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Der 17jährige, unbedarfte I.R. mit teilweise noch kindlich-kindischen Liebesvorstellungen und ohne viele Vorkenntnisse sich orientierend in der geistigen Welt, verliebt sich in die Mitschülerin C. aus besseren Kreisen, die sich – zeitgemäß sehr zurückhaltend – auf ihn einläßt, jedoch parallel bereits ein ähnliches Verhältnis zu einem anderen jungen Mann unterhält. Bald beginnt er ihr Briefe zu schreiben. Sein Verständnis der Liebe ist auf der Grundlage eines isolierten, kompensierenden Ichs idealistisch auf die Spitze getrieben, entstanden unter dem Einfluß der in den 1950er Jahren dominierenden moralischen Normen und Auffassungen sowie gängigen Erzählungen von der Liebe z.B. in Film und populärer Musik. Er erweist sich hierin als Kind seiner Zeit. Er versteht sich als kommenden Dichter. (Überwiegend romantische) Einflüsse, auch schwarzer Romantik, bezieht er aus Vorbildern um 1800 und 1900. – Bald verläßt C. die Stadt, um auswärts zu studieren. Er überschüttet sie während zweier Jahre mit Briefen, die charakterisiert sind durch die Übersteigerung seiner Gefühle bis hin zu abseitigen Ideen mit pathologischen Anteilen. Die Gedankenführung ist manchmal unklar, verkürzt, skizzierend, nicht immer nachzuvollziehen. Weniger der Liebes-Inhalt des Mitgeteilten als die Sprache ist bemerkenswert: einerseits stilbewußt, reflektierend, (schein-)philosophisch grundiert, andererseits poetisch mit Resten von Umgangssprache oder auch unverständlich durch eine eigene unscharfe Begriffswelt. – Das Erscheinen eines dritten Verehrers (die Beziehung zum konkurrierenden zweiten bricht die junge Frau ab) versetzt den Briefschreiber in extreme Gefühlslagen wie sogar Tötungsphantasien; dies umso mehr, als er sowieso von einem gemeinsamen Tod als Erfüllung der Liebe überzeugt zu sein scheint. Er schreibt sich selbst von Anfang an zu, vielleicht wahnsinnig zu werden oder in Ansätzen es schon zu sein.
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Seitenzahl: 371
Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhalt
1962
4. Quartal
1963
1. Quartal
2. Quartal
3. Quartal
4. Quartal
1964
1. Quartal
2. Quartal
3. Quartal
4. Quartal
4. Quartal
30.12.62
Liebste!
Ich will nicht schlafen, ohne Dir geschrieben zu haben. Außerdem habe ich Gedanken im Kopf, die ich nicht wegwerfen will, indem ich sie ausdenke und vergesse. Vor einem Jahr waren mir alle meine Gedanken heilig, alle heute lästig. Die ich jetzt oft habe, lassen sich leicht ausdrücken, sind nichts Besonderes. Habe ich einen guten, läßt er sich nicht ausdrücken. Einen davon heute.
(Man hat mir gestern, halb 1, das Licht ausgedreht.) Ich dachte, Wahnsinn mache glücklich. Nun höre ich, wahnsinnig, ersehnen manche deshalb den Tod. Ich habe aber geglaubt, Wahnsinn bringe gleichermaßen wie der Tod Glück. Wenn nicht, gibt es dann nicht die größte Enttäuschung? Ist der Tod denn so erbarmungslos, wie es der Wahnsinn ist, in dem man doch noch leiden kann? Wenn es so ist, brauche ich allerdings einen neuen Glauben.
Liebe, verzeih mir meinen Hochmut, den Du vielleicht, weil Du liebst, nicht siehst. Ich habe ihn, und ohne ihn könnte ich wohl nur ein schlechter Künstler sein. Ich verachte manchen Menschen, glaube mir, fast keinen unverdient, weil er mich beleidigt, einfach weil er nicht Künstler ist. Wenn er mir nichts tut, so tut er mir Künstler etwas, indem er ignorant ist. Im ganzen erdulde ich ihn, manchmal wird es zuviel.
Deine Mama erzieht Dich schlecht. Wenn sie Dir rät, Du dürfest zwei Männer zur gleichen Zeit lieben – so legst Du es aus –, dann meint sie prüfen, ob Liebe aus der Bekanntschaft entstehen könnte. Das heißt, sie glaubt und läßt es Dich glauben, Liebe sei von einem Lieben übertragbar auf den anderen – es ist noch nicht einmal umgekehrt. Kann Liebe denn heranwachsen? Närrin, daß Du es glaubst. Sie ist in Dir oder nicht. Wenn sie nicht so ist, daß Du mit dem geliebten Mann leben kannst, dann ist es keine Liebe. Gib also nicht immer vor zu lieben, denn Du weißt ja noch nicht, wen du liebst. (Dabei weißt Du es genau. Dein Gefühl sagt es Dir Angsthase.)
Laß Dir noch etwas übers Leid sagen; mich langweilt es selbst. Die meisten Menschen leiden in gewisser Form, was ihnen aber nicht schadet. Es ist nicht mehr als unerfreulich und macht nur ein mürrisches Gesicht. Leiden ist, was die Existenz trifft. Eine Bettlerin kann ihr Leben lang getreten, gedemütigt werden; sie wird mürrisch aussehen und nie Freude haben. Wenn sie in ihrem Wesen, wenn ihre Existenz verändert würde oder, was noch größer wäre, ausgelöscht würde, erst dann wäre es Leid, was sie erführe. Warum also für so etwas (nicht pejorisierend gebraucht) Mitleid empfinden? Künstler hätten das Leid nötig, sie gehen selten daran zugrunde, weil sie ein Werk schaffen, das sie mit ihrem Leiden füllen. Warum also Mitleid für die, die leiden müssen und es auch wollen? Du wirst mich nicht lieben können, glaube ich. Ich werde Dir nie wieder Briefe schreiben.
Sie zerstören zuviel in Dir von Deinem Glauben an mich; umgekehrt, wäre es dasselbe. Ich kann es auch nur schlecht: nicht nur meine Briefe bestehen aus x Sätzen, deren jeder 1/x Wahrheit enthält. Man muß zufrieden sein, wenn der ganze Brief eine ganze Wahrheit ist. Wenn ein Satz einen anderen braucht, ist er schlecht.
Mir fällt auf, daß ich dreimal in diesem Brief die Konstruktion: konditionales wenn ..., dann ... gebraucht habe. In einem Gedicht, wie Du weißt, sechsmal ein Bild aus ... heraