Gift in Pont Aven - Jean-Pierre Kermanchec - E-Book

Gift in Pont Aven E-Book

Jean-Pierre Kermanchec

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Beschreibung

Seit Gaugin hat sich die malerische Kleinstadt Pont Aven in der südlichen Bretagne zu einem Mekka für Kunstschaffende entwickelt. Tausende Touristen besuchen den Ort mit seinen zahllosen Galerien jedes Jahr. Vor einigen Monaten traf der russische Maler Ivan Suchowij in Pont Aven ein. Es war sein erwähltes Exil nach seiner Flucht aus Russland. Für seine neue Bilderserie lud er seinen alten Freund Yann Kermat ein. Er sollte Zeuge seines ersten Pinselstriches sein. Getreu seiner Marotte kaute er auf dem Pinselende herum. Dann tauchte er ihn in blutrote Farbe und setzte zum Bild an. Jäh fällt er tot vom Stuhl.

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Seitenzahl: 220

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Epilog

Impressum neobooks

Jean-Pierre Kermanchec

Gift in Pont Aven

Gift in Pont Aven

Jean-Pierre Kermanchec

Alle Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Impressum

© 20** Jean-Pierre Kermanchec

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-****-***-*

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Bibliothèque National du Luxembourg verzeichnet diese Publikation in der luxemburgischen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://bnl.public.lu abrufbar.

Prolog

Ivan Suchowij setzte sich vor die Staffelei und griff zum Pinsel. Seiner Gewohnheit folgend, kaute er am Stielende herum und betrachtete die weiße, jungfräuliche Leinwand. Auf diesem Gewebe entstünde sein nächstes Bild. Das Kauen am Pinselstiel war Teil seiner Bemühungen, die aufsteigende Unruhe, die er stets wahrnahm, wenn er sich an ein neues Bild wagte, in ruhigere Bahnen zu lenken und sich zur Gelassenheit und Ruhe zu zwingen. Seine Gedanken gehörten nur dem entstehen wollenden Bild. Aufmerksam verfolgte er den Weg zum ersten Pinselstrich, eine alte Angewohnheit, die er selbst in dreißig Jahren nicht aufgegeben hatte. Der erste Strich entschied über die Richtung, die er seinem Werk gab. Wie ein Paukenschlag verlieh dem Bild die Dynamik, die Energie mit dem es seinen Ausdruck entfalten würde.

Fraglos würde es erneut ein Gemälde werden, das seinen Widerstand und seine Ablehnung der Staatsführung gegenüber ausdrückte. Seit über 5 Jahren opponierter er gegen den Präsidenten, dem neuen Zaren im Kreml, der seine Wiederwahl für die nächsten Jahrzehnte gesichert hatte.

Ivan lebt und arbeitet in der Ulitza Pobedy in Reutow, knappe zwanzig Kilometer vom Roten Platz und dem Kreml entfernt. Die Stadt war in seinen Augen eher unattraktiv, aber sie war seit fünfundzwanzig Jahren seine Heimat. Alles, was er in ihr erlebt und entdeckt hatte, war im Laufe der Zeit in Bildern festgehalten worden. Doch in den letzten fünf Jahren entstanden immer häufiger Gemälde, die auf subtile Manier seinen Widerstand gegen das Staatsoberhaupt und dessen Herrschaft zum Inhalt hatten. Er argwöhnte, dass die Politik des Präsidenten in eine erneute Diktatur Russlands mündete. Er befürchtete die Etablierung einer neuen Zarenherrschaft, wie sie das Land vor der Oktoberrevolution über Jahrhunderte erlitten hatte. Das, was früher die Adligen waren, waren heute die Oligarchen, die neureichen Emporkömmlinge, deren Macht und Reichtum ausschließlich vom Wohlwollen des Präsidenten abhingen.

Erstaunlicherweise verkaufte er diese Bilder erfolgreich. Sie hatten ihm sogar zu einer gewissen Berühmtheit über Reutow hinaus verholfen.

