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Vor einem Kloster wird ein neugeborener Junge abgelegt. An seiner Strampelhose finden die Schwestern eine Notiz mit seinem Namen und Geburtsdatum. Sie nehmen das Kind Alex in ihr Kloster auf und versorgen es. Das Kloster wird nach einigen Jahren geschlossen und das Kind kommt in ein Waisenhaus. In Ernée, im nächsten Waisenhaus, erfüllt sich Alex' größter Wunsch und er lernt in der Jugendgruppe der Gemeinde Schlagzeug spielen. Sein Lehrer ist der Priester der Stadt, der die Jugendlichen über sein Musikangebot hinaus auch für den Kirchenbesuch interessiert. Als der Priester den besten Musikern unter seinen Schülern eine Reise zu den legendären Vieilles Charrues anbietet ist die Freude der Jungen riesig. Doch die Freude ist trügerisch.
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Seitenzahl: 227
Veröffentlichungsjahr: 2022
Jean-Pierre Kermanchec
Letzte Messe in Benodet
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Epilog
Bisher erschienen von Jean-Pierre Kermanchec:
Impressum neobooks
Jean-Pierre Kermanchec
Letzte Messe in Benodet
Letzte Messe in Benodet
Jean-Pierre Kermanchec
Impressum
© 2021 Jean-Pierre Kermanchec, Ulrike Müller
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die Bibliothéque national du Luxembourg verzeichnet diese Publikation in der luxemburgischen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://bnl.public.lu abrufbar
Pater Eozen wurde vom Bischof der Gemeinde Ernée zugeteilt. Es war seine erste eigene Gemeinde als Pfarrer. Er freute sich auf seine neue Aufgabe. Ernée, eine Gemeinde von 5.700 Einwohnern, lag im Departement Mayenne, weit von seiner Heimatstadt Nancy entfernt. Es war eine kleinere Gemeinde, er konnte als junger Pfarrer auch nicht gleich eine große städtische Pfarrei erwarten.
Er hatte die letzten drei Jahre im Kloster auf dem Mont-Saint-Michel verbracht. Der Klosterberg wurde Jahr für Jahr von mehr als drei Millionen Menschen besucht. Er hatte ein besonderes Flair. Wenn der Touristenstrom beendet war und das Meer den Berg umspülte, begann eine stille und ruhige Zeit. Er empfand es schon beinahe als Privileg, dass er in diesem Kloster leben durfte.
In den letzten Monaten war ihm die Ehre zugefallen, die Glocke zu läuten. Es war etwas Besonderes und ein Zeichen von Wertschätzung, wenn man die Glocke läuten durfte. Im Mittelgang des Kirchenschiffs hing ein dickes Seil herab, an dessen anderem Ende eine der Glocken der Kirche befestigt war. Er hing beim Läuten am Seil und die Glocke zog ihn nach oben. An manchen Tagen begleitete er Führungen durch die Räumlichkeiten der alten Abtei und erzählte von der Geschichte des Mont-Saint-Michel. Beim letzten Besuch des Bischofs auf dem Klosterberg, hatte er dem Bischof bei der Messe assistieren dürfen. In dem anschließenden Gespräch konnte er dem Bischof von seinen Ideen erzählen, falls er einmal eine eigene Gemeinde zu führen hätte. Jetzt war es soweit, er hatte eine eigene Pfarrei und er würde seinen weiteren Aufstieg in der kirchlichen Hierarchie fortsetzen, das Bischofsamt war sein Ziel. Dazu müsste er sich aber zuerst einmal als Pfarrer bewähren, dann als Dekan. Für jede Stufe auf diesem Weg hatte er jeweils maximal fünf Jahre vorgesehen. Spätestens in 20 Jahren wollte er ein Bischofspalais als Wohnsitz erreicht haben.
Das schmucklose Pfarrhaus von Ernée, ein kleines unscheinbares Gebäude, das sich nur wenig von einer zu groß geratenen Garage unterschied, war vorerst sein neues Zuhause. Die Eingangstür benötigte dringend einen neuen Anstrich, stellte er fest als er mit seinem Koffer vor der grauen Tür stand.
Er drückte auf die Klinke und öffnete die Tür. Die schleifte über den Holzboden, hier hatte schon länger niemand das Haus betreten, die Luftfeuchtigkeit hatte das Holz aufquellen lassen, Staub und Spinnweben bestätigten seine Vermutung.
