, begrüßte er die ankommenden Männer.
„Jean-Paul Berthelé, mein Name. Ich soll Sie sofort ins Hotel Le Fromveur bringen. Anschließend erwartet Sie mein Vorgesetzter im Gendarmerieposten, nur wenige Meter vom Hotel entfernt. Ich werde Ihnen den Weg zeigen.“
„Bonjour Monsieur Berthelé, Ewen Kerber von der police judiciaire Quimper. Meine Kollegen, Paul Chevrier und Dustin Goarant“, begrüßte Ewen den Mann. Auch Paul und Dustin reichten ihm die Hand. Danach stiegen sie in den Polizeiwagen, der gut und gerne seine 15 Jahre auf dem Buckel hatte. Ein Blick auf den Tachometer zeigte Ewen, dass das Fahrzeug gerade einmal 50.000 Kilometer zurückgelegt hatte. Kein Wunder, dass das Fahrzeug noch nicht ersetzt worden war.
Der junge Gendarm musste wohl die erstaunten Blicke gesehen haben, die Ewen beim Anblick des Wagens und bei der Betrachtung des Tachometers gezeigt hatte.
„Wir fahren hier auf der Insel keine großen Strecken. Wenn es hoch kommt, sind es vielleicht zwölf Kilometer am Tag. Die Insel ist klein, und viele Wege sind sowieso nur mit Fahrrädern zu befahren. Da kommt nicht viel auf den Tacho.“
„Das kann ich gut verstehen“, meinte Ewen, als der Wagen sich in Bewegung setzte und die knapp 500 Meter bis zur Hauptstraße, die den Port du Stiff, der Anlegestelle der Schiffsverbindung von Brest, und Le Conquet, mit dem Hauptort Lampaul verband. An der Kreuzung hielt der Wagen kurz an, um eine Reihe von Fahrradfahrern vorbeifahren zu lassen. Dann bogen sie nach rechts ab und folgten der Straße noch ungefähr vier Kilometer.
Das Hotel Le Fromveur lag im Zentrum des kleinen Ortes, nur wenige Meter von der Kirche, dem kleinen Spar Supermarkt und einigen Andenkengeschäften entfernt.
Der Polizeiwagen hielt vor der Eingangstür und die drei Männer stiegen aus, holten ihre Gepäckstücke, die sie vor dem Einsteigen in den Kofferraum gelegt hatten, und betraten das Hotel.
„Bonjour Monsieur le commissaire“, begrüßte sie der Wirt, Tanguy Kerlann. Ein Mann um die 50, dicklich, mit einem sympathischen Lächeln.
„Bonjour Monsieur Kerlann, so schnell kann man sich wiedersehen“, meinte Ewen und reichte dem Wirt die Hand.
„Ich habe Ihnen doch beim letzten Besuch gesagt, wer einmal auf der Insel gewesen ist, der will nicht mehr weg von hier.“
Ewen musste lachen, er erinnerte sich zu gut an seine Gedanken, beim damaligen Ausspruch dieser Worte des Wirts. Damals war er davon überzeugt, dass alleine schon der Gedanke an eine erneute Durchquerung des Fromveur, einen dazu bringen konnte auf der Insel bleiben zu wollen.
„Wie geht es Ihrer Frau, Gaëlle?“, fragte Ewen den Wirt.
„Der geht es bestens, sie ist in der Küche und bereitet alles für den Abend vor. Was bringt Sie wieder auf die Insel?“
Kerlann sah Ewens Kollegen an und reichte jedem die Hand.
„Eine Straftat, Monsieur Kerlann.“
„Ach, der Tod von dem Alten, Marc Noret?“
„Ich habe mir die Akte noch nicht genau angesehen, aber es kann schon sein, dass das sein Name gewesen ist.“
„Ja, der arme Noret, er ist zwar ein ziemlicher Eigenbrötler gewesen, aber eine liebenswerte Person. Wir haben es nicht fassen können, als wir gestern von seinem Tod gehört haben. Als die Küstenwache sein Boot im Schlepptau in den Hafen gebracht hat, da haben wir gedacht, es hätte einen Zusammenstoß mit einem anderen Schiff gegeben, oder er sei einem Herzinfarkt erlegen. Er ist ein erfahrener Fischer gewesen und hat die Gewässer um Ouessant wie kein Zweiter gekannt. Genauso gut hat er von den Gefahren gewusst, die das Meer rund um die Insel birgt. Deshalb glauben wir nicht an einen Unfall. Dann gibt es das Gerücht, dass er ermordet worden ist. Nachdem Sie jetzt hier eingetroffen sind, muss wohl etwas dran sein.“
„Ja Monsieur Kerlann, da ist wohl etwas dran. Wir würden gerne unsere Zimmer beziehen, wenn es möglich ist?“
Ewen wollte sich jetzt nicht ausführlicher zu dem Fall äußern, zumal er selbst noch nicht so richtig wusste, was genau vorgefallen war.
„Natürlich ist es möglich, die Saison ist fast vorbei, da sind nicht mehr alle Zimmer besetzt. Ihre Zimmer sind schon bereit.“
Tanguy Kerlann zog eine Schublade unter seinem Empfangstisch auf und entnahm ihr drei Schlüssel. Er reichte Ewen den Schlüssel mit der Nummer 10, Paul Chevrier reichte er die 11 und Dustin die Nummer 15.
„Sie kennen sich ja schon aus, Monsieur le commissaire“, sagte Tanguy und zeigte auf die rechte Seite seiner Theke.
„Die Treppe hoch und durch den Wintergarten.“
„Danke, Monsieur Kerlann, ich kenne mich noch aus.“
Ewen ging voran. Auf der ersten Etage lagen die Zimmer 10 und 11 auf der rechten Seite. Dustin musste, um sein Zimmer zu erreichen, den kleinen Wintergarten durchqueren und eine weitere Treppe nach oben steigen. Die Herren verabredeten sich in einer viertel Stunde im Gastraum des Hotels, um sich die Akte genauer anzusehen.
Ewen legte seine Reisetasche im Zimmer ab, nahm die Akte aus der Mappe und machte sich sofort auf den Weg nach unten.
Dann sprach er den Wirt an.
„Monsieur Kerlann, Sie haben vorhin die Gerüchte erwähnt, die zurzeit im Umlauf sind. Was genau erzählen sich die Insulaner denn?“
„Nun, Monsieur le commissaire, ich kann Ihnen nicht viel sagen, mir ist nur bekannt, dass ein Schiff der surveillance maritimedas Boot von Marc Noret aus der Fahrrinne gezogen hat. Es soll sich mitten in der Strömung des Fromveurbefunden haben. Als die surveillance maritime das Boot per Funk kontaktiert hat, hat niemand auf dem Boot geantwortet. Die Strömung ist bereits dabei gewesen, das Fischerboot in Richtung des Kanals zu ziehen. Es wäre ganz bestimmt zu einer Kollision mit einem der großen Schiffe gekommen, wenn das Boot nicht rechtzeitig abgefangen worden wäre. Es hätte Fürchterliches passieren können. Unsere größte Angst auf Ouessant ist eine erneute Ölkatastrophe, wie die der Amoco Cadizvor 36 Jahren. Ich bin damals noch ein kleiner Pimpf gewesen. Mein Vater hat mich mit zum Strand genommen. Ich habe beim Säubern geholfen. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Öl in ein Schiff von 334 Meter Länge passt.“
Ewen wollte wieder zum eigentlichen Thema zurückkehren.
„Die surveillance maritime hat das Boot von Noret herrenlos in der Strömung gefunden?“
„Ja, so erzählt man im Dorf.“
Inzwischen waren auch Ewens Kollegen heruntergekommen.
