Brief an W. - Anais C. Miller - E-Book

Brief an W. E-Book

Anais C. Miller

4,5

Beschreibung

Der Tod ist unendlich. Die Liebe geht darüber hinaus! Stell Dir vor, Du schreibst einen Brief. An Deine große Liebe. Du schickst ihn nicht ab, weil Du denkst, Du machst das Liebesgeständnis persönlich und dann kommst Du zu spät! Ein Buch über Seelenverwandtschaft und zugleich die tragische Biografie der Self-Publisherin Ananis C. Miller. Ein Buch, das nachdenklich macht! Erzählt nach einer wahren Begebenheit...

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Brief an W.

Der BriefImpressum

Der Brief

Brief an W.

Anais C. Miller

Impressum

Text:                           Anais C. Miller

Umschlag                    Foto: @ PixabyVerlag                       

Verlag:                        BoD Books on Demand

Printed in Germany

„Der Tod ist unendlich.

 Die Liebe geht darüber hinaus!“

Stell Dir vor, Du schreibst einen Brief. An Deine große Liebe. Du schickst ihn nicht ab, weil Du denkst, Du machst das Liebesgeständnis persönlich…und dann…

kommst Du zu spät…

Vor 25 Jahren wurde ich mit Liebe infiziert. Ein Virus legte sich über mich, wie ein Fluch und Segen zugleich. Gegen die Infektion in meiner Seele  gibt es bis zum heutigen Tage keine Heilung. Die Liebe durfte ich in all den Jahren nicht ausleben, denn das Schicksal hatte andere Pläne mit mir und meiner Liebe, die ich im Herzen trug. Mein Herz verlor ich an W. Er war die Liebe meines Lebens. Die Tragödie unserer Liebe lag darin, dass unsere Seelen miteinander verwandt waren. Erst nachdem W. starb, ließ mich seine Seele wieder los. Mein Herz erhielt ich zurück, aber die Liebe zu W., sie blieb bis über den Tod hinaus…!

Erzählt nach einer wahren Begebenheit.

Zur Autorin

Anais C. Miller, geboren im Ruhrgebiet, Kind aus gescheiterter Ehe, aufgewachsen mit einer bewegenden Biografie, die u.a. Bestandteil ihres Romans „Brief an W“, ist, arbeitet als Kassiererin in einem namhaften Discounter und verbringt die Freizeit zusammen mit ihren Pferden, Hunden, Katzen und ihrer Tochter auf einem idyllischen Reiterhof im Herzen Westfalens. Das Schreiben sei lediglich „ein Hobby“. Die schicksalhaften Erzählungen ihrer Pferde „Classic Star“ und „Charisma“, schrieb Anais C. Miller nach wahren Begebenheiten. Mit „Charisma“ landete sie unerwartet unter den 2 besten Biografien im Verkaufsranking des Online-Riesen „Amazon“ und mit „Classic Star“ gelang ihr die Auszeichnung „Bestseller“.

Vorwort

Eine Lehrer-Schüler Liebe. Riskant und gefährlich, aber auch prickelnd und tiefgehend. Platonisch oder purer Sex? Machtspiele? Der Mächtige und die Unterlegene? Nein! Eine Liebe voller Achtung und Respekt. Eine Liebe ohne Reue und ohne Vorwürfe. Eine Liebe voller Hingabe eines Mädchens, das diese Liebe aus ihrem Herzen nie wieder losgeworden ist. Selbst dann nicht, als ihre ehemals große Liebe bereits verstorben und aus ihr längst eine erwachsene Frau geworden war.

Aus dem Wunsch heraus, meinem Lehrer einen Brief zu schreiben, entstand ganz nebenbei ein Teil meiner Biografie. Es war von mir niemals beabsichtigt, jemandem außer ihm mein Leben zu erzählen. Ihm wollte  ich eigentlich nur danken  für all die Liebe, die er mir bis zum heutigen Tag gegeben hat und einen Teil meines vergangenen Lebens wollte ich ihm erzählen. Wir hatten uns lange Zeit nicht mehr gesehen. Ohne diese seine Liebe wäre ich nicht mehr hier. Sie trug mich all die Jahre durch Höhen und Tiefen meines Lebens. „Er“ war nicht nur mein Lehrer für Deutsch und Erdkunde vor fast 25 Jahren, sondern auch mein Lehrer in Sachen Respekt, Achtung, Ehrlichkeit und Distanzgefühl für gewisse Dinge im Leben. Vor allem aber war er mein Lehrer im wichtigsten Kapitel des Lebens, in der Liebe. Er war meine große Liebe und das wird er bis zu meinem letzten Atemzug bleiben. Die Liebe ist der Schlüssel zu allen Türen unseres Lebens. Mit ihr können wir jede Tür öffnen. Sie heilt alle Wunden, sie ist rein und selbstlos. Sie ist wunderbar. Diese eine Liebe meines Lebens trug mich aufrecht durch all meine mir widerfahrenden Schicksalsschläge. Ein Mensch, der dich liebt, aufrichtig und ehrlich, aus vollstem Herzen heraus, ist das kostbarste Geschenk auf dieser Welt. Man sagt, Dank kommt niemals zu spät... meiner kam zu spät. Mir blieb nur dieser Brief, in dem ich mir alles von der Seele schrieb, adressiert an meinen toten Lehrer,  jetzt wohnhaft im Jenseits. Da mein Brief ihn nicht mehr erreichen wird, weil ich ihn nicht rechtzeitig abschickte, habe ich mich entschieden, den Brief als Buch zu veröffentlichen. Für  W.- das bin ich ihm und unserer Liebe schuldig. Wie sehr hoffe ich, dass mein Brief ihn irgendwo im Nirgendwo doch noch erreicht. Meine Seele, sie hängt immer noch so sehr an ihm. Manchmal begegne ich „W“ nachts im Traum, obwohl es schon so lange her ist, dass ich ihn das letzte Mal sah. Sein Todestag: 06.12. Ich möchte den Brief an genau diesem Datum auf die Reise schicken!

R.I.P

Es gibt sie, diese eine Liebe…

die dich mitten ins Innerste trifft…

deine Seele erschüttert…

dein Herz umarmt…

dich total verändert…

und dich nie wieder verlässt.

Du kannst gehen wohin du willst…

weglaufen

schweigen

zerreden

leugnen

dich dagegen wehren…

sie bleibt einfach!

Dein Herz wird nie wieder

mit etwas Geringerem zufrieden sein.

Deine Seele wird sich nur noch

nach dieser Erfahrung sehnen.

Und dir bleibt nichts anderes…

als einfach nur zu lieben.

© Erika Flickinger

Für W.

Träume...

Viel öfter sollten wir auf unser Bauchgefühl hören, wenn wir träumen. Nur wenn wir unsere Träume richtig wahrnehmen und ihnen vertrauen, können wir sie verstehen. Es steckt so viel Wahrheit in ihnen. Aus einem einzigen Traum ist dieser Brief entstanden. Aus einem Traum heraus kann ich ebenfalls auf 20 vergangene Jahre zurückblicken und aus diesem einen Traum bin ich jetzt aufgewacht! Mit Entsetzen stelle ich fest, dass es zu spät ist. Ich bin zu spät. Als ich von dir geträumt habe, W., in der Nacht, vor wenigen Monaten, wäre es noch früh genug gewesen. Früh genug, dich noch einmal wiederzusehen, dich in den Arm zu nehmen und dir zu sagen, wie sehr ich dich all die Jahre geliebt habe. Früh genug, um dir zu sagen, dass ich dich auch heute noch liebe, 25 Jahre später. Außerdem, das Wichtigste, dir zu sagen, dass ich dich wahrscheinlich auch die nächsten 30  Jahre noch lieben werde, auch wenn du längst nicht mehr da bist. Bis an das Ende meiner Tage werde ich dich lieben und  niemals vergessen können. Dagegen kann ich nichts tun, W., sie ist tief in mir drin, deine Liebe. Ich bin mit Liebe von dir gebrandmarkt, gezeichnet und infiziert worden. Ich schrieb dir nach meinem Traum einen Brief. Einen Brief, in dem ich dir meine Liebe gestand.

Ich schickte ihn nicht ab…

Es war mir nichts wichtiger, als dir zu Lebzeiten ein Liebesgeständnis zu machen. Meine Liebe hättest du mit ins Jenseits nehmen können. Sie wäre dir auf immer und ewig sicher gewesen. Dein Lieblingsspruch, ich erinnere mich: 'Es gibt im Leben zwei Tragödien. Die eine ist die Nichterfüllung eines Herzenswunsches, die andere ist ihre Erfüllung!

In dem Spruch steckt verdammt viel Wahrheit. Egal wie es für uns beide ausging, sind wir letztendlich in einer Tragödie geendet. Du wolltest meine Liebe nicht, weil du vor 25 Jahren mein Leben nicht kaputt machen wolltest. Ich ging. Die Liebe blieb. Deine Person gab ich auf! Die Liebe zu dir konnte ich nicht aufgeben. Zu tief saß sie in meinem Herzen. Versagt habe ich. Schaffte es nicht, sie mir rechtzeitig aus meinem Herzen zu reißen, W. Aus mir prügeln hätte ich sie müssen, um sie loszuwerden. Seelenverwandtschaft. „Dagegen sind wir Menschen machtlos! Wenn das Herz etwas will, dann muss man mit ihm in eine dunkle Gasse gehen und es solange verprügeln, bis es etwas anderes will“. Deinen Wunsch, nicht mehr zu dir zu kommen, den habe ich dir erfüllt. Nur die Liebe, sie blieb all die Jahre in mir. Sie ging einfach nicht fort. Mein Herz ist bis heute infiziert mit deiner Liebe. Ein Virus, gegen das es keine Heilung gibt.

Hier beginnen unsere Geschichte und mein Brief an dich:

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“  Stimmt! Vor mehr als 25 Jahren saß ich auf der Bank im Hof der Realschule. Zarte 14 Jahre jung…So fing alles an mit uns beiden!

Mitten auf dem Schulhof der Realschule wächst ein großer, wunderschöner Baum. Um den Baum herum stehen hellgestrichene Holzbänke. Auf denen sitze ich und warte auf den Schulbeginn. Im August befinden wir uns vor 25 Jahren, ein besonders warmer Sommer in dem Jahr. Tiefblauer Himmel. Das Leben duftet nach unberührter Kindheit und geheimnisvollen Träumen. Märchenhafte Stimmung liegt in dem Morgennebel. Es gleicht Magie. Zeitlos. Unbeschreiblich die Atmosphäre in dem Zeitalter der 90- er Jahre. Mir persönlich war an dem Tag nicht unbedingt nach guter Stimmung. Die Schule musste ich wechseln, weil ich das Gymnasium nicht gepackt hatte. Nicht, weil ich dumm war, ich war faul. Leider! Mein Hobby, das Reiten, gefällt mir damals besser, als die nervige Schule. Mein Pferd nahm viel Zeit in Anspruch. Ich war ein normaler Teenager, glaubte ich zu diesem Zeitpunkt noch (Gut, was noch kommen sollte, ahnte ich nicht. Gott sei Dank! Belastet mit normalen Sorgen, Ängsten und Dummheiten im Kopf eines pubertierenden Mädchens war ich). Ein intelligentes, aufgewecktes und hübsches Mädchen. Aufgewachsen als Einzelkind, aber dennoch nicht verwöhnt. Bis dahin hatte ich außer der Trennung meiner Eltern nichts wirklich Schlimmes in meinem Leben erlebt. Damals, am ersten Schultag, während ich auf der Bank saß, fragte ich mich, wie es mir wohl ergehen wird in der neuen Schule? Finde ich auf der Realschule neue Freunde? Von den Schülern kenne ich niemanden. Vom Optischen her machte die Schule auf mich einen freundlichen Eindruck. Trotzdem empfand ich ein komisches Gefühl, zumal ich die siebte Klasse wiederholen musste. Das war schon mit Magengrummeln verbunden. Ein Junge gesellte sich zu mir auf die Bank. Wir kamen ins Gespräch. Er besuchte die Schule seit längerem und sprach mir Mut zu. Nach weiteren belanglosen Wortwechseln mit ihm, bist du in mein Leben getreten, „W.“ Wie aus dem Nichts tratst Du in mein Leben! Im wahrsten Sinne des Wortes, wie vom Himmel gefallen. Dieser Moment war schwer zu beschreiben. Von der ersten Sekunde an, als ich dich sah, war es als kenne ich dich mein Leben lang. Du schienst mir eng vertraut. Für einen kurzen Moment überlegte ich, woher wir uns kennen. Glaubst du, dass man einem Menschen begegnen kann, den man niemals zuvor gesehen hat und dennoch das Gefühl in sich trägt, man hätte bereits sein ganzes Leben mit ihm verbracht? „Wer ist das?",  fragte ich den Jungen neugierig, als du mit deiner Aktentasche an der Hand und gesenkten Blickes über den Schulhof schlenderst. Vom Alter her schätzte ich dich damals auf Ende 40. Du schienst gedankenverloren, sinnierte ich. Deine Aura strahlte tiefste Traurigkeit deiner Person aus. Traurige Menschen üben auf mich eine magische Anziehungskraft aus. Bis heute weiß ich nicht, warum, aber sie begleiten mich mein ganzes Leben hindurch. Diese Loser-Typen, auf die ich anspringe. Je „verlorener“ ein Mensch scheint, desto mehr spüre ich das Bedürfnis, ihn näher kennenzulernen. Meiner Meinung nach schienst du über den Schulbeginn nicht sehr erfreut nach den Ferien. Warum bist du traurig? Meinen Blick konnte ich nicht von dir lassen. Dir habe ich hinterher geblickt, bis du schließlich um die Ecke des Schulgebäudes verschwandst. Man kann sagen, ich starrte dir hinterher. Nicht einen Wimpernschlag vollzog ich, während du an mir vorbei gingst. Regungslos verfolgte ich deine Erscheinung. Nicht einen Atemzug nahm ich. Die Welt drehte sich einen Moment lang nicht weiter. Was war passiert? Innerlich spürte ich, dass etwas zwischen uns beiden in der Luft lag. Die „Begegnung“, mit dir, sie war kein Zufall. Sie war Schicksal. Mein Schicksal. Zwei verlorene Seelen begegnen einander niemals zufällig. Unser Schicksal war es, dass wir beide uns zu dem Zeitpunkt an genau diesem Ort begegnen sollten. „Das ist W! W. K! Lehrer für Deutsch und Erdkunde!", lachte der Junge neben mir auf der Bank. „Merkwürdiger Typ!", entfuhr es mir. „Ja, der ist ein bissel neben der Spur, aber das sind die meisten Lehrer hier, das wirst du noch merken!" Der Junge zwinkerte mit den Augen. Warum wunderte es mich nicht, als wir die Klassen zugeteilt bekamen, dass genau du unser Lehrer für Deutsch und Erdkunde wurdest?  Als du dich unserer Klasse vorstelltest, sagtest du trocken: „So, ich bin Euer Klassenlehrer für die nächsten zwei Jahre!" Peng! Aus! Fertig! So einfach war das. Irgendwie ahnte ich doch gleich, als du zuvor über den Schulhof kamst und ich dir völlig fasziniert nachgesehen hatte, dass du mein Lehrer sein würdest. Meine gute alte Intuition. (Sie verließ mich übrigens mein Leben lang nicht. Nur hörte ich leider nicht immer auf sie!). Für mich gibt es im Leben keine Zufälle. Allerdings glaube ich an schicksalhafte Bestimmungen! Zwangsweise, zunächst für die kommenden zwei Jahre sollten wir beide also aufeinandertreffen. Extrem gelangweilt kamst du mir rüber. Du hattest überhaupt nichts Interessantes an dir, „W.“ Trotzdem interessierte mich deine Person. Ich spürte, das war der Beginn von etwas „Außergewöhnlichem“. Jedoch konnte ich zunächst außer deiner Traurigkeit, und genau die zog mich magisch in deinen Bann, noch nichts Aufregendes an dir entdecken. Die Begegnung mit dir würde etwas ganz Besonderes werden, das spürte ich. Innerliche „Vorahnung“ nenne ich derartige Gedankenzüge. Manchmal wird ein Mensch zu der wichtigsten Person deines Lebens, von dem du es niemals erwartet hättest. Mir kam es damals vor, als kannte ich dich seit Jahren. Du warst mir von Anfang an vertraut. (Damals war mir das direkt unheimlich).

„Wer bist du?“, fragte ich mich…

Schulalltag auf der Realschule! Der Stoff in allen Fächern war für mich ein Kinderspiel. Auf dem Gymnasium hatte ich die Themen bereits durchgekaut. In der schwierigen Variante. Anstrengen brauchte ich mich also nicht mehr. Einen chilligen  Lenz würde ich mir machen! Füße hoch und über die Lehrer lachen. Die Lehrer waren alle freundlich und easy. Anfangs gab es für mich keinen Lieblingslehrer. Die Schule machte mir Spaß und ich ging gerne hin, das war für den Anfang zunächst alles. Meine Mitschüler waren in Ordnung. In unserer Klasse gab es zwei Gruppen. Die Durchgeknallten und die Gruppe der Streber. Erstere sind die, die heimlich auf dem Schulhof rauchten und sich den Anordnungen der Lehrer widersetzen. Somit die unbeliebten und schlechteren Schüler. Zu den Strebern muss ich nicht viel sagen. Streber eben. Die, die sich nie danebenbenehmen. Die, die im Unterricht nur positiv auffallen. In welche Gruppe ich gehören sollte, das wusste ich zunächst nicht. Jedenfalls wusste ich das nicht sofort und das verwirrte mich zunächst. Es würde vielleicht Sinn machen, mit beiden Gruppen klarzukommen. So rauchte ich ab und zu Zigaretten mit den Durchgeknallten. Heimlich, im angrenzenden Wäldchen, nahe der Schule. Manchmal auch auf dem Schülerklo. In der Strebergruppe interviewte ich unsere Lehrer. Mit Mikrofon und Aufnahmegerät. Tagebuch führte ich über meine Lehrer in den Hauptfächern. Das ist in der Strebergruppe ein absolutes Muss. Lustig und spannend war es auf der neuen Schule. Jeden Tag! Egal in welcher Gruppe ich „rumturnte“. Die Schulzeit war die schönste Zeit meines Lebens… Das hatte mir als Kind meine Oma vorausgesagt „Die Schulzeit ist die schönste Zeit im Leben, Kind! Diese kommt nie wieder, also genieße sie!“  Eine meiner Mitschülerinnen, „S.“ ihr Name, du erinnerst dich bestimmt an sie - heftete sich von Anfang an sehr direkt an deine Fersen, W. Hattest du nicht bemerkt, wie sehr S. an dir interessiert war? Keine Ahnung, was sie mit ihrem Verhalten bezweckte, dir immer und überall aufzulauern. Oftmals versuchte sie, mich zu bequatschen, um doch mit ihr zusammen zum Lehrerzimmer zu gehen. Nur, um dich zu „sehen“ oder dich zu beobachten. Darin sah ich keinen Sinn. Für einen Lehrer schwärmen? Nein! Das war überhaupt nicht meine Art. Besonders, da du in meinen Augen ein ziemlich zerstreuter Professor warst. Immer herrlich anwesend abwesend - nicht sonderlich freundlich, dazu zurückhaltend. Eine sonderbare Mischung. Ich mochte sie nicht, die Zusammensetzung deiner Persönlichkeit. Dennoch hattest du die anderen Mädchen komischerweise schnell auf deiner Seite. Sie himmelten dich an, als seist du deren Gott. Für mich warst du der Undurchschaubare, aber bestimmt kein Gott. Ein Mensch, der mir nicht behagt, weil mir seine Erscheinung unheimlich ist und ich ihn nicht einschätzen kann, darf niemals ein Gott sein. Dass du „S“. und all die anderen aus unserer Klasse nicht besonders mochtest, auch wenn sie dich anhimmelten, kapierte ich sofort. Nur sie bemerkten es nicht. In der Anfangszeit empfand ich für dich wenig Sympathie. Besonders, weil du mir so vertraut warst. Das behagte mir nicht. Im Gegenteil. Du glichst einem Buch, in dem ich lesen konnte. Ich verspürte einen Drang, dieses Buch zu lesen, obwohl ich es eigentlich nicht lesen wollte. Sonderbar! Ganz ehrlich?! Deine abweisende Art, dieses nicht zu Durchschauende in dir, damit kam ich hinsichtlich deiner Person zunächst nicht klar. Du trugst eine Art Schutzpanzer um dich herum, das spürte ich schnell. Menschen, die solch einen Panzer tragen und nach außen eher die Arschloch-Typen spielen, haben eine weiche, sehr zarte und zerbrechliche Seele. Sie sind leicht verwundbar! Jedenfalls hielt ich mich zurück. Sowohl im Unterricht, als auch, wenn die Mädchen dir in der Pause auf dem Schulhof auflauerten. Während sie dich ansprachen, mit dir herumalberten und dich anhimmelten – hielt ich mich bedeckt im Hintergrund. Ich beobachtete das Geschehen lieber aus der Entfernung. Zwischen dir, meinem Lehrer und mir, herrschte eine deutliche Distanz. Anfänglich äußerte sich diese sogar in gegenseitiger Abneigung. Von deiner Seite war es vermutlich noch nicht einmal Abneigung. Von meiner Seite aus war das, glaube ich im Nachhinein, eine Art Selbstschutz. Weißt du, wenn ich vieles in einem Menschen lesen kann,  dann kann er das wahrscheinlich auch in mir. So dachte ich über dich und deshalb hatte ich eher Angst vor dir.  Jedoch fühlte ich mich in deiner Nähe nicht unwohl, eher im Gegenteil. Innerlich war ich zerrissen. Nichtwissend, wie ich dir gegenübertreten sollte. Antworten auf die mir gestellten Fragen im Unterricht verweigerte ich trotzig, beteiligte mich nicht. Besonders gern, wenn sie von dir direkt an mich gestellt wurden, stellte ich mich quasi „tot“. Unterrichtsspezifische Fragen ignorierte ich. Eine stumme Schülerin hockte vor dir. „Dummstellen“ machte mir Spaß. Ich saß einfach auf dem Stuhl, wortlos, ohne Mimik, wie eine Marionette und fixierte dich mit meinen Blicken, die sehr scharf und zielgenau waren. Wenn ich von dir überhaupt etwas gefragt wurde, denn meistens fragtest du mich gar nichts, beachtetest mich nicht einmal. Du hattest keine Lust auf meine patzigen Antworten und die unnötigen Diskussionen mit mir, glaube ich. Schnell durchschautest du meine Spielchen. Klar, du warst der Lehrer und somit der Intelligentere von uns beiden. Sollte man annehmen. Manchmal glaubte ich, du trautest dich nicht, mich in deinem Unterricht spezifisch zu befragen. Aus Angst, dass ich dir wieder einen Schlag versetzt hätte. Als Beispiel: Kaugummi kauen war im Unterricht strengstens untersagt. Einmal befahlst du mir: „Anais, Kaugummi raus!" Doch ich hatte keinen Kaugummi im Mund. Wirklich nicht. Keine Ahnung, was du gesehen hattest, W. Jedenfalls sagte ich dir das: „Ich habe keinen Kaugummi im Mund!" „Nee? Was denn dann, Anais?“„Eine Zunge!"Das Gelächter meiner Mitschüler war groß. Für diese dir gegenüber ziemlich freche Antwort war ich lange Zeit der King in unserer Klasse. Leider hast du mich auch an dem Tag nicht aus dem Klassenzimmer geworfen. Schade eigentlich! Mann, es war langweilig mit dir. Mein Blick sollte dir ausdrücken: Ach, lass mich einfach in Ruhe, sprich mich besser gar nicht an. Warum das so zwischen uns lief, ich weiß es nicht. Warum ich das Bedürfnis hatte, aus der Rolle zu fallen? Keine Ahnung. So fängt vielleicht generell die Liebe an. Was sich liebt, das neckt sich. Meine Hausaufgaben erledigte ich nur unwillig. Meistens lagen sie gar nicht vor. Auf einen Eintrag ins Klassenbuch von dir hoffte ich. Aufmerksamkeit wollte ich! In irgendeine Richtung wollte ich Beachtung von dir. Konnte man dich denn so gar nicht aus der Reserve locken? Deine andere Seite wollte ich mal kennenlernen, unbedingt! Du musstest eine andere Seite in dir haben, W. Jeder Mensch trägt auch eine „dunkle“ Seite in sich! - Zeig mir mal deine! Los, komm schon! - kochte ich innerlich. In meiner Erwartung, dass es einen richtigen Knall zwischen uns gäbe, musstest du mich bravourös enttäuschen. Denn er kam nicht. Falls die Situation zwischen uns doch irgendwann einmal eskaliert wäre, war ich mir sicher, dass ich dir überlegen wäre. Du würdest mich garantiert nicht mundtot bekommen. Ahntest du das? Hattest du mich bereits durchschaut? Anders kann ich mir nicht erklären, warum es dir egal war, dass ich keine Hausaufgaben hatte, dass ich Kaugummi kaute, meine Füße auf dem Tisch lagen und dass ich im Unterricht mit meiner Sitznachbarin ununterbrochen quatschte. Generell störte ich deinen Unterricht. Daran hatte ich Spaß, absichtlich natürlich. Es machte dir nichts aus. Standen Klassenarbeiten an, insbesondere im Deutschunterricht, brachte ich allerdings volle Leistungen. Die Klassenarbeiten, die versemmelte ich nicht. Niemals! Ich gab mein Bestes. Du wusstest, dass ich intelligent bin. Im Grunde genommen war ich eine sehr gute Schülerin von dir, W. Mit der kleinen Einschränkung, dass ich nur widerwillig deinen Anordnungen im Unterricht Folge leistete. Verdammten Spaß hatte ich daran, dich zu ärgern und auf die Palme zu bringen. Allerdings war das ein sehr schwieriges Unterfangen, mit der Palme und dir. Dich dort hinauf zu bugsieren meine ich. Die anderen Schüler schafften es spielend, dich aus der Haut fahren zu lassen. Meistens reichte dazu alleine ihre Dummheit. Du ärgertest dich, wenn Schüler auf die einfachsten Fragen keine plausiblen Antworten hatten. Dumme Schüler waren dir ein Dorn im Auge. Freche, intelligente kleine Biester, so wie ich, die dir die Zähne zeigten, waren eher deine Welt, stimmt’s? Trag mich doch einfach mal ins Klassenbuch ein, wegen Störung im Unterricht oder setze mich vor die Tür. Dann ist endlich mal was los! Innerlich hatte ich mir für den Fall, dass es passierte, alles für dich zurechtgelegt. Dich hole ich aus der Reserve! Glaube mal, dann triumphierte ich! Aber nein, du bewahrtest die Ruhe. Beachtetest mich stattdessen überhaupt nicht. Damit brachtest du mich auf die Palme. Das ärgerte mich natürlich und ich überlegte mir andere Dinge, womit ich dein Blut kräftig in Wallung bringen konnte. Irgendwie gelang es mir trotz all meiner Bemühungen nicht. Jedoch spürte ich, dass in dir auch eine andere Seite existierte. „The Dark Side“. Zwei Gesichter hattest du. Einmal dieses Lehrerpokerface. Dieses „Ach-leckt-mich-doch-alle-am-Hintern-ihr-dummen-Schüler,-ich-bin-euer- Meister!“ Manchmal warst du ziemlich von oben herab, W! Andererseits dieses „Ach-das-Leben-ist-doch-Scheiße, -ich-bin-ein-sehr-trauriger-Mensch.“ Diese Traurigkeit in dir, die konntest du mir nicht verheimlichen. Mir nicht! Ich spürte sie sehr deutlich. Deshalb hattest du für mich wahrscheinlich diesen besonderen Reiz. Lange Zeit wusste ich nicht, soll ich dich mögen oder besser nicht? Warum mache ich mir über dich und deine Person eigentlich so viele Gedanken, fragte ich mich? Es war die Traurigkeit in dir, die mich in deinen Bann zog. Deine Seele war traurig, „W“. Genau wie meine. Sie war auch in mir, diese tiefe Traurigkeit. (Bei mir trat sie nur erst viele Jahre später hervor). Das nennt sich Dualseele. Seelenverwandtschaft. Unsere Seelen ähnelten sich. Sie waren eng miteinander verbunden. Warum auch immer! Wir hatten viele Gemeinsamkeiten, W. Damals wusste ich nicht, dass dein Privatleben einfach nur beschissen war und dass meines im Laufe der Jahre ebenfalls so werden sollte. Die Stadt A., wo die Realschule liegt, wurde zum Mittelpunkt meines damaligen Teenagerlebens. Dort war mein zweites Zuhause. Meine Freunde, meine Eisdiele, mein Kino. Mein Treffpunkt mit Freunden und das Brückencenter mit den vielen Geschäften, nährten meine Seele und verpassten mir Beschäftigung. Fast jeden Nachmittag nach Schulschluss war ich dort anzutreffen. Mit meinen Eltern pflegte ich nicht das beste Verhältnis. Es gab häufig Streit bei uns daheim. Geschwister habe ich keine. Mein Pferd war mir wichtig und sonst nichts. So verbrachte ich die Nachmittage selten daheim. Viel lieber war ich bei meinem Pferd im Stall oder in „A.“, in der Stadt. Oftmals, wenn ich durch die Einkaufsstraßen lief, ziellos und gedankenverloren, nur um den Nachmittag mal wieder zu überdauern, begegnete ich plötzlich dir, meinem Lehrer W. K! War es Zufall? Wenn wir uns über den Weg liefen? Stets lächeltest du. Ich grinste frech zurück. Immer mit dem dringenden Bedürfnis, nicht nett zu dir zu sein! Warum trafen wir immer wieder aufeinander? Wieso begegneten wir uns so häufig? Warum warst du dort, wo ich war und umgekehrt? Das konnte kein Zufall sein. Damals fand ich das direkt unheimlich. Vor allem, warum liefst du so „planlos“ durch die City?  Planlos, so schien es mir. Ziellos warst du doch innerlich, W. In deinem Herzen gab es kein Zuhause!  20 Jahre später, hätte ich vielleicht eine Antwort für dich! Du tatst es aus demselben Grund, wie ich es damals getan hatte. Zuhause wartete niemand auf dich. Du wolltest regenerieren und "vergessen". Beim Spazierengehen kann man ganz wunderbar den Kopf abschalten, wenn dieser zu viel denkt. Wenn mir etwas auf der Seele liegt, gehe ich hinaus, in die Natur oder fahre in die Stadt und beobachte dort die vorbeieilenden Menschen. Wenn ich ihre Rastlosigkeit sehe und ihre Unruhe spüre, erinnere ich mich, dass ich „Ruhe“ brauche, um meiner Seele Frieden zu schenken. Mein Kopf wird frei. Durchatmen kann ich von dem stickigen und dreckigen Alltag. Man könnte es auch „sich beim Spazierengehen den „Alltags-Rotz“ von der Seele laufen“, nennen! Es war wunderschön, dass wir beide uns oftmals begegneten. Wie wundersam das Schicksal die Wege zweier Menschen immer wieder miteinander kreuzt, bis sie wissen, dass sie zusammengehören. Wir gehörten zusammen. Von Anfang an, ohne es zu wissen. Elternsprechtag! Meine Mutter hatte auf solche Sprechtage generell keine Lust. Es interessierte sie kaum, ob ich gut oder schlecht in der Schule war. Durch die Zeiten auf dem Gymnasium war sie schlechte Nachrichten und Noten von mir gewohnt. Deshalb zeigte sie wenig Interesse an mir und meinen Schulerfolgen. „Stehst doch sowieso überall mangelhaft.