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Der Berliner Bezirk Neukölln steht seit etlichen Jahren für Armut, Arbeitslosigkeit, Gewalt, Verwahrlosung, Selbstjustiz, Autoritätsverlust und Staatsverachtung. Doch seit der Corona-Pandemie haben sich die Zustände um ein Vielfaches verschlimmert. Denn nach Sonderausgaben in Milliardenhöhe bleibt kein Cent mehr für die Finanzierung sozialer Projekte. Falko Liecke arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt als Stadtrat für die Bereiche Jugend, Gesundheit und nun Soziales. Er kämpft seit 2009 gegen die soziale Misere an, wird jedoch massiv verbal und körperlich angefeindet: von gewaltbereiten Extremisten, Clan-Mitgliedern und dem linken Milieu. Keinem CDU-Mann wird so häufig die Rassismus-Keule um die Ohren gehauen wie Liecke. Und das nur, weil er die Missstände offen anspricht.
»Packend geschrieben, lebensnah, engagiert und kenntnisreich, mit klugen Konzepten und Lösungsansätzen - macht Spaß, das zu lesen, auch wenn der Inhalt so viel Sorge macht.« Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft
»Wer über die dramatischen Umstände in Berlin-Neukölln mit klaren Worten aus eigener beruflicher und persönlicher Erfahrung spricht, muss mutig sein. Dieses Buch ist mutig. Es geht unter die Haut und rüttelt wieder einmal auf. Der Gegenwind kommt in der Regel von allen Seiten; ungebremst. Das muss man aushalten können. Falko Liecke hält es aus, schreibt ehrlich, offen und vor allem lösungsorientiert mit viel Liebe für seinen Bezirk.« Seyran Ateş, Rechtsanwältin und Autorin
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Seitenzahl: 375
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Über das Buch
Über den Autor
Titel
Impressum
Prolog: Warum sich unsere Zukunft hier entscheidet
TEIL 1: DIE PROBLEME DES »PROBLEMBEZIRKS«
Drogen, Verwahrlosung und Menschen am Abgrund
Tote Säuglinge und hilflose Frauen
Wie der Kiez sich selbst »empowert«
Die Schule des Verbrechens
Der Mord an Uwe Lieschied
Tod durch Überforderung
Das Passwort zum Aufstieg
Gesundheitsamt mit Wumms
Die Pandemie in Neukölln
Der Hass wächst nicht nur im Netz
TEIL 2: DIE CLANS UND NEUKÖLLN
Raubzüge, Morde und Staatsverachtung
Woher sie kommen
Die Namen
Mit dem AMG zum Jobcenter
Das Selbstverständnis der Clans
Datenschutz soll Daten schützen. Nicht Täter.
Kriminell von Kindesbeinen an
Kinderschutz gilt auch in Clanfamilien
Aus der Familie kann man nicht aussteigen
Verharmlosung aus den eigenen Reihen
TEIL 3: EXTREMISMUS VON ALLEN SEITEN
Das Kopftuch ist ein Symbol
Wenn das Problem nicht Rassismus heißen darf
Rechtsextremistische Anschläge
»Ene, mene, muh – und raus bist du«
Die »Offenheit« linksextremistischer Staatsverächter
Epilog – Der Mut, den Deutschland braucht
Addendum: Die Wahl
Über das Buch
Der Berliner Bezirk Neukölln steht seit etlichen Jahren für Armut, Arbeitslosigkeit, Gewalt, Verwahrlosung, Selbstjustiz, Autoritätsverlust und Staatsverachtung. Doch seit der Corona-Pandemie haben sich die Zustände um ein Vielfaches verschlimmert. Denn nach Sonderausgaben in Milliardenhöhe, bleibt kein Cent mehr für die Finanzierung sozialer Projekte. Falko Liecke arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt als Stadtrat für die Bereiche Jugend, Gesundheit und nun Soziales. Er kämpft seit 2009 gegen die soziale Misere an, wird jedoch massiv verbal und körperlich angefeindet: von gewaltbereiten Extremisten, Clan-Mitgliedern und dem linken Milieu. Keinem CDU-Mann wird so häufig die Rassismus-Keule um die Ohren gehauen wie Liecke. Und das nur, weil er die Missstände offen anspricht.
Über den Autor
Falko Liecke (* 30. Januar 1973 in Berlin) ist ein deutscher Kommunalpolitiker, seit 2009 arbeitet er in diversen Funktionen im Berliner Brennpunktbezirk Neukölln: als Stadtrat für Bürgerdienste und Gesundheit bzw. Jugend und Gesundheit und stellvertretender Bezirksbürgermeister. Liecke ist ein führendes Mitglied der CDU Berlin und seit 2015 Kreisvorsitzender der CDU Neukölln; seit 2019 ist er auch stellvertretender Landesvorsitzender der Partei.
FALKO LIECKE
mit HANNES REHFELDT
BRENNPUNKTDEUTSCHLAND
Armut, Gewalt, VerwahrlosungNeukölln ist erst der Anfang
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, KölnAußenlektorat: Ulrike Strerath-BolzUmschlaggestaltung: Kristin PangEinband-/Umschlagmotiv: © Annette Hauschild/OSTKREUZeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-1859-2
luebbe.delesejury.de
Wer wie ich seit mehr als fünfundzwanzig Jahren Kommunalpolitik im Berliner Bezirk Neukölln macht, ist durch nichts mehr zu überraschen. Möchte man denken. Ich kenne die Verwahrlosung in einer Stadt, die zwar einen sozialen Anspruch hat, aber oft schon an einfachster Hilfe für Obdachlose, Flüchtlinge oder einsame Senioren scheitert. Ich kenne den offenen Drogenhandel in den Grünflächen und U-Bahnhöfen, den menschenunwürdigen Konsum schwerster Betäubungsmittel in Parks und Hauseingängen mit all seinen schrecklichen Auswirkungen auf suchtkranke Menschen, Anwohner und Stadtbild. Ich kenne die krasse Kriminalität arabischstämmiger Clans und verabscheue den Herrschaftsanspruch, der mit ihrem Proll-Gehabe und damit einhergehenden Auftreten auf unseren Straßen klarmachen will: »Wir sind Chef hier!«. Das sind sie nicht und werden es nie sein. Und als Jugendstadtrat kenne ich die teils brutale Gewalt, mit der schon Kinder und Jugendliche aufwachsen, von der sie geprägt werden und die sie als einziges ihnen bekanntes Zeichen von Stärke auf der Straße an andere weitergeben.
Mit welcher Selbstverständlichkeit ich am 31. August 2020 auf offener Straße von mehreren Mitgliedern des bundesweit bekannten Al-Zein-Clans angepöbelt und bedroht wurde, hat mich aber dennoch kalt erwischt. Kleine Kinder waren das. Kinder, die offenbar schon in jungen Jahren ihren Versagerbrüdern nacheifern und keinerlei Hemmungen vor offener Androhung von Gewalt haben.
Ich war bei einer Parteiversammlung am gerade frisch eingeweihten Leuchtturm der Neuköllner Bildungspolitik: dem Campus Rütli. Unmittelbar vor der Veranstaltung kamen vor der nagelneuen, aber schon mit verschiedensten Tags und zweifelhaften Kunstwerken beschmierten Quartiershalle drei Männer im Alter von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren um die Ecke. Sie riefen meinen Namen, fragten aufgeregt und mit szenetypischen Droh- und Machtgebärden, warum ich ihnen die Kinder wegnehmen wolle, und kamen immer näher. Sie seien ja stolze Mitglieder des Al-Zein-Clans und wollten wissen, ob sie denn auch alle kriminell seien. Offenbar war ihnen das Titelblatt einer Berliner Boulevardzeitung von vor knapp einem Jahr noch in guter Erinnerung. Auch wenn ich bezweifle, dass sie mehr als die Schlagzeile »Nehmt den Clans die Kinder weg« gelesen oder verstanden hatten.