Seine Vorstellungen von der ersten Pfarrei waren sehr optimistisch gewesen. Aller Anfang ist schwer, tröstete er sich, und betrat mutig das Haus. Er stellte seinen Koffer auf den Fußboden, schloss die Tür, ließ seinen Blick von links nach rechts schweifen und begann einen Rundgang durch sein neues Zuhause. Eine winzige Küche und ein Wohnzimmer, das eine Verlängerung des Flurs war, um Platz für einen Kamin und eine Arbeitsecke mit Schreibtisch zu schaffen, waren auf der Eingangsebene. Die Fenster glichen Kellerluken. Er ging zurück zur Eingangstür. Von dort führte eine Treppe zur Etage. Er stieg die Stufen hinauf und betrat einen großen Raum. Hier stand ein Bett, ein Nachttischchen und ein Kleiderschrank in der Größe eines Spinds.
Pater Eozen stand ernüchtert im Raum. War es wirklich ein Glück, eine eigene Gemeinde zu haben? Als Pater im Kloster oder unter einem Pfarrer in einer größeren Gemeinde hätte er ein sauberes Zimmer, regelmäßige gute und ausreichende Mahlzeiten und sogar Freizeit für seine sportlichen und musikalischen Aktivitäten.
Jetzt war es zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Die Entscheidung war gefallen, er stand in diesem verwahrlosten Haus in Ernée und musste zusehen, dass er das Beste daraus machte. Eozen holte seinen Koffer und versuchte, die wenigen Habseligkeiten im Schrank unterzubringen. Dann machte er sich auf die Suche nach Putzlappen, Eimer und Wasser, um den gröbsten Schmutz zu entfernen.
Eine Tür unter der Treppe führte zu einem winzigen Kellerraum. Dort fand er einen Besen, Schrubber, Eimer und Tücher. Er nahm alles mit nach oben, öffnete den Wasserhahn und ließ das rostige Wasser aus der Leitung laufen. Nach einigen Minuten konnte er mit einer ersten Reinigung des Hauses beginnen. Er würde in den nächsten Tagen Putzmittel kaufen. Er war mitten bei den Reinigungsarbeiten als es laut an der Haustür klopfte. Mit feuchten Händen ging er an die Tür und öffnete.
„Bonjour Monsieur le Curé ! Marie, Marie Menton. Ich möchte Sie in unserer Gemeinde willkommen heißen. Mein Vater ist der Bürgermeister von Ernée und ich helfe ihm, ich bin so etwas wie seine Sekretärin oder der Gemeindebote oder die Empfangsdame oder alles in einer Person. Leider konnte mein Vater nicht persönlich kommen, um Sie willkommen zu heißen.“
„Bonjour, Madame Menton. Das ist sehr nett von Ihnen. Ich würde Sie gerne ins Haus bitten aber die Sauberkeit lässt noch zu wünschen übrig. Ich bin gerade dabei, für etwas mehr Reinlichkeit zu sorgen.“
„Oh je! Das habe ich vergessen. Wir haben eine Reinigungskraft im Rathaus, die hätte sich des Hauses annehmen können. Ich werde ihr sofort sagen, dass sie Ihnen zur Hand gehen soll. Es gibt bestimmt noch viel zu tun. Wir haben nämlich seit mehreren Jahren keinen Pfarrer mehr in der Gemeinde gehabt, so dass das Haus nicht genutzt worden ist. Ein unbewohntes Haus braucht nicht gepflegt zu werden, hat mein Vater gemeint. Schließlich kostet die regelmäßige Pflege Geld und die Gemeinde verfügt nicht gerade über üppige Einnahmen. Der Curé von Mayenne hat in den letzten Jahren einige Male die Gemeinde besucht und eine Messe gehalten.“
Kleine Gemeinde, kleine Einnahmen, ging es Eozen durch den Kopf. Die Einkünfte der Kirche waren bescheiden. Die jährlichen freiwilligen Spenden der Gläubigen deckten nicht einmal die bescheidenen Gehälter der Priester. Ohne die Kollekte, die Gebühren für Taufen oder Beerdigungen oder die Einnahmen für die erbetenen Messen wäre es noch schlechter bestellt.
„Das ist sehr lieb von Ihnen, mir eine Reinigungskraft anzubieten. Ich sage nicht Nein. Ich hoffe, dass die Kirche in besserem Zustand ist“, sagte Eozen.
„Oh ja! Die Kirche wird regelmäßig gereinigt. Es sind freiwillige Bürger, die sich der Pflege der Kirche und des Altarschmucks annehmen. Wir sind stolz auf unsere Kirche. Sie hat eine wechselhafte Geschichte hinter sich, von einem Tempel der Vernunft zu einem Militärlager, einem Versammlungssaal, einem Gefängnis und sogar zu einem Gericht. Sie ist groß aber nicht hoch und, für meinen Geschmack, zu düster. Im Laufe der Jahrhunderte hat sie eine Reihe von schönen Ausschmückungen erhalten. Die Fenster, der Altar und das Tabernakel sind besonders sehenswert. Und vor einigen Jahren haben wir eine neue Orgel gekriegt.“
„Ich werde mir die Kirche ansehen. Sie sagen, dass sogar eine neue Orgel eingebaut worden ist? Ich liebe Orgelmusik“, fügte Eozen hinzu.
„Dann will ich Sie nicht länger von ihrer Arbeit abhalten. Ich wollte Sie nur willkommen heißen.“
„Haben Sie nochmals vielen Dank für den freundlichen Empfang“, antwortete Eozen und schloss die Tür hinter ihr.
Wenigstens eine schöne Kirche würde er haben, dachte er. Sobald er mit den gröbsten Reinigungsarbeiten fertig war, würde er sich die Kirche ansehen. Die erste Messe würde er am Abend halten.
Die ersten Wochen vergingen wie im Fluge. Dank der Hilfe der Gemeindearbeiterin war sein winziges Pfarrhaus bewohnbar geworden. Die Gemeinde hatte ihm sogar einen neuen Kleiderschrank bewilligt.
Die Kirche war Sonntags nicht so leer, wie er in den ersten Tagen vermutet hatte. Erstaunlicherweise fanden sich auch junge Gläubige ein. Vielleicht lag es an seinem Alter, auch er gehörte nicht zur älteren Generation. Jedenfalls stellte er fest, dass viele Jugendliche sich in der Kirche zur Messe versammelten.
Zu seinen Aufgaben gehörte es, auch Religionsunterricht am freien Mittwochnachmittag anzubieten. Er wollte den Unterricht so gestalten, dass die jungen Menschen Freude an der Teilnahme hatten. Daher kam er auf die Idee, diesen Unterricht zu splitten. Die eine Zeit war der Kirchengeschichte und der Bibel gewidmet, die zweite den Freizeitinteressen der Jugendlichen. Dabei kam ihm sein musikalisches Talent zu Hilfe. Eozen war ein ausgezeichneter Musiker, der mehrere Instrumente famos beherrschte. Seine größte Leidenschaft gehörte dem Schlagzeug, was ihm bei vielen Jungs beträchtliche Anerkennung einbrachte und für reichlichen Zustrom zu seinem Unterricht sorgte.
Eozen hatte sich in nur einem Jahr den Ruf eines hervorragenden Seelsorgers erarbeitet. Seine bemerkenswerte Jugendarbeit und die erstaunlich schnell ansehnlich gewachsenen Teilnahmezahlen am Religionsunterricht erreichten die Bistumsverwaltung. Erste Überlegungen wurden angestellt, Pater Eozen in eine bedeutendere Gemeinde zu versetzen.
Diese Gedankenspiele blieben Eozen nicht verborgen. Zuerst gab es nur dezente Hinweise, dass seine Arbeit mit den Jugendlichen von Ernée aufmerksam vom Bistum verfolgt werde, später sprach man ihn offen auf seine eindrucksvolle Arbeit an. Der Höhepunkt war, dass er im dritten Jahr seiner Gemeindearbeit eine Einladung vom Bischof zu einem Gespräch über seine weitere berufliche Entwicklung erhielt.
Eozen hatte sich jeweils fünf Jahre für einen Karrieresprung vorgenommen. Wenn das Gespräch mit dem Bischof, jetzt bereits nach drei Jahren in der Gemeinde, einen Aufstieg bringen sollte, dann könnte er sich auf den nächsten Sprung vorbereiten.
Eozen führte das Gespräch mit dem Bischof in der erwarteten Demut. Der Bischof war von dem jungen Pater angetan und sagte ihm zu, dass er bereits im nächsten Jahr eine neue Aufgabe erhalten sollte. Er sollte Dekan werden. Eozen hüpfte innerlich vor Freude. Es war mehr als er erwartet hatte.