„Wir setzten uns an einen Tisch in der Bar, Monsieur Kerlann, um die Akten zu studieren. Bringen Sie uns etwas zu trinken?“
„Einen Rosé für Sie?“ Tanguy Kerlann konnte sich noch erinnern, dass Kerber immer nach einem Rosé gefragt hatte.
„Nicht in der Dienstzeit, später sehr gerne. Sie können schon eine Flasche kaltstellen. Jetzt wäre eine Tasse Kaffee genau das Richtige.“
„Für mich ebenfalls“, sagte Paul, und Dustin bestellte eine Flasche eau plate.
Ewen legte die Akte auf den Tisch, und sie sahen sich die wenigen Informationen an.
Das Protokoll der Küstenwache, die Aussage des Matrosen, der als erster auf das Boot von Noret gekommen war, schließlich noch die Bilder, die die Küstenwache auf dem Boot aufgenommen hatte.
Marc Noret war früh am Morgen, gegen halb sechs aufgestanden. Die größeren Fischerboote fuhren zum Sardinenfang bereites am Abend aufs Meer und legten ihre Netzte aus. Sie kamen dann gegen halb sechs am Morgen wieder zurück. Marc Noret machte sich selten vor sieben Uhr auf den Weg. Er fischte stets mit der Angel, oder wie die Bretonen sagten, la pêche en ligne.Da kam es nicht so darauf an, schon in der Nacht unterwegs zu sein.
Ein Blick aus dem Fenster seines Häuschens, dass in Pen Ar Lan, gleich hinter dem kleinen Flughafen der Insel lag, sagte ihm, dass das Wetter gut werden würde. Er musste keine größeren Vorsichtsmaßnahmen treffen. Er legte sich seine drei Angeln bereit, kümmerte sich um die Köder und packte alles auf den Anhänger, den er an seine Vélosolex befestigen konnte. Jetzt machte er sich auf den Weg zum Hafen. Er hatte seine Anlegestelle im Port du Stiff, nahe am Embarquement, wie die Anlegestelle genannt wurde, von wo aus die Fähren zum Festland ausliefen bzw. wo sie einliefen. Er war einer der letzten Fischer der Insel. Früher lebten die Insulaner fast ausschließlich vom Fischfang, wenn man von den etwas dunkleren Zeiten absah, in denen die Strandräuberei eine wesentliche Einnahmequelle war.
Anfang des 17. Jahrhunderts, zu Vaubans Zeiten, hatten die Bewohner von Ouessant nicht wie heute, den Ruf unerschrockener Retter, für die in Seenot geratenen Schiffe und deren Besatzungen. Vielmehr galten sie als rücksichtslose, ja mörderische Strandräuber. In jener Zeit, galt die Beschäftigung mit dem Raub von Strandgut nicht als unehrenhaft, sondern war für die Bewohner vielmehr eine Tätigkeit, der man sich professionell und ideenreich nähern musste. Wenn die regelmäßigen Havarien, an den Riffen rund um die Insel Ouessant nicht ausreichten, um den Insulanern ein erträgliches Einkommen durch den Raub von Strandgut zu sichern, band man in der Nacht Rindern Fackeln an die Hörner und trieb sie über den Strand. Dadurch wurden Schiffe in die Irre geleitet und zerschellten an den Riffen. Erst Colbert bereitete 1681 der hinterhältigen Piraterie ein Ende, indem er die Todesstrafe für Strandräuber einführte.
Marc Noret pflegte, wenn er gut gelaunt war, in seinem Stammlokal, der Bar de l´Arrivée, die Geschichte zu erzählen, dass sein Ururururgroßvater ein recht erfolgreicher Strandräuber gewesen war. Mit dem Strandgut hatte er damals sein ganzes Haus ausgestattet. Angefangen von den Möbeln, über das Geschirr, bis hin zu den Bettlaken, stammte alles vom Strand. Seine Ururururgroßmutter war auf diese Weise die am besten ausgestattetste Hausfrau der Insel gewesen.
Es gab berechtigte Zweifel an dieser Geschichte, die aber nur von demjenigen geäußert wurde, der nicht von der Insel stammte.
Marc Noret fuhr mit seiner Vélosolex durch die schmale Straße, vorbei am Flughafen zum Hafen. Sein Fischerboot, die l´Ormica, lag gut vertäut am Anleger. Die Flut hatte das Boot soweit angehoben, dass er, ohne die Leiter benutzen zu müssen, an Bord gehen konnte. Seine Vélosolex stellte er in die hintere Ecke des Kais. Angst vor einem Diebstahl hatten die Bewohner nicht, so dass die Autos oder Motorräder nie abgeschlossen wurden. Wie sollte ein Dieb auch von der Insel wegkommen. Es blieb nur die Fähre, die aber keinerlei Fahrzeuge an Bord nahm. So lange die Bewohner sich erinnern konnten, war auch noch nie ein Auto entwendet worden, wenigstens nicht auf Nimmerwiedersehen. Es kam schon vor, dass Jugendliche sich ein Auto schnappten, um eine Spritztour zum Hafen zu unternehmen. Aber das war eher die Ausnahme.
Marc Noret öffnete das kleine Führerhaus und legte sein mitgebrachtes Essen in die Vorratskiste, die er links unterhalb der Scheibe angebracht hatte. Dann holte er seine Angeln und die Köder, legte sie im Heck des Bootes ab und ging zurück ins Führerhaus. Er schloss den Motor an die Batterie an und drehte seinen Schlüssel im Zündschloss. Das alte Dieselaggregat brauchte einige Umdrehungen, dann begann es zu tuckern. Die Taue, die das Boot an Bug und Heck festhielten, waren schnell gelöst, und langsam ging die Fahrt durch die Hafeneinfahrt aufs offene Meer hinaus. Inzwischen war es bereits neun Uhr geworden, die Sonne schien von einem dunkelblauen Himmel, der nur wenige Schleierwolken aufwies.
Sein Blick schweifte über die kleinen Felseninseln, die die Einfahrt links und rechts säumten, und ging weiter bis zur Île Molène, die vielleicht drei Kilometer entfernt in östlicher Richtung lag. Das Meer war ruhig, die Wellen hatten kaum einen Meter Höhe, und seine l´Ormicawiegte sich ganz sachte auf ihnen. Marc war anderes gewohnt. Wie oft war er bei Windstärke acht durch diese berüchtigte und gefürchtete Strömung gefahren. Er dankte seinem Schöpfer nach jeder Rückkehr, wenn er gesund und heile den Hafen wieder erreicht hatte. Er wäre nicht der Erste gewesen, der sein Leben auf dem Meer gelassen hätte und bei dem die proëllaabgehalten worden wäre.
Die proëlla, wie die Insulaner den Brauch nennen, wird schon seit Jahrhunderten auf der Insel zelebriert. Die Leichen, der auf See verunglückten Männer, werden häufig nicht gefunden. So wird der Verstorbene durch eine kleine Wachsfigur symbolisiert. Der Name proëlla kommt aus dem Bretonischen und bedeutet so viel wie zurückgeben. Durch die Wachsfigur wird der Tote dem Land zurückgegeben. Die Figur wird während einer kirchlichen Trauerfeier in eine Urne gelegt und vom Priester, in das extra dafür errichtete Monument, in die Mitte des Friedhofs gebracht.
Gemütlich lenkte er sein Boot durch den Fromveur. Sein Ziel lag unweit der Hauptfahrrinne, der Rail d´Ouessant, wie das gut überwachte Seegebiet genannt wurde.
Nach der Strandung des Öltankers, der Amoco Cadiz, waren die Politiker übereingekommen, dass eine solche Katastrophe nicht noch einmal passieren durfte. Auf Ouessant wurde damals ein großer Radarturm errichtet, der die Passage durch den gefährlichen Fromveur überwachte. Mit Hubschraubern und Schiffen patrouillierte die surveillance maritimeseit dem Tag und Nacht, um auf das Einhalten der Route zu achten.
Marc Noret war es gewohnt, sich bei der Überwachungsstelle anzumelden, wenn er den Fromveur durchquerte. Er besaß eine AIS Anlage (Automatic Identification System). Mit dem AIS-System wurde sein Boot identifiziert und schickte wichtige Daten an das System. Damit war er für andere Teilnehmer der Schifffahrt sichtbar und sein Aufenthaltsort bekannt. Die Informationen dienten nicht nur den anderen Schiffen, sondern auch den Landstationen und der Hafenbehörde. Auch die Rettungseinrichtung überblickte die Position der Schiffe und konnte im Bedarfsfall sehen, wer sich in der Nähe eines in Not geratenen Schiffes aufhielt.
Die übermittelten Daten gaben Auskunft über den Schiffsnamen, das internationale Funkrufzeichen, den Schiffstyp und die Abmessungen des jeweiligen Schiffes, sowie die Angaben über seinen Tiefgang und den Zielhafen. Marc Noret fühlte sich sicherer, seitdem er die Anlage installiert hatte. Jetzt konnte die Überwachung sofort sehen, wenn sich sein Boot in Schwierigkeiten befand. Natürlich musste er das System dazu einschalten, ansonsten funktionierte es nicht.
Jetzt hatte er beinahe die Stelle erreicht, an der er seinen Anker für den heutigen Fischfang werfen wollte. Er hielt sich mit seinem Boot außerhalb der Rail d´Ouessant auf, so dass er kein Hindernis für die Schifffahrt darstellte.
Marc Noret holte seine Angeln und präparierte sie. Dann warf er sie aus und steckte sie in die Halterung am Heck seines Bootes. Jetzt brauchte er nur Geduld. Schon nach wenigen Minuten hatte der erste Fisch angebissen. Der Tag begann erfolgreich.
Nach drei Stunden reichte ihm der Fang, und Marc Noret begann mit den Vorbereitungen für die Rückfahrt. Am Horizont tauchte ein großes Containerschiff auf und näherte sich seinem Standort. Marc war zwar etwas irritiert, normalerweise fuhren die Schiffe gut zwei Seemeilen weiter östlich, aber er machte sich keine weiteren Gedanken darüber. Er wollte abwarten, bis das Schiff an ihm vorbeigefahren war. Erst anschließend würde er die Fromveur-Strömung wieder queren.
Das Schiff kam schnell näher und Marc Noret erkannte, dass es in einem Abstand von vielleicht 500 bis 600 Metern an seinem Boot vorbeifahren würde. Plötzlich hatte er den Eindruck, es würden Pakete ins Meer geworfen. Marc ging ins Führerhaus und holte sein Fernglas. Es gab keinen Zweifel, vom Deck des Containerschiffes wurden Pakete ins Meer geworfen. Zuerst dachte Marc an Abfall, den das Schiff hier entsorgte. Dann aber tauchte eine Yacht auf, die sich dem Schiff mit hoher Geschwindigkeit näherte und mit einem Netz, das an einer langen Stange befestigt war, die einzelnen Pakete aus dem Wasser zog.
„Was zum Teufel geht hier vor?“, fragte sich Marc. Er holte den Anker ein und startete den Motor. Das Boot setzte sich langsam in Bewegung. Er riss das Ruder herum, das Boot drehte zur Yacht. Als er nur noch gute 100 Meter von der Yacht entfernt war, versuchte er sie per Funk zu kontaktieren. Aber die Männer auf der Yacht reagierten nicht. Marc Noret drehte bei und stoppte den Motor. Es schien, als hätten die Männer alle Pakete an Bord geholt. Marc konnte nicht sehen, um welchen Inhalt es sich bei den Paketen handelte. Er erkannte nur, dass sie alle gut verschnürt und mit Ölpapier umwickelt waren, so wie das Paket, das er vor einigen Monaten im Wasser gefunden hatte, und das noch immer ungeöffnet in einem Schrank in seinem Haus lag. Ein kurzer Blick zum Containerschiff zeigte ihm, dass es wieder Fahrt auf die Fahrrinne genommen hatte. Marc notierte sich den Namen des Schiffes in seinem kleinen Logbuch, das er aus alter Tradition immer noch führte.
Als er wieder aus dem Führerhaus herauskam und zur Yacht hinübersah, erkannte er zuerst nur, dass die Yacht seinem Boot deutlich näher gekommen war, danach sah er ein kurzes Aufblitzen, bevor eine Kugel die Bordwand genau unter seinem Standort traf.
„Sind die verrückt geworden?“ Marc kam nicht mehr dazu, weiter darüber nachzudenken. Ein zweiter Schuss traf ihn genau ins Herz. Er sackte zusammen und fiel auf die Wanne, in der der Fang vom Tag lag. Das Wasser schwappte heraus, und die Fische verteilten sich über die Planken des Bootes.
Die Yacht näherte sich dem Boot von Noret und ein Mann sprang auf das Fischerboot. Er ging zur Leiche von Noret und fühlte nach seinem Puls. Als er sich vergewissert hatte, dass Noret tot war, verließ er das Fischerboot sofort wieder.
Die Yacht drehte ab, und nach wenigen Minuten war sie auch schon aus der Umgebung des Fischerbootes verschwunden, das jetzt in Richtung des Kanals trieb, angezogen von den Ausläufern der Fromveur-Strömung.
Es dauerte nur eine halbe Stunde und die surveillance maritime meldete sich.
„L´Ormica, bitte melden, L´Ormica, Ihr Boot bewegt sich im Kreis. Hören Sie, bitte melden.“
Marc Noret konnte sich nicht mehr melden, jetzt half ihm nicht einmal mehr das AIS-System. Die Überwachungsstelle versuchte es noch einige Male, dann wurde ein Schiff der surveillance maritimeaufs Meer hinaus geschickt, um die drohende Gefahr durch das führerlos gewordene Boot von Noret für die Schiffspassage durch den Kanal abzuwenden.
Eine Vedettes côtières von der surveillance maritime, die Aber-Wrach, wurde losgeschickt, um nachzusehen, was mit der l´Ormica passiert war. Es waren schnelle Schiffe, die alle der Gendarmerie maritime unterstanden. Es dauerte nicht lange, und das Schiff erreichte die l´Ormica. Schnell war klar, dass hier ein Gewaltverbrechen vorlag. Die Gendarmerie maritime nahm Fotos des toten Marc Noret auf, um möglichst alles zu sichern. Sie versuchte, möglichst keine Spuren zu zerstören und blieb nur so lange wie unbedingt nötig an Bord. Dann nahm sie die l´Ormica ins Schlepptau und brachte sie in die Bucht von Lampaul, informierte die police judiciaire in Brest und übergab den Fall.
Ewen Kerber, Paul Chevrier und Dustin Goarant gingen die Protokolle gemeinsam durch. Sie hatten nun einen ersten Eindruck von den Geschehnissen an Bord des kleinen Fischerbootes. Jetzt wollten sie zur Gendarmerie von Ouessant gehen und das weitere Vorgehen dort besprechen.
Von ihrem Hotel, Le Fromveur, bis zur Gendarmerie waren es nur wenige Schritte. In dem kleinen Gendarmerieposten erwartete man die Kommissare bereits. Ewen begrüßte den jungen Jean-Paul Berthelé und stellte sich André Leriche, der die Leitung des Postens innehatte, vor.