Sie machten Fotos und Videos von mir und redeten gleichzeitig heftig auf mich ein. Besonderen Wert legten sie darauf, dass ich zwischendurch auch ihre teuren Uhren zur Kenntnis nahm. Mehrmals wiesen sie auf die klobigen, glitzernden und recht unhandlich wirkenden Zeitmesser an ihren Handgelenken hin. Mir kam zwischenzeitlich der Gedanke, ob sie denn mit den ganzen Zahlen auf den Ziffernblättern auch etwas anzufangen wüssten, ich disziplinierte mich aber schnell wieder. Die Fehlschläge sozialdemokratischer Bildungspolitik, die Berlin in den letzten Jahrzehnten durch eine ausschließlich von der SPD geführte Bildungsverwaltung erleiden musste, waren gerade nicht mein größtes Problem.
Das Ganze sollte bedrohlich und einschüchternd wirken. Sie wollten mir verdeutlichen, wer in »ihrem« Teil von Neukölln die Ansagen macht. Und ich kann mir gut vorstellen, dass das bei anderen Menschen sehr gut funktioniert.
Bei mir nicht. Zu einem kleinen Teil aus Trotz, zum größten Teil aus dem Wissen um meine Rolle als Vertreter des Staates und der ihn tragenden Mehrheitsgesellschaft gab ich nicht klein bei. Die Stimmung wurde aggressiver, die Clanmitglieder bauten sich vor mir auf, kamen näher, pushten sich selbst immer weiter hoch, wurden kurzatmiger und bedrohlicher. Es war das Standardrepertoire einer Klientel, für die ich neben einem guten Teil Verachtung nur Mitleid empfinde.
Ein Parteifreund, von Beruf Polizist und entsprechend geübt im Auftreten, kam zufällig hinzu, sodass die Männer von mir ablassen mussten. Auf dem Rückzug keiften sie noch einige Beleidigungen, und es fiel ein Satz, der mich aufhorchen ließ: »Pass auf deine Kinder auf. In Neukölln gibt es leicht mal einen Toten.«
Direkt im Anschluss kamen mehrere Halbwüchsige von schätzungsweise acht bis zwölf Jahren auf mich zu. Mit Kettenschlössern und Steinen »bewaffnet«, warfen sie mit Beleidigungen um sich, deren Bedeutung sie meist selbst wohl nicht vollständig erfassen konnten. »Deutscher piç«1, »Hurensohn«, »Scheiß-Kartoffel«. Immerhin äußerten sie ihre Meinung über mich überwiegend in verständlicher deutscher Sprache. Zarte Knospen eines ersten Bildungserfolgs? Immer positiv denken!
Eine weitere Eskalation konnte ich zusammen mit meinen Parteifreunden verhindern, aber die Absicht war klar. Aus der Sicht der Angreifer hatten weder ein »verfickter Hurensohn« wie ich noch die CDU etwas in »ihrem« Kiez verloren. Eine Haltung, die linke Avantgarde, Clanfamilien und rechtsextremistische Brandstifter gemeinsam haben. Wir sollten uns also schleunigst »verpissen«. Später stellte sich heraus, dass auch die Kinder – alles Jungs – aus dem Al-Zein-Clan stammen.
Diese nur ungefähr zehn Minuten dauernde Szene könnte für andere eine Initialzündung, ein persönlicher Ansporn für mehr politischen Einsatz gegen Clans, Jugendkriminalität und allgemeine Verwahrlosung sein. Wieder andere würde es einfach so hinnehmen und wären dankbar, dass nicht mehr passiert ist. Al-Hamdu-li-’llah. Für mich war es nur eine weitere Bestätigung für das, was in Neukölln schiefläuft und wogegen ich seit mehr als zwölf Jahren als Lokalpolitiker kämpfe, die Hälfte dieser Zeit noch an der Seite von Heinz Buschkowsky: Clans, Jugendkriminalität, Gewalt, Autoritätsverlust, Staatsverachtung, Desintegration und allgemeine Verwahrlosung.
Die kompromisslose Gewaltbereitschaft, der grenzenlose Hass und die ins Gesicht geschleuderte Verachtung von allem, wofür unser Land steht, lässt vermutlich niemanden unbeeindruckt zurück. Für mich war das Erlebnis daher auch eine von vielen Bestätigungen, dass mein Kurs richtig ist. Und dass wir alle, die Politik, aber auch jeder Einzelne aus der Mitte der Mehrheitsgesellschaft, noch viel Arbeit vor uns haben. In Neukölln entscheidet sich Deutschlands Zukunft: Entweder wir schaffen das – oder eben nicht. Wobei Letzteres keine Option ist, die ich jemals akzeptieren würde. Aufgeben kommt für mich, selbst angesichts direkter Bedrohungen, nicht infrage.
Die Probleme in Neukölln sind so vielfältig wie seine 330.000 Einwohner aus über hundertsechzig Nationen. In jedem Politikbereich kann ich aus jahrelanger Praxis Dutzende offene Flanken aufzählen, die das Leben in diesem Brennglas der Republik prägen. Manches wird Lesern aus Köln, Dortmund, Essen, Bremen oder Frankfurt bekannt vorkommen. In ihrer geballten Wucht gibt es sie aber wohl nur in Neukölln. Einige von ihnen liegen mir besonders am Herzen. Um sie geht es in diesem Buch.
1Türkischer Sammelbegriff für »Bastard«, »Hurensohn«.
Wenn ich vom Rathaus Neukölln zum nur einen Kilometer Luftlinie entfernt an der berüchtigten Hermannstraße gelegenen Anita-Berber-Park fahre, geht das am besten mit den U-Bahn-Linien 7 und 8. Wer sich im U-Bahnhof Rathaus Neukölln den Bahnsteig entlangwagt, hört sie von Weitem und riecht sie nur Sekunden später: Mehrfach suchtkranke Menschen, immer wieder die gleichen, die hier auf den Bänken im Bahnhof sitzen, viel Alkohol trinken und sich hin und wieder lautstark streiten. Worüber, erfährt man so gut wie nie. Vermutlich wissen sie es oft selber nicht. Es stinkt fast im gesamten Bahnhof nach schalem Bier, Urin und dem Qualm billiger Zigaretten. Diese offene Trinkerszene ist seit Jahrzehnten ein ungelöstes Ärgernis.
Die für die Bahnhöfe verantwortlichen Berliner Verkehrsbetriebe beteuern stets pflichtschuldig ihren Wunsch, diese Situation zu beenden, zucken aber allzu oft mit den Schultern, wenn es um konkrete Maßnahmen geht. Ich kenne die Probleme des Unternehmens, auf hundertfünfundsiebzig U-Bahnhöfen mit über hundertfünfundfünfzig Kilometern Streckennetz für Ordnung zu sorgen. Es ist nicht so, dass sie nicht wollen. Aber oft fehlt es an der praktischen Umsetzung vor Ort.
Ordnungsamt und Polizei sind nicht zuständig, und mehr als gut gemeinte Ansprachen und sporadische Platzverweise, die kaum länger halten als der letzte Rest in der Bierflasche, sind meist nicht drin. Wenn dann das jedenfalls nach Wahrnehmung der meisten Berliner spärlich eingesetzte Sicherheitspersonal der Verkehrsbetriebe eher mit einem aggressiv gebrüllten »Warum machst du ḥarām?« auffällt statt mit Seriosität und Freundlichkeit, wirken sie eher wie ein Teil des Problems als eins der Lösung. Sicherheit fühlt sich für viele Menschen einfach anders an. Damit wird das selbst gewählte und in millionenschweren PR-Kampagnen gepflegte Bild des modernen Unternehmens mit Spaßfaktor nachhaltig untergraben.