In Ernée bereitete man sich inzwischen auf den Sommer vor. In diesem Jahr hatte der Pater seinen besten Musikern angeboten, mit ihnen für einige Tage zu einem großen Musikfestival zu fahren. Die schon beinahe legendären Vieilles Charrues standen auf dem Besuchsplan und Eozen hatte versprochen, jedem Jungen einen Zuschuss zur Eintrittskarte zu bezahlen. Die Freude unter den Jugendlichen war riesig. Jeder wollte sich für die Teilnahme an dem Festival bewerben. Die Auswahl wollte nicht der Pater treffen, sondern, nach einem von ihm organisierten Konzert, sollten die Zuschauer die besten Musiker auswählen. Ein echtes Novum, die Entscheidung über den Erfolg oder Misserfolg lag nicht bei einer einzigen Person, sondern beim Kollektiv der Jugendlichen. Das brachte Eozen noch mehr Zuspruch ein. Für die jungen Musiker war Eozen inzwischen schon so etwas wie ein Guru oder ein Abgott geworden. Für ihn waren sie bereit, alles zu geben oder auch alles aufzugeben. Sie himmelten ihn regelrecht an und empfanden es als eine Ehre, wenn er ihnen über den Kopf strich.
Eozen spürte diese tiefe Zuneigung der jungen Burschen, interpretierte sie aber aus einem völlig anderem Blickwinkel. Seit einigen Monaten bereits verspürte er einen Hang zu den Buben unter den Jugendlichen. Ein Gefühl, das für ihn neu war und das sich bestimmt nicht mit seinem Priesteramt vertrug. Dieser Drang war stärker, stärker als sein innerer Kampf dagegen.
Die Reise zu den Vieilles Charrues stand bevor und die Organisation nahm eine Menge Zeit in Anspruch. Pater Eozen besorgte Unterkünfte für sich und die acht ausgewählten Jugendlichen, Unterkünfte, die bezahlbar waren und die die Familien nicht zu stark belasteten. Auch wenn er einen nicht unerheblichen Zuschuss zur Reise beitrug, so blieben doch noch Kosten an den Familien hängen. Lediglich für einen Jungen übernahm er den gesamten Betrag. Der Junge hatte keine Familie und wohnte im städtischen Waisenhaus.
Die Abreise kam näher. Am dritten Juli Wochenende, von Donnerstag bis Sonntag sollte das große Festival stattfinden. Man erwartete in diesem Jahr zum ersten Mal über 100.000 Besucher. Die Stadt Carhaix, im Finistère, war in eine Art von Ausnahmezustand versetzt. In jedem Jahr waren es mehr Besucher geworden. Die erste Veranstaltung 1992 in Landeleau, organisiert von einer Studentengruppe aus Brest, unter ihnen der spätere Bürgermeister der Stadt Carhaix, Christian Troadec, wurde von 500 Besuchern angenommen. Geplant war ein einfaches Fest, an dem Musik gemacht und etwas getrunken werden konnte. Jedes Gründungsmitglied sollte an die zwanzig Freunde einladen, um eine entsprechende Teilnehmerzahl zu garantieren. Sie nannten ihr Fest Vieilles Charrues. Bereits im zweiten Jahr hatte sich die Besucherzahl auf 3.000 erhöht. Im Jahr danach waren dann schon 5.000 gekommen. Die Zahlen verdoppelten sich schnell und 1997 waren es bereits 40.000 Besucher. Das größte Festival in Westfrankreich war geboren. In diesem Jahr nun rechneten die Veranstalter mit 100.000 Teilnehmern.
Die Jungen waren aufgeregt, keiner von ihnen hatte bis jetzt je an einer solchen Veranstaltung teilgenommen.
Pater Eozen hatte einen Kleinbus gemietet und war mit den acht auserwählten Burschen zu dem Fest gefahren. Die Reise war für den Pater ein voller Erfolg.
Für die teilnehmenden Jungen war am Ende des Festes klar, dass sie bestimmt nicht mehr mit Pater Eozen fahren würden. Jeder von ihnen hatte seine Erfahrung mit dem Pater gemacht. Schon am ersten Abend hatte er den ersten zu sich auf sein Zimmer gebeten, um mit ihm einiges zu besprechen, wie er sich ausdrückte. Anstatt ihre Freunde zu warnen, schwiegen sie aus Scham, wenn sie nach einer Stunde wieder zurückkamen und der nächste zur Besprechung gebeten wurde. Das Festival, die Musik und das fröhliche Miteinander verwandelten sich für die acht Buben, in ein Wochenende, das sie nicht mehr vergessen konnten. Traumatisierte Kinder kamen von dem Ausflug zurück. Überwog am Anfang noch der Stolz, vom Pater als etwas Besonderes betrachtet worden zu sein, so erwuchs daraus langsam aber beständig eine Angst, eine Phobie, bis hin zu einer Panik in bestimmten Situationen.
In den Wochen danach veränderten sich die Besuchszahlen des Religionsunterrichtes schlagartig. Alle Teilnehmer der Fahrt weigerten sich, zum Unterricht zu erscheinen. Sie versuchten, ihre Freunde und Klassenkameraden ebenfalls zu einem Verzicht des Unterrichts zu bewegen, aber keiner wollte oder konnte über die Gründe des schnellen Sinneswandels etwas sagen. Es dauerte Wochen, bis sich endlich ein Junge seinen Eltern offenbarte und ihnen von dem Aufenthalt bei den Vieilles Charrues erzählte. Zuerst wollten die Eltern das Gehörte nicht glauben. Zu ungeheuerlich erschien ihnen, was ihr Sohn ihnen berichtete. Der Vater des Jungen sprach daraufhin die Eltern eines zweiten an und berichtete über das, was sein Sohn ihnen gebeichtet hatte. Nach langen einfühlsamen Gesprächen, die die Eltern daraufhin mit ihrem Kind führten, bekamen sie die Bestätigung der Aussage. Die Eltern wandten sich daraufhin an den Bischof des Bistums und forderten die Entlassung von Pater Eozen und dessen Bestrafung.
Die Anschuldigungen trafen die Kirchenoberhäupter zu einer Zeit, in der man keine negativen Schlagzeilen gebrauchen konnte. Die Mitgliederzahlen zeigten einen negativen Trend, und die Einnahmen der Kirche hatten einen Tiefpunkt erreicht. Wenn jetzt auch noch pädophile Anschuldigungen die Berichterstattung dominierten, dann war abzusehen, dass der Abwärtstrend sich noch beschleunigen würde.
Der Bischof musste handeln. Er musste schnell handeln und konnte nicht abwarten, bis die Angelegenheit in Vergessenheit geriet. Pater Eozen wurde zum Rapport bestellt. Der vor einem Jahr noch gefeierte Pater, der kurz vor der Ernennung zum Dekan gestanden hatte, wurde mit den Vorwürfen konfrontiert. Zuerst stritt der Pater alles ab. Dann aber, als der Bischof ihn an sein Gelübde erinnerte und ihn eindringlich aufforderte, die Wahrheit zu sagen, da er ihm ansonsten nicht helfen könne und ihn dem weltlichen Gerichtswesen übergeben müsse, offenbarte er seine ‚fehlgeleitete Neigung‘, wie er sich ausdrückte.
Die Entscheidung des Bischofs war schnell getroffen. Pater Eozen sollte in ein Kloster gehen. Ein Pfarrer, der seine Verfehlungen gebeichtet hat und dem man die Absolution erteilte, war nach der kirchlichen Lehre von seinen Sünden erlöst. Er konnte daher aus der kirchlichen Sicht nicht weiter bestraft werden.
Der Bischof verbot ihm, weiterhin als Pfarrer tätig zu sein. Ein Kloster, das weit von Ernée entfernt war, sollte den Pater aufnehmen und ihn von Kindern fernhalten. Die Abbey de Landévennec erschien dem Bischof das richtige Kloster zu sein. Es lag im wahrsten Sinn des Wortes am Ende der Welt, im Finistère. Dort würde er bestimmt keine Möglichkeit bekommen, seinen abartigen Neigungen nachzugehen.
Pater Eozen packte seine wenigen Sachen ein und verließ die Stadt, ohne sich von den Gläubigen zu verabschieden. Von einem Tag auf den anderen war der Pater aus Ernée verschwunden. Die Stadt bekam vom Bistum lediglich die Mitteilung, dass die Pfarrei bis auf weiteres wieder vom Pfarrer aus Mayenne betreut würde.
Pater Eozen war seit 22 Jahren in der Abbey de Landévennec. Das Kloster, das mit seinen pâtes de fruits berühmt geworden ist. Diese herrlichen weichen süßen und fruchtigen Geleefrüchte, die durch den Zuckermantel einen gewissen Biss hatten, waren der Renner des Klosters. Die Früchte wurden zum großen Teil in den ausgedehnten Klostergärten selbst angebaut und von den Mönchen verarbeitet. Pater Eozen hatte sich erneut zu einem Benediktiner gewandelt und sich den strengen Regeln des Ordens unterworfen. Neben dem morgendlichen Hochamt und den vier Chorgebeten nutzte er die Zeit, um zu sich selbst zu finden. Seine Karriereplanung war in Vergessenheit geraten und seine Ziele beschränkten sich auf die Kreation von neuen Geschmacksrichtungen für die Geleefrüchte. Er war inzwischen der ungekrönte König des klösterlichen Verkaufsschlagers geworden.
