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Ewen Kerber, Leiter der Mordkommission von Quimper, hat einen kurzen Urlaub auf der Insel Groix verbracht und war dabei die Insel wieder zu verlassen, als ihn ein Anruf von seinem Kollegen, Paul Chevrier, erreichte. Kriminelle haben ein Juweliergeschäft in Douarnenez überfallen, Geiseln genommen, Lösegeld gefordert und sich mit einem Hubschrauber auf den Weg nach Groix gemacht. Bei dem Überfall ist der Inhaber des Ladens ums Leben gekommen. Ewen Kerber will versuchen, die Verbrecher, mit Hilfe der Gendarmen der Insel, dingfest zu machen. Als diese aber das Schiff in ihre Gewalt bringen, eskaliert die Angelegenheit, und ein Sondereinsatzkommando der Marine muss eingreifen.
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Seitenzahl: 360
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Jean-Pierre Kermanchec
Die schwarzen Männer
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Impressum neobooks
Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen, sind rein zufällig.
Impressum
© 2018 Jean-Pierre Kermanchec, Ulrike Müller
Cover: Atelier Meer Kunst, Oetrange
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Printed in Germany
Ewen Kerber war mit sich und der Welt im Einklang. Einige Urlaubstage standen an, die er mit Carla auf Groix verbringen wollte. Inselurlaub löste bei Ewen normalerweise keine Begeisterungsstürme aus, nicht weil er etwas gegen Inseln hatte, einzig die Anreise war ihm ein Dorn im Auge. Das Betreten eines Schiffes war für ihn gleichbedeutend mit der Vorstellung, sich permanent übergeben zu müssen.
Groix war Carlas Wunsch gewesen, nachdem ihre Tochter Marie von den herrlichen Stränden, dem angenehmen Klima und den wunderschönen Spazierwegen rund um die Insel erzählt hatte. Letztlich hatte aber die Lektüre eines Buches, das Carla Ewen vor langer Zeit geschenkt hatte, ihn dazu bewegen können, seine Zustimmung zu geben. Die Beschreibungen über den Mineralienreichtum der Insel und über die Geologie ihrer Entstehung hatten in ihm die Neugierde geweckt, die Insel in Augenschein nehmen zu wollen. Nachdem Marie und Carla ihn darüberhinaus überzeugen konnten, dass die Überfahrt von Lorient aus nur eine gute Stunde dauerte, und das Schiff so groß sei, dass auch ein bewegtes Meer keine negativen
Effekte bei ihm aufkommen lassen würde, war er endgültig zur Zustimmung bereit.
Morgen ging es los. Die beiden hatten geplant, eine Woche auf der Insel zu verbringen. Eine Woche ohne Anrufe aus dem Büro und in absoluter Abgeschiedenheit von den kriminellen Vorfällen rund um Quimper. Paul Chevrier, sein Partner und Freund, hatte ihm versprochen, ihn zu informieren, falls seine Anwesenheit unausweichlich werden sollte. Ewen konnte sich auf seinen Kollegen verlassen, daran gab es keinen Zweifel. Bestimmt würde Paul auch seine Nachfolge antreten, wenn er selbst in den nächsten Jahren in Pension gehen würde.
Paul war seit geraumer Zeit damit beschäftigt, seine Tätigkeit in Quimper zu überdenken. Davon wusste Ewen jedoch noch nichts. Seitdem Paul Alice Branilec kennengelernt hatte, wuchs sein Wunsch, nach Brest versetzt zu werden. Nur Ewen hielt ihn noch in Quimper zurück. Von Alice konnte er nicht fordern, dass sie nach Quimper zog. Ihrer Tätigkeit in der Abteilung Cybercriminalité konnte sie nur in Brest nachgehen, die Abteilung hatte dort ihren Sitz. Paul wollte seinen Freund Ewen auf keinen Fall in Quimper alleine zurücklassen. Sobald Ewen aber in Pension gehen würde, stünde einem Wechsel des Dienstortes nichts mehr im Wege.
In den letzten Tagen war es ruhig im Kommissariat. Die Morde von Locronan waren aufgeklärt, die Menschen in dem Wallfahrtsort konnten wieder friedlich schlafen. Nourilly, der Chef der police judiciaire, hatte alle Hände voll zu tun mit den Pressekonferenzen und den Interviews der lokalen Fernsehsender. Breizh TV, der bretonische Kanal, France3 aber auch die überregionalen Sender berichteten schon seit Tagen von der inzwischen aufgeklärten Bluttat. In den Augen der Presse war es eine unfassbare Mordserie. Drei Menschen mussten sterben, weil ein ehemaliger Bürgermeister unbedingt verhindern wollte, dass an dem Ablauf der Wallfahrt, den Pardons von Locronan, etwas geändert wurde.
Die Auflösung der Morde war eine Meisterleistung von Ewen Kerber, auch wenn Kommissar Zufall ihm zu Hilfe geeilt war.
„Und, Ewen, hast du schon alle Vorbereitungen für den Urlaub auf Groix erledigt?“, fragte Paul seinen Freund, als er dessen Büro betrat.
„Da gibt es von meiner Seite nicht viel vorzubereiten, Paul. Carla hat bereits alles zusammengesucht, was wir an Kleidung mitnehmen werden. Wetterfeste Kleidung dürfte das Wichtigste sein. Für eine Woche benötige ich nicht viel. Etwas Wäsche, zwei Jeans, eine zum Wechseln, falls wir einmal nass werden sollten, T-Shirts und einen warmen Pullover. Vielmehr brauche ich nicht. Wir gehen schließlich zum Wandern und nicht auf eine Modenschau.“
„Ich habe auch weniger an deinen Koffer gedacht, Ewen. Ich meinte eher deine mentale Vorbereitung. In den nächsten Tagen soll der Wind deutlich auffrischen. Du weißt was das bedeuten kann?“
„Auffrischen, der Wind soll auffrischen? Wie stark soll er denn werden?“
„Nun, er wird nicht gerade Orkanstärke erreichen, aber im Wetterbericht gestern hieß es, dass es bis zu Windstärke sechs kommen kann. Aber bis ihr morgen fahrt, kann sich das Wetter schon wieder geändert haben.“
„Das ist das Gute an unserem bretonischen Wetter. Man kann sicher sein, dass es sich schnell wieder ändert. Allerdings, planen lässt sich damit nicht sehr gut.“
„Habt ihr euch ein schönes Hotel ausgesucht für die Woche?“
„Carla hat das erledigt. Sie hat das Hotel Ty Mad, direkt am Hafen von Port Tudy, ausgesucht. Es ist ein Hotel mit zwei Sternen. Das reicht uns bestimmt für die eine Woche. Wir haben ein Zimmer mit Sicht zum Hafen bekommen. Wir brauchen kein Taxi, um ins Hotel zu gelangen, das ist ein Vorteil. Ich habe mir angesehen, was über das Restaurant geschrieben worden ist, das Essen ist mir wichtiger als das Zimmer. Es scheint alles in Ordnung zu sein, die Kritiken sind gut.“
„Dann ist ja alles in bester Ordnung. Hoffen wir, dass die Wetterfrösche sich geirrt haben.“
„Hoffen wir es!“
Paul verließ das Büro und Ewen beugte sich wieder über die lästigen Formulare, die es, für die von Nourilly gewünschte Statistik, auszufüllen galt. Eine absolut unnötige Arbeit aus seiner Sicht. Dumme Fragen wie zum Beispiel: Wie viele Tage haben Sie an der Aufklärung gearbeitet? War die Unterstützung durch das Kommissariat ausreichend? Welche Verbesserungen sollten wir einführen? Welche Kosten sind durch die Ermittlungsarbeit entstanden? Wären diese Kosten durch eine bessere Koordination vermeidbar gewesen? Solche und ähnliche Fragen wollte der Chef beantwortet haben, um seine Auswertungen bezüglich der Kostenminimierung und der eventuellen Neuausrichtung der einzelnen Abteilungen zu erstellen. Ewen schien das eine Zeitvergeudung. Er füllte diese Formulare auch nur in den Zeiten aus, in denen gerade keine Ermittlungsarbeiten anstanden.
Langsam rückte der Feierabend näher und Ewen begann seinen Schreibtisch aufzuräumen. Dann machte er sich auf den Weg nach Hause. Er nahm sein Jackett vom Besucherstuhl, zog es an und verließ das Zimmer, nicht ohne nochmals seinen Blick durch das Büro schweifen zu lassen, um sicherzugehen, dass er auch nichts vergessen hatte. Dann zog er die Bürotür zu. Ein absolut sicheres Zeichen für jeden im Kommissariat, dass Ewen Kerber in Urlaub ist. Üblicherweise stand seine Tür offen.
„Bis nächste Woche, Paul! Du vergisst nicht, was du mir versprochen hast?“
„Nein, Ewen, bestimmt nicht. Sollte es ohne dich nicht mehr weitergehen, werde ich dich sofort anrufen.“
„Grüß mir bitte Alice, die ich immer noch nicht kennenlernen durfte.“
„Steht schon auf meiner Agenda, Ewen. Grüß du mir Carla, und erholt euch gut.“
Ewen nickte und machte sich jetzt endgültig auf den Heimweg.
Die Fahrt nach Lorient am nächsten Morgen verlief problemlos. Sie mussten schon sehr früh losfahren, die Fähre verließ wenige Minuten nach acht Uhr den Hafen von Lorient. Ihrer Buchung hatten sie entnommen, dass sie 40 Minuten vor der Abfahrt vor Ort sein sollten. Von Quimper bis nach Lorient benötigten sie etwa eine dreiviertel Stunde, so dass Ewen entschieden hatte, viertel nach sechs loszufahren.
Sie stellten ihren Wagen in eine Parklücke auf dem öffentlichen Parkplatz, in der Rue Gilles Gahinet. Damit ersparten sie sich die Kosten für den bewachten Parkplatz am oberen Ende der Straße. Die Gebühren waren dort hoch, zwanzig Euro für die ersten zwei Tage. Wie hoch die Kosten für eine Woche waren, wusste Ewen nicht. Aber durch ihre frühe Ankunft fanden sie einen Platz auf dem öffentlichen Parkplatz und konnten sich diese Kosten also sparen. In der Nebensaison war auch der andere Parkplatz kostenlos, aber ihre Fahrt fiel gerade noch in die Hauptreisezeit.
Das Schiff, Le Saint Tudy, lag bereits am Pier, und die Vorbereitungen für die Überfahrt waren in vollem Gange. Zwei LKW standen auf der Wartespur für die Fahrzeugverladung, und sieben PKW parkten daneben. Ewen und Carla betraten die Vorhalle des Gare Maritim und gingen an einen freien Schalter. Carla, die die Buchung Online getätigt hatte, reichte der Dame hinter dem Schalter ihre Reservierung und erhielt von ihr die Fahrkarten und einige Broschüren über die Insel. Ewen sah auf die Uhr und fragte sich, warum sie so früh hier sein mussten. Sie hatten jetzt noch beinahe eine halbe Stunde Zeit, bis sie an Bord gehen konnten.
Der Wartesaal war noch nicht sehr belebt, als Ewen mit Carla durch die automatische Glastür in den Raum trat. Sie suchten sich einen Platz am Fenster, und Ewen betrachtete das Schiff. Er schätzte die Länge des Schiffes auf mehr als 40 Meter. Die Breite konnte er nicht gut einschätzen. Aber 10 bis 11 Meter konnten es schon sein. Dann fiel ihm der Prospektständer auf. Er erhob sich und ging auf den Ständer zu. Ein Prospekt der Compagnie Océane steckte darin. Ewen zog ein Exemplar heraus und öffnete es. Da standen alle Daten zu den beiden Schiffen der Gesellschaft. Die Länge betrug 44,5 Meter und die Breite 11 Meter. Das zweite Schiff, die Ile de Groix, war etwas größer, 46 Meter lang und 12 Meter breit. Die Kapazität, den Transport von Fahrzeugen betreffend, war bei dem größeren Schiff deutlich höher. Anstelle von 20 PKW konnten 32 geladen werden. Die Geschwindigkeit von 12 Knoten war für beide gleich.
Ewen setzte sich wieder zu Carla, die den Eindruck hatte, dass Ewen seine notorische Angst vor Seereisen durch die Lektüre dieser Prospekte überspielen wollte.
„Ist das sehr interessant?“, fragte sie ihn.
„Ich interessiere mich eben für unser Schiff. Ich möchte informiert sein über seine Größe, Geschwindigkeit und Zuladung. Es kann doch nicht schaden, wenn ich mich damit beschäftige?“
„Nein, Ewen, schaden kann es nicht, aber du könntest dich vielleicht auch für mich interessieren. Auch das könnte nicht schaden, was meinst du?“
Ewen fühlte sich ertappt und legte den Prospekt sofort zur Seite.
„Aber natürlich interessiere ich mich für dich, mein Schatz“, sagte er, nahm seine Frau zärtlich in den Arm und drückte ihr einen liebevollen Kuss auf den Mund.“
Als der Ausgang geöffnet wurde, strömten die Passagiere in Richtung des Schiffes. Bestimmt waren es an die 200 bis 300 Menschen, die inzwischen im Warte-saal ausgeharrt hatten.
Ewen nahm ihren Koffer und marschierte mit Carla in Richtung der wartenden Fähre. Die Fußgänger betraten den großen Laderaum des Schiffes und stiegen sofort die Treppe nach oben, während die Fahrzeuge langsam an ihnen vorbei auf das Parkdeck fuhren. Noch lag das Schiff ruhig am Pier, und Ewen registrierte keinerlei Schwankungen. Wenn es dabei bleibt, würde die Überfahrt bestimmt unproblematisch werden. Die Fahrt nach Ouessant, vor der er enormen Respekt gehabt hatte, wegen der überall beschriebenen gefährlichen Fromveur-Strömung, war damals sehr gut verlaufen. Außerdem dauerte die heutige Fahrt lediglich fünfzig Minuten.
Carla suchte für sie beide einen Platz auf dem offenen Deck, um etwas mehr von der herrlichen Landschaft zu profitieren. Jetzt am frühen Morgen war die Luft noch recht frisch, und sicherlich würde der Wind deutlich zunehmen, wenn das Schiff erst auf dem offenen Meer fuhr. Sie waren beide warm bekleidet, so dass die Temperatur ihnen im Augenblick nichts anhaben konnte.
Pünktlich um acht Uhr wurden die mächtigen Taue, die das Schiff am Pier gehalten hatten, gelöst und eingezogen, und das Schiff nahm Fahrt auf. Der Hafen von Lorient ist der größte Fischereihafen der Bretagne, und so lagen jetzt zahlreiche Fischkutter, die die Nacht über auf dem Meer waren, an den Molen und löschten ihre Ladung.
Die Saint Tudy glitt sanft an ihnen vorbei. Ewen stellte sich an die Reling und betrachtete die Bugwelle, die das Schiff erzeugte. Eine Segelyacht, die vom Meer zurückkam und in Richtung des Hafens fuhr, wurde von den Wellen kräftig angehoben. Ewen war heilfroh, dass er nicht auf dem Segelboot sein musste. Diese Bewegungen wären bestimmt schon zu viel für seinen Magen gewesen. Jetzt kam der erste der drei mächtigen U-Boot-Bunker von Lorient ins Blickfeld. Die Nazis hatten sie errichtet, und sie dienten den deutschen U-Booten während des zweiten Weltkrieges als Schutz vor den alliierten Bombenangriffen. Der Bunker K3, so hatte Ewen in einer Fernsehsendung gehört, besaß eine sechs Meter dicke Betondecke, die anderen beiden hatten lediglich drei Meter Beton zu ihrem Schutz. Die Stadt Lorient war während des Krieges praktisch ausradiert worden, aber die Bomben hatten an den Bunkern so gut wie keinen Schaden angerichtet. Die französische Marine nutzte sie bis in die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts noch für ihre U-Boote. Jetzt waren die Bunker zu einem Museum umfunktioniert worden. Teile wurden als überdachte Liegeplätze für diverse Yachten genutzt oder dienten zahlreichen Firmen als Lager, Werkstätten und Fabrikräume. Die enorme Größe dieser Anlagen erlaubte es, dass hier sogar Tri- und Katamarane für die Wettrennen über den Atlantik gebaut werden konnten.
Auf der anderen Schiffsseite kam Vaubans gewaltige Festung Port Louis näher. Ewen kannte die Festung von früheren Besuchen. Sie beherbergt das Museum der indischen Kompanie, das er mit Carla an einem Sonntag besucht hatte. Es war absolut sehenswert. Die hohen Mauern erschienen Ewen von See aus noch mächtiger. Langsam kamen sie aufs offene Meer hinaus. Der Wind frischte nur unwesentlich auf, und das Schiff glitt ruhig durchs Wasser. Nach einer knappen halben Stunde kam auch schon die Île de Groix in Sicht. Schon vom Weitem konnte Ewen die Hafeneinfahrt mit dem rotweißen Leuchtturm auf der linken Seite der Hafeneinfahrt erkennen. Als sich das Schiff der Einfahrt näherte, reduzierte es seine Geschwindigkeit und passierte die, aus Ewens Sicht, sehr enge Einfahrt. Vorsichtig wurde es an die Kai-Mauer bugsiert und vertäut.
„Na, war das jetzt so schlimm?“, fragte Carla ihren Mann, während sie die Treppe nach unten stiegen und das Schiff verließen.
„Die Herfahrt nicht, hoffen wir, dass die Rückfahrt auch so gut verläuft.“
„Ach Ewen, kannst du nicht einfach nur entspannen. Lass uns jetzt die Tage auf Groix genießen. Du wirst sehen, es wird dir gut gefallen.“
Sie gingen über die recht breite Kaimauer und folgten dann der Straße in südliche Richtung. Ihr Hotel lag genau vor ihnen. Nach nur wenigen Metern hatten sie es erreicht. Der Innenhof diente als Parkplatz für die Gäste, die mit eigenem Fahrzeug auf die Insel kamen, und dem Hotelbesitzer. Im hinteren Bereich, links neben dem Eingang, sah Ewen eine recht nett angelegte Terrasse mit Tischen und Stühlen für die Gäste. Bestimmt konnten sie hier ihren Aperitif einnehmen.
Die Anmeldung war schnell erledigt, die Zimmer leider noch nicht zu beziehen, was nicht weiter tragisch war. Sie stellten ihren Koffer ab und starteten sofort zu einem ersten Erkundungsgang.
Sie entschieden sich für den Weg nach Osten, der über dem Hafenbecken verlief und einen freien Blick auf die Küste und Lorient gestattete. Ewen war sogleich begeistert von den herrlichen Ausblicken auf den Hafen, das Festland, die sanft im Wind treibenden Segelboote und den wunderschönen Farben des Wassers, des Sandes und der südländischen Flora.
Das Meer, das am Horizont in dunklem Azurblau leuchtete, veränderte seine Farbe mit der Annäherung an den Strand von tiefdunklem Grün über Smaragdgrün, um dann in ein zartes Hellgrün zu münden. Die sich bildenden und schnell wieder vergehenden weißen Schaumkronen der Wellen verliehen dem Ganzen eine Leichte und Lebendigkeit. Die verschiedenen Strände schienen den Wettbewerb mit dem Farbenspiel des Wassers aufnehmen zu wollen. Anstatt die üblichen hellbraunen bis gelblichen Farbtöne, die Ewen kannte, schillerten diese hier rötlich bis weiß. Das satte Grün der Bäume, der Farne und der übrigen Pflanzen gab diesen hellen Stränden ein subtropisches Antlitz. Jetzt verstand Ewen die Erzählungen von Carlas Tochter Marie, die von den Stränden geschwärmt hatte, und deren Freunde sie in der Südsee vermuteten, als sie ihnen die Bilder gezeigt hatte. Der Strand, Les Grand Sables, einer der seltenen konvexen Strände Europas, faszinierte Ewen. Sie folgten dem Küstenweg weiter, vorbei an dem Plage,Les Sables Rouges, dem roten Strand, der seine Farbe vom granathaltigen Sand erhalten hatte, und folgten dem Weg weiter in südliche Richtung, bis zur Pointe des Chats. Nach zwei Stunden hatten Ewen und Carla das Ziel, das sie sich für den ersten Spaziergang vorgenommen hatten, erreicht. Sie folgten der Küste in westliche Richtung und kamen an den kleinen Strand der Ortschaft Locmaria. Von dort aus wollte Ewen den Rückweg quer über die Insel zum Hotel antreten. Der Weg hatte sie ermüdet und hungrig werden lassen. Sie entdeckten die Crêperie, L´Ocre Marine, setzten sich auf die schattige Terrasse mit Blick aufs Meer und bestellten Crêpes und Getränke.
Douarnenez war mit Touristen überfüllt. Seit Jahren hatten sich nicht mehr so viele Gäste in ihren Gassen getummelt. Das herrliche Wetter sorgte dafür, dass der Zustrom von Touristen ins Finistère noch einmal kräftig angestiegen war. Die Bretagne führte die Liste der beliebtesten Ferienlandschaften der Franzosen schon seit geraumer Zeit an. Auch in diesem Jahr war die Saison sehr erfolgreich, und die Straßen, Plätze und die Promenade am Hafen waren gut besucht. Die Geschäftswelt zeigte sich zufrieden. In den letzten Wochen war der Umsatz der Boutiquen, der Bar-Tabaks, der Restaurants und der Souvenirläden auf ein neues Rekordhoch gestiegen. Schon lange war der Tourismus zu einem wichtigen Geschäftsfeld angewachsen. Die Fischerei, die im vergangenen Jahrhundert noch die treibende Kraft war, ging beständig zurück. Für Douarnenez war das bisher noch nicht so schmerzlich zu spüren, denn die weltbekannte Marke, Petit Navire, konservierte hier immer noch den Thunfisch in den kleinen blauen Dosen.
Die Passanten schlenderten durch die Einkaufsstraßen, trugen zahlreiche Einkaufstüten mit den Logos der verschiedenen Boutiquen und achteten nicht so genau auf das Geschehen, das sich vor dem Juwelierladen in der rue Duguay Trouin abspielte.
Ein schwarzer Peugeot 406, mit vier Männern besetzt, hatte geduldig gewartet, bis ein Parkplatz vor dem Juweliergeschäft frei geworden war. Drei Männer stiegen aus dem Wagen, während der vierte bei laufendem Motor im Auto sitzen blieb. Die Männer gingen zielstrebig auf die Eingangstür des Ladens zu. Kurz bevor sie die Tür erreichten, zogen sie sich schwarze, wollene Sturmhauben übers Gesicht, rissen die Tür auf und stürmten in das Geschäft. Mit gezückten Pistolen schrieen sie die wenigen Besucher an:
„Auf den Boden! Los, auf den Boden! Schneller!“
Die erstaunten Kunden reagierten zögerlich, sahen sich ängstlich um und ließen sich dann langsam zu Boden gleiten. Drei Frauen und zwei Männer waren im Geschäft, als die drei hereingestürmt waren.
Der Juwelier hob seine Hände hoch und wollte sich ebenfalls auf den Boden legen.
„Du nicht“, schrie einer der Männer und reichte ihm eine Plastiktüte.
„Den ganzen Schmuck hier rein, aber schnell und keine Mätzchen, sonst knallts.“ Der Juwelier griff nach der Tüte und füllte sie.
„Nur die wertvolleren Stücke, den Modeschmuck kannst du denen hier verkaufen!“ Er zeigte auf die Menschen auf dem Boden. Der Inhaber bewegte sich langsam hinter der Ladentheke. Er hoffte, den Alarmknopf betätigen zu können, noch zwei Schritte, dann würde er ihn erreicht haben. Erneut griff er in die Vitrine vor sich und holte Ketten, Armbänder und Ohrringe heraus.
„Schneller, nicht so lahm!“, rief ihm einer der Männer entgegen.
„Auch die Sachen in den Schubladen!“, brüllte ein anderer. Der Juwelier war beinahe dankbar für diese Bemerkung. Jetzt konnte er sich etwas bücken und den Alarmknopf drücken, bevor er die Schublade aufzog. Er füllte die Plastiktüte weiter. Langsam kam er zu den teureren Uhren. Der Mann vor ihm fuchtelte mit der Pistole hin und her und schrie:
„Schneller, schneller, wir haben nicht ewig Zeit.“
Einige Minuten später, er hatte gerade die letzten beiden Schubladen mit den Uhren und Broschen geleert, waren die Sirenen der sich nähernden Gendarmeriefahrzeuge zu hören.
„Merde, die Bullen!“, schrie der am nächsten beim Juwelier stehende Gangster in Richtung seiner Kollegen, griff nach der Tüte und riss sie dem Juwelier aus der Hand. Die drei Männer rannten zur Tür, es war zu spät. Die Gendarmen waren bereits vor dem Geschäft eingetroffen, und ihre Fahrzeuge machten es unmöglich, dass sie mit ihrem Fluchtwagen verschwinden konnten.
„Los zurück“, schrie der erste Mann und drängte seine Komplizen wieder in den Laden.
„Du hast uns die Bullen auf den Hals gehetzt!“, brüllte der Mann mit der Tüte und zielte auf den Juwelier. Ohne zu zögern drückte er ab, der Knall drang durch die Scheiben nach draußen. Die Fußgänger vor dem Laden schrieen auf, die Gendarmen stürmten an die Hausmauer und postierten sich links und rechts der Eingangstür. Die Passanten wurden aus der Gefahrenzone gebracht und das Geschäft großräumig abgesperrt.
Einem Gendarmen fiel der Fahrer in dem Peugeot 406 auf, dessen Motor immer noch lief. Mit vorgehaltener Pistole lief er zu dem Fahrzeug und riss die Tür auf. Der Fahrer machte keinerlei Anstalten sich zu wehren. Er hob die Hände und ließ sich von dem Gendarmen aus dem Fahrzeug holen und abführen. Ein zweiter, schnell herbeigeeilter Gendarm, stellte den Motor ab und schloss die Tür des Fahrzeugs. Dann bestellten sie das Einsatzkommando, das in Quimper stationiert war. Es würde bestimmt noch eine halbe Stunde dauern, bis das Team einsatzbereit vor Ort war.
Mit einem Megafon versuchte ein Gendarm die Räuber zum Aufgeben zu bewegen.
„Kommen Sie mit erhobenen Armen heraus. Sie haben keine Chance. Ergeben Sie sich und kommen Sie sofort heraus.“
Alles blieb ruhig, von drinnen kam keine Antwort. Seit dem Schuss war nichts mehr zu hören. Der Beamte wiederholte seine Aufforderung mehrfach. Keine Antwort.
„Haben die jemanden erschossen?“, fragte einer der Gendarmen seinen Kollegen.