„Monsieur Leriche, wir würden gerne mit dem Boot von Monsieur Marc Noret beginnen. Monsieur Goarant soll alle Spuren sichern und soweit wie möglich auch direkt auswerten.“
„Monsieur le commissaire, das dürfte kein Problem sein. Wir haben das Boot nicht betreten, nachdem die surveillance maritime es in den Hafen von Lampaul geschleppt hat. Ich kümmere mich darum, dass Sie mit einem Boot aufs Schiff gebracht werden.“
Ewen war nicht begeistert, mit einem Boot die Strecke zurückzulegen, aber es blieb ihm keine andere Wahl. Wegen der relativ hohen Gezeitenunterschiede, musste das Fischerboot ein gutes Stück von der Mole entfernt liegen bleiben. Ansonsten wäre es auf dem Trockenen gelandet und vielleicht gekentert.
Es war kein großes Unterfangen, mit dem Ruderboot auf das Fischerboot von Noret zu gelangen. Etwas schwieriger, gestaltete sich das Umsteigen auf das deutlich größere Boot des Fischers.
Ewen war wieder einmal nicht passend ausgerüstet. Seine Gummistiefel, die er am Strand gut hätte gebrauchen können, lagen im Kofferraum seines Dienstfahrzeugs. Er trug die üblichen Lederschuhe. Genau das Richtige für die Küste!
Paul war etwas besser ausgerüstet. Er hatte sich nicht nur Gummistiefel eingepackt, sondern auch Turnschuhe und Wanderstiefel.
„Man kann ja nicht wissen, wohin man auf einer Insel gehen muss“, waren seine Worte gewesen, als er mit Dustin vor ihrem Flug gesprochen hatte. Dustin Goarant war Pauls Rat gefolgt und hatte sich ähnliches Schuhwerk mitgenommen. So war Ewen der einzige, der sich jetzt mit Lederschuhen herumquälen musste.
Auf dem Boot, begann Dustin sofort mit seinen Untersuchungen. Schon auf der Fahrt zum Fischerboot war ihm der Einschuss in der Bordwand aufgefallen. Er nahm sich diesen zuerst vor. Es war ein glatter Durchschuss. Die Kugel hatte das Holz durchschlagen, und war auf der Innenseite wieder ausgetreten.
„Seht euch das an! Ein Schuss hat die Planke durchschlagen, und ist wieder ausgetreten. Das kann keine normale Munition gewesen sein. Die Planken sind ganz schön dick.“
Dustin zeigte auf die oberste Planke und deutete mit seinen Fingern die Holzstärke an.
„Ich schätze, dass es sich um eine 7,62 mm Patrone handelt, was mich allerdings erstaunt.“
„Warum erstaunt dich das?“, fragte Ewen seinen Freund.
„Weil es sich dabei um ehemalige NATO-Munition handelt. Das könnte bedeuten, dass der Schütze ein Gewehr aus den Beständen der Armee benutzt hat.“
„Wie kommst du auf diesen Verdacht?“
„Sieh dir doch nur dieses Loch an. Das Projektil hat die Planke durchschlagen, als wäre sie aus Papier. Die früher eingesetzte 7,62 mm Patrone der NATO kann das sicher. Ihr größter Nachteil ist der enorme Rückstoß gewesen. Jedoch durchschlägt sie spielend einen mittelgroßen Stamm und penetriert dann noch den Körperschutz eines dahinterliegenden Soldaten. Körperdurchschüsse sind mit der Patrone keine Seltenheit. Soviel ich weiß, wird sie jetzt nur noch bei Maschinengewehren und von Scharfschützen verwendet. Bestimmt hast du den Film Sniper gesehen? Der Scharfschütze in dem Film hat solche Patronen benutzt.“
„Den Film kenne ich nicht, aber ich glaube dir alles, du kennst dich mit Waffen aus. Dann müsste das Projektil noch irgendwo auf dem Boot zu finden sein. Ich sehe kein weiteres Loch in den Planken auf der anderen Bootsseite.“
„Stimmt, das Projektil muss hier irgendwo liegen.“
„Hat man das Projektil gefunden, das Marc Noret getötet hat?“, Die Frage war an den Gendarmen, der sie begleitet hatte und auf Dustins Wunsch im Ruderboot geblieben war, gerichtet. Dustin wollte vermeiden, dass sich zu viele Personen am Tatort aufhielten, die eventuell die Spuren zerstören konnten.
„Nein Monsieur le commissaire, jetzt, da Sie danach fragen, fällt es mir auch auf, dass wir von keinem Projektil gelesen oder gehört haben. Der Pathologe in Brest hat in seinem Bericht nichts erwähnt.“
„Dann müssen wir nach zwei Projektilen Ausschau halten.“
Ewen richtete die Worte an Dustin und sah sich dabei schon um.
Bevor Dustin nicht alle Spuren gesichert hatte, wollte Ewen nicht mit der Suche beginnen. Dustin begann mit der Arbeit und suchte nach Fingerabdrücken, DNA oder kleinsten Faserspuren. Der übliche Vorgang. Erst danach, wenn Ewen der Meinung war, dass Dustin alles gesichert hatte, kümmerte er sich um die eigentliche Durchsuchung.
„Hast du schon etwas gefunden?“, fragte Ewen seinen Freund.
„Fingerabdrücke gibt es genügend, die sehen beinahe alle identisch aus, es kann sich um die Spuren des Toten handeln.“
Dustin arbeitete sich langsam voran. Als er in dem kleinen Führerhaus des Bootes angekommen war, war sein Vorrat an mitgebrachten Filmstreifen, die er zum Abnehmen der Fingerabdrücke brauchte, schon deutlich reduziert.
„Können wir uns auf Deck bereits umsehen, oder bist du noch nicht soweit?“, fragte Paul den Kollegen.
„Das Deck ist okay, ich sehe mich jetzt hier drinnen um“, antwortete Dustin. Dabei unterbrach er die Arbeit mit seinem Superpinsel nicht.
Dustin nahm seinen feinen Pinsel und verteilte das Kontrastpulver. Früher nutzte er hierzu einen Fehhaar- oder auch einen Marabu-Pinsel. Seit einigen Jahren kam ein Zephyr-Pinsel aus feinsten Glasfasern zum Einsatz. Die mehr als 1.000 Fiber-Bündel, mit den jeweils über 100 einzelnen Glasfasern, konnten eine ausreichende Pulvermenge aufnehmen und festhalten. Auch die Lebensdauer war beträchtlich länger, als bei den früheren Materialien. Immer wieder begeisterte ihn der große Vorteil, dass die Faserenden durch den Gebrauch zunehmend weicher wurden. Er benahm sich beinahe wie ein Kind, das sich über ein Spielzeug freute. Ewen sah Dustin manchmal zu, wie er geschickt mit dem Pinsel hantierte.
Ewen und Paul begannen mit der Untersuchung an Deck des kleinen Fischkutters. In der Mitte des Decks lagen zahlreiche Seile übereinander. Darüber lagen kleinere Netze in verschiedenen Farben. Netze von hellgrün über dunkelblau bis zu einem zarten rosa. Neben der Reling lagen drei Angeln auf dem Deck. Ewen suchte in dem Knäuel aus Stricken und Netzen nach dem Projektil. Wenn er sich die Schussbahn vor Augen führte, die das Projektil genommen haben musste, das die Planke durchschlagen hatte, dann musste es in dem Sammelsurium von Netzen und Seilen gelandet sein. Vorsichtig versuchte er, das riesige Knäuel zu entwirren und die Netze von den Seilen zu trennen. Ewen wunderte sich, wie einfach sich das gestaltete. Er hatte angenommen, dass alles nur wild durcheinander geworfen worden war. Jetzt erkannte er, dass Marc Noret mit seiner Ausrüstung sehr sorgsam umgegangen war. Was zuerst wie ein riesiges Knäuel ausgesehen hatte, war in Wirklichkeit eine sehr sorgfältige Stapelung seiner Netze. Unter den Netzen lagen, ebenfalls sorgfältig und kreisförmig aufgewickelt, seine Taue. Zwischen den Netzen hatte Ewen kein Projektil gefunden, was ihn nicht weiter verwunderte, nachdem Dustin ihm von der Durchschlagskraft erzählt hatte. Er sah sich die dicken Taue an. Teilweise hatten sie den Umfang eines kräftigen Männerarmes. Hier wurde er fündig. Das Projektil hatte die ersten vier Windungen durchschlagen und steckte fast in der Mitte einer Schnecke des aufgerollten Taus.