Der mit Graffiti beschmierte Zug der U7 fährt in den Bahnhof ein. Ich meide den ersten Waggon, in dem es nach Erbrochenem und altem Bier stinkt, und steige mit zwei Dutzend weiteren Fahrgästen in den zweiten Waggon in Richtung Spandau bei Berlin. Heute werde ich das Problem mit den Trinkern auch nicht lösen.
Nach weniger als einer Minute Fahrt fährt der Zug in die nächste Station. Es ist der Hermannplatz direkt an der Grenze zum Nachbarbezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Besser wird es hier nicht. Im Gegenteil, hier kreuzen sich die beiden Berliner Drogenlinien U7 und U8. Die Lebensadern des Heroinhandels in der deutschen Hauptstadt, entlang derer sich wie eine unregelmäßige Perlenkette die Konsum-Hotspots aufreihen. Der Hermannplatz ist gleichzeitig einer der größten Umsteigepunkte in Berlin. Tausende Menschen jeden Tag, die meist mit Smartphone in der Hand, Kopfhörern im Ohr und strikt nach unten gerichtetem Blick die schreckliche Realität auszublenden versuchen.
Kaum jemanden stört es wirklich, wenn sich in der Ecke des Bahnhofes eine kümmerliche Gestalt Heroin kocht und kurz darauf mit zittriger Hand die Spritze ansetzt. Wenn nach jahrelangem Konsum die Armvenen vernarbt und verstopft sind, landet die Nadel oftmals zwischen den Zehen oder mit heruntergelassener Hose in der Leiste. Manchmal auch unter der Zunge, wobei das viel Übung und eine ruhige Hand erfordert. Übung haben sie alle, eine ruhige Hand nicht. Eine eher selten praktizierte Variante ist die Injektion in den After. Der Szenebegriff dafür lautet »up your bum«, und es ist sogar eine der schonenderen Konsummethoden, da keine Nadel verwendet wird. Wenn es so etwas wie »schonenden Heroinkonsum« überhaupt gibt.
Allein die Vorstellung der verschiedenen Arten, Gift in seinen Körper zu befördern, lässt mich immer wieder erschaudern. Wer so etwas macht, hat unvorstellbare Probleme und braucht dringend Hilfe. Die meisten Leute haben sich an den Anblick von Menschen am Abgrund allerdings gewöhnt. Es ist Alltag, gerade in der anonymen Innenstadt einer Metropole wie Berlin. Im hippen »Kreuzkölln« am Maybachufer finden manche jungen Hipster, dass die Obdachlosen mal ein wenig ihr immer weiter anwachsendes Zeltlager an der Böschung des Landwehrkanals aufräumen könnten. Aber ansonsten sei das halt immer noch besser als Gentrifizierung.
Mich stört es noch immer so richtig. Und viele Anwohner, die so etwas nicht nur im Vorbeigehen, sondern mitten in ihrem Kiez ertragen müssen, stört es erst recht. In den Sommermonaten erreichen mich regelmäßig Schreiben von Bürgern, die den Mut haben, ihren Mund aufzumachen, und denen es schon lange reicht. Aber auch hier bestimmt das Schulterzucken der Zuständigen eher das Bild, als dass es zu handfestem und wirklich nachhaltigem Eingreifen kommt.
Ich fahre mit der U8 wieder in Richtung Süden und gelange nach einem kurzen Halt am U-Bahnhof Boddinstraße – hier steht eines der größten Jobcenter Deutschlands – zum U-Bahnhof Leinestraße. Auf der Zwischenebene liegen Spritzenreste, Blut, Kot und Urin. Es stinkt. Mit mir steigt ein kleines Mädchen mit viel zu großem buntem Schulranzen aus dem Zug und läuft zielstrebig zum südöstlichen Ausgang. Es scheint den an eine speckige Säule gelehnten afrikanischen Dealer nicht zu bemerken und ignoriert bemüht den menschlichen Unrat am Fuße der hoffnungslos verschmutzten Treppe. Normalität in diesem Teil von Neukölln.
Direkt am südwestlichen Ausgang liegt der Eingang zum Anita-Berber-Park. Ein ehemaliger Friedhof, inzwischen eine lang gezogene Grünanlage mit direktem Anschluss an die größte innerstädtische Freifläche der Welt. Wer den von Bäumen gesäumten schnurgeraden Weg in Richtung Sonnenuntergang spaziert, dem bietet sich nach fünfhundert Metern die herzeröffnende Weite des Tempelhofer Feldes, das leicht nach Westen hin abfällt. Auch mit Randbebauung auf dem ehemaligen Flughafengelände bliebe es beeindruckend und könnte zusammen mit dem Anita-Berber-Park ein schöner Ort, eine grüne Oase mitten in der lauten und dreckigen Metropole sein.
Wenn dieser Ort nicht wie viele andere Parks und Straßenzüge in Neukölln vollkommen vermüllt und verdreckt wäre. Um die 10.000 Kubikmeter Müll sammelt die Berliner Stadtreinigung jedes Jahr aus dem öffentlichen Raum im Bezirk auf. Das sind ungefähr vier olympische Schwimmbecken voll. Jeden Tag erreichen die Neuköllner Verwaltung im Schnitt vierunddreißig Beschwerden von Bürgern, die es satthaben. Über zwölftausend im Jahr. Und trotz Verlängerung der Dienstzeiten des Ordnungsamtes, trotz privater Sicherheitsdienste, die Verursacher auf frischer Tat stellen sollen, trotz teurer PR-Kampagnen, die letztlich nur zum persönlichen Vorteil einer ehemaligen Bezirksbürgermeisterin gestartet wurden, ändert sich am eigentlichen Zustand seit Jahren nichts.
Ich weiß nicht, ob Sie – wenn Sie beispielsweise im Hochsauerlandkreis oder in der Brandenburgischen Elbtalaue leben – sich das Ausmaß des Mülls auf den Straßen, Hinterhöfen und Parks vorstellen können. Hier jedenfalls landen buchstäblich ganze Wohnungseinrichtungen mitten auf dem Gehweg. Matratzen, Stühle, Kühlschränke, Katzenklos, Couchgarnituren, Lampen, Hausmüll. Was auch immer Sie sich vorstellen können, es liegt hier auf der Straße. Und wenn erst einmal etwas daliegt, kommt schnell noch viel mehr hinzu. Besonders dreist wird es, wenn an offensichtlich unbrauchbaren Schrott ein Schild mit der Aufschrift »Zu verschenken« geklebt wird. Ein ganz billiger Versuch, seiner Faulheit und Verwahrlosung einen Anstrich von Nachhaltigkeit und Selbstlosigkeit zu geben. Es gibt mittlerweile ganze Ecken, in denen diese selbst organisierten Versuche einer »sharing economy« zu massiver Vermüllung des öffentlichen Raumes und kaum noch passierbaren Gehwegen geführt haben.
Mit dem Müll kommen die Ratten, gegen die mein Gesundheitsamt immer nur punktuell vorgehen kann. Sie sind in Berlin mit bis zu zehn Millionen Exemplaren ohnehin weit mehr als doppelt in der Überzahl.
Das größte Ärgernis ist aber illegal abgeladener Gewerbemüll. Er wird ganz gezielt in den Abend- und Nachtstunden im Bezirk verteilt, um Entsorgungskosten zu sparen. Dachpappe, Farbeimer, Dämmstoffe und Elektroschrott. Wo gegen Müll aus Privathaushalten vielleicht der kostenfreie Sperrmülltag helfen könnte, muss der Bezirk gegen diese kalkulierte Vermüllung knallhart vorgehen. Weil bisher nichts geholfen hat, ist auch mal ein wenig Kreativität erlaubt. Natürlich können wir Videotechnik einsetzen. Aber auch ungewöhnliche Maßnahmen wie verdeckte Ermittler, die sich mitten in der Nacht auf die Lauer legen, kann ich mir gut vorstellen. Wenn wir endlich hart durchgreifen und Bußgelder verhängen, die richtig wehtun, spricht sich das schnell rum. Was in diesem Bereich bislang gelaufen ist, ist trotz großspuriger Ankündigungen viel zu zaghaft, viel zu wenig und viel zu spät.