„Keine Ahnung, ich habe nur den Schuss gehört, so wie du auch.“
„Aber falls die jemanden erschossen haben, müssen wir auch die Mordkommission rufen.“
„Du kannst sie ja schon informieren“, sagte er zu seinem Kollegen und sah wieder gebannt auf die Eingangstür des Ladens. Durch die Fensterscheiben war nichts zu erkennen. Die Scheiben, mit den dahinter hängenden Werbeplakaten, waren durch einen Vorhang vom Innenraum getrennt.
„Was machen wir jetzt?“, fragte einer der maskierten Männer seinen Komplizen.
„Wir müssen hier weg, mit dem Auto kommen wir nicht mehr fort. Bestimmt haben sie Maurice schon verhaftet. Hoffentlich hält er dicht.“
„Die Bullen müssen uns einen Fluchtwagen stellen. Wir nehmen die hier als Geiseln!“
„Alle? Die stören uns doch nur auf der Flucht. Wir schnappen uns die Frau da hinten, die muss reichen. Was hast du mit dem Besitzer gemacht?“
„Dem habe ich eine Kugel verpasst, der ist doch an allem schuld. Der hat den Alarm ausgelöst.“
„Aber jetzt haben wir auch noch einen Mord am Hals!“
„Ich habe auf seine Schulter gezielt, bestimmt lebt er noch. Sieh mal nach.“
Der Angesprochene ging hinter die Ladentheke und beugte sich über den regungslosen Körper auf dem Boden. Er versuchte den Puls zu fühlten, konnte aber nichts spüren. Dann drehte er den Körper des Mannes um und sah das Blut, das aus seiner Schulter lief. Der Schuss war in die Schulter gegangen. Aber warum war der Mann jetzt tot?“
„Scheiße! Du hast ihn umgelegt. Der ist mausetot. Du hast uns schön reingeritten. Das gibt lebenslänglich.“
„Hör auf herumzujammern. Ich habe ihn nicht erschossen. Ich weiß auch nicht, warum er den Löffel abgegeben hat. Es ist passiert, Schluss, wir müssen zusehen, dass wir hier wegkommen. Lass mich nachdenken, mir fällt bestimmt etwas ein.“
Die beständige Beschallung von draußen durch das Megaphon, mit der Aufforderung aufzugeben und mit erhobenen Händen den Laden zu verlassen, ignorierte er weiterhin. Jetzt machte der dritte Mann zum ersten Mal seinen Mund auf.
„Wir sollten aufgeben, wir kommen hier nicht mehr weg. Ich habe keine Lust erschossen zu werden.“
„Halts Maul, Jules, wir gehen hier zusammen raus, und wir schaffen es, bis nach Rennes zu kommen.“
„Jetzt erzählst du denen auf dem Boden auch noch wo wir hinwollen. Du bist so was von bescheuert, Denis!“
„Na und, was macht’s schon. Wir bleiben ja nicht in Rennes, es ist doch nur eine Zwischenstation.“
Denis fuchtelte mit seiner Waffe herum, so als wollte er mit dem Lauf der Pistole Anleitungen geben.
„Ihr macht genau was ich sage, verstanden? Wir sind übereingekommen, dass ich sage wo es langgehen soll. Wenn jeder nur macht, was ihm in den Sinn kommt, landen wir alle hinter Gittern. Ich hole uns hier heraus, verstanden?“
Jules Fucauld und Marc Gourand sahen Denis Maubert nur ungläubig an. Die beiden Männer wussten, dass Denis ein gewalttätiger Mensch war, der keinen Widerspruch duldete, wenn es um seine Person und um seine Autorität in der Gruppe ging. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als das gemeinsam begonnene Spiel auch gemeinsam zu beenden. Auch wenn aus der Aktion schon deutlich mehr als ein Spiel geworden war. Wie hatte Denis zu ihnen noch während der Planung gesagt, „Wir gehen rein, holen uns den Klunker und marschieren wieder raus. Das wird ein Kinderspiel.“ Aus dem Kinderspiel war inzwischen Mord und eine Geiselnahme geworden. Jules glaubte nicht mehr daran, dass sie ungeschoren aus der Sache herauskommen konnten.
Jules nickte stumm und bestätigte Denis damit, dass er ihn verstanden hatte. Denis sah von Jules zu Marc, auch der bewegte seinen Kopf, zwar beinahe unsichtbar aber für Denis doch ausreichend.
„So, jetzt haltet ihr die in Schach!“, rief er ihnen zu und ging zum Telefonapparat, der hinter der Verkaufstheke auf einem Sideboard stand. Er nahm den Hörer ab und wählte den Polizeinotruf. Als er die Stimme auf der anderen Seite der Leitung hörte, unterbrach er den Beamten am Telefon sofort und schrie seine Forderungen in den Apparat.
„Hören Sie gut zu, wir haben mehrere Geiseln. Wir fordern die Freilassung unseres Kumpels Maurice, ein Fahrzeug und 500.000 Euro in gebrauchten Scheinen, ansonsten knallst hier, und ihr könnt jede einzelne Geisel mit einem Sarg abholen. Ihr habt eine Stunde.“
„Sagen Sie mir doch bitte, wer Sie sind, und wo wir Sie finden?“
„Seid ihr bescheuert? Wir sind in dem Juwelierladen, in der rue Duguay Trouin. Eure ganze Mannschaft steht doch vor der Tür. Was soll also die blöde Frage?“
Der Beamte in der Notrufzentrale hatte überhaupt nichts von dem Überfall mitbekommen, sein Dienst hatte erst vor wenigen Minuten begonnen. Er verband sich sofort mit den Kollegen am Tatort, übermittelte die Forderungen der Geiselnehmer und gab den Kollegen vor Ort die Telefonnummer, die auf seinem Display erschienen war.
Jugo Kerhat hörte sich an, was ihm sein Kollege aus der Notrufzentrale zu sagen hatte. Die Entscheidung, eventuell auf die Forderungen der Geiselnehmer einzugehen, lag nicht in seinem Kompetenzbereich. Die von ihm inzwischen angeforderte Verstärkung würde bestimmt gleich eintreffen. Die würden mit den Geiselnehmern verhandeln und eine Entscheidung über das weitere Vorgehen fällen. Er hatte gerade das Gespräch beendet, als ein Wagen der police judiciaire vor der Absperrung hielt und ein Beamter in Zivil ausstieg. Jugo war sicher, dass es sich um den Kommissar der Mordkommission handeln musste, die er benachrichtigt hatte, nachdem der Schuss gefallen war.