Für die Musik interessierte er sich immer noch und verfolgte die Entwicklung der Vieilles Charrues in jedem Jahr. Inzwischen hatte das Festival eine Größe erreicht, von der die früheren Organisatoren nur hatten träumen können. Im letzten Jahr waren über 280.000 zahlende Besucher zum Musikfest gekommen.
Pater Eozen kam vom morgendlichen Hochamt, als er zum Abbé, bestellt wurde. Gehorsam machte er sich sofort auf den Weg.
„Treten Sie ein, Pater Eozen“, sprach ihn Pater Gurval an.
„Sie wollten mich sprechen, Bruder Gurval“, erwiderte Eozen.
„Das ist richtig, ich habe dich rufen lassen. Wie lange bist du jetzt bei uns im Kloster?“
„In wenigen Wochen werden es wohl 22 Jahre sein, Bruder Gurval“, antwortete Eozen demütig.
„Du hast dich in unser Klosterleben in all den Jahren sehr gut integriert. Wie ich weiß, bist du inzwischen ein Meister in der Kreation neuer Geleefrüchte geworden“, sagte Pater Gurval und lächelte seinem Mitbruder zu.
„Das ist zu viel des Lobes“, antwortete Eozen in einem beinahe schon unterwürfigen Tonfall.
„Pater Eozen, dir ist bestimmt nicht entgangen, dass unsere Kirche in den letzten Jahren einen Mangel an Priestern zu verzeichnen hat. Gerade hier im Finistère, in der Region, die die höchste Dichte an Kirchen und Kapellen in der Welt aufweist, fehlen Priester für die Gemeinden. Jede der ehemals 380 Pfarrbezirke des Departements hat natürlich seine Pfarrkirche gehabt, und dazu kommen mindestens 1.000 Kapellen. Das wir nicht für jede Kirche einen Pfarrer haben können versteht sich von selbst. Seit der Trennung von Staat und Kirche verfügen wir nicht über die Mittel, eine solche Anzahl von Pfarrer zu unterhalten. Auch wenn der Nachwuchs nicht so drastisch zurückgegangen wäre, könnten wir die Gemeinden nicht alle mit einem eigenen Pfarrer ausstatten. Aber auch seit der Neuorganisation der Pfarreien auf jetzt gerade noch 20 Pfarrbezirke, fehlen uns Priester, die die Gemeinden betreuen können. Wir sind auf jeden Pfarrer angewiesen.“
„Ich habe davon gelesen Bruder Gurval. Es ist eine beschämende Entwicklung, dass es immer weniger Menschen gibt, die sich zum Priesteramt hingezogen fühlen.“
„Ja, da stimme ich dir zu, Bruder Eozen. Früher gab es keinen solchen Mangel. Wie würden wir sonst die zahllosen Kapellen erklären können. In manchen Gemeinden gibt es bis zu sieben Kapellen. Die Menschen hatten einen tiefen Glauben und eine Gottesfürchtigkeit, die die heutige bei weitem übertraf.“
„Aber Bruder Gurval, was ich nicht verstehe, sind die zahlreichen Wallfahrten, die Pardons, unsere zahlreichen Prozessionen, an denen die Bevölkerung so beständig teilnimmt. Die Restaurierung der Kapellen ist doch ein Zeichen einer tiefen Gläubigkeit?“
Bruder Gurval lächelte beinahe schamhaft.
„Fürwahr, jede Kapelle hat ihren eigenen Verein, der sich um die Erhaltung kümmert. Unser kirchliches Erbe hat die Jahrhunderte sehr gut überstanden. Aber das rührt von der massiven Bauweise her. Der Granit wiedersteht der Natur besser als anderes Baumaterial. Wegen der hier herrschenden Feuchtigkeit hat man die Mauern stärker gebaut. Was die Pardons betrifft, dafür gibt es auch andere Erklärungen mein Bruder. Für jede Kapelle wird in jedem Jahr ein Pardon organisiert. Diese Pardons, eindeutig religiöse Feste, sind allerdings häufig weltlicher Natur. Für viele Gemeinden ist eine Prozession oder eine Wallfahrt auch ein Dorf-, oder Gemeindefest. Ohne Kapelle kein Pardon und ohne Pardon kein Fest. Das gibt dir vielleicht eine Antwort auf deine Frage.“
„Bruder Gurval, du hast mich aber bestimmt nicht gerufen, weil du mit mir über die Kapellen sprechen wolltest“, versuchte Eozen wieder auf das ursprüngliche Thema zurückzuführen.