Ivan entstammte einer Donkosakenfamilie. Er war wie sein Vater, ein großgewachsener Mann mit einer kräftigen Stimme. Sein Vater war Offizier im russischen Kosakenheer. Nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst hatte er gemeinsam mit seiner Frau einen Bauernhof in der Umgebung von Kalinin, in Sichtweite des Don, bewirtschaftet. Ivan erinnerte sich gut an seinen Vater. Er war für ihn stets ein Vorbild gewesen. Er war ein Mann mit Prinzipien, einer bewundernswerten Geradlinigkeit, Ehrgefühl und Unbeugsamkeit, der sich nicht von den Meinungen anderer in seinen Überlegungen beeinflussen ließ. Ivan erinnerte sich, dass sein Vater auf den Feldern seine wehmütigen Lieder schmetterte. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, dann hätte er gemeint, dass sein Vater der glücklichste Mensch der Welt gewesen ist. Aber der hatte sich lediglich mit der Situation in seinem Land arrangiert. Die Bewirtschaftung der Felder hatte ihm das eingebracht, was er für seine Familie zum Leben brauchte, mehr nicht.

Aber das war alles schon lange vorbei. Nach dem Tod der Eltern hatte Ivan Suchowij den kleinen, nur zwei Hektar großen Hof verkauft, die wenigen Habseligkeiten, in den in die Jahre gekommenen Lada gepackt, und gemeinsam mit einem Freund, Oleg Wasiljew, Kalinin verlassen. Beide hatten entschieden, ihre Zukunft in der Umgebung von Moskau aufzubauen. So waren Sie nach Reutow gekommen.

Selbst wenn er intensiv darüber nachdachte, so kam er nicht darauf, was sie bewogen hatte Reutow zur neuen Heimat zu erkoren. War es die Nähe zur Moskwa, die sie an den Don erinnerte, die in einer Entfernung von 12 Kilometern an Reutow vorbei floss? Unter Umständen war es der pure Zufall, der sie hier hat stranden lassen. Sie hatten an diesem Ort eine neue Heimat und Freunde gefunden.

Ivan hatte seine Staffelei aufgerichtet und gemalt. Sein Freund Oleg hatte eine Karriere in der in Reutow gelegenen Maschinenfabrik angepackt. Jetzt lebten sie schon viele Jahre in der Stadt und nannten sie Heimat.

In den letzten Wochen hatte es eine Zahl an Berichten in der Presse gegeben, die sich mit der Kunst von Ivan Suchowij beschäftigt hatten. Das hatte dazu geführt, dass sein Name weit über die Grenzen von Reutow hinaus bekannt wurde. Die Artikel hatten stets die Aufsässigkeit, den Trotz und die Opposition seiner Bilder zum Inhalt. Seine Abstammung von den Donkosaken wurde wie ein Verbrechen publiziert. Ivan hatte sich nicht um die Veröffentlichungen gekümmert, er hatte über seine Freunde, hauptsächlich von Oleg, davon erfahren.

Ivan tauchte seinen Pinsel in das rubinrot. Blut, Gefährdung für die Demokratie in seinem Land, das sich mühevoll von der stalinistischen Ära erholt hatte und jetzt mit großen Schritten auf eine erneute Diktatur zusteuerte. Wenn er sich mit seinen Freunden traf, war dieser Wandel ein zentrales Thema in den Diskussionen. Ivan versuchte, mit seiner Kunst die Aufmerksamkeit darauf zu lenken.

Fast spielerisch gleitete der Pinsel über die Leinwand. Einer Blutspur gleich breitete sich die Farbe auf dem weißen Gewebe aus. In Gedanken legte er ein Gitternetz über diese Spur und plante die weitere Anordnung der nächsten Farben. Pechschwarz, das Schwarz des Todes. Zwischen jedem neuen Pinselstrich kaute er am Pinselstiel. Es beruhigte ihn.

Er dachte nicht daran, sich unterkriegen zu lassen. Er drückte seinen Missmut in seinen Bildern aus. Das Rot des Blutes fand sich in allen seiner Bilder der vergangenen fünf Jahre. Sein Markenzeichen.

In der linken Atelierecke, direkt unter dem Fenster zur Straßenseite, standen die Gemälde der letzten zwei Wochen. Sie warteten auf Käufer.

Ivan hoffte darauf, einige von ihnen in der nächsten Zeit verkaufen zu können. Selbst sein bescheidenes Leben bedurfte einer wirtschaftlichen Grundlage. Den größten Teil seiner Einnahmen gab er für Farbe, Leinwand und Pinsel aus. Auf die verzichtete er nicht, sie waren die Basis seines Daseins.