Seit Jahren ist der Anita-Berber-Park außerdem einer der Schwerpunkte des Konsums schwerer Drogen und neben der Schönleinstraße auf der anderen Seite des Hermannplatzes das Symbol für die schier menschenverachtende Verwahrlosung durch den Konsum illegaler Betäubungsmittel. Hier findet sich alles, was Menschen zurücklassen können. Wer es nicht gesehen hat, kann sich die Zustände in diesem Dreckloch nicht vorstellen. Schon kurz hinter dem Eingang befindet sich auf einer Wiese eine Art Treffpunkt: eine Sitzgruppe aus Baumstämmen. Verdreckt mit haushaltsüblichem Müll, Chipstüten, Bier- und Schnapsflaschen. Zwischendrin ein paar kleine Plastiktütchen, die szenetypisch zum Verkauf von Cannabis genutzt werden. Nicht schön, nur wenig bedrohlich, aber auch erst der Anfang.
Wenige Meter weiter führt ein ausgetretener Pfad in ein spärlich bewachsenes Gebüsch. Eine mit allerlei menschlichem Unrat verdreckte Matratze, benutzte Einmallöffel zum Zubereiten von Crack oder Heroin, Blutspritzer, benutzte Kondome, Fäkalien in der Ecke. Was auch immer man sich in dunklen Fantasien ausmalen kann, hier ist es bereits passiert. Prostitution für den schnellen Schuss ist keine Seltenheit, sondern gehört zum Geschäft.
Noch einmal wenige Meter östlich entlang der verwucherten Mauer des ehemaligen Friedhofes mehren sich die offenen Spritzen, blutverschmierte Taschentücher und menschliche Fäkalien. In den Jahren 2018 und 2019 wurde ein Großteil der insgesamt über neuntausend in Neuköllner Grünanlagen und Spielplätzen gefundenen Spritzen hier aufgesammelt. 2020 waren es im gesamten Bezirk Neukölln allein schon 10.149. Das bedeutet nicht zwingend, dass es mehr Spritzen gab, sondern zunächst nur, dass wir mehr aufgesammelt haben. Und auch wenn jede aufgesammelte Spritze eine weniger in Kinderfüßen bedeuten kann, bin ich damit nicht wirklich zufrieden.
Warum ist das so? Warum gerade hier? Suchtkranke Menschen suchen sich nicht aus, wo sie konsumieren. Wer einmal die Konsumenten im U-Bahnhof Schönleinstraße betrachtet, sieht auf den ersten Blick: Die sind vollkommen am Ende. In der Drogensucht richtet sich alles, wirklich alles im Leben nach einem einzigen Ziel aus: dem nächsten Schuss. Es gibt keine langfristige Planung, keine Frustrationstoleranz, keine Strategien zum Umgang mit Rückschlägen oder gar die Bereitschaft zum auch noch so kurzen Verzicht. Die Mobilität der Händler bestimmt die Konsumorte. Suchtkranke Menschen sind also mindestens genauso mobil wie ihre Dealer. Bis sie ihr Gift gekauft haben. Dann bewegen sie sich keine zweihundert Meter weit, sondern suchen den nächsten – aus ihrer benebelten Sicht – halbwegs geeignet erscheinenden Ort. Sobald die Drogen verfügbar sind, werden sie konsumiert. Sofort, unverzüglich. Auf dem Spielplatz, im Hauseingang, hinter der Kita oder auf dem Schulgelände. Im Gebüsch im Anita-Berber-Park. Oder auch direkt gegenüber vom Rathaus auf einer der belebtesten Straßen des Bezirks.
Das führt dazu, dass meine bezirkliche Suchthilfekoordination mit wenigen Wochen Abstand kleinteilig nachvollziehen kann, wohin die Drogenhändler und mit ihnen die Konsumenten abgewandert sind. Vom S-Bahnhof Neukölln entlang der Ringbahn zur Sonnenallee oder zur Hermannstraße. Vom Hermannplatz mal in Richtung Kotti zur Schönleinstraße – wo sie fast immer anzutreffen sind – oder in Richtung Süden zur Leinestraße, zum Anita-Berber-Park und den angrenzenden Friedhöfen. Immer entlang der U- und S-Bahnlinien, die höchste Mobilität im ewigen Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei versprechen.
Der Bezirk kann letztlich nur wenig tun. Wir haben spezielle Mülleimer aufgestellt, die ein Hineingreifen verhindern und dadurch das sichere Entsorgen benutzter Spritzen ermöglichen. Ein Dutzend dieser Spritzenbehälter steht mittlerweile an verschiedenen Orten in Neukölln, fast alle im Norden des Bezirkes. Wir bezahlen aus eigenen Mitteln Straßensozialarbeiter, die mit den suchtkranken Menschen in Kontakt treten und sie zu einem »sozialverträglichen Konsum«, also in Konsumräumen anstatt in Treppenhäusern und auf Spielplätzen bewegen sollen. Wir haben zwei Automaten aufgestellt, aus denen sich suchtkranke Menschen saubere Spritzen und anderen Konsumbedarf ziehen können. Weil sie in ihrer Sucht sonst Spritzen teilen oder mehrfach verwenden und damit das Risiko erhöhen.
Kommunale Politik muss in solchen Fragen undogmatisch sein. Ich finde den Konsum falsch, will aber den Menschen trotzdem eine Chance geben, ihn zu überleben. Nicht wenige missverstehen das als Billigung oder gar Unterstützung der Sucht. Ich sehe es als rein pragmatisches Handeln, um Leben zu retten. Gleichzeitig habe ich in meinen zwölf Jahren als Gesundheitsstadtrat vermutlich Dutzende Briefe an die zuständige Senatsverwaltung geschrieben, man möge doch endlich mehr gegen den Konsum in aller Öffentlichkeit tun. Meistens war es vergeblich, hin und wieder kam nicht mal eine Antwort.
Das eigentlich Absurde an der ganzen Situation: Die Bezirke in Berlin sind für illegale Drogen gar nicht zuständig. Meine Suchthilfekoordination, die viele Jahre aus genau einer halben Stelle bestand, ist eigentlich verantwortlich für legale Suchtmittel: Alkohol, Tabak, Glücksspiel und Medikamente. Für diese Fälle sollen wir Beratungsstrukturen schaffen, die Selbsthilfe ermöglichen, Aufklärung leisten und Projekte anstoßen. Besonders starke Auffälligkeiten in diesen Bereichen gibt es in Neukölln nicht. Es gibt sogar weniger akute Alkoholvergiftungen als im Durchschnitt der Stadt. Für Muslime ist Alkohol ḥarām und darum insbesondere bei sehr vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Bezirk, die stattdessen auf Medikamente zurückgreifen, kaum ein Thema. In anderen Städten macht gerade diese Altersgruppe einen großen Teil der wegen akuter Alkoholvergiftung stationär aufgenommenen Patienten aus. Stattdessen gibt es einen überdurchschnittlichen Anteil von Störungen durch chronische Alkoholabhängigkeit. Also Menschen, die viele Jahre krankhaft trinken und dann Hilfe benötigen. Ein Symptom der generell schwachen Sozialstruktur im Bezirk und ein besorgniserregender Blick auf die sozialen Probleme außerhalb der migrantischen Subkultur.
Der Tabakkonsum ist ebenfalls rückläufig und mittlerweile weniger verbreitet als im Rest der Stadt. Dennoch erkranken und sterben sehr viel mehr Neuköllnerinnen und Neuköllner an seinen Auswirkungen: eine Spätfolge des weit verbreiteten Rauchens in der Vergangenheit, das erst seit wenigen Jahren langsam zurückgeht. In diesen Bereichen gäbe es viel Potenzial, Lebensjahre und Lebensqualität zu gewinnen. Doch da wir uns wegen der schweren Begleiterscheinungen von Drogensucht auf die illegalen Drogen konzentrieren (müssen), kann dieses Potenzial nicht gehoben werden.
Denn der absolute Schwerpunkt liegt auf den Opioiden, allen voran Heroin. Bis zu zweitausend Menschen in Neukölln sind von dieser Droge abhängig, oft schon infolge eines einzigen Konsums. Die Zahl der Behandlungen infolge einer Vergiftung mit Opioiden ist mehr als dreimal so hoch wie im Berliner Durchschnitt. Im Nachbarbezirk Treptow-Köpenick gibt es pro 100.000 Einwohner 14,5 vollstationäre Krankenhausaufenthalte durch Opioidkonsum im Jahr. In Neukölln sind es 105,5. Diese Zahlen sind nur schwer greifbar. Aber versuchen wir es mal. Stellen Sie sich bitte ein Krankenzimmer mit vierzehn Betten vor. In jedem von ihm liegt ein Einwohner von Treptow-Köpenick mit schwersten Folgen seines Heroinkonsums. In Neukölln liegen in jedem dieser Betten sieben Personen. »Sie stapeln sich«, kommt Ihnen jetzt vielleicht in den Sinn. Und so ist es auch.
Zwischen 2004 und 2014 hat sich diese Zahl verdreifacht. Diesem Hellfeld, das sich durch beobachtbare und dokumentierte Krankenhausaufenthalte speist, steht ein Dunkelfeld gegenüber, das nach Expertenschätzung noch weit größer ist. Und man muss kein ausgewiesener Experte sein, um das zu wissen.
Cannabis spielt eine untergeordnete Rolle und ist in Neukölln vermutlich nicht überdurchschnittlich verbreitet. Vorsichtige Annahmen gehen davon aus, dass um die dreitausend Neuköllnerinnen und Neuköllner täglich Cannabis konsumieren und dass achtzehnhundert Menschen im Alter von fünfzehn bis vierundsechzig Jahren davon abhängig sind. Es gibt keinen Grund, das zu verharmlosen. Entgegen vorherrschender Legenden der Harmlosigkeit dieser Droge werden in Neukölln jedes Jahr bis zu siebzig Menschen infolge ihres Cannabiskonsums wegen psychischer und Verhaltensstörungen stationär aufgenommen. Seit 2004 hat sich dieser Wert mehr als verdreifacht. Die Haltung der letzten Bundesregierung, Cannabis nicht als weitere legale Droge freizugeben, ist deshalb aus gesundheitspolitischer Sicht absolut richtig. Auch wenn ich den Kampf gegen Windmühlen, den Polizei und Justiz wegen dieser Droge führen, sehe und die Frustration der Männer und Frauen der Berliner Polizei auf der Straße mehr als teile: Wer hier einfache Lösungen verspricht, lügt oder hat keine Ahnung.
Noch einmal zurück zur Berliner Drogenlinie, der U8. Wer vom Anita-Berber-Park wieder in Richtung Norden fährt und eine Station hinter dem Hermannplatz aussteigt, kommt zum schlimmsten Drogenloch der Stadt, dem U-Bahnhof Schönleinstraße. Das menschliche Elend ist hier kaum auszuhalten. Das gilt auch für die Anwohnerinnen und Anwohner, die trotz Vermüllung, Lärm und schlechter Luftqualität eigentlich gerne hier wohnen. Es ist ein pulsierender und moderner Kiez mit jungen Familien, die sich zunehmend um ihre Nachbarschaft kümmern. Aber wenige Meter unter der Erde findet rund um die Uhr Konsum statt. Offene Spritzen bei laufendem U-Bahnverkehr, auf den Bänken in der Mitte des Bahnsteigs und auf den Zwischenebenen in Richtung Ausgang wird Crack und Heroin aus Alufolien geraucht, und der Dealer des Vertrauens steht grinsend daneben. Selbst die tolerantesten und verständnisvollsten Menschen meiden diesen Bahnhof, wenn es irgendwie geht.
Einer von ihnen ist Silvio, dessen Erlebnisse mich sehr bewegt und massiv geärgert haben. Er kam Mitte der Neunzigerjahre aus Brasilien zum Studieren nach Berlin und ist nach seinem Abschluss an der Technischen Universität als Ingenieur hiergeblieben. Ein hochgebildeter, zurückhaltender und zuvorkommender Mann und Familienvater, der sich für seine Nachbarschaft interessiert und bei einem Gespräch vor seinem Haus von allen Seiten höflich und respektvoll, aber gleichzeitig auch vertraut und freundlich gegrüßt wird. Ein Mann, dem man das Engagement für seinen Kiez glaubt, der es lebt. Ein Mann von der Art, wie sie in Neukölln dringend gebraucht wird.
Als er einmal seine Kinder mit der U-Bahn zu Kita und Schule bringt, scheint einer der Dealer einen kurzen Blick, eine vermeintliche Geste oder ein Wort falsch aufgefasst zu haben und folgt ihm vom Bahnhof bis zurück zu seiner Wohnung, nur wenige Meter vom Ausgang des U-Bahnhofs Schönleinstraße entfernt. Er nimmt das in diesem Moment kaum wahr, denkt sich jedenfalls nichts dabei. Als er einige Tage später mal wieder das Haus verlässt – dieses Mal zum Glück allein – steht der Drogenhändler direkt vor seiner Haustür, nicht mal einen Meter von ihm entfernt, und starrt ihn an. Ich kann mir gar nicht vorstellen, welche Gedanken, welcher Schlag in diesem Moment durch Silvio gefahren ist. Der Afrikaner sagt kein Wort. Er muss es nicht. Die Botschaft ist angekommen.
Seitdem läuft Silvio mit seinen Kindern jeden Morgen zum 1,6 Kilometer entfernten U-Bahnhof Südstern, um dann mit der U7 zu fahren. Den U-Bahnhof Schönleinstraße hat er seit diesem Tag nicht mehr betreten.
Aber auch diese stillschweigende Vereinbarung mit dem Drogenmilieu beendet seine Erfahrungen mit dem Elend der Berliner Suchthilfe nicht. Er schreibt mir im Sommer 2020, weil jetzt auch im Treppenhaus direkt vor seiner Wohnungstür harte Drogen konsumiert werden. Blutspritzer an der Wand, offene Spritzen im Aufgang und im Hinterhof, menschliche Fäkalien vor seiner Wohnungstür. Er spielt nun doch mit dem Gedanken, wegzuziehen.
Er kämpft lange mit sich, weil es eigentlich nicht seine Art ist, aufzugeben. Und weil er einen starken Sinn für Gerechtigkeit hat. Warum soll er gehen und nicht die? Was würde sich dadurch ändern? Stattdessen entschließt er sich, Zettel im Treppenhaus zu verteilen, seine Nachbarn zu warnen und die Hausverwaltung zu ermahnen, endlich die seit Ewigkeiten nicht selbstständig schließende Tür zu reparieren. Ich wiederhole das, weil es so wichtig ist: Ein Mann von der Art, die in Neukölln dringend gebraucht wird.
Was ich als Gesundheitsstadtrat tun konnte, war überschaubar. Ich konnte ihn auf einen Hilfsfonds für Wohnungseigentümer zur Einbruchsicherung hinweisen. Darauf, Druck bei den verantwortlichen Politikern auf Landesebene aufzubauen. Und auf das ständige und immer wiederkehrende Melden jeglicher Beobachtungen mit Verbindung zur Drogenszene bei der Berliner Polizei. Nicht, um die Kolleginnen und Kollegen zu nerven. Sondern um ein Bild der tatsächlichen Lage zu ermöglichen. Drogendelikte sind opferlose Straftaten, sie werden polizeilich nur gesehen, wenn Dritte sie melden. Anders als bei Taschendiebstahl oder Raub sind alle Beteiligten mit der Tat einverstanden, und keiner hat im Anschluss Interesse daran, die Polizei zu verständigen. Das müssen Anwohner tun, um der Polizei eine Lageeinschätzung und eine angemessene Reaktion zu ermöglichen. Das ist gelinde gesagt unbefriedigend für Silvio. Und für mich auch.