„Nein, Bruder Eozen! Es gibt einen ganz anderen Grund. Der Grund liegt bei den fehlenden Priestern. Die Gemeinde Benodet sucht verzweifelt nach einem Pfarrer. Benodet ist zwar nur eine Kleinstadt mit knapp 4.000 Einwohnern, aber in den Sommermonaten wird der Ort von vielen Touristen überschwemmt. In Benodet wollen sich viele Paare während ihres Aufenthaltes kirchlich trauen lassen. Aber ohne Pfarrer ist das leider nicht möglich. Der Bürgermeister hat daher eine Anfrage an das Kloster gerichtet mit der Bitte, ob wir die Möglichkeit hätten, einen Pater zu entsenden, der als Pfarrer für die Stadt tätig sein könnte. Ich habe dabei an dich gedacht. Du hast Erfahrungen mit der Führung einer Gemeinde und ich denke, dass du deine Verfehlungen gottesfürchtig bereut hast.“
Pater Eozen senkte den Kopf. Ob dies ein Zeichen von Ehrfurcht, Scham oder eher von Zerknirschtheit war blieb sein Geheimnis. Es dauerte einige Minuten, bis er zu einer Antwort bereit war.
„Pater Gurval, wenn du mich mit dieser Aufgabe betrauen willst, dann werde ich gehorchen und demütig das Amt antreten. Ich will das Amt gottesfürchtig und andächtig führen.“
„Sehr schön, dann solltest du dich bereits in drei Tagen nach Benodet begeben. Ich werde dein Kommen der Gemeinde mitteilen. In Benodet wirst du der Pater Eozen aus dem Kloster Landévennec sein. Dein früheres Leben soll in Benodet nicht publik gemacht werden.“
Anaïk Pellen-Bruel saß an ihrem Schreibtisch und freute sich über die Nachricht, die sie soeben von Monique erfahren hatte. Monique und Alain hatten beschlossen zu heiraten, und Anaïk sollte ihre Trauzeugin werden. Zwei Jahre nach ihrer eigenen Hochzeit sollte es im Kommissariat eine weitere geben. Monique hatte sich in den vergangenen Jahren nicht nur zu einer Stütze für das Kommissariat entwickelt, sie war auch Anaïks beste Freundin geworden. Die gemeinsam gelösten Fälle, die täglichen Arbeiten im Büro und die regelmäßigen privaten Treffen der beiden Kommissarinnen, hatten sie zusammengeschweißt und zu einem echten Team werden lassen. Sowohl sie als auch Brieg verstanden sich gut mit Moniques Freund Alain, so dass es nicht verwunderlich war, dass sie gerne zusammen ihre Freizeit verbrachten.
Vor einigen Wochen hatten sie einen gemeinsamen Ausflug unternommen. Über ein Wochenende waren sie an die Pointe de Saint-Mathieu gefahren und hatten eine Nacht in der Hostellerie de la Pointe-Saint-Mathieu verbracht. Auslöser für die Reise in den Norden war ein Bericht im Ouest-France gewesen. Die Zeitung hatte einen Artikel über die aktuellen Sterne-Restaurants im Finistère veröffentlicht und dabei das Restaurant der Hostellerie genannt. Die junge Köchin, Nolwenn Corre, hatte das Restaurant von ihrem Vater übernommen und schon nach kurzer Zeit den ersten Stern erhalten. Die zwei Kommissarinnen beschlossen, ein gemeinsames Wochenende dort zu verbringen und zusammen Spaziergänge zu machen. Es sollte ein erholsames, genussvolles und gemütliches Miteinander sein. Beide waren sich schnell einig, dass es kein großes Problem sein dürfte, die Männer von dem Wochenende zu überzeugen.
Ihre Zimmer hatten einen traumhaft Ausblick. Über kleine Schönheitsreparaturen, die bereits vorgesehen waren aber noch ausstanden, sahen sie großzügig hinweg. Anaïk und Brieg hatten das Zimmer 27 in der zweiten Etage. Die enorm große Terrasse mit einem herrlichen Blick über den Atlantik versöhnte Brieg, der die Dachschräge des Zimmers weniger schätzte. Für ihn hätte das Zimmer ruhig etwas größer sein dürfen. Die Terrasse entschädigte nicht nur ihn sondern auch Anaïk. Sie beschlossen, Alain und Monique am späteren Nachmittag zu einem Aperitif auf ihre Terrasse einzuladen. Ohne den Zigarettenrauch eines Nachbartisches auf der Terrasse der Bar, konnten sie hier gemütlich sitzen und ein Gläschen genießen.