„Dustin, ich habe das Projektil gefunden, möchtest du es selbst entfernen?“
„Komme sofort, ich bin hier gleich fertig. Ich habe hier so etwas wie ein Logbuch gefunden. Der letzte Eintrag heißt Lan Shanghai, der Name eines Schiffes.“
Ewen zuckte bei dem Namen zusammen. Der kam ihm bekannt vor. Er wollte später darüber nachdenken.
Paul hatte sich den Bug des Bootes vorgenommen, und Ausschau nach dort vorhandenen Spuren gehalten. Er hatte dort aber keine weiteren verwertbaren Spuren gefunden.
Dustin entfernte das Projektil mit einer Pinzette aus dem Tau und legte es in einen Plastikbeutel. Die genauere Untersuchung musste er in Quimper vornehmen, auf der Insel gab es keine Möglichkeit dazu.
„Wo ist der Fischer von dem Schuss getroffen worden?“, fragte Ewen den Gendarm auf dem Ruderboot.
„Ziemlich genau in der Herzgegend“, antwortete der Mann.
„Wo ist dann das zweite Projektil?“ Ewen sah sich um.
Dustin stellte sich neben Ewen und zeigte auf seiner Brust die angenommene Einschussstelle.
„Ich vermute, dass das Projektil irgendwo auf dem Grund des Meeres liegt. Das Projektil hat den Körper von Noret durchschlagen und ist dann auf der anderen Seite ins Meer gefallen.“
„Dann haben wir ja Glück, dass der erste Schuss durch die Planke gegangen ist, und sich im Tau verfangen hat. Sonst hätten wir keinerlei Spur der benutzten Waffe.“
„Das ist sicher richtig“, meinte Dustin und packte seine Utensilien zusammen.
„Ich bin hier fertig“, meinte er dann und sah seine Kollegen an.
„Wir können Schluss machen, ich glaube nicht, dass wir hier noch etwas finden“, sagte Ewen zu seinen beiden Kollegen und machte sich auf den Rückweg, um das Boot wieder zu verlassen und auf das Ruderboot zu klettern. Er ließ enorme Vorsicht walten in seinen Lederschuhen. Er musste dringend ein paar andere Schuhe kaufen.
Nach wenigen Minuten hatten sie den Hafen von Lampaul wieder erreicht. Sie bedankten sich bei dem Gendarmen der sie begleitet hatte und machten sich auf den Weg ins Hotel Le Fromveur. Der Tag neigte sich dem Ende entgegen. Ewens Magen begann laut und vernehmbar zu knurren. Seit dem Frühstück hatte Ewen nichts mehr gegessen.
Die wenigen Schritte vom Hafen zu ihrem Hotel waren schnell zurückgelegt. Tanguy Kerlann erwartete seine Gäste bereits.
„Wie wäre es mit einem Aperitif für die Herren?“, fragte er gutgelaunt.
„Da sagen wir aber ganz bestimmt nicht nein“, meinte Ewen.
„Ich bringe nur noch meinen Koffer nach oben, dann bin ich sofort wieder da.“ Dustin zeigte auf seinen großen Alu-Koffer, mit all seinen Utensilien für die Spurensuche.
„Einen Rosé für Monsieur le commissaire?“ Kerlann grinste und hielt die leicht angelaufene Flasche hoch.
„Ich habe es bereits bei der Ankunft gesagt, selbstverständlich ein Glas Rosé für mich.“
Paul brauchte nicht lange zu überlegen, er entschied sich ebenfalls für ein Glas von dem gut gekühlten Wein. Als Dustin in den Wirtsraum trat, rief er schon von der Tür aus, „einen Campari“ für mich.
„Mit Wasser oder Orangensaft?“, fragte Tanguy Kerlann.
„Pur, immer nur pur“, antwortete Dustin.
Sie saßen um den kleinen Tisch am Fenster. Auf der Terrasse, vor dem Fenster, standen drei Tische, die die Inselbewohner besetzt hatten. Junge Leute, die von der Arbeit auf einen Aperitif vorbeigekommen waren, bevor sie sich auf den Heimweg machten. Beständig fuhren Fahrräder oder Autos am Hotel vorbei, das an der Hauptstraße des Ortes lag.
„Man könnte meinen in einer Großstadt zu sein!“ Dustin sah seine Kollegen an. Er war beeindruckt von dem regen Verkehr. Tanguy Kerlann war an ihren Tisch getreten, um den Campari zu bringen, und hatte die letzten Worte von Dustin mitbekommen.
„Davon sind wir aber noch weit entfernt. Auf der ganzen Insel gibt es nur 500 Autos.“
„Die scheinen aber ständig unterwegs zu sein“, meinte Dustin und lachte.
„Das Benzin gehört doch bestimmt zu den teuersten Produkten auf der Insel?“
„Nun ja, es ist schon deutlich teurer als auf dem Festland. Es kostet ungefähr 30 Centime mehr pro Liter, es muss eben auf die Insel gebracht werden. Aber das gleicht sich wieder aus.“
„Wieso gleicht sich das aus?“ Dustin verstand die Aussage nicht.
„Ganz einfach, wir können nicht viel fahren. Die Insel ist ja nur ganze sieben Kilometer lang. Selbst die Navettes, wie die Taxis bei uns heißen, tanken höchstens einmal in zwei Monaten.“
„Ach, Monsieur Kerlann, bevor ich es vergesse. Ich brauche dringend andere Schuhe.“ Ewen zeigte auf seine Lederschuhe. „Ich habe vergessen, mir inseltaugliche Schuhe mitzunehmen. Wo kann ich die am besten bekommen?“
„Morgen um 17 Uhr legt die Fromveur ab, mit der können Sie nach Brest fahren.“
Ewen sah Monsieur Kerlann zuerst leicht verdutzt an, dann erinnerte er sich wieder an seinen Aufenthalt mit Carla. Auf Ouessant gab es keinerlei Schuh- oder Kleidergeschäfte. Für alles mussten die Insulaner mit dem Schiff aufs Festland fahren.
„Dann werde ich wohl vorerst mit diesen Schuhen vorlieb nehmen müssen.“
„Du kannst doch morgen vielleicht mit dem Hubschrauber mitfliegen und dir ein paar Schuhe von zuhause holen. Ich muss meine ganze Sammlung an Fingerabdrücken und das Projektil ins Labor bringen, da muss der Hubschrauber sowieso herkommen. Nourilly wird zwar nicht begeistert sein, wenn wir den Hubschrauber so oft einsetzen, aber schließlich hat er uns gebeten, hier auszuhelfen.“ Dustin sah Ewen an, als wollte er ihm sagen: Das ist doch eine gute Idee, nicht wahr?
Ewen nickte, prostete seinen Kollegen zu und nahm einen Schluck des kühlen Rosé.
Nach dem gemeinsamen Aperitif gingen sie ins Restaurant. Auch hier erhielten sie einen Tisch am Fenster. Der Garçon brachte ihnen die Speisekarte und ließ ihnen Zeit für ein gründliches Studium derselben.
„Ewen, du hast doch Erfahrung mit dem Restaurant, was kannst du mir empfehlen?“ Paul sah seinen Kollegen an.