Es geht so nicht weiter. Es geht einfach nicht. Während die Stadt zunehmend verwahrlost, hatte die aus SPD, Linkspartei und Grünen gebildete Landesregierung, die in Berlin »Senat« heißt, viele Jahre lang noch nicht einmal ein Lagebild über Konsum- und Handelsstrukturen in der Stadt. Jedwede Suchthilfestrategie ist also im Blindflug unterwegs. Stochern im Nebel, politisch gewollt. Und während sich das braune Gift hochmobil entlang seiner Lebensadern durch die Stadt bewegt, setzt der Senat auf ganze drei stationäre Konsumräume in der gesamten Hauptstadt und lässt weiter die höchsten Eigenbedarfsmengen der gesamten Bundesrepublik zu.
Berlin ist mit seiner Suchthilfe und mit seiner Drogenpolitik krachend gescheitert. Das ist allen klar, die mit offenen Augen durch diese Stadt gehen. Ich will einen radikalen Wechsel. Mehr Mobilität, mehr Flexibilität in der Suchthilfe. Wer »den Affen schiebt« – so wird in der Szene der akute Zustand eines suchtkranken Menschen ohne ausreichend Droge bezeichnet –, fährt nicht durch die halbe Stadt, um einen von nur drei Konsumräumen aufzusuchen. Suchtkranke Menschen kommen nicht zur Hilfe. Die Hilfe muss zu den suchtkranken Menschen kommen. Ich will die helfende Hand für diese Menschen und die geballte Faust gegen die Dealer und Hintermänner. Berlin braucht einen Neustart der Suchthilfe.
Dazu brauchen wir zusätzlich zu den stationären Konsumräumen mobile Angebote für die am stärksten betroffenen Bezirke. Wir hätten das schon vor Jahren gebraucht. Wir müssen endlich in die Lage kommen, flexibel und schnell zu reagieren. Allein in Neukölln werden mindestens drei Konsummobile benötigt. Die Bezirke müssen dann die Genehmigungen für den Betrieb von Konsum- und Beratungsmobilen auf öffentlichem Straßenland auch unverzüglich erteilen. Es ist nicht hinnehmbar, dass diese Genehmigungen teilweise ein halbes Jahr benötigen. Um überhaupt strategisch arbeiten zu können, benötigt Berlin außerdem endlich ein Lagebild. Nur so können wir Wanderungen von Handel und öffentlichem Konsum beobachten und darauf reagieren. Daran müssen alle Bezirke verpflichtend beteiligt werden. Bisher arbeitet die Berliner Suchthilfe ohne ein Gesamtbild. Das ist fahrlässig.
Die ganze Stadt braucht eine erhebliche Aufstockung der Straßensozialarbeit mit Fremdsprachenunterstützung, um suchtkranken Menschen angemessen zu helfen und sie damit von der Straße zu bekommen. In den U- und S-Bahnen müssen Polizei, Sicherheitsdienst von BVG und Deutscher Bahn sowie Sozialarbeiter gemeinsam unterwegs sein. Und auch wenn es bei linken Zeitgenossen zu Augenrollen führt: Bei der Bekämpfung des Handels mit illegalen Betäubungsmitteln darf es keinen Rechtsstaatsrabatt für Drogendealer geben. Schon der einmalige Handel mit verbotenen Substanzen muss zu schnellen und spürbaren strafrechtlichen Konsequenzen führen. In jedem Einzelfall sind außerdem aufenthaltsrechtliche und aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu prüfen. Es gibt wirklich keinen Grund, solche Leute hierzubehalten, wenn es auch anders geht.
Ich bin überzeugt, dass wir mit diesem Paket einen großen Teil der erbärmlichen Zustände in dieser Stadt verbessern können. Nicht sofort, aber mit Geduld und Augenmaß. Wegschauen ist keine Alternative mehr, war es nie. Nicht für Silvio. Nicht für die suchtkranken Menschen. Und nicht für mich.
Der Abgrund des Drogenkonsums ist die eine Seite der großstädtischen Verwahrlosung. Die andere Seite ist die Obdachlosigkeit. Oft verschwimmt beides zu einer auch für erfahrene Helfer undurchsichtigen Masse aus Problemen und unklaren Kausalitäten. Dass es keine Musterlösung gibt, kein Patent, keine Heilsversprechen, mag der Tod von Marco Reckinger zeigen.
Geboren und aufgewachsen in einer Kleinstadt in Luxemburg, wurde ihm seine Heimat schnell zu eng. Obwohl, oder gerade weil, er in dieser Enge erfolgreich war. Er machte innovative elektronische Musik, spielte vor bis zu dreitausend Leuten, vor deren Ohren und Augen die Musik erst entstand. Ein vollkommen neuer künstlerischer Ansatz, der Potenzial hatte. Er wollte raus, irgendwohin. Aber vor allem wollte er nach Berlin. Die Stadt war sein Sehnsuchtsort. Und hierhin zog es ihn immer wieder. Auch nachdem er nach nächtelangen Feiern, Drogen, Abstürzen und beruflichem Chaos auf Druck seiner Freunde kurze Zeit wieder in seine Heimat zurückkehrte. Ab 2016 verlieren sich die Spuren, Kontakte reißen ab. Was bleibt, sind die Drogen und zunehmende psychische Probleme. »Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis« wird später in der Akte stehen, die mein Sozialpsychiatrischer Dienst (SpD) anlässlich des ersten Kontaktes mit ihm nach Anwohnerbeschwerden anlegt.
Marco lebt jetzt auf den Straßen des Schillerkiezes im hippen Szeneviertel. Nachts schreit er so laut, dass Anwohner die Polizei rufen. Die Sozialarbeiterinnen meines SpD suchen ihn auf, sehen ihn mehrmals, bieten Hilfe an. Hilfe, die er immer wieder freundlich, aber bestimmt ablehnt. Zu keinem Zeitpunkt konnte irgendeine Form der Eigen- oder Fremdgefährdung erkannt werden. Und damit lagen auch nie die Voraussetzungen für die Einweisung in eine psychiatrische Klinik vor.
Ich finde es richtig, dass in Deutschland die Hürden für die erzwungene Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung sehr hoch gelegt sind. So etwas geht nur, wenn jemand eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellt. Ich will keinen Staat, der seine Bürger reihenweise wegsperrt, einfach nur, weil sie krank sind. Rückblickend wäre es aber vermutlich das Einzige gewesen, was Marco hätte retten können. Auf einer linken anarchistischen Internetplattform wurde mir und meinem für das Sozialamt zuständigen Bezirksamtskollegen der Grünen allerdings vorgeworfen, wir hätten Marco früher zwangseinweisen müssen. In die Psychiatrie, wo er »malen und Musik machen« könne. Es ist eine besonders hilflose Naivität, die ich den Menschen noch nicht einmal übelnehmen kann. Sie wissen es schlicht nicht besser. Und sie brauchten dringend einen Schuldigen für etwas, was nur schwer zu ertragen ist.
Denn Ende 2020 war Marco nicht mehr auffindbar. Der letzte Versuch, ihn nach einer Begutachtung unter gerichtliche Betreuung stellen zu lassen, war damit zum Scheitern verurteilt. Marco Reckinger starb im Alter von dreiunddreißig Jahren in seinem Schlafsack auf den Straßen Neuköllns.
Der Tagesspiegel schreibt am 25. Januar 2021 in einem bewegenden Nachruf: »Es endet damit, dass 100 Menschen an einem kalten, nassen Januarabend auf dem Bürgersteig stehen und sich von Marco verabschieden.« Sie fragten sich, warum ihm nicht geholfen werden konnte, und lieferten die Antwort gleich mit: Er wollte keine Hilfe. Nicht die, die ihm angeboten wurde, und auch keine andere.