Am Nachmittag machten sie eine Wanderung entlang des GR 34. Ihr Weg führte sie von der Pointe Saint-Mathieu über Le Conquet bis zur Pointe de Kermorvon. Dabei hatten sie die Passerelle du Croae zu überqueren. Ein Steg, der auf einer Länge von über 200 Metern die Bucht von Le Conquet überquerte. Angelegt war er speziell für die Wanderer auf dem GR 34 worden.
Nach ihrer Rückkehr nahmen sie sich eine Flasche Rotwein aufs Zimmer und genossen ihren Aperitif wie geplant. Die Abendsonne schien auf die Terrasse und tauchte sie in ein orangenes Licht. Über dem Meer glitzerten und funkelten die Reflexe der Lichtstrahlen der untergehenden Sonne. Die Segel von einem Dutzend Boote, die auf dem Weg nach Ouessant oder Molène waren, blähten sich im Wind.
Das gemeinsame Abendessen in dem Sterne-Restaurant wurde zum Höhepunkt des Wochenendes. Nolwenn Corre hatte ihren Stern zurecht erhalten, war die einhellige Meinung der vier Freunde. Das Menu war phantastisch. Die erste Vorspeise bestand aus einer wunderbaren Gänseleberpastete mit einem leichten Dill-Geschmack, danach kam ein feuille à feuille de Saint-Jacques et truffe Melanosporum, dem schwarzen Diamanten, wie der Trüffel aus dem Perigord genannt wird. Es folgte der Fischgang, ein Lieu jaune. Der Fleischgang war eine raffinierte Zubereitung aus hausgemachten Ravioli mit Safran, Kalbfleischconfit und Zitrone, umgeben von einer kräftig gewürzten Sauce. Das Mousse aus frischem Ziegenkäse wurde als Käse-Gang gereicht. Ein Mandarineneis, eine exotische Kreation der Köchin schloss das Menu ab.
Der Abend war für alle ein Erlebnis. Schnell waren sie übereingekommen, noch einmal das Restaurant aufsuchen zu wollen.
Anaïk dachte an diesen Abend als sie jetzt überlegte, wo die beiden ihre Hochzeit feiern würden. Bestimmt würden sie dieses Restaurant nicht in die engere Wahl nehmen. Es war zum einen ein gutes Stück von Quimper entfernt und verfügte nicht über große Räumlichkeiten.
Anaïk griff zum Stift, um sich einige Notizen für den Einkauf zu machen. Der Kühlschrank wies große Leere auf. Am letzten Wochenende hatten sie Freunde zu Gast und die Vorräte verbraucht. Freunde von Brieg waren aus Nantes gekommen, um sich die Kirche von Benodet anzusehen, weil sie im Herbst dort heiraten wollten. Weiß der Teufel, wieso sie sich diesen Ort ausgesucht hatten, jedenfalls sollte es Benodet sein. Für Anaïk wäre die Stadt für eine Hochzeit nicht in Frage gekommen. Es gab dort einfach zu viele Touristen.
In Benodet hatte es an dem Wochenende ein Fest anlässlich der Einführung des neuen Pfarrers gegeben. Die Stadt hatte lange nach einem Nachfolger für den über 80-jährigen Vorgänger gesucht, der aus gesundheitlichen Gründen keine Messen mehr halten konnte. Pater Eozen, der die Pfarrei jetzt übernahm, näherte sich auch bereits dem Pensionsalter, aber einige Jahre würde er das Amt bestimmt noch ausführen können. Der Festtag hatte mit einer Messe begonnen, die es den Kirchgängern ermöglichte, den neuen Pfarrer kennenzulernen. Ein charismatischer Mann, stellte Anaïk fest. Seine Predigt hatte Klasse und unterschied sich wohltuend von den gängigen Belehrungen, Zurechtweisungen und Ermahnungen, die sonst in Messen häufig zu hören waren. Sie konnte sich gut vorstellen, von Zeit zu Zeit eine seiner Messen zu besuchen, einfach um dem Mann zuhören zu können.
Monique betrat mit einem Formular Anaïks Büro.
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