“,  lauteten ihre Worte zum Thema „Sprechtag.“ An dem Tag fasste ich den Entschluss,  alleine zu dir zu gehen, W! Mein Herz klopfte wie verrückt, als ich vor unserer Klassenzimmertür stand. Der Gedanke, dass du hinter der Tür sitzt und mit mir gar nicht rechnest, der war spannend und äußerst aufregend. Es kribbelte in mir und ich wurde ganz nervös. Zu viel Adrenalin! Auf dein Gesicht freute ich mich. Überraschung, W. Im Bus, nachmittags auf der Fahrt zur Schule hin, hatte ich bereits überlegt, was ich dir erzähle und ob es mir gelingen würde, dich zu ärgern. Dein Blick, als ich tatsächlich vor dir stand - mit mir hattest du wahrhaftig nicht gerechnet -  Im ersten Moment war das ein echtes Highlight für uns beide! Unvergessene Momente unserer Geschichte! Ich bin eben immer für eine Überraschung gut. An dem Tag hättest du mich abweisen können. Ich meine, ich war noch nicht volljährig und eigentlich hieß es Eltern- und nicht Schülersprechtag. Immerhin hattest du mich in das Klassenzimmer gebeten! „Anais, alleine?" Du gucktest erstaunt um die Ecke der Türe. Wahrscheinlich in der Hoffnung, meine Mutter wäre mir doch noch gefolgt. Ziemlich verwirrt blicktest du in den Schulflur, vergebens. „Da kannst du ruhig gucken, da kommt niemand mehr!“, dachte ich. Innerlich lachte ich bereits schadenfroh über dich. Die Nummer lief diese Reise scheinbar völlig zu meinen Gunsten. „Jawoll, Anais allein.“, entgegnete ich grinsend. Zwischen dir und dem Türrahmen schob ich mich hindurch und setzte mich auf den Stuhl. Genau vor dein Pult. Face to face. Ziemlich frech von mir, die Nummer.  „Da kommt niemand mehr, Herr K.Sie brauchen gar nicht weiter um die Ecke gucken! Es sei denn, Sie nehmen die nächste Mutter, die nach mir dran ist und bereits am Flur wartet, auch noch dazu!“ Dein Blick in dem Moment, als du dich auf deinen Stuhl gesetzt hattest, war filmreif. Deine Sprache hatte dir mein Auftritt völlig verschlagen. Ja, ich bin schlagfertig, was?! „Läuft gut, Anais", atmete ich gedanklich einmal tief durch. Die Situation hatte ich scheinbar bestens im Griff.  Bloß nicht weich werden und nett sein. Cool bleiben! Es war wahrlich ein komisches Gefühl, dir ziemlich nahe und direkt gegenüberzusitzen. Dein Stuhl war grösser und höher als meiner, somit konnte ich dir tief in deine Augen sehen und du  mir direkt auf meine Nase. Vielleicht war es nicht mein freundlichster Blick, aber ein sehr entschlossener! Entschlossen, die Situation zwischen uns beiden im Griff zu haben, sie zu halten und bloß nicht nett zu dir sein zu wollen. Außerdem werde ich dir gleich mal gehörig auf der Nase rumtanzen, pass mal auf, überlegte ich!  „Ja, ähm...!"  Etwas nervös blättertest du in deinen Unterlagen. In deinem kleinen blauem Notizbuch. Dort war anscheinend alles Wichtige vermerkt. Blau war übrigens deine Lieblingsfarbe, W! „Finden Sie die richtige Seite nicht?", fragte ich amüsiert. Du tatst so, als hättest du das überhört. Die Seite fandst du scheinbar vor lauter Aufregung tatsächlich nicht, das Buch wurde nämlich prompt zugeschlagen und von dir beiseitegelegt. „Ja, wir sind recht gut in Deutsch. Deine Arbeiten sind im guten bis sehr guten Bereich, Anais! Aber die Beteiligung im Unterricht lässt mir doch ein wenig zu wünschen übrig, oder?" Plötzlich verschränktest du deine Arme und gucktest mich eindringlich über den Rand deiner Brille an. Deine Brille, falls du eine auf der Nase hattest, saß meist recht tief und du konntest sehr galant mit deinen Augen über ihren Gläserrand gucken. Wenn du diesen Blick drauf hattest W., dann wurde ich oftmals für einen kurzen Moment schwach. Diesem "Ich-guck-über-den-Gläserrand-Blick" konnte ich nur schwer standhalten. Ein kleines ironisches Grinsen saß auf deinen Backen. „Ja, der Unterricht ist einfach langweilig und anspruchslos, was soll ich mich da beteiligen?" Nach dem Satz, den ich locker flockig vielleicht besser gepfiffen hätte, war ich sicher, dass du mich vor der Türe des Klassenzimmers entledigen würdest. Endlich hatte ich es geschafft. Gedanklich fand ich das etwas peinlich, vor den draußen wartenden Müttern einen Abflug zu machen. Die Mütter, die auch noch zu dir wollten, um die Noten ihrer Kinder zu erfahren und vor der Tür saßen. Wenn die sahen, dass ich nach nur drei Minuten mit dir fertig war, peinlich wäre das! Wahrscheinlich hattest du denselben Gedanken, dass es nicht klug wäre, mich aus dem Klassenzimmer zu werfen, denn es kam nichts mehr von dir. Keine Reaktion. Du saßest einfach regungslos da, wie ein toter Fisch in der Badewanne und hieltest deinen „Brillenrand-Blick.“ Nahmst ihn nicht mehr von mir, fixiertest mich. Absichtlich, damit ich schwach werden und meine Fassung verlieren sollte?  Den Gefallen wollte ich dir nicht tun, den Erfolg nicht gönnen. Anscheinend hatten wir beide dieselbe Erwartungshaltung. Interessante Ansichtssache, oder? Nach einem kurzen Moment, in dem ich mir über meine Antworten und mein Verhalten dir gegenüber tatsächlich das Lachen verkneifen musste, gelang ich richtig in Fahrt. Dir fehlte es zwischenzeitlich an Sprache - also übernahm ich das Kommando:  „Ich erledige meine schriftlichen Arbeiten, fühle mich dabei aber ziemlich unterfordert und lese im Unterricht lieber «Der kleine Prinz», heimlich, unter der Bank!" So und gleich wollte ich dir mitten ins Gesicht sagen, dass mir deine gleichgültige Art dermaßen auf den Zeiger geht, dass ich – „Anais!" – sprachst du plötzlich meinen Namen mit fester und deutlicher Stimme aus. Innerlich zuckte ich zusammen und  hielt kurz inne. Mist! - Was faselst du da eigentlich, Anais? -fuhr es mir in den Kopf. Soeben hatte ich einer Lehrperson mitgeteilt, dass ihr Unterricht anspruchslos, langweilig und uninteressant war und ich überhaupt keine Lust verspürte, in irgendeiner Art und Weise etwas Positives zur Verbesserung meiner Noten beizutragen. - Wahrscheinlich fliegst du jetzt von der Schule Anais. - überlegte ich. Ich wurde nervös. Gedanklich sah ich mich bereits im Zimmer des Direktors sitzen, gemeinsam mit dir. An meine Mutter dachte ich. Ihr Fluchen drangsalierte meine Ohren. „Soeben erst die Schule gewechselt, Anais, weil du zu „blöd“ für das Gymnasium bist! Jetzt musst du wahrscheinlich wegen schlechten Benehmens deinem Lehrer gegenüber, gleich wieder von der Real- auf die Hauptschule gehen!“  Es wäre wohl sinnvoller, nichts mehr zu sagen und den Mund zu halten, überlegte ich. „Ja, das habe ich schon bemerkt“, sagtest du in einem ruhigen Ton. Dein von mir erwartetes Donnerwetter blieb aus. Ich atmete erleichtert durch. Weißt du was, W?  An der Stelle gab ich es auf. Es ist unsinnig, sich mit jemanden duellieren zu wollen, der nicht einmal einen Degen mit sich führt. „Warum haben Sie mir das Buch nicht einfach abgenommen, Herr K?", gelangweilt kaute ich an meinen Fingernägeln. „Vor allem, wenn Sie es doch bemerkt haben?" Für einen Moment scheinst du über meine Frage etwas verwirrt. Bestimmt hast du mit so viel Frechheit von einem fast 15 jährigen Mädchen nicht gerechnet.  „Hallo, hat es Ihnen jetzt die Sprache verschlagen, oder was?" Ungeduldig bin ich gewesen. „Ganz schön frech, Anais, die Miller!" Du trägst interessanter Weise immer noch ein Lächeln auf deinen Lippen und lehnst dich ganz entspannt in deinem Stuhl zurück. Dein Gesichtsausdruck ist liebevoll und tiefgehend. Er trifft mich bis in meine tiefste Seelenspitze. Erstaunlich, was der Mensch für eine Courage hat, denke ich bei mir. Jeder andere Lehrer hätte mir eine gescheuert, oder mich zum Direktor gebracht! Keine Ahnung! Jedenfalls, niemand hätte so teilnahmslos dagesessen, wie du. Deine Ausdauer wurde mir unheimlich. Warum lächelt der immer noch? Nimmt er mir das überhaupt nicht übel oder nimmt er mich etwa gar nicht ernst? Gedanklich frage ich mich, welche Variante ich schlimmer finde. „Kann es sein, dass Sie mich gar nicht ernst nehmen?", frage ich zornig. „Doch, doch! Sehr ernst sogar! Weißt du, der kleine Prinz ist ein tolles Buch! Lies es ruhig in meinem Unterricht, das ist sehr sinnvoll und ich mag es auch!" Komplett sprachlos wusste ich zunächst nichts zu entgegnen. Wissentlich soll ich mich deinem Unterricht entziehen dürfen, ohne Ärger von dir zu kassieren? Weil du das Buch vom kleinen Prinzen genauso sehr magst wie ich? Du setzt schnell noch einen darauf: „Sag mal! Im Erdkundeunterricht kann ich dir aber höchstens ein ausreichend geben, da kommt ja so gar nix von dir. Wir haben es nicht so mit Länderorientierung und Namen der Flüsse, oder?" Warum nimmt der mich eigentlich nicht ernst? Wie gewinne ich die Oberhand zurück? Wieso gefällt ihm das Buch 'Der kleine Prinz' und warum kassiert er es nicht einfach ein, wenn er genau weiß, dass ich es in seinem Unterricht…? „Anais!"  Zack, reißt du mich wieder aus meinen Gedanken. Den Faden habe ich verloren. „Wie war die Frage?" „Ich habe gar keine gestellt!"  Du legst deinen Kopf schief in den Nacken und guckst mich mitleidsvoll an. Bei dieser Pose finde ich auf einmal etwas Bezauberndes, Wundervolles an dir. Regelrecht versunken bin ich im Anblick deiner Person. Warm wird mir und nervös werde ich. Meine Stärke in mir verzieht sich und die Unsicherheit trumpft auf. Warum klage ich dich eigentlich an? Mein Verhalten dir gegenüber ist in der Tat verachtend und nicht fair. Es gibt keine dunkle Seite in dir. Du bist nicht mein Feind, du bist mein Freund. Mein Verhalten ist unangemessen. Deine Ruhe und Gelassenheit imponieren mir. Nein, nein, der ist nicht liebenswürdig, niemals, spricht der kleine Teufel in meinem Kopf. Mensch, wie sehr benehme ich mich daneben an dem Sprechtag… Unmöglich! Hättest du mir an dem Tag nicht einfach die Leviten lesen können? Warum hast du das nicht getan? In unserem Gespräch verliere ich zusehends die Oberhand. Mit deiner gelassenen, mir überlegenen Art, erstauntest du mich ungemein. Du warst freundlich zu mir, obwohl ich dir bereits den Krieg erklärt hatte. Das verdient Achtung und Respekt. Beides gab ich dir für einen kurzen Moment. „Warum denn in Erdkunde nur ein ausreichend?Das wäre dann das einzige Fach, in dem ich auf 'ausreichend' stehe, das versaut ja das ganze Zeugnis!"  Mir wird ein bissel mulmig und der Punkt geht an dich, W., immerhin bist du mein Lehrer. Wenn du mir ein ausreichend geben möchtest, dann tust du das, ob ich frech bin oder nicht. Aus der Traum, Anais! Welcher Traum eigentlich? Vielleicht der Traum, meinen Lehrer zu überzeugen, dass er mich statt nach Leistung besser nach meiner Persönlichkeit beurteilt? Bin ich persönlich mehr wert, als mein Wissen? „Wissen ist begrenzt!" sage ich mit einem scharfen Unterton, obwohl ich den Satz selber nie wirklich in seiner Bedeutung verstanden habe. „Ja, Albert Einstein wusste das auch schon!“ sagst du, eifrig nickend. „Und wie kommst du jetzt darauf, Anais?" „Ganz ehrlich? Ich weiß es auch nicht!" Ich seufze. Der Überblick der Situation ist mir völlig entglitten. Da hilft nur noch der Rückzug. Am liebsten möchte ich aufstehen und gehen. Du kannst einen wirklich nervös machen, W! „Nee, auf Erdkunde habe ich so gar keinen Bock, tut mir leid!" entgegne ich. Es ist zumindest eine ehrliche Antwort von mir. „Wie, noch weniger Lust als auf meinen Deutschunterricht?" „Ja!", stimme ich zu. Aber ein ausreichend... Hey! Also ich bin doch auf jeden Fall besser als ausreichend, oder nicht?  „Worauf haste denn so Bock, Anais?"  Meine Angst wegen der schlechten Note in Erdkunde ist dir anscheinend völlig egal! „Auf mein Pferd!“ entfährt es mir. Das ist auf die Schnelle der einzige Einfall, der mir im Kopf rumschwirrt. Es klingt vielmehr nach einer Frage, als nach einer Antwort „Ach, das Fräulein Anais reitet. Interessant!" „Ja, ich reite, und was gibt’s da bitteschön zu lachen?" Oha, du bringst mich auf die Palme, W. „Nichts, nichts, nichts!" Amüsiert schüttelst du deinen Kopf. „Herr K., ich gehe jetzt!"  Ich stehe auf und halte dir zum Abschied meine Hand hin. So perplex bin ich, dass ich dir  meine Hand reiche. „Aber bitte, in Erdkunde mit der Note, das überlegen Sie sich nochmal, das macht ja wirklich das ganze Zeugnis zunichte!" Der Händedruck, den ich von dir bekomme, ist ziemlich fest.

Unheimlich beherrschen muss ich mich in dem Moment, nicht in die Knie zu gehen. Erschrocken blicke ich dich an. Dein Gesichtsausdruck hat den leichten Anreiz einer angeflogenen Schadenfreude. Verdammt, ist das ein fester Druck, als du meine Hand nimmst. Mit so viel Druck von dir konnte ich nicht rechnen, sonst hätte ich dir meine Hand im Leben nicht gegeben. Mein Gott, das tut richtig weh. Das machst du mit Absicht, meine Hand so fest zu drücken. Das Gespräch mit mir hat dir nicht wirklich gefallen. Weil ich immer so frech bin und das letzte Wort haben muss. Der schmerzhafte Händedruck ist deine Strafe an mich. Das sehe ich in deinem Blick. „Hat mich sehr gefreut, Anais!" „Ja, mich auch!“, stöhne ich schmerzvoll. Du schaust mir beim Abschied besonders tief in meine Augen. Meine Augen füllen sich beinahe mit Tränen dank dem Schmerz, den du scheinbar nicht mehr von mir nehmen möchtest. Einige Sekunden lang verharren wir beide regungslos. Hand in Hand. Nach einer schmerzhaft gefühlten Ewigkeit lässt du sie endlich los. Das Funkeln in deinen Augen verfolgt mich bis zum heutigen Tag. Gedanklich fluche ich über den Schmerz in meiner Hand, als ich von dir gehe. Und über dich schimpfe ich! Nach diesem Sprechtag versuche ich, mich im Erdkundeunterricht bei dir zusammenzureißen und mich besser an ihm zu beteiligen. Ein „ausreichend“ im Zeugnis möchte ich auf keinen Fall riskieren. Zuhause werfe ich öfter einen Blick in den Atlas, um zu sehen, wo die einzelnen Städte, Länder und Flüsse liegen. Wohin die Gewässer münden, schaue ich mir ebenfalls an. Sogar im Deutschunterricht kommen mir zeitweise recht passable Antworten über meine Lippen. Auch wenn das in meinen Augen alles dämliche und einfache Fragen sind. Diesen einfachen Kram habe ich doch auf dem Gymnasium längst durchgekaut. Dafür kann ich dich nicht verantwortlich machen. Du gehst nur deinen Anordnungen als Lehrer nach, das weiß ich. Anstatt 'Der kleine Prinz' zu lesen, versuche ich, dir im Unterricht zuzuhören. Wirklich, ich versuche es. Vielleicht gibt es doch etwas  bei dir zu lernen.