Ivan erhob sich mühsam beim Klingeln an seiner Wohnungstür. Er sah auf seine Uhr, es war nach zwanzig Uhr. Um diese Zeit erhielt er selten Besuch, wer sollte das sein? Er öffnete die Tür und sah in das besorgte Gesicht seines Freundes.

«Oleg, komm herein. Ich habe dich nicht erwartet. Ist etwas passiert?»

«Mach zuerst die Tür zu Ivan, ich muss dringend mit dir sprechen.»

Er schloss die Tür und ging voraus in sein Atelier. Er schob seinem Freund Oleg einen Stuhl hin und setzte sich auf seinen Drehhocker vor die Staffelei.

«Was gibt es, dass du so ein besorgtes Gesicht machst?», fragte er ihn.

Ivan hatte keine Zeitung abonniert und sein kleiner Fernseher blieb meistens schwarz. Er arbeitete bis spät in die Nacht und legte sich, nach einem kargen Mal, ins Bett.

Oleg Wasiljew, war sein ältester und bester Freund. Sie waren wie Brüder, seit sie Kalinin für ihr neues Zuhause verlassen hatten. Oleg setzte sich und öffnete seine Jacke. Er hatte jahrelang in der Maschinenfabrik am Ort gearbeitet, aber seit einigen Jahren war er dienstunfähig. Giftstoffe hatten seine Lungen geschädigt. Sie trafen sich oft bei Ivan im Atelier oder hin und wieder in einem Kaffee in der Nachbarschaft. Oleg lebte von einer, selbst für russische Verhältnisse, geringen Rente, so dass er nur selten ausging.

«Ivan, es wird gefährlich für dich in Reutow. Ich denke, dass es besser wäre, wenn du die Stadt verlässt.»

«Reutow und dich verlassen? Nach all den Jahren, die wir gemeinsam verbracht haben? Hier ist meine Heimat, seitdem ich Kalinin verlassen habe. Erinnerst du dich an die lange, schwierige Fahrt nach Reutow und an unsere Entscheidung, hierzubleiben? Wo soll ich denn hin? In meinem Alter erneut beginnen?»

«Natürlich erinnere ich mich, so etwas vergisst man nicht. Wir hatten wunderbare Jahre in Reutow, auch wenn die Fabrik mich fast umgebracht hätte. Aber die Zeiten ändern sich. Es wird härter und gefährlicher für Menschen, die sich gegen die Obrigkeit auflehnen. Deine Kunst, die ich immer bewundert habe, irritiert. In den Lokalen wird manchmal davon gesprochen, dass du eine Revolte einleiten könntest.»

«Ich eine Revolte? Sind die Menschen von allen guten Geistern verlassen? Ich gebe zu, dass ich etwas unbequem bin und eine gewisse Eigensinnigkeit an den Tag lege, wenn es sich darum handelt, die Richtung, in die sich unser Land beweg, zu beurteilen. Aber eine Revolte?»

«Das ist deine Sicht auf deine Kunst. Es gibt genügend Menschen, die die Bilder völlig anders bewerten. Für immer mehr gehören sie zur Opposition in Russland. Es wird zunehmend gefährlicher, in einem Atemzug mit Nawalny genannt zu werden. Am besten du verlässt nicht nur Reutow, sondern gleich das Land. Du weißt, dass ich einen Freund bei der Polizei habe. Der hat mich wissen lassen, dass ich vorsichtig sein soll, den Kontakt zu dir aufrechtzuhalten. Die Polizei hat Anweisung, dich am nächsten Montag zu verhaften. Den Tag hat man bestimmt, weil es am Wochenende eine Demonstration der Opposition gibt. Es soll sichergestellt werden, dass man keine Verbindung zwischen der Demonstration und deiner Verhaftung herstellt.»

«Danke Oleg! Mir ist klar, dass du damit ein großes Risiko eingehst. Aber Reutow, dich und meine Heimat zu verlassen, ist schwer.»