Darum ist es auch schwer, daraus politische Konsequenzen zu ziehen. Ich weiß nicht, was ihm geholfen hätte, ob es überhaupt eine Chance gab, ihn zu retten. Ich halte aber ein Obdachlosenzentrum, das mehr als »nur« eine warme Nacht bietet, für unbedingt notwendig. Ich will eine Stelle, die neben einem Bett, Suppe, Dusche und sauberer Unterwäsche auch emotionale Nähe und vor allem Perspektiven für den Weg zurück in die Mitte unserer Gesellschaft bietet. Sozialberatung, Hilfe bei der Wohnungssuche, Kostenübernahmen, staatliche Bürgschaften, wenn es sein muss. Begleitung zum Jobcenter, psychosoziale Unterstützung, Suchthilfe. Ein Angebot aus einer Hand, das mit allen Unzulänglichkeiten, Problemen und Ängsten dieser Menschen umgehen kann. Ein Ort, an dem die Hunde der Obdachlosen auch einen Platz haben, an dem in begrenztem Umfang auch konsumiert werden darf. Derzeit erwarten wir von höchst instabilen Menschen, die kaum eine Tagesstruktur haben, dass sie zur Beratung in unsere Dienststellen kommen. Dienstag und Donnerstag, 13 bis 15 Uhr. Das ist zugespitzt, aber auch viel zu oft Realität.
Für Marco Reckinger versammelten sich Dutzende Menschen. Der allermeisten toten Obdachlosen wird nicht auf diese Weise gedacht. Der Tod dieser Menschen wird kaum als Randnotiz wahrgenommen, in den Kurzmeldungen der lokalen Abendnachrichten. Als Gruselgeschichte im flackernden Frühabendprogramm, bei dem man sich umso mehr an die eine trügerische Sicherheit klammert, die durch eine falsche Entscheidung oder einfach nur eine sich langsam anschleichende seelische Erkrankung so schnell dahin sein kann.
Menschen, ob obdachlos oder nicht, die ohne Angehörige sterben, verschwinden still und leise. Niemand nimmt Anteil an ihrem Leben oder ihrem Tod. In Neukölln haben wir das ab 2020 geändert. Seitdem gibt es jedes Jahr im Januar eine öffentliche Gedenkfeier, auf der die Namen der Toten verlesen werden. Es waren stets bewegende und besondere Abende, bei denen ich ins Grübeln gekommen bin. Weit mehr als zweihundert Menschen sterben in Neukölln jedes Jahr, ohne dass Angehörige um sie trauern. Entweder weil sie keine mehr haben. Oder weil sie sich zu Lebzeiten so sehr entfremdet haben, dass die noch lebenden Verwandten, Freunde und Bekannte keine Notiz von ihrem Tod nehmen oder sich einfach auch weigern, die Kosten für die Beerdigung zu tragen.
Das ist ein Symptom der anonymen Großstadt, solche Fälle gibt es tausendfach im ganzen Land. Aber es ist noch mehr. Bei nicht wenigen Namen auf der mehrere Seiten langen Liste fehlt ein konkretes Sterbedatum, oder es wurde nur auf einige Tage genau geschätzt. Ganz einfach, weil der Mensch so lange unbemerkt in seiner Wohnung verblieb, dass ein Sterbetag nachträglich nicht mehr ermittelbar ist. Es geht dabei um Wochen und Monate der stillen Verwesung, ohne dass irgendjemand Notiz davon nimmt. Meist fällt es erst auf, wenn der süßlich-beißende Geruch langsam bis in den Hausflur und die Nachbarwohnungen kriecht. Es stimmt mich tieftraurig und nachdenklich, wenn Menschenleben so einsam, beinahe belanglos enden.
Mein Gesundheitsamt kennt die Geschichten hinter den Namen nicht. Es muss sie auch nicht kennen und fragt nicht danach. Die Menschen werden schlicht unter die Erde gebracht. Neukölln gibt dafür jedes Jahr um die 200.000 Euro aus. Die Beerdigungen erfolgen größtenteils als Feuerbestattung. Behutsam und respektvoll, aber ohne Gedenken, ohne ausdrückliche Würdigung ihres Menschseins. Es ist ein Verwaltungsvorgang, der sich »ordnungsbehördliche Bestattung« nennt. Dabei stehen hinter jedem Namen ein Leben und eine Geschichte. Oft sind es Geschichten von enttäuschten Hoffnungen, vergessenen Träumen und verlorener Liebe. Aber, wie es in unser aller Leben ist, auch Geschichten von Momenten des Glücks, der Dankbarkeit und der Geborgenheit. Und auch wenn diese Geschichten in einigen wenigen Fällen auch von schweren Vergehen oder gar Verbrechen gegen die eigene Familie oder Kinder handeln, hat sich der Bezirk Neukölln – habe ich entschieden, dass ein Gedenken an sie möglich sein soll. Einfach, weil sie Menschen waren. Weil sie Neuköllnerinnen und Neuköllner waren.
Der Anstoß kam von einem privaten Verein, der bis heute unglaublich viel Kraft in diese Gedenkfeiern steckt. Nach und nach konnten viele Partner gewonnen werden, die sich diesem Anliegen tatkräftig angeschlossen haben. 2021 haben in ganz Neukölln die Kirchenglocken geläutet, um der einsam Verstorbenen zu gedenken. So etwas hält eine Gesellschaft auch zusammen, und ich möchte diese Gedenkfeier in Neukölln nicht mehr missen.
Beinahe wäre sie durch massiv vorgetragene Bedenken verhindert worden, die sich allesamt auf Angst vor dem Datenschutz zurückführen lassen. Es könne ja nicht sein, dass wir die Namen verstorbener Menschen an Dritte weitergeben. Doch, das kann es. Das passiert auf jedem Friedhof und in jeder Tageszeitung jeden Tag. Auf Grabsteinen und in Traueranzeigen. Rein rechtlich betrachtet, sind die Namen verstorbener Menschen keine »personenbezogenen Daten« im Sinne der Datenschutzgrundverordnung und damit auch nicht besonders geschützt. Rechtlich gesehen. Moralisch und ethisch bin ich mir der besonderen Schutzwürdigkeit der Namen verstorbener Menschen durchaus klar. Ich bin aber der Meinung, dass ein würdiges Gedenken diesem besonderen Achtungsanspruch gerade gerecht wird. Ihre Namen erklingen zum letzten Mal. Daran gibt es nichts Verwerfliches.
Es könnte ja sein, dass Angehörige sich bloßgestellt fühlen, war ein weiteres Gegenargument. Weil ihnen unterstellt würde, sie könnten oder wollten die Beerdigung ihres verstorbenen Familienmitgliedes nicht bezahlen. Es wurden Szenarien von Schmerzensgeldklagen und Verstößen gegen das Persönlichkeitsrecht entworfen. Aber ganz unabhängig von allen juristischen Spitzfindigkeiten und Bedenken ist für mich klar: Das Gedenken an unsere Toten gehört zum Leben. Ein respektvolles Gedenken kann nicht falsch sein.
Zudem stimmt es in manchen Fällen sogar, dass Angehörige sich schlicht weigern, die Kosten zu tragen. Und dann holt sich mein Gesundheitsamt die Bestattungskosten auch zurück – notfalls mittels Kontopfändung, wenn es sein muss auch noch Jahre später. Berechtigte Ausnahmen gibt es nur bei erheblicher Entfremdung, beispielsweise nach Gewalt oder Missbrauch durch ein Elternteil. In diesen Fällen ist es nicht zumutbar und unter Umständen retraumatisierend, wenn geschundene Kinder für ihren Peiniger aufkommen sollen. Es ist absolut richtig, diese Menschen in Frieden zu lassen und die Beerdigung durch den Staat zu ermöglichen.