Leider ist dem nicht so. Fische im Aquarium zu beobachten, wäre weniger langweilig, als deinem Unterricht zu folgen. 'Der kleine Prinz' ist eine Droge für mich. Von dem Buch kann ich nicht lassen. Kurz vor den Ferien, dein Unterricht ist sehr locker und jeder Schüler kann und darf machen, was er will, lese ich natürlich weiter in dem Prinzen-Buch. Auf meinen Knien unter dem Tisch liegt es. Plötzlich trittst du unerwartet heran und nimmst mir das Buch weg. „Auf welcher Seite sind wir denn?" Ziemlich erschrocken bin ich, weil ich völlig in Gedanken der Zeilen versunken war. Knallrot lief ich an. „Guckt mal, so sinnvoll kann der Unterricht genutzt werden! Anais liest das Buch «Der kleine Prinz»! Eine wundervolle Geschichte! Anais, vielleicht magst du deinen Mitschülern und mir einmal erzählen, worum es in dem Buch geht? Vielleicht können wir jetzt alle noch etwas Wichtiges lernen, bevor wir in die Ferien gehen?" Mann, ist mir das peinlich gewesen, W! Als der Gong zum Schulschluss ertönte und alle Schüler möglichst schnell den Klassenraum verließen, blieb ich sitzen. Extra! Das wollte ich klären! Nur wir saßen sind noch im Klassenraum. Du sortierst seelenruhig deine Unterlagen zusammen. Würdigtest mich keines Blickes. Wortlos packtest du deine Sachen ein. „Das war nicht witzig!", sagte ich energisch. „Nö, ich habe ja auch nicht gelacht oder?",  kam es gleichgültig von dir zurück. „Doch! Sie lachen die ganze Zeit über mich, innerlich! Sie machen sich lustig über mich!" „Nein! Das würde ich niemals tun!"  Deine Antwort klang ernst. Für einen Moment kaufte ich sie dir sogar ab. „Die Leute, sagte der kleine Prinz, schieben sich in Schnellzüge und dabei wissen sie gar nicht, wohin sie fahren wollen! Nachher drehen sie sich im Kreis und regen sich auf. Das ist gar nicht der Mühe wert!" „Ok, was wollen sie mir mit diesem Zitat sagen, Herr K?" „Denk doch mal darüber nach, Anais. Du hast ja jetzt die ganzen Ferien Zeit!" Du nahmst deine Tasche und gingst wortlos, ohne dich noch einmal umzudrehen, aus dem Klassenraum. Seit dem Tag mache ich mir noch mehr Gedanken über dich, W. Ich liebe dieses Buch sehr.