„Paul, mir hat hier alles gut geschmeckt. Ich werde mich heute für ein Menu entscheiden. Ich nehme das Enez Eusa.
Enez Eusa war der bretonische Name der Insel. Enez bedeutete Insel und Eusa Ouessant.
Die Kollegen sahen auf Ewens gewähltes Menu.
„Ewen, hier steht, dass der Preis des Menus, inclusive einer Vorspeise, bei 19 oder mit zwei bei 29 Euro liegt. Es sind nur drei Vorspeisen aufgelistet. Kann ich mir von den dreien zwei wählen?“ Dustin sah Ewen gespannt an.
„Genau so funktioniert es. Ich habe bei unserem Besuch auch gemeint, dass eine Vorspeise von der Küche bereits fest vorgesehen ist.“
„Ich schließe mich dir an. Dann kann ich Austern und Coquilles Saint-Jacques gleichzeitig bestellen?“
„Hört sich doch gut an“, pflichtete Paul Dustin bei. Ich bin auch dabei.“
Damit war es klar, alle drei bestellten das Menu Enez Eusa. Ewen blieb bei einer Vorspeise und bestellte die Coquilles Saint-Jacques à la bretonne, bei Paul und Dustin kam eine Assiette von 6 huîtres creuses dazu.
Paul und Dustin nahmen als Hauptspeise etwas Fleisch, sie entschieden sich für einen Fromveur Burger, während Ewen beim Fisch blieb und ein Filet de lieu jaune wählte. Das Dessert war ebenfalls schnell ausgesucht. Nachdem Ewen ihnen von dem Milchreis erzählt hatte, den es so nur hier auf der Insel gab, bestellten alle einen Riz au lait cuit sous les mottes de Tourbe.
Ewen hatte seinen Kollegen die Besonderheit dieses Milchreises erklärt. Ein Milchreis, der unter den nur auf Ouessant so vorkommenden Grassoden gegart wurde. Dafür benötigte man einen speziellen Ofen, den jede Familie auf Ouessant besaß.
Es brauchte keine Erwähnung, ob ihnen das Essen geschmeckt hatte, nachdem sie die Teller restlos geleert hatten.
Die Flasche Wein, die sie zum Essen bestellt hatten, war noch nicht leergetrunken, so dass die Gläser noch einmal gefüllt werden konnten. Jetzt war eine gute Gelegenheit, um den Tag revue passieren zu lassen und die ersten Ergebnisse zusammenzutragen.
„Wenn ich das richtig sehe, ist der Fischer, Marc Noret, auf dem Meer ohne ersichtlichen Grund erschossen worden. Ich habe nicht den Eindruck, dass von dem Boot etwas gestohlen worden ist. Sein Fang ist noch in den Kisten gewesen.“
„Was sehr gut zu riechen gewesen ist!“, ergänzte Dustin Ewens Ausführung.
„Stimmt“, meinte Paul. „Aber warum erschießt man einen Fischer? Der Mann ist mit einem Scharfschützengewehr erschossen worden.“
„Der Schütze hat zwei Schuss gebraucht. Vielleicht hat er beim ersten Schuss die Waffe verrissen, eventuell wegen einer abrupten Bewegung des Schiffes. Der zweite Schuss, nur wenige Sekunden nach dem ersten, ist tödlich gewesen. Noret ist keine Zeit geblieben, sich noch wegzuducken. Aber zurück zu der Frage nach dem Warum.“
„Nun, wenn nichts gestohlen worden ist, dann könnte es sein, dass der Mann etwas gesehen hat, was er nicht hätte sehen sollen.“ Paul sah die Kollegen fragend an.
„Könnte sein“, meinte Ewen, „aber was kann das gewesen sein?“
„Das herauszufinden wird eure Arbeit werden“, meinte Dustin und lehnte sich gemütlich zurück.
„Meine Arbeit habe ich schon beinahe vollständig erledigt.“
„Aber nur, wenn nichts mehr dazukommt“, ergänzte Ewen Dustins Bemerkung.
„Aber wie können wir Näheres herausfinden?“, fragte Paul.
„Was haltet ihr davon, wenn wir erst einmal überprüfen, welche Schiffe sich zum Zeitpunkt der Erschießung des Fischers in seiner unmittelbaren Nähe aufgehalten haben?“, meinte Dustin.
„Sehr gute Idee, aber wie sollen wir das jetzt noch feststellen?“ Ewen sah Dustin und Paul an.
„Vielleicht kann euch ein kleiner Mann aus der Spurensicherung behilflich sein. Ich kenne mich ein wenig mit der Schifffahrt aus. Also, es gibt, zur Überwachung und zur Rettung bei einem Schiffsunfall, das sogenannte AIS-System. Das ist ein automatisches Identifikations System. Fast alle Boote und Schiffe sind damit ausgerüstet. Auch das Fischerboot von Noret hat über dieses System verfügt, ich habe es gesehen, als wir auf dem Boot gewesen sind. Damit sendet jedes Boot oder Schiff ständig seine aktuelle Position, seine Reisegeschwindigkeit, seinen Zielhafen und vieles mehr an die Erfassungsstelle. Diese Daten werden gespeichert, und damit ist es dann möglich, die genaue Position zu einem gegebenen Zeitpunkt abzulesen.“
„Das hört sich gut an Dustin. Läuft das AIS im Hintergrund ständig automatisch ab?“
„Ja Ewen, sobald es eingeschaltet ist, arbeitet es.“
Das bedeutet, dass ich das System ausschalten kann, wenn ich nicht möchte, dass jemand meine Position kennt?"
„Das ist richtig, aber wer will schon darauf verzichten, dass man ihm im Bedarfsfall zu Hilfe kommen kann?“
„Wenn ich etwas verbergen möchte, dann kann ich mir das durchaus vorstellen. Trotzdem sollten wir uns die Daten besorgen. Dustin, machst du das, du kennst dich damit aus, hast du gerade gesagt.“
„Wird morgen in der Frühe als erstes gemacht.“
„Gut, aber noch einmal die Frage, um was könnte es sich handeln, das auf hoher See nicht gesehen werden darf?“
„Es könnte sich natürlich um Schmuggelgut handeln, das von einem Schiff auf ein anderes verladen worden ist.“
„Wäre eine Möglichkeit Paul, es könnte sich um Rauschgift handeln, das von einem Schiff aus dem fernen Osten über Bord geworfen worden ist, damit es von einem anderen Boot aus dem Meer gefischt werden kann. Der Logbucheintrag, den Dustin gesehen hat, hat den Namen Lan Shanghaigehabt. Vielleicht ist das Schiff darin verwickelt.“
„Rauschgift wäre ein Grund, um einen Mitwisser zu beseitigen. Auch auf dem Festland ist die Mafia nicht sehr zimperlich, wenn es darum geht, einen Augenzeugen aus dem Weg zu schaffen.“
Dustin hatte sich inzwischen schon ganz in die Rolle eines Ermittlers hineingedacht.
„Gut, wir beginnen morgen Früh mit der Ermittlung der Boote und Schiffe in der Umgebung des Fischerbootes von Noret. Danach entscheiden wir den weiteren Fortgang.“
Die drei Kollegen genossen noch ihren Rotwein und zogen sich dann auf ihre Zimmer zurück.
Ewen ließ sich den Schlüssel von Zimmer 10 geben und ging nach oben. Er wollte unbedingt noch Carla anrufen, auch wenn es bereits etwas später am Abend war.
„Hoffentlich habe ich dich nicht geweckt!“, meinte Ewen, als Carla den Hörer abnahm.