Suchowij saß schweigend auf dem Hocker und sah an seinem Gefährten vorbei auf die gegenüberliegende Wand, drehte seinen Körper mal nach rechts und links. Es war wie ein letzter Blick auf sein Atelier. Dann sah er wieder zu Oleg.

«Ich werde deinen Rat befolgen, aber ich weiß nicht, wohin ich gehen werde.»

«Hast du niemanden im Westen, bei dem du Zuflucht findest?»

«Ich habe nur einen Bekannten in Frankreich. In Pont Aven, in der Bretagne. Wir kennen uns schon lange. Aber wie komme ich dorthin?»

«Gleichgültig, wie du deine Reise planst, nimm nur das Nötigste mit. Vielleicht kannst du nach Lettland.»

«Das wäre eine Möglichkeit. Von dort aus könnte ich über Litauen nach Polen gelangen. Ich werde nur ein paar Sachen einpacken, aber die Pinsel, Farben und die anderen Malutensilien brauche ich unbedingt. Ich versuche, alles in meinem Auto zu verstauen. Ich bin nicht einmal sicher, ob der Wagen überhaupt anspringt. Seit Monaten habe ich ihn nicht benützt. Aber aufgetankt ist er. Das erinnert mich an unseren Aufbruch aus Kalinin. Nur dass wir damals unsere Zukunft in aller Ruhe geplant haben. Ich bin froh, dass ich einige Bilder verkauft habe in den letzten Wochen. Kannst du noch das eine oder andere Gemälde losschlagen? Jetzt zahlt es sich aus, dass ich den Banken nie vertraut habe und meine Ersparnisse in der Wohnung versteckt habe. Sonst käme ich womöglich nicht einmal an mein Geld.»

«Ich nehme die fertigen Bilder gleich mit. Falls man dein Haus schon überwacht, sieht es so aus, als hätte ich sie von dir gekauft. Währenddessen bring du deine Sachen durch den Hinterausgang ins Auto.»

«Gerätst du nicht in Schwierigkeiten, wenn du mit meinen Bildern gesehen wirst?»

«Ich bin nirgends als eine politisch aktive Person aufgefallen. Ich habe eben nur ein paar Bilder bei einem Maler gekauft.»

«Ich werde versuchen, mit dem Auto bis Lettland zu kommen. Von da aus fahre ich nach Frankreich. Es war schon immer mein Wunsch, in der Bretagne zu malen, da wo Gauguin gemalt hat.»

«Informiere mich, wenn du angekommen bist, und schreib mir, wie ich dir das Geld für die Bilder zukommen lassen kann.»

«Das ist nicht so eilig, Oleg. Ich habe noch etwas Reserven. Außerdem gibt es, wie ich schon erwähnt habe, einen alten Freund in Pont Aven. Vielleich komme ich bei ihm ein paar Tage unter. Sobald ich eine Wohnung habe, melde ich mich bei dir.»

Oleg verstaute die Bilder im Auto. Ivan suchte seine wenigen Habseligkeiten zusammen. Sie verabschiedeten sich unter Tränen und brachen gleichzeitig auf, Oleg durch die Vordertür, Ivan durch die Hintertür.

Kapitel 1

Pont Aven erlebte Touristenströme, die wieder die Größenordnung vor der Pandemie erreicht hatten. Die Bänke am Place de l’Hôtel de Ville waren alle besetzt. Vor dem Eingang zum Museum hatte sich eine Schlange gebildet. Die Kunsthalle hatte vor kurzem ein neues Gemälde von Gauguin erworben und die Menschen wollten es sehen. Der nötige Sicherheitsabstand wurde von der Mehrheit der Besucher respektiert und ließ die Schlange schnell anwachsen. Man munkelte von einem bevorstehenden zweiten confinement, einer Ausgangssperre.

Ivan Suchowij sah die wartenden Besucher vor dem Museum. Auf der Brücke über den Aven blieb er stehen und schaute sich um. An einem unscheinbaren Toilettenhäuschen, das wie angeklebt in die Stützmauer des Aven integrierte war, blieb sein Blick hängen. Alleine diese öffentliche Toilette wäre ein lohnendes Motiv.

Gleichgültig wohin seine Augen wanderten, überall las er den Schriftzug Galerie. So viele Kunstsalons hatte er bis jetzt nirgends an einem Ort versammelt gesehen. Er gestand sich aber ein, dass er nur einen kleinen Ausschnitt der Welt kannte. Für einen Künstler war Pont Aven schon etwas Besonderes und er verstand, warum sich der Ort Cité de Peintres nannte.

Sein Freund, Yann Kermat, hatte ihn mit grossem Mitgefühl bei sich aufgenommen und willkommen geheißen. Er wäre ihm bei der Suche nach einer Wohnung und einem Atelier behilflich. In der ersten Zeit machte er sich also keine Gedanken um ein neues Zuhause.

Ivan hatte ihn aus Lettland angerufen und ihm seine Lage geschildert. Yann hatte keinen Moment gezögert und ihm sofort seine Unterstützung zugesagt. Er hatte ihm sogar finanzielle Hilfe für die Reise angeboten. Aber das brauchte Ivan nicht. Seine Selbstachtung hätte das auch nicht zugelassen. Er war in seinem Innern immer Donkosak geblieben. So war er einige Tage später über Litauen und Polen gefahren, hatte Deutschland durchquert und war in der Bretagne angekommen.

Mit seinem in die Jahre gekommenen Lada war die Fahrt hart und wenig komfortabel gewesen. Schneller als 80 km/Std. hatte ihm der Wagen nicht erlaubt. Um Geld zu sparen, hatte er die Nächte auf Parkplätzen zugebracht und sich in den Servicestationen erfrischt. Die Reise hatte sich über etliche Tage hingezogen.

In den ersten Tagen gönnte Yann ihm eine Erholung von den Reisestrapazen, bevor er ihn durch die kleine Stadt führte und über die Sehenswürdigkeiten und Spazierwege informierte. Für Ivan war alles von großem Interesse, besonders Gauguin. Heute Morgen waren sie zur Chapelle de Trèmalo spaziert, dessen Christuskreuz, das Vorbild für das weltberühmte Gemälde Christ jaune war und am nächsten Tag stand der Bois d’Amour, der Liebeswald, der sich entlang des Aven erstreckte, auf der Besuchsliste.

Der Spazierweg zur Kapelle hatte sie durch eine herrliche Allee geführt, die von alten Maronenbäumen gesäumt war. Die Wipfel der Bäume berührten sich hoch über ihnen und verliehen dem Weg den Charakter eines grünen Tunnels. Am Ziel angekommen fiel Ivan die Blütenpracht der Hortensien um die Kapelle auf. Kornblumenblau umgaben sie die Grundmauern der kleinen Kirche. Der Eingang lag auf der Straße abgewandten Seite. Vor dem Zugang stand ein Calvaire vor einer gewaltigen Eiche.

Sie betraten die kleine Kirche und Ivan ließ seine Augen durch den im Halbdunkel liegenden Innenraum schweifen, auf der Suche nach dem berühmten Christuskreuz.

«Ich sehe das Kreuz nicht, hat man es entfernt?», fragte er Yann.

«Richte deinen Blick nach oben.» Yann zeigte auf das Kruzifix vor ihnen.

Ivan hatte es sich größer vorgestellt und im Altarraum vermutet. Aber das Kreuz hing vor ihnen und war nicht auf die Sitzreihen der Kapelle ausgerichtet, sondern parallel dazu aufgehängt. Dadurch fiel das wenige Licht durch die bleiverglasten Fenster auf das Kreuz.

Ivan betrachtete es genau und versuchte, jedes Detail wahrzunehmen. Würde er es einmal in einem Bild verewigen?

Sie spazierten wieder hinunter in die Stadt. Yann plante mit ihm am folgenden Tag einen Ausflug nach le Pouldu, ein weiterer Ort, an dem Gauguin gemalt hatte. Sie verabschiedeten sich für den Rest des Vormittags. Gegen 16 Uhr planten sie eine Wohnungsbesichtigung für Yann.

Ivan lief alleine durch die Stadt. Er verstand Gauguin und seine Liebe zu Pont Aven immer besser. Der Ort hatte etwas Bezauberndes und brachte ihn auf viele Ideen für Gemälde. Aber sie ersetzte ihm nicht Reutow, seine Heimat. Die russische Industriestadt vermochte bei weitem nicht mit dem malerischen Pont Aven mitzuhalten. Dennoch vermisste er die Menschen seiner Nachbarschaft, die verschmutzten Hinterhöfe, den Lärm der Fabriken und Straßen, die Betonblöcke und seine Freunde. Allen voran Oleg, dem er mehrfach geschrieben hatte, dass er in Pont Aven eingetroffen und mit großer Herzlichkeit und Wertschätzung aufgenommen worden war. In der Zukunft würde er wieder nach Reutow zurückkehren, falls sich sein Russland bis dorthin verändert hätte.

Er lenkte seine Schritte in die Rue du Port und betrachtete die herrliche alte Mühle zu seiner linken. Sie beherbergte ein renommiertes, mit Stern ausgezeichnetes Restaurant, die Moulin de Rosmadec. Die alte Eiche davor, von der ein Ast waagrecht über den Aven gewachsen war, schien die Mühle zu umarmen.

Er spazierte an den Galerien in der Rue du Port vorbei und warf jedes Mal einen Blick ins Innere. In einigen betrachteten Touristen die ausgestellten Kunstwerke, in anderen saß eine Person, die auf Besucher zu warten schien. An eine eigene Ausstellung brauchte er hier nicht zu denken. Er hatte nicht einmal ein Atelier. Die Gelegenheit wird kommen, sprach er sich Mut zu.

Er schritt weiter und kam an der nächsten Mühle vorbei, an der ein altes Mühlrad, mit einem Durchmesser von mindestens fünf Metern, vom Wasser des Aven angetrieben wurde. Diese Mühle beherbergte ebenfalls ein Restaurant, Le Moulin du Grand Poulguin. Das Angebot reichte von Pizza bis zu den hier üblichen Crêpes.

Ivan näherte sich dem Hafen, der nur wenigen Yachten einen Ankerplatz bot und dessen Wasserstand massiv von Ebbe und Flut beeinflusst war. Ein Teil der Boote lag auf dem Trockenen. Er sah das alte Segelboot, das gleich neben dem Slip einen Liegeplatz hatte und auf seine Sanierung wartete. Er spazierte über die Fußgängerbrücke, die den Aven überspannte und sein Blick fiel auf die riesigen Felsblöcke, die vom Wasser umspült wurden und in deren Zwischenräumen sich kleine Wasserfälle gebildet hatten. Schwäne, Enten, Möwen und andere Wasservögel tummelten sich im Fluss. Auf der gegenüberliegenden Seite spazierte er zurück ins Stadtzentrum. Er kam an einigen alten Villen vorbei und bewunderte die Granithäuser mit ihren Schiefer bedeckten Dächern. Beim Museum angekommen sah er auf die Uhr und stellte fest, dass es Zeit war, sich mit Yann zu treffen, um die Wohnung zu besichtigen. Ein Atelier wäre möglich, daneben einzurichten hatte Yann ihm erzählt.

«So, Ivan, hast du Pont Aven genossen?», fragte er ihn.

«Ja, ich verstehe, dass es Gauguin hier gefallen hat.»

«Du solltest auch den hinteren Teil des Aven ansehen und den Spazierweg, der sich Promenade Xavier Grall nennt, gemütlich in Augenschein nehmen. Die großen Granitfelsen am Ende sind malerisch und durchaus Motive für Bilder. Aber jetzt sehen wir zuerst die Wohnung an. Ich habe von einem Freund davon erfahren. Sie ist nicht teuer und du könntest daneben ein Atelier einrichten, auch wenn es nur ein ausgebauter Schuppen ist.»

«Ich habe dir gesagt, dass ich keine großen Ansprüche stelle. Liegt die Wohnung weit außerhalb der Stadt?»

«Überhaupt nicht, sie ist in der Rue Paul Serusier. Es sind nur wenige hundert Meter vom Zentrum.»

Sie spazierten den Berg hoch bis zu einer schmalen einspurigen Brücke. Sie überquerten diese und kamen nach knapp fünfhundert Metern bei dem Haus an, das Yann gefunden hatte.

«Das ist ja praktisch in deiner Nachbarschaft, meinte Ivan.»

«Ich sagte doch, es ist nicht weit vom Stadtzentrum entfernt. Es ist das kleine Haus und der Schuppen daneben.»

«Das nennt ihr Schuppen? Bei uns wäre es eine Halle. Das Gebäude ist mindestens 15 Meter lang und aus Stein gebaut.»

«Ja, aber es hat keine Heizung, nur einen Wasseranschluss. Für ein Atelier ist es ausreichend. Eine Keramikerin hatte früher hier ihre Werkstatt. Komm ich, zeige dir zuerst das Haus. Es ist groß genug für eine Person. Ich habe mir den Schlüssel geben lassen.»

Sie betraten das Haus und Yann zeigte ihm die Kochnische, den sich anschließenden kleinen Wohnbereich mit einer Schlafgelegenheit und das Bad. In der Etage gab es ein weiteres Schlafzimmer.

«Du kannst deinen Schlafraum oben einrichten, dann wäre unten ausschließlich Wohnraum. Es ist ein kleines bescheidenes Haus. Für die erste Zeit wird es reichen.»

«Es ist für meine Bedürfnisse vollkommen ausreichend. Größer ist die Wohnung in Reutow nicht gewesen, wenn ich vom Atelier absehe. Aber das kann ich mir ja gegenüber einrichten, hast du gesagt.»

«Genau, wir sehen es uns jetzt an.»

Sie verließen das Haus und überquerten den kleinen Hof zum Schuppen, den Ivan Halle genannt hatte.

Sie betraten den großen leeren Raum und sahen sich um. Gegenüber der Eingangstür erblickte er ein kleines Handwaschbecken, daneben war ein Regal. In Gedanken plante er, wo er Staffelei, Pinsel und Farben unterbrachte. Er war überzeugt, dass er hier wohnen und arbeiten könnte, falls er die Miete aufbrächte.

«Das ist umwerfend! Mehr benötige ich nicht Yann. Das Atelier ist dreimal so groß wie das in Reutow. Sag mein Freund, was kostet das alles?»

«Der Vermieter verlangt 400 Euro.»

«Ich habe mit mehr gerechnet. 400 ist für mich in Ordnung. Die ersten Monate kann ich es mir leisten. Danach müsste ich Bilder verkauft haben, um neue Einnahmen zu generieren.»

«Ich kenne deine Arbeiten und bin sicher, dass du dir einen Namen machen wirst. Ich habe einen Freund, der eine Galerie betreibt. Der würde deine Bilder ausstellen.»

«Meine Kunst ist nicht auf Pont Aven abgestimmt. In den letzten Jahren ist sie auf den Widerstand gegen den aktuellen Präsidenten ausgerichtet gewesen.»

«Ist das der Grund, warum du deine Heimat verlassen hast?»

«Mir ist gesagt worden, dass ich verhaftet würde, ein Freund hat mich gewarnt und mir geraten, am besten aus Russland zu verschwinden. Ich weiß was es bedeutet, wenn man eingesperrt wird. Es gibt dann einen Schauprozess und man wird für etwas angeklagt, von dessen Existenz man gar nichts wusste. Wegen Steuerhinterziehung hätte man mich nicht vor Gericht bringen können, ich habe zu wenig Einkommen, um Steuern zu zahlen.»

«Hattest du denn so viel Einfluss, dass du für den Herrschenden gefährlich geworden bist?»

«Das weiß ich nicht. Einige Journalisten haben über meine Kunst berichtet und darüber gesprochen, dass ich mich für die Opposition engagiere. Das kann ausreichend sein, um in den Augen des Präsidenten gefährlich zu sein. Einfluss auf die Gesellschaft oder auf die Obrigkeit hatte ich nicht. Ich bin kein Mensch mit der Bedeutung eines Nawalny. Ich bin ein bescheidener Künstler und habe mich noch nicht einmal um die Nachrichten gekümmert oder um die Proteste auf den Straßen.»

«Mach dich nicht geringer, als du bist. Du bist ein großartiger Künstler. Ich schätze deine Bilder. Komm jetzt erst einmal zur Ruhe und richte dich ein. Ich habe genügend Möbel übrig, mit denen du die Wohnung wohnlich gestalten kannst. Wenn du einverstanden bist, dann ziehen wir morgen gleich ein.»

«Ich freue mich darauf, hier zu malen.»