„Bonjour Monsieur, Paul Chevrier, police judiciaire, Sie haben uns informiert, dass es hier einen Toten gegeben hat, ich bin in der Nähe gewesen, die Zentrale hat mich über Funk erreicht.“
„Bonjour Monsieur le Commissaire, ja ich habe Sie informiert. Wir wissen noch nicht, ob es einen Toten gegeben hat, aber es ist ein Schuss gefallen, und da waren wir der Meinung, dass es besser ist, wenn Sie sofort dabei sind.“
„Gute Entscheidung“, sagte Paul und ließ sich über den aktuellen Stand informieren. Jugo Kerhat berichtete auch über die Forderungen der Geiselnehmer. Das herbeigerufene Einsatzkommando war inzwischen ebenfalls eingetroffen, und die Männer verteilten sich auf die umliegenden Gebäude, Hausecken, Hinterhöfe und rings um den Laden. Die Geiselnehmer konnten das Haus jetzt unmöglich ungesehen verlassen. An eine Flucht war nicht zu denken. Der Leiter des Einsatzkommandos trat zu Kerhat und Paul Chevrier.
„Haben Sie uns informiert?“
„Ganz genau, ich habe Sie um Unterstützung gebeten“, sagte Kerhat und unterstrich seine Worte mit kräftigem Kopfnicken.
„Dann übernehmen wir jetzt die weitere Kommunikation mit den Geiselnehmern. Gibt es schon irgendwelche Forderungen?“
„Ja, ich habe gerade eben gehört, dass die Geiselnehmer einen Fluchtwagen fordern, 500.000 Euro in gebrauchten Scheinen und die Freilassung von ihrem bereits verhafteten Kumpanen. Der Mann hat in dem Wagen gesessen, als wir hier eingetroffen sind. Er hat sich ohne Gegenwehr festnehmen lassen. Ich habe den Eindruck, dass der Mann nicht zu den abgebrühtesten Ganoven gehört. Wir haben eine Stunde, um die Forderungen zu erfüllen.“
„Wir sollten zuerst versuchen, das Ultimatum zu verlängern, um sie zu zermürben. Vielleicht geben sie dann auf. Wie können wir die Leute erreichen?“
„Ich habe mir die Telefonnummer des Juwelierladens geben lassen“, sagte Kerhat und reichte den Zettel an den Leiter des Einsatzkommandos, der sofort vom Einsatzwagen aus eine Verbindung zum Laden herstellte.
„Quinnec hier“, meldete er sich, als auf der anderen Seite das Telefon abgenommen wurde.
„Ich leite die Operation. Ich habe von ihren Forderungen gehört. Die erste Forderung, euren Kumpel freizulassen und euch den Fluchtwagen zu besorgen, können wir sofort erfüllen. Aber das Geld können wir nicht so schnell auftreiben. Dafür brauchen wir etwas mehr Zeit.“
„So, so, Sie brauchen mehr Zeit! Wir haben aber keine Zeit. Wenn wir das Geld nicht in einer Stunde haben stirbt eine Geisel, danach werden wir nach jeder viertel Stunde eine weitere erschießen. Haben Sie mich verstanden!“
„Sie brauchen nicht so laut zu schreien, ich kann Sie durchs Telefon sehr gut hören. Das ändert aber nichts daran, dass ich das Geld nicht in einer Stunde auftreiben kann. Eine halbe Million kann ich mir nicht aus den Rippen schneiden. Sie müssen mir wenigstens drei Stunden Zeit lassen. Dann kann das Geld hier sein. Wenn Sie jedoch auf ihrer Forderung bestehen, werden wir eben das Gebäude stürmen und den Tod einer Geisel in Kauf nehmen müssen. Da Sie sowieso geplant haben, eine Geisel zu erschießen, muss ich das wohl hinnehmen. Mehr als eine Geisel werden Sie nicht erschießen können, bevor wir Sie und ihre Komplizen erschießen. Wir sind Profis, davon dürfen Sie ausgehen.“
„Sie bluffen, Sie würden doch nie das Leben einer Geisel aufs Spiel setzen.“
„Wetten wir?“
Auf der anderen Seite blieb es stumm. Der Geiselnehmer schien nachzudenken. Serge hatte den Eindruck, dass er ihn mit seiner Aussage komplett verunsichert hatte. Serge Quinnec würde nie das Leben einer Geisel in Kauf nehmen, eine solche Haltung würde ihn sofort ins Gefängnis bringen, das wusste er. Aber der Geiselnehmer konnte sich dessen nicht sicher sein. Es war ein riskantes Spiel. Sollte der Mann bei seinen Forderungen bleiben, hatte er sich in eine schlechte Ausgangslage manövriert. Er hoffte, dass der Verbrecher unter Druck geriet und zu einem Zugeständnis bereit war. Drei Stunden sind eine recht lange Zeit in einer solchen Situation, das wusste er.
„Okay, drei Stunden, aber keine Minute länger“, schallte es plötzlich aus dem Hörer.
Serge Quinnec atmete tief durch, eine zentnerschwere Last fiel von seinen Schultern. Zum Zeichen, dass der Geiselnehmer eingelenkt hatte, hob er den Daumen der linken Hand und sah zu den beiden Kollegen. Paul Chevrier und Jugo Kerhat standen links und rechts des Leiters des Einsatzkommandos und warteten auf ein Gespräch mit ihm.
„Gut, dann mache ich mich sofort an die Arbeit, um das Geld zu beschaffen. Sie hören wieder von mir.“
„Sollte nicht ein Psychologe ein solches Gespräch führen?“, fragte Paul und sah Quinnec fragend an.
„Sicher, das ist die Vorschrift, aber bis der Psychologe von Brest hier ist, ist die von den Geiselnehmern gesetzte Frist bereits abgelaufen. Hätte ich warten sollen?“
„War ja nur eine Frage.“ Pauls Handy klingelte.
„Bonjour Monsieur Nourilly, was kann ich für Sie tun?“
„Ich habe gehört, es gibt einen Toten und eine Geiselnahme in Douarnenez?“
„Ob es einen Toten gibt wissen wir noch nicht genau. Die Gendarmerie von Douarnenez hat uns vorsichtshalber sofort informiert, nachdem in dem überfallenen Juwelierladen ein Schuss gefallen ist. Wir haben noch keinen Überblick über die Situation im Laden. Weder wissen wir wie viele Geiselnehmer sich im Geschäft aufhalten, noch wie sie bewaffnet sind, oder wie viele Geiseln sich in ihrer Gewalt befinden.“
„Kerber ist doch in Urlaub, brauchen Sie meine Hilfe?“
„Stimmt, Kollege Kerber hat eine Woche Urlaub. Ich glaube, dass ich alleine klarkomme. Sollte ich Hilfe benötigen, dann erlaube ich mir, mich vertrauensvoll an Sie zu wenden.“
„Tun Sie das, Monsieur Chevrier, tun Sie das. Ich helfe gerne. Noch etwas, wie sieht es mit einer Information an die Presse aus? Sollen wir die schon informieren?“
„Dafür ist es bestimmt noch zu früh. Ich melde mich bei Ihnen, sobald wir die Presse benachrichtigen können.“
„Gut, Sie halten mich auf dem Laufenden.“
Paul legte auf und atmete tief durch. Er war Nourilly gerade noch einmal entkommen. Er konnte sich an eine Situation erinnern, die lag schon viele Jahre zurück, da hatte Nourilly sich in die Ermittlungsarbeit in einem Mordfall eingeschaltet. Seine Unerfahrenheit in Ermittlungsarbeiten hatte damals beinahe dazu geführt, dass der Fall unaufgeklärt geblieben wäre. Damals war es Ewen gelungen, Nourilly davon zu überzeugen, dass es eine große Hilfe wäre, wenn er sich um die Presse kümmern könnte. Das Wort Presse brauchte man Nourilly nicht zweimal zu sagen. Vermutlich wäre er ein ganz hervorragender Pressekonferenz-Organisator geworden. Alleine der Gedanke an eine Pressekonferenz, führte bei Nourilly dazu, dass Glanz in seine Augen trat. Wenn er zudem noch über seinen Beitrag zur Lösung eines Falles berichten durfte, aus seiner Sicht war die Führung einer Dienststelle wichtiger als die Kleinarbeit in den Niederungen der Routinearbeit, schien der Gipfel der Freude erreicht zu sein.