„Nein, hast du nicht. Ich sehe mir gerade noch einen Bericht über Ouessant an. Du kennst doch bestimmt die Sendung - des Racines & des Ailes, die von Zeit zu Zeit auf France 3 läuft. Heute haben sie einen Bericht über die Nordküste der Bretagne gebracht, speziell von Ouessant. Sie haben einen Herrn gezeigt, der aus Algen Extrakte herstellt, die dann von diversen Firmen weiterverarbeitet werden. Daraus macht man Kosmetika und vieles mehr. Es ist sehr interessant gewesen. Als wir auf der Insel gewesen sind, haben wir nichts von dem Mann gehört.“
„Interessant, ich werde Kerlann danach fragen. Carla, ich habe in der Eile vergessen, mir vernünftige Schuhe einzupacken. Ich komme mit dem nächsten Hubschrauber zurück. Ich will mir dann ein oder zwei Paar Schuhe mitnehmen. Bist du bitte so nett, mir die Schuhe herauszustellen. Vielleicht auch die Gummistiefel.“
„Das kann ich gerne machen, aber du weißt ja auch wo sie stehen.“
„Ich muss sie immer suchen, ich weiß doch nicht wo sie stehen.“
„Gib zu Ewen, ich habe dich zu sehr verwöhnt. Du musst wieder etwas selbstständiger werden im Haushalt.“
„Das ist nicht nötig Carla, es ist alles gut so. Vermisst du mich wenigstens etwas?“
„Ach Ewen, ich bin noch nicht dazugekommen darüber nachzudenken. An manchen Abenden bist du um diese Zeit auch nicht aus dem Büro zurück.“
Ewen hätte ein deutliches und klares Ja lieber vernommen.
„Ach so, nun, dann kann ich ja auch etwas länger auf Ouessant bleiben.“
„Sei nicht beleidigt, mein Liebling. Natürlich freue ich mich, wenn du wieder hier bist.“
Damit war das Thema jetzt erst einmal beendet. Ewen legte auf und dachte noch ein wenig über den Fall nach. Dann legte er sich ins Bett und schlief sofort ein.
Dustin hatte den Hubschrauber für neun Uhr bestellt. Er und Ewen waren von den Kollegen der Gendarmerie zum Landeplatz gebracht worden. Ewen besprach mit dem Piloten schon während des Hinfluges den Rückflug. Der sollte drei Stunden später stattfinden.
Mit Nourilly konnten sie nach der Landung nicht sofort sprechen. Er war wie gewöhnlich um halb zehn Uhr in einer Besprechung mit dem Präfekten. Ewen versuchte Nourilly zu sprechen, nachdem er seine Schuhe und noch ein paar Kleinigkeiten aus seiner Wohnung geholt hatte. Er wollte mit ihm klären, wie sie den Hubschrauber nutzen konnten. Sie brauchten ihn bestimmt noch viele Male. Bei jeder neuentdeckten Spur musste Dustin vor Ort sein. Es würde ein Hin und Her werden und die Flugkosten deutlich nach oben treiben. Das Gespräch würde schwierig werden, denn sein Chef pochte beständig auf die Einhaltung eines möglichst niedrigen Kostenlimits.
Ewen betrat das Büro von Nolwenn Meunier, Nourillys Sekretärin. Eine bildschöne Frau, stellte er bei ihrem Anblick jedes Mal erneut fest.
„Bonjour Nolwenn, ist der Chef zu sprechen?“
„Klar, Monsieur le commissaire, er hat keinen Besuch, der Präfekt ist bereits gegangen.“
Ewen klopfte an die Tür und trat ein.
„Bonjour, lieber Kerber, was führt Sie zu mir?“
„Bonjour, Monsieur Nourilly, ich möchte mit Ihnen über den jüngsten Fall auf Ouessant sprechen. Wir werden bei der Aufklärung des Verbrechens häufig den Hubschrauber benötigen. Ich weiß, dass Sie ein strenges Auge auf die Kosten haben, deshalb will ich mich vergewissern, dass der häufige Einsatz mit Ihrer Zustimmung erfolgt.“
„Mein lieber Monsieur Kerber, wir sind doch auf Bitten der Kollegen aus Brest dort. Damit können wir diese Kosten dem Kommissariat von Brest in Rechnung stellen. Das habe ich schon längst geklärt. Setzen Sie den Hubschrauber ein, so oft Sie ihn brauchen.“
Eine seltsame Form von Großzügigkeit, Nourilly interessierten die Kosten scheinbar nur, wenn sie sein Kommissariat betrafen.
„Dann bedanke ich mich bei Ihnen. Das ist auch schon alles.“ Ewen wollte sich bereits zur Tür drehen und das Büro verlassen.
„Monsieur Kerber, wie geht es denn voran? Berichten Sie mir doch noch, bevor Sie wieder verschwinden. Haben wir schon erste Ergebnisse?“
„Nein, Monsieur Nourilly, wir haben doch erst gestern, und das erst am späten Nachmittag, begonnen. Heute Morgen haben wir noch nicht weiter ermitteln können. Wir haben die ersten Fingerabdrücke und ein gefundenes Projektil ins Labor gebracht. Ich habe die Gelegenheit genutzt, um mir noch einige Kleidungsstücke für die kommenden Tage auf der Insel zu holen.“
Ewen wollte die Details zu seinen Lederschuhen auf Ouessant nicht weiter ausführen.
„Ich habe vergessen, dass Sie erst so kurz an dem Fall sind. Also, weiterhin viel Erfolg. Ich wäre natürlich froh, wenn wir den Fall schnell abschließen könnten. Damit würden Sie unser Kommissariat in ein gutes Licht setzen.“
„Wir werden unser Bestes geben, Monsieur Nourilly.“
Ewen verabschiedete sich von seinem Chef und machte sich wieder auf den Weg zum Flughafen.
Dustin wollte die gefundenen Fingerabdrücke und das Projektil sofort unter die Lupe nehmen und nach Übereinstimmungen in der Datenbank suchen. Er fuhr nicht gleich wieder auf die Insel zurück. Damit Ewen nicht ständig die Kollegen auf Ouessant bitten musste, ihn vom Landeplatz des Hubschraubers abzuholen, bat er den Piloten, ihn auf dem kleinen Strand, dem Plage de Corz, abzusetzen. Von dort konnte er die 200 Meter bis zum Hotel zu Fuß zurücklegen. Der Pilot war einverstanden, falls der Strand nicht zu bevölkert war. Von seinem ersten Aufenthalt auf der Insel hatte Ewen in Erinnerung, dass nur wenige Menschen den Strand besuchten. Die Bewohner und Besucher der Insel bevorzugten den kleinen Strand im Norden der Insel, den Plage de Yuzin.
Beim Anflug auf die Insel sah der Pilot, dass es heute tatsächlich kein Problem gab, dort zu landen. Als der Hubschrauber sich absenkte und dem Strand näher kam, erkannten sie zahlreiche Kinder, die der Landung des Hubschraubers zusahen. Die Landung war für sie das Ereignis des Tages. Ewen verabschiedete sich von dem Piloten, der inzwischen informiert war, dass er die Insel in den nächsten Tagen regelmäßig anfliegen musste. Der erneute Start des Hubschraubers beendete das Schauspiel für die Kinder, die dem Piloten eifrig nachwinkten.