«Dann lass uns alles Weitere mit dem Vermieter klären», sagte Yann und verließ mit Ivan das zukünftige Atelier.

Kapitel 2

Ivan Suchowij malte jetzt seit drei Monaten in seinem neuen Atelier. Langsam wurde er in Pont Aven heimisch und kam zur Ruhe. Er hatte in der kurzen Zeit sechs Bilder verkauft, so dass er inzwischen nicht nur von seinen Ersparnissen leben musste. Yann hatte ihn bei der Preisfindung für seine Bilder beraten. Mit den Marktpreisen seiner alten Heimat hätte er hier nicht lange überlebt.

Ivan war erstaunt über die große Zahl der täglichen Touristen in Pont Aven. Sie besuchten die Ortschaft, die Galerien und die Künstler in ihren Ateliers. Da seine Werkstatt nicht direkt im Zentrum lag, hatte er auf Anraten seines Freundes Yann ein Hinweisschild angefertigt, das die Touristen einlud, ihn zu besuchen. Täglich kamen Urlauber und kunstinteressierte Menschen vorbei. Es ergaben sich manches Mal vertiefende Gespräche. Seine Französischkenntnisse kamen ihm zugute und er lernte täglich dazu.

Ein deutscher Galerist aus München hatte sich für Ivans Werke interessiert und ihn zu einer Ausstellung in seiner Galerie eingeladen. Er war von dem Vorschlag angetan, denn sein Einkommen reichte, wie Yann es ihm prophezeit hatte, gerade für die Miete, die Lebensmittel und den Erwerb von Leinwand und Farbe.

Kapitel 3

Ivan saß vor einer weißen Leinwand. Heute kreierte er das Initialbild für seine Ausstellung in München im kommenden Jahr. Der erste Pinselstrich war immer ein Gongschlag.

Dieser Salon würde etwas Besonderes. Er hatte dem Galeristen telefonisch seine Zusage gegeben und das Datum der Vernissage stand fest. Seinen Freund Yann nähme er mit nach München. Er hatte ihn so großzügig aufgenommen bei seiner Flucht aus Russland. Ihm gehörte die Ehre, bei der Eröffnung seiner ersten großen Ausstellung in Deutschland anwesend zu sein.

Ivan legte seinen Pinsel zur Seite und rief zuerst seinen Freund an.

«Yann, hast du Zeit, vorbeizukommen?»

«Ja gerne! Gibt es ein Problem?»

«Nein kein Problem, im Gegenteil. Ich habe der Galerie in München eine Zusage gegeben. Die Vernissage findet Anfang Februar 2021 statt. Ich wäre froh, wenn du mich begleitest.»

«Wolltest du mir das sagen? Dafür muss ich doch nicht zu dir kommen.»

«Ich möchte, dass du beim Ritual des ersten Pinselstrichs anwesend bist.»

«Dann bin ich gleich bei dir.»

Yann Kermat trank seinen Kaffee aus und ging zu seinem Freund. Seitdem er seinen kleinen Feinkostladen aufgegeben hatte, lebte er nicht mehr nach der Uhr. Er leistete sich einen geruhsamen und angenehmen Lebensabend. Es gefiel ihm, dass Ivan auf bestem Weg zu einem erfolgreichen Maler war. Nach wenigen Minuten hatte er sein Atelier erreicht.

«Ich freue mich, dass du beim Start meiner Bilderserie für München dabei bist. Es ist nur eine Marotte von mir, aber ich verbringe viel Zeit, Gedanken, Vorstellungskraft und Phantasie, bevor ich den ersten Pinselstrich auf die Leinwand bringe.»

«Danke, dass du mich dazu eingeladen hast.»

Yann holte sich den einzigen Stuhl im Atelier und setzte sich neben Ivan vor die Staffelei.

«Darf ich dir etwas zu trinken bringen?»

«Nein danke, ich habe soeben eine Tasse Kaffee getrunken.»

Wie immer bevor er anfing zu malen, nahm er den Pinsel und kaute auf dem Stiel herum, dabei betrachtete er die leere Leinwand aus verschiedenen Perspektiven. Nach zehn Minuten tauchte er ihn in die rubinrote Farbe.

Yann fixierte seinen Freund und war gespannt auf den ersten Pinselstrich.