Dass dieses Gedenken an verstorbene Menschen bewegt, zeigt ein Gästebucheintrag aus der Gedenkfeier im Jahr 2021, den ich hier vollständig zitieren möchte:
Lieber Vater,
erst kurz vor Weihnachten habe ich erfahren, dass du verstorben bist.
Durch Zufall war ich hier und habe an der Gedenkstunde teilgenommen, eher durch Zufall. Du wohntest hier drüben in der Nähe. Für die wenigen Kontakte, danke! Dein Name wurde verlesen. Ein Licht hatte ich auch mit.
Deine durch »Zufall« entstandene Tochter
Jedes Mal, wenn ich diese Zeile lese, muss ich schlucken. Es geht mir nahe. Und so soll dieses Gedenken auch wirken.
Im Januar 2021 haben wir die Gedenkfeier pandemiebedingt größtenteils digital abgehalten. Monate später meldete sich ein Angehöriger bei mir, der nur durch die Aufzeichnung der Feier vom Tod seines Cousins erfahren hatte. Er wollte in Erfahrung bringen, wo sein Verwandter begraben liegt, um sich von ihm zu verabschieden. Diese Beispiele bestärken mich darin, dass dieses Gedenken gut für Neukölln ist. Und genauso kann es gut für andere Städte und Gemeinden sein. Mir fällt kein einziger Grund ein, warum es solch eine Veranstaltung nicht in allen Kommunen dieses Landes geben kann. In Neukölln angefragt hat schon im Jahr 2020 die Stadt Kassel, die sich mit genau den gleichen Fragestellungen und vermeintlichen juristischen Hindernissen gequält hat. Ich habe dort gerne mit den Erfahrungen aus Neukölln ausgeholfen und hoffe, dass sich auch in Hessen jemand ein Herz fasst und es einfach macht.
Wenn die ehemalige Bundesfamilienministerin Franziska Giffey nach Neukölln kommt, wird groß aufgefahren. Am 22. Juni 2018 war es nicht weniger als ein beklebter Doppelstockbus der Berliner Verkehrsbetriebe (in Berliner Mundart »der große Gelbe«), der zur Vermittlung der Botschaft herhalten musste: Die Ministerin macht jetzt ernst im Kinderschutz. Gemeint war eigentlich die »Bundesinitiative Netzwerke Frühe Hilfen und Familienhebammen«, aber es macht schon viel mehr her, wenn man es Kinderschutz nennt. Und es stimmt ja auch, denn Kinderschutz beginnt nicht erst bei bereits bestehender Vernachlässigung und seelischem Missbrauch, sondern er wirkt im besten Fall präventiv. Er unterstützt Familien, bevor etwas Schlimmes passiert, anstatt später geschundene Kinderseelen und gebrochene Knochen heilen zu müssen.
Die allermeisten Kindeswohlgefährdungen und gerade die besonders schrecklichen Tötungen von Säuglingen geschehen fast nie mit Vorsatz oder gar Planung. Sie sind in den allermeisten Fällen das Ergebnis einer kompletten Überforderung. Wenn Eltern ihr nächtelang schreiendes Kind nicht mehr aushalten, sich allein fühlen oder es tatsächlich sind und keinen Ausweg mehr wissen, wird es gefährlich. Dann kann es zu regelrechten Aussetzern kommen, zu Impulshandlungen, die schreckliche Folgen haben können. Dann werden Säuglinge aus dem Fenster geworfen oder gegen die Wand geklatscht. Am stärksten davon gefährdet sind Kinder in ihren ersten sechs Lebensmonaten. Darum sind die sogenannten »Frühen Hilfen« auch im Kinderschutzgesetz verankert und werden mit etlichen Millionen Euro durch die Bundesregierung gefördert. Sie sollen Unterstützung von Familien in der Phase rund um die Geburt leisten und so nicht nur die bestmögliche Entwicklung von Kindern fördern, sondern auch solche Überforderungssituationen verhindern.
In Neukölln machen wir das seit 2012 mit einer eigenen Präventionsstrategie – der Neuköllner Präventionskette –, die von der Schwangerschaft bis ins Schulalter hinein allen Kindern ein gutes und gesundes Aufwachsen frei von Gewalt, Vernachlässigung und Entwicklungsstörungen ermöglichen soll. Das ist gut gemeint, und wir investieren dort noch zusätzlich zur Bundesförderung viel Kraft. Die Erfolge sind aber zäh und nur schwer handfest nachzuweisen. Denn es ist ein hartes Geschäft. Alle Familien mit den vielfältigen Unterstützungsangeboten zu erreichen, ist beinahe aussichtslos. Und selbst wenn die jahrelange mühevolle Arbeit erfolgreich ist, kann ich es nicht beweisen. Denn es ist kaum möglich, zweifelsfrei zu belegen, dass ohne die Präventionsarbeit Kinder totgeschüttelt, missbraucht oder vernachlässigt worden wären. Das Präventionsparadox, das wir alle in der Corona-Pandemie kennengelernt haben, macht auch im Bereich der Frühen Hilfen jeden Nachweis von Wirksamkeit extrem schwer.
Dass der Anteil übergewichtiger Kinder unter den Neuköllner Erstklässlern zwischen 2013 und 2017 um über zwei Prozentpunkte auf 13,5 Prozent gesunken ist, kann mit vielen Faktoren zusammenhängen. Dass Sprachdefizite und auffällige Visuomotorik (Auge-Hand-Koordination) im gleichen Zeitraum um elf und fünf Prozent zurückgegangen sind, kann andere Ursachen haben als die Arbeit meines Jugend- und Gesundheitsamtes. Beispielsweise den Zuzug von eher bildungsnahen Menschen mit höherem sozialen Status. Wenn der Nord-Neuköllner Hipster irgendwann Kinder bekommt, ist eben eher Holzspielzeug statt Xbox angesagt.
Und dennoch, die Idee ist bestechend einfach. Je mehr wir als Gesellschaft tun, um die Gefährdung des Kindeswohls zu verhindern, bevor sie eintritt, desto mehr Leid können wir verhindern und desto besser wachsen Kinder und Jugendliche in unserem Land heran. Das ist aber letztlich auch eine Frage des Geldes. Modellstudien sagen uns, dass wir mit jedem eingesetzten Euro für Frühe Hilfen bis zu 34 Euro im Lebensverlauf eines Kindes sparen können. Für den Logopäden, für die Ergotherapie, für zahnärztliche Behandlung an völlig verfaulten Kinderzähnen. Aber auch für gesellschaftliche Folgekosten von niedriger Bildung, Arbeitslosigkeit, Drogenkonsum und Delinquenz. Eine Rendite von 3400 Prozent! So einen Zinssatz bekommen Sie bei keiner Bank! Wer da nicht zuschlägt, ist dämlich.
Nur leider sind wir das offenbar. Denn während wir seit 2012 pro Jahr ungefähr 100.000 Euro für die Neuköllner Präventionskette zur Verfügung haben, geben wir allein in Neukölln für den Reparaturbetrieb der Jugendhilfe – die »Hilfen zur Erziehung« – über 60 Millionen Euro aus. Jedes Jahr aufs Neue. Berlinweit sind es weit mehr als 500 Millionen Euro, Tendenz stetig steigend. Ziel der Politik ist es schon lange nicht mehr, diese Kosten zu senken. Es gilt stattdessen schon als Erfolg, wenn sie nur weniger stark ansteigen.
Und selbst die mageren 100.000 Euro für Prävention muss ich mir jedes Jahr in zähen politischen Verhandlungen hart erkämpfen und dafür auf andere wichtige Projekte verzichten. Rückblickend bin ich trotzdem sicher, dass wir damit Gutes getan haben. Die Gesundheit der Neuköllner Kinder hat sich in den Jahren meiner Amtszeit als Jugend- und Gesundheitsstadtrat in der Breite erheblich verbessert. Vielleicht ist das mein größter politischer Erfolg.