Der Pilot sah sich auf dem Rückflug die Insel von oben an und stellte fest, dass es auf der Insel keine Bäume gab, was für den Einsatz eines Hubschraubers vorteilhaft war. Die Verfolgung eines Flüchtigen oder die Überwachung einer Region war hier deutlich einfacher als auf dem Festland, wo es genügte, sich zwischen einige Bäume zu stellen, um von oben nicht mehr gesehen werden zu können. Die Insel, in Form einer Krabbe, war ein herrlicher Anblick von hier oben. Deutlich, war an der wesentlich stärker zerklüfteten Westküste, die vorherrschende Windrichtung zu erkennen. Wie Nadeln stachen die Reste der ehemals mächtigen Granitblöcke in die Höhe. So eine bizarre Küstenlinie gab es in der Bretagne sonst nirgends. Dieser zerklüftete und von Wind und Wetter geformte Küstenabschnitt, in unmittelbarer Nähe zum Leuchtturm Phare du Creac´h, der, gemäß der Farben der bretonischen Flagge, in schwarzen und weißen horizontal verlaufenden Bändern angestrichen war, war ein einmaliger und sehenswerter Anblick.
Während der Hubschrauber sich bereits auf dem Heimflug befand, ging Ewen die wenigen Schritte bis zu seinem Hotel, stellte die mitgebrachte Tasche in sein Zimmer, zog bequeme Schuhe an, die auch für längere Fußmärsche geeignet waren, und machte sich auf den Weg zur Gendarmerie. Er vermutete seinen Kollegen Paul dort.
Paul saß am Tisch neben André Leriche, beide waren über eine Seekarte gebeugt.
„Hallo Ewen, wieder zurück von deinem Heimaturlaub?“ Paul lachte.
„Wir haben vorhin einen Anruf vom service maritime erhalten. Dustin hat bereits am Morgen mit dem Dienst telefoniert und die Leute um einige Auskünfte gebeten. Jetzt hat man uns von dort die Koordinaten einiger Schiffe übermittelt, die sich zu dem Zeitpunkt in unmittelbarer Umgebung von Norets Fischerboot aufgehalten haben. Ich habe gar nicht gewusst, dass so viele Schiffe an Ouessant vorbeifahren. André hat mir gerade gesagt, dass in jedem Jahr an die 60 000 Schiffe die Rail d´Ouessantbenutzen. Das sind 165 Schiffe pro Tag. Eine erstaunliche Menge.“
„Ganz schön viel! Das sehe ich genauso, Paul. Was habt ihr inzwischen sonst noch herausgefunden?“
„Nun, wir haben die Koordinaten von sieben größeren Schiffen und von drei kleineren in die Karte eingetragen. Zum Zeitpunkt des Todes von Marc Noret ist ein großes Containerschiff, die Lan Shanghai, von der normalen Route abgewichen und ziemlich genau an der Stelle vorbeigefahren, an der das Boot von Noret gelegen hat. Marc Noret hat den Namen ja noch in sein Logbuch eingetragen, das wir gestern auf dem Boot gefunden haben. Ein zweites, kleineres Boot ist ebenfalls in der Nähe gewesen, das hat aber sein AIS-System ausgeschaltet gehabt. Daher haben wir weder den Namen des Schiffes, noch seinen Zielort erfahren können. Es ist aber auf dem Radar zu erkennen gewesen. Leider werden die Radardaten nicht gespeichert wie bei einem AIS.“
Ewen erinnerte sich plötzlich genau an das Schiff. Bereits am gestrigen Abend hatte er darüber nachgedacht, woher er den Namen des Schiffes kannte. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Die Lan Shanghai war Bestandteil von Ermittlungen gewesen, bei denen es um die Ermordung eines französischen Geheimagenden, in der Umgebung von Pont-Aven, gegangen war. Der Agent war einem Geldfälscherring auf der Spur gewesen. Er war dabei von den Fälschern ermordet worden. In diesem Zusammenhang spielte damals das Schiff eine Rolle und war in die Ermittlungen einbezogen worden. Auf dem Schiff hatten chinesische Behörden einen Container entdeckt, in dem sich große Mengen Falschgeld befunden hatte. Die blaue Faser eines Netzes führte damals nach Concarneau. Jetzt tauchte der Name des Schiffes erneut auf. Welch ein Zufall, sinnierte Ewen.
„Könnt ihr die zurückgelegten Strecken dieses Containerschiffes weiter verfolgen? Ich würde gerne wissen, woher es gekommen und wohin es gefahren ist.“
„Das dürfte kein Problem sein, wir können die Daten direkt per Computer abrufen.“
Nach wenigen Minuten hatte Paul die gewünschte Information gefunden.
„Das Schiff ist aus Shanghai gekommen, mit einem Zwischenstopp in Mumbai, in Indien.“
„Das heißt, seit Mumbai hat das Schiff nicht mehr angelegt?“
„Stimmt, es ist an der Südküste Frankreichs vorbeigefahren und hat dann Kurs auf Brest und später auf Antwerpen genommen. Dort liegt es zurzeit im Hafen und wird gelöscht.“
„Das heißt, es ist durchaus denkbar, dass vom Containerschiff aus etwas ins Meer geworfen worden ist, das das kleinere Boot aufgenommen hat. Der Fischer Noret hat das beobachtet und ist deswegen ermordet worden.“
„Könnte so gewesen sein. Eine erste Arbeitshypothese ist es allemal.“
Paul hatte Ewens Überlegungen ebenfalls angestellt und war zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen.
„Die Frage ist dann, um was es sich gehandelt hat?“ Ewen dachte seine Hypothese weiter.
„Paul, ich kann mir nur vorstellen, dass es sich um Rauschgift gehandelt haben muss. Ich gehe nicht davon aus, dass wir es jetzt wieder mit Falschgeld zu tun haben. Heroin wäre eine Möglichkeit. Man wirft es vor Ouessant ins Meer, natürlich wasserdicht verpackt, fischt es wieder heraus und transportiert es mit einer Yacht auf die Insel. Von Ouessant aus kann man es dann einfach aufs Festland bringen und von dort aus weiter transportieren. Es gibt so gut wie keine Kontrollen zwischen Ouessant und Brest, wie auch zwischen all den anderen kleineren Häfen an der bretonischen Küste.“
„Gut, aber dann kann es doch auch sofort aufs Festland gebracht werden. Warum wird es über Ouessant transportiert?“
„Das ist schon richtig Paul, aber denk mal weiter nach. Wenn eine Yacht vom Kanal aus direkt nach Brest kommt, ist die Wahrscheinlichkeit einer Zollkontrolle erhöht, da sie von England kommen könnte. Nehmen wir aber an, das Boot fährt in Richtung Ouessant und legt später, von Ouessant kommend, hier an, dann sieht es doch so aus, als hätte es sich nur auf einer Vergnügungsfahrt befunden.“
„Du meinst, man hat die Insel als Alibi benutzt?“
„Daran habe ich gedacht. Ob ich damit richtig liege, muss sich noch zeigen.“
Ewen wandte sich an den Kollegen von der Gendarmerie.
„Monsieur Leriche, können Sie uns sagen, wer hier auf Ouessant eine Yacht oder ein Fischerboot besitzt, mit dem man ein solches Unterfangen mühelos durchführen kann?“
„Ich kann das überprüfen lassen, aber ich glaube, dass es hier etliche Yachtbesitzer gibt, die nicht unbedingt alle hier wohnen müssen. In den Sommermonaten haben wir eine zusätzliche Anzahl Yachten hier im Hafen liegen. Auf der Insel selbst leben wohl nur wenige Einwohner, die das Geld für eine größere Yacht besitzen, und Fischer gibt es nur noch sehr wenige. Ich kümmere mich sofort darum.“
André Leriche machte sich auf den Weg ins Ti Ker, dem Rathaus auf Bretonisch. Er hoffte, dass der Bürgermeister ihm die Frage beantworten konnte.
Paul und Ewen blieben in der Gendarmerie zurück. In der kleinen Gendarmerie von Ouessant, die nur im Sommer besetzt war, hatte Ewen eine Pinnwand angebracht, auf die er jetzt die ersten Erkenntnisse notierte, während sie gespannt auf Dustins Ergebnisse warteten.