Der kleine Prinz! Die Lektüre war äußerst wichtig für mich und meine spätere Entwicklung. In den Erzählungen des Buches stecken viele Wahrheiten, die mein späteres Leben bestimmt haben. Zu dem Zeitpunkt, an dem ich das Buch las, konnte ich das natürlich noch nicht wissen- und dieses Zitat, das du mir auf den Weg mit in die Ferien gabst, das ließ mich gedanklich nicht mehr los. Du wolltest mir damit sagen, dass ich mir nicht so viele Gedanken machen soll, weil es mich nicht wirklich weiterbringt in meinem Leben. Sich den Kopf über Dinge zu zermartern, die ich nicht ändern kann, macht keinen Sinn. Die Gedanken, die ich mir über dich machte, besonders in meinen Ferien, W., die stellten mich zunächst vor ein Rätsel. Mir gefiel es allerdings, dass du das Buch genauso mochtest wie ich es auch heute noch mag. Wir sind uns sehr ähnlich. In vielen Dingen. In den Ferien passierte es! Das erste größere Unglück meines Lebens hielt Einzug: Einen ziemlich schweren Reitunfall erlitt ich! Meinem Leben gab das damals einen heftigen Einschnitt. Während eines Reitturniers schlug ein Pferd nach meiner Stute „Metaxa“ aus und traf mich dabei an meinem Schienbein. Mit voller Wucht „durchschlägt“ der ausschlagende Huf meinen Schienbeinknochen. Dieser „brach“ wie ein dünnes Streichholz. Das verspürte ich in dem Moment genau. Jemand von den Zuschauern, die das Drama zufällig beobachtet hatten, kam rasch angelaufen und hob mich von meinem Pferd aus dem Sattel. Ohne fremde Hilfe wäre mir das Absteigen nicht mehr möglich gewesen. Die Rettungssanitäter kamen ebenfalls herbeigerannt. So schnell, als müssten sie einen Marathon gewinnen. Unbarmherzig schnitten sie meinen Reitstiefel auf. Dass das Leder an meinen Füßen über 500 Mark gekostet hatte, interessierte sie nicht. „Der Fuß ist sicherlich gebrochen! Du musst sofort ins Krankenhaus!" Wie im Film spielten sich die Szenen um mich herum ab. Meine Eltern sind übrigens, wenn es wichtig wäre, niemals zeitig am Ort des Geschehens meiner „Katastrophen“ oder „Unfälle“ zugegen gewesen. Das Genick hätte ich mir brechen können, während sie in aller Ruhe ihren Kaffee schlürfen und seelenruhig mit Bekannten quatschen würden. Dass ihrer Tochter einmal etwas  passiert, wäre ihnen im Traum nicht eingefallen. Mit dem Krankenwagen ging es an dem Tag vom Reitturnier ab in das nächste Krankenhaus. Mit mir auf der Pritsche und meiner Mutter im Schlepptau auf dem Notsitz. Hervorragend, coole Mischung! Nachdem die Röntgenbilder ausgewertet waren, sagte der Arzt skeptisch: „Ja, das ist ein Schienbeinbruch! Ein glatter Bruch, aber eine offene Fraktur!" „Herr Doktor, wir haben in einer Stunde noch eine Prüfung beim Reitturnier. Ist meine Tochter bis dahin wieder fit und kann sie reiten?" Meine Mutter, ungelogen, immer für einen Knaller gut, stellte dem Arzt tatsächlich diese Frage. Sie hat damals unter Schock gestanden, nehme ich heute an. Anders kann ich mir ihr Verhalten bis zum heutigen Tag nicht erklären. „Ihre Tochter wird erst mal sehr lange Zeit gar nicht mehr reiten können", sagte der Arzt verständnislos. Einen Oberschenkelgips bekam ich verpasst und muss eine lange Zeit im Krankenhaus bleiben. Der offene Bruch wurde operativ unter Narkose gerichtet. Die Wochen bestanden damals für mich nur aus Schmerzen, Leid, Kummer und Tränen. Der Bruch schmerzte wahnsinnig nach der Operation. So sehr, dass ich beinahe das gesamte Krankenhaus zusammenschrie. Meine Qualen der Schmerzen sind jedoch weitaus erträglicher gewesen als die Vorwürfe meiner Eltern, die gnadenlos auf mich einschlugen. Meine Mutter gibt mir tatsächlich die Schuld an dem „Drama“, wie sie mein Unglück nannte. „Du hättest aufpassen müssen Anais! So etwas passiert, wenn man zu blöde zum Reiten ist, ich habe dir immer schon gesagt, geh lieber Tennis spielen!", drangsalierte sie mich, wenn sie mich mit ihrem zweiten Mann, meinem Stiefvater F., im Krankenhaus besuchte. „K! jetzt sag doch dem Kind nicht solche Sachen!", versuchte er meine Mutter damals zu bremsen. Wenigstens ist er ein wenig verständnisvoller als meine Mutter gewesen. Es wunderte mich in dem Moment, denn ihre gemeine Art hatte eigentlich schon recht früh auf meinen Stiefvater abgefärbt. So wirklich mit Liebe trat auch er mir in all den Jahren nicht gegenüber. Meine Mutter trennte sich von meinem leiblichen Vater, als ich drei Jahre alt war. Danach lebte ich bei ihr und ihrem zweiten Mann, zu dem ich kein gutes Verhältnis pflegte. In meinen Augen ist er nicht mein Vater und hatte mir somit rein gar nichts zu sagen. Sicherlich war es für ihn nicht einfach mit mir. Unsere Verbindung stand niemals unter einem guten Stern. Ja ich gebe zu, ich konnte, wenn ich wollte, auch zu ihm richtig gemein sein. In Worten und in Taten. Ein pubertierendes Mädchen bin ich gewesen! Meine Eltern waren mir in der qualvollen Zeit meines Beinbruchs keine große Hilfe. Es gab Tage im Krankenhaus, an denen ich froh war, wenn sie zu den Besuchszeiten gar nicht erst erschienen. Von mir aus brauchten sie nie mehr das Krankenhaus mit meiner Zimmernummer „13“ betreten, um mir einen Besuch abzustatten. Das Verhältnis zu meiner Mutter war bereits seit Kindheitstagen an sehr schlecht. Sie liebte mich nicht. Das Wort „Liebe“ war und ist ihr fremd. Es existierte weder in ihrem Wortschatz noch fand man es in ihrem Herzen. Selbst dann nicht, wenn man in diesem noch so tief gewühlt oder gegraben hätte. Anstatt mich in den Arm zu nehmen und zu trösten, wenn ich in meinem Leben Leid erfuhr, teilte sie mit absolut verletzenden Worten Vorwürfe an meine Adresse aus. Sie war Meisterin der Inszenierung ihrer fast perversen  „Szenarien“  und Profi ihrer harten und ungerechten Moralpredigten. Meiner Mutter gegenüber habe ich immer schon den blanken Hass in meinem Herzen verspürt. Außerdem hatte sie sadistische Züge an sich, seit ich denken kann. Ich kannte meine Mutter nicht anders, als die lieblose Egoistin.  Seit ich ein kleines Kind war, konnte ich mich leider an Nähe, Liebe und Wärme nicht erinnern. All das, was Kinder brauchten, um sich gut zu entwickeln, habe ich von meiner Mutter nicht bekommen. Meine Erinnerungen aus frühen Kindheitstagen sind an „Pinocchio“  im Fernsehen hängengeblieben. Eine Holzpuppe brachte damals scheinbar mehr Zuwendung durch die Mattscheibe in meine zarte Kinderseele, als meine eigene Mutter. Liebe habe ich von ihr nicht bekommen. Sie hat mich damals vor die Glotze gesetzt und dann war sie fertig mit mir. Solange ich denken kann, teilte sie keinerlei Zärtlichkeit an meine Adresse aus.

Dass ich nach dem Unfall voraussichtlich eine lange Zeit nicht mehr reiten konnte, lag ihr schwer im Magen. Schwerer, als mich die Unterschenkelfraktur schmerzt. Einmal, weil der Reitsport, wie sie sagte, unheimlich teuer sei und nichts wirklich einbrachte. Schon gar nicht, wenn ich gesundheitlich nicht mehr in der Lage war, auf das Pferd zu steigen. Andererseits, weil ich in ihren Augen eine schlechte und unfähige Reiterin war. Sie sprach absichtlich schlecht über meine Fähigkeiten, nur um mir im Herzen wehzutun. Sie wollte mich bewusst verletzen. Ich sagte ja, wir sprechen über eine Sadistin. Nach meinem Unfall hatte sie natürlich den eindeutigen Beweis ihrer Vermutungen, dass ich ein Versager war. Je mehr sie mich, ihr eigenes Kind, verletzen konnte, desto zufriedener war ihre kranke Seele. Der Teufel wohnte in ihrem kalten Herzen. Er ernährte sich aus meiner Traurigkeit. Für meine Mutter war ich der große Loser im Sattel seit meinem Unfall. In ihren Augen traf mich die alleinige Schuld, dass mein Schienbein zertrümmert ist. Dass sie so dachte,  ließ sie mich deutlich spüren. Tag für Tag. Oft sagte sie im Krankenhaus Dinge wie: „Guck, jetzt bist du ein Krüppel! Du kannst doch nie wieder reiten, wenn du überhaupt mal wieder laufen kannst, dann kannst du dich schon glücklich schätzen!"  Wie sehr sie mich damit verletzte, mit ihren herzlosen Worten, ob sie das wusste?  Wie sehr sie mir wehtat, das kann ich nicht annähernd in Worte fassen. Ihr einziges Kind bin ich. Warum hatte sie mich nicht lieb? Später, als ich älter wurde, fragte ich sie, warum sie mich so gemein behandelt. Darauf gab es nie passable Antworten für mich. „Dein Vater wollte eben keine Kinder, Anais, deshalb hat er uns damals verlassen! Du bist doch schuld, dass dein Vater mich im Stich gelassen hat. Wärst du nicht gewesen, wäre er nicht fortgegangen!"