„War das der Chef?“, fragte Quinnec und sah Paul schelmisch an. Er hatte während des Gesprächs das Mienenspiel in Pauls Gesicht verfolgen können.
„Ja, das war Nourilly. Er wollte lediglich wissen, ob er schon die Presse informieren soll.“
„Die Presse! Die fehlt mir gerade noch. Die tauchen noch früh genug hier auf.“
„Wie wollen Sie weiter vorgehen?“ Paul lenkte das Gespräch wieder auf die anstehenden Entscheidungen.
„Wir müssen zuerst wissen, wie viele Geiselnehmer im Geschäft sind und wie Sie bewaffnet sind. Wichtig ist auch zu wissen, wie viele Geiseln sich da drinnen aufhalten.“
„Der festgenommene Fahrer kann uns doch die Fragen beantworten. Der Mann sitzt in unserem Einsatzfahrzeug.“ Jugo Kerhat mischte sich jetzt wieder ins Gespräch ein.
„Gute Idee! Versuchen wir es, hoffentlich stellt sich der Mann nicht taub und verweigert jegliche Auskunft.“
Serge Quinnec und Jugo Kerhat gingen gemeinsam zum großen Einsatzfahrzeug der Gendarmerie. Die Schiebetür an der Seite des Wagens wurde aufgeschoben und gab den Blick auf den zusammengekauerten, mit Handschellen gefesselten Mann auf der Sitzbank frei. Er machte nicht den Eindruck eines eiskalten Verbrechers, viel eher schien es Serge, als sei der Mann zum ersten Mal in eine Straftat verwickelt.
„Serge Quinnec, ich leite hier den Einsatz“, stellte er sich vor, als er dem Mann gegenüber Platz genommen hatte.
„Wie heißen Sie?“
„Maurice, Maurice Colbert.“
„Also Maurice, wir haben hier eine sehr ernste Situation. Deine Kumpels haben vermutlich eine Geisel erschossen oder schwer verletzt, sie halten weitere Geiseln in ihrer Gewalt, und wie es aussieht, werdet ihr alle wegen des Raubüberfalls, der Geiselnahme und des versuchten oder ausgeführten Mordes vor Gericht gestellt werden. Die Strafe für diese Verbrechen wird bestimmt in der Gegend von lebenslänglich liegen. Du hast die Chance, deine Situation etwas zu verbessern, falls du mit uns zusammenarbeiten willst.“
„Aber ich habe doch gar nichts gemacht! Ich sollte doch nur den Wagen fahren. Ich habe niemanden erschossen und auch keine Geisel genommen.“
„Mitgefangen, mitgehangen, Maurice, das Gesetz macht da keinen Unterschied.“
„Aber wie kann ich Ihnen helfen, ich habe doch keine Ahnung?“
„Sie könnten uns zum Beispiel sagen, wie viele Männer in dem Geschäft sind.“
„Wir sind zu viert gewesen. Drei sind in den Laden gegangen.“
„Wie sind die Männer bewaffnet?“
„Jeder hat eine Pistole, aber ich kann Ihnen nichts über die Waffen sagen. Ich kenne mich damit nicht aus.“
„Sie wissen nicht zufällig, wie viele Geiseln in dem Geschäft sind?“
„Nein, ich bin nicht reingegangen. Ich habe im Wagen gesessen und sollte sofort losfahren, wenn sie wieder rauskommen.“
„Gibt es jemanden der das Kommando führt?“
„Klar, das ist Denis, Denis Maubert, der ist eiskalt!“
„Wie heißen die anderen beiden?“
„Jules Fucauld und Marc Gourand. Die haben mit Maubert in Brest eingesessen. Sie kennen sich schon seit Jahren.“
Serge Quinnec nickte, so als wollte er zum Ausdruck bringen, dass er die Männer gut kannte. Er notierte sich die Namen und verließ den Einsatzwagen.
Ewen Kerber war jetzt bereits seit fünf Tagen auf der Insel Groix. Langsam bekam er den Eindruck, schon seit Monaten hier zu sein. Er hatte mit Carla die Insel in ihrer Gesamtheit umrundet, die meisten Weiler besucht, die herrlichen weißen Strände mit dem feinen Sand genossen und verschiedene Mineralien gefunden. Ewen war von diesem fantastischen weißen Sand am Plage Grands Sables besonders beeindruckt. Er war sicher, dass es in ganz Frankreich keinen helleren Sand als diesen hier gab. Aber langsam wurde ihm die Insel nun doch zu klein. Seit gestern hatte er den Eindruck, alles schon gesehen zu haben, wie zum Beispiel das kleine Granithaus mit der blauen Tür und dem roten Briefkasten. Ewen war sicher, diese Tür schon einmal gesehen zu haben, während Carla ihn zu überzeugen versuchte, noch nie an dem Ort gewesen zu sein. Schließlich hatten sie heute einen ganz anderen Weg als an den Vortagen genommen.
Ihre Abende spielten sich weitgehend rund um den Port Tudy und Le Bourg ab. Wenn sie ihren Aperitif einnehmen wollten, und Ewen bestand auf seinen gewohnten Appetitanreger, suchten sie meistens ein Lokal rund um den Hafen oder im Ortszentrum von Le Bourg auf. Den Thunfisch auf der Kirchturmspitze hatte er von allen Seiten betrachtet und fotografiert. Langsam wurde es Zeit, wieder aufs Festland zu fahren. Der Urlaub war morgen auch vorbei. Für die Rückfahrt hatte Carla die Fähre am Nachmittag gebucht, so dass sie spätestens gegen 17 Uhr 30 wieder in Quimper sein würden.
Vom Port Saint-Nicolas aus waren sie heute der Küstenlinie gefolgt und besuchten das Höllenloch, le Trou de l´Enfer. Von hier aus wollten sie in Richtung Le Bourg und Port Tudy weitergehen. Das Wetter hatte die ganze Woche über ein Einsehen mit ihnen gehabt. Weder beständiger Regen noch heftige Winde hatten ihren Urlaub getrübt. Zwei Mal hatte es morgens etwas geregnet, aber bereits nach einer Stunde schien die Sonne wieder.
Ewen fühlte sich sehr gut erholt, auch Carla schienen die Tage gut bekommen zu sein. Sie war ein wenig sonnengebräunt und strahlte Zufriedenheit aus.
„Was machen wir morgen, mein Schatz?“, fragte sie ihren Mann, als sie in Sichtweite des Kirchturms mit dem Thunfisch kamen.
„Mein Vorschlag ist, dass wir uns am letzten Tag nicht verausgaben. Lass uns eine kleine Tour aussuchen, die uns nicht zu weit vom Hafen entfernt. Ich habe vorgestern den kleinen Hafen Port Lay von der Höhe aus betrachtet, wir sind daran vorbeigekommen. Vielleicht können wir uns den etwas genauer ansehen?“
„Aber Ewen, der ist so klein, da haben wir in einer halben Stunde jedes Haus ausführlich betrachtet. Wir könnten schon etwas mehr einplanen.“
„Ich war ja auch nicht der Meinung, dass wir nur den kleinen Hafen besuchen sollten. Wir könnten auch noch den Menhir l’apéritif besuchen.“
„Ein Menhir der Aperitif heißt?“
„Ja, ich habe davon gelesen. Der Menhir ist umgefallen, aber er hat wohl eine Höhe von 5,7 Metern gehabt. Man sagt, dass er den Fischern als Navigationspunkt gedient hat, wenn sie den Port Tudy angesteuert haben. Dank des Menhirs konnten sie ihre Boote genauer und schneller in den Hafen manövrieren und waren so früher zu Hause.“
„…und konnten den Aperitif schneller einnehmen?“, meinte Carla ergänzend.
„Vielleicht hat er dadurch seinen Namen erhalten“, antwortete Ewen.
„Ewen, ich glaube, wir sollten in Quimper einen Menhir aufbauen, damit auch du den Weg schneller nach Hause findest.“ Carla lachte, während Ewen ein nachdenkliches Gesicht machte.
„Wir können den Menhir gerne besuchen, Ewen“, meinte Carla, als sie bereits die Straße hinunter zum Hafen gingen und an dem kleinen, alten Zollhaus, gegenüber von ihrem Hotel, vorbeikamen.
„Wir können unseren Aperitif heute im Hotelgarten einnehmen, was hältst du davon?“
„Eine sehr gute Idee, Carla, der Garten ist schön ruhig und sonnig.“
Sie betraten das Hotel und nahmen ihren Zimmerschlüssel vom Brett. Die Rezeption war unbesetzt, was Ewen irritierte. Jeder konnte sich einen Zimmerschlüssel schnappen und in aller Ruhe ein Zimmer durchstöbern? Die Vorstellung behagte ihm überhaupt nicht. Ansonsten war er mit dem Hotel ganz zufrieden. Das Essen entsprach seinen Vorstellungen, und die Bedienung arbeitete diskret und effektiv.
„Hoffentlich ist gleich jemand an der Rezeption, damit wir unseren Aperitif auch bestellen können“, meinte Ewen, als sie auf ihr Zimmer gingen, um die Wanderschuhe gegen bequemere auszutauschen. Nach wenigen Minuten verließen sie ihr Zimmer und gingen hinunter in den Garten. Zu ihrem Erstaunen war eine Bedienung im Garten und deckte einen Tisch ein.
„Bonjour Madame, dürfen wir bei Ihnen eine Bestellung für einen Aperitif aufgeben?“, fragte Ewen die Dame.
„Bien-sûr, Monsieur“, antwortete sie ihm.
Ewen und Carla wählten einen Tisch in der Mitte des Gartens. Carla entschied sich für den Platz in der Sonne, Ewen wählte ein etwas schattigeres Plätzchen aus.
„Was darf es denn sein?“
„Für mich ein Glas Champagner“, antwortete Carla.
„Mir dürfen Sie ein Rosé bringen“, sagte Ewen und lächelte die Frau an.
„Sagen Sie, kann man auch im Garten das Abendessen einnehmen? Ich sehe, dass Sie einen Tisch eindecken.“
„Die Herrschaften haben am Morgen gebeten, im Garten essen zu dürfen. Wir versuchen alle Wünsche unserer Gäste zu erfüllen.“
„Es wird mir bestimmt zu frisch im Garten“, meinte Carla, als Ewen sie fragte, ob auch sie den Garten dem Speisesaal vorziehen würde.
„Außerdem haben wir einen schönen Tisch am Fenster mit Blick auf den Hafen. Ich genieße den Blick sehr. Das ist für mich mehr Urlaub, als ein Essen im Garten. Zuhause essen wir so oft im Garten.“
„Da hast du Recht, mein Schatz“, meinte Ewen.
Ewen sah, wie an jedem Tag, auf sein Handy, ob er nicht doch einen Anruf von Paul überhört hatte. Aber kein Anruf war eingegangen. Paul schien tatsächlich ohne ihn klarzukommen. Einerseits freute er sich darüber, andererseits kam er sich dabei fast schon überflüssig vor. Aber falls er in den nächsten Jahren in Pension gehen sollte, musste Paul die Abteilung schließlich auch alleine führen können. Der Gedanke tröstete ihn, denn er hielt große Stücke auf seinen Freund. Bestimmt würde Paul ihn hin und wieder um Rat fragen, falls es einen besonders kniffligen Fall geben sollte.
Am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg zu dem kleinen Hafen Port Lay.
„Du hast gestern Recht gehabt“, meinte Ewen, nachdem sie knappe zehn Minuten durch den kleinen Hafen gegangen waren.
„Hier ist wirklich nicht viel zu sehen. Lass uns zum Menhir gehen.“
„Aber einen Aperitif gibt es so früh noch nicht“, lächelte Carla und sah ihren Mann verschmitzt an.
Ewen ging auf die Bemerkung gar nicht erst ein. Sie wanderten in Richtung Le Bourg, überquerten den Platz vor der Kirche und folgten der Straße, die zu dem kleinen Ort Locmaria führte. Der Menhir stand auf einer Wiese, an der Stelle, an der sich die Straßen Locmaria Port Tudy und Le Bourg Kerohet trafen. Ewen bestaunte den umgefallenen Menhir. Danach machten sie sich auf den Weg zurück, holten ihr Gepäck im Hotel ab und schlenderten langsam zum Hafen.
Ewen holte noch einmal sein Handy aus der Tasche und sah auf das Display, ob er auch heute keinen Anruf verpasst hatte. Aber nichts wurde angezeigt. Ewen wollte sein Handy gerade wieder in der Hosentasche verschwinden lassen, als es klingelte, und auf dem Display der Name Paul erschien.