Egal, welche Antwort ich von meiner Mutter auf meine Fragen erhielt, sie taten mir alle weh und stechen mitten ins Herz. Meine Mutter ließ mein kleines Herz wissentlich bluten. Sie fand in meinem Blut ihre innerliche Befriedigung. Pervers nenne ich heute derartiges Verhalten! Ungern erinnerte ich mich an die zurückliegenden vielen gemeinsame Reitturniere, die ich mit meiner Mutter durchlebt hatte. Weil ich noch keine 18 war und kein Auto fahren durfte, kutschierte sie mich damals durch die Gegend. Wehe, wenn ich nicht perfekt durch den Springparcours gelang, dann stand sie gleich am Rand und nahm mich schimpfend in Empfang. Wie eine dreckige Krähe krächzte sie lauthals herum. Für jeden Menschen, der sich in der Nähe befand, war dieses Szenario von ihr deutlich laut hörbar. Mit voller Absicht wurde es von ihr inszeniert. „Du bist ein Versager, Anais!" Oder: „Du kannst es einfach nicht! Geh doch zum Tennis!“ Das kann man sich nicht mit angucken, wie schlecht du reitest!"  Dieses Runterputzen von ihr, zerstörte damals sehr viel in meiner zarten Seele. Das Vertrauen in meine Mutter und in mein Selbstvertrauen. Damit hatte sie mich systematisch kaputt gemacht. Selbstvertrauen? Gab es das überhaupt für mich? Davon hatte ich doch gleich null. Im Grunde genommen habe ich Angst vor meiner eigenen Mutter gehabt.  All die Jahre lang. Angst, zu versagen, Angst, ihr nicht gut genug zu sein. Angst, sie zu enttäuschen. Angst, von ihr gemobbt zu werden. Oftmals drohte sie, mir mein über alles geliebtes Pferd wegzunehmen. Bessere Erfolge im Reitsport erwartete sie von mir. Dabei hatte meine Mutter überhaupt keine Ahnung von Pferden. Sie wusste nicht annähernd, was gutes, oder schlechtes Reiten ausmachte. Auch in der Zeit, in der ich den schweren Unfall hatte, drohte sie, mein geliebtes Pferd „Metaxa“ zu verkaufen. Ihrer Meinung nach konnte ich sowieso nie wieder in den Sattel steigen, da ich nach dem Unfall für den Rest meines Lebens ein Krüppel bleiben würde. Als Krüppel brauchte ich somit auch mein Pferd nicht mehr. Gottseidank hatte ich damals eine sehr gute Freundin, aus der gemeinsamen Schulzeit vom Gymnasium. Sie war ebenfalls eine tolle und leidenschaftliche Reiterin, genau wie ich. Sie kümmerte sich in der schweren Zeit um uns – um mein Pferd und mich. Sie war immer für mich da. Ihr Name ist „K“. Wir verbrachten die meiste Zeit unserer Kindheit miteinander und gingen zusammen durch Dick und Dünn. K. wusste über das krankhafte Verhalten meiner Mutter bestens Bescheid. Sie bekam die Art meiner Mutter oft genug live und in Farbe mit. K. wusste, wie ich mich fühle, wenn ich von meiner Mutter mal wieder runtergebuttert und nervlich drangsaliert wurde. Meine Mutter hatte übrigens keine Hemmungen, mich vor meinen Freunden verbal zu misshandeln. Wenn meine Freundin K. einen Menschen in ihrem Leben wirklich nicht ausstehen konnte, dann war es meine Mutter! Ihre Eltern waren ganz anders als meine. Freundlich, locker und cool drauf! Ich habe noch nie mitbekommen, dass sie mit ihren Kindern - und sie haben gleich drei davon - jemals ungerechtfertigt geschimpft, oder  K. lieblos behandelt hätten. So gern war ich in meiner Kindheit bei K. und ihren Eltern zuhause. Wie oft übernachtete ich dort! Was für ein Spaß! Wir gingen Reiten und verbrachten ganze Sommermonate miteinander. Übernachten im Zelt. Schwimmen im Baggersee und unsere Freundschaft, die hielt, obwohl ich dann leider die Schule wechseln musste. Wir versprachen uns ewige Freundschaft. In der schweren Zeit mit meinem gebrochenen Bein ist auf  K. Verlass gewesen. Sie besuchte mich im Krankenhaus. Abends brachte sie mir Pizza vorbei, erzählte von meinem Pferd und steckte mich an mit ihrer Fröhlichkeit. K. hatte dieselben Träume wie ich. Wir wollten irgendwann mit unseren Pferden zusammen ans Meer reiten. Ein lang gehegter Traum. Auf und davon. Mit Zelt und Rucksack, einfach so. Wir wollten frei sein! Frei von dem nahenden Zeitalter des Erwachsenseins. In unseren Augen blieben wir ewig jung und somit wild, frei und in der Würde unantastbar. Wenn wir auf unseren Ponys im gestreckten Galopp über die Felder flogen, gab es für uns kein Leben mehr „außerhalb“ unseres Paradieses. Wir waren in unserer eigenen Welt die ungezähmten Könige. Verdammt reich an Freiheit und Unbeschwertheit fühlten wir uns in unserer Kindheit. Wir saßen am Lagerfeuer neben dem Zelt, hielten Stockbrot in unseren Händen und erzählten uns die tollsten Geschichten. Die Pferde „Metaxa“ und „Rebell“ grasten friedlich hinter uns im Untergang der Sonne.  Die Welt, in der wir aufwuchsen, war wunderbar und fantastisch. Unsere Freundschaft blieb mein Leben lang etwas „Besonderes“.  „Sobald du hier raus bist, Anais, gehen wir wieder zusammen Reiten. Und dann irgendwann hauen wir beide einfach ab und lassen alles hinter uns",  lacht K. herzhaft. Ihre Worte taten unheimlich gut und ich konnte es kaum erwarten, dass sie mich nachmittags im Krankenhaus besuchte. Sie gab mir Hoffnung. Hoffnung, durchzuhalten und mich auf mein Pferd zu freuen. Freundschaft spielte in meinem damaligen, sehr jungen Leben eine weitaus größere Rolle, als die Liebe zu meiner eigenen Familie. In Freundschaften fand ich den wichtigen Halt und die nötige Liebe im Leben. Vielmehr, als bei meinen Eltern. Mein leiblicher Vater kümmerte sich nicht um mich. Während meine Mutter mir die Schuld gab, dass mein Vater sie verlassen hatte, konnte sie mich eigentlich gar nicht lieben, oder? Sonst hätte sie so etwas niemals sagen können. Das Schlimmste, das einem Kind im Leben passieren konnte war, von den eigenen Eltern nicht geliebt zu werden! Leider musste ich mit meinem Beinbruch sehr viele Wochen im Bett verbringen und durfte mich nicht bewegen. Aus dem Monat August wurde der September. Der Oktober kam und ich lag noch immer im Krankenhaus. Aus der Schulklasse besuchten mich meine Mitschüler eher selten. Meine Freunde konnten mit der Situation meiner Hilflosigkeit scheinbar schlecht umgehen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich meinen ersten festen Freund. Er liebte Pferde ebenfalls und übte den Reitsport aus. Eine bis dahin coole Zeit lag hinter uns. Bis zu meinem Unfall… Danach änderte sich alles schlagartig. „Kommt der Michael dich nicht mehr besuchen?"  „Nein, er kommt nicht mehr Mama", sagte ich traurig und enttäuscht. Meine Mutter, als sie mich mal wieder im Krankenhaus besuchte, hatte natürlich gleich die richtige Antwort für mich und mein Desaster, wie sie es nannte, parat: „Ja, Anais, was soll der Junge denn auch mit dir? Soll er dich etwa im Rollstuhl schieben? Guck dich doch mal an! Du kannst nicht mehr laufen. Reiten kannst du bestimmt auch nie wieder. Du bist doch ein Krüppel jetzt! Ich kann den schon verstehen, den Michael!" Irgendwann besuchte er mich tatsächlich nicht mehr im Krankenhaus, der Michael. Eine schwere Zeit bedeutete es für mich. In ihr lernte ich vor allem, wer meine wirklichen Freunde waren und wer nicht. Von den echten Freunden, die auch in der Not zu mir hielten, gab es Wenige. Hinzu kam, dass ich eine große Menge an Unterrichtsstoff in der Schule verpasste und Angst hatte, den Anschluss völlig zu verlieren. Der psychische Druck war enorm groß und meine Sorgen berechtigt. „Du kannst das Schuljahr nicht wiederholen“, witzelte meine Mutter. „Auf die Sonderschule kannst du  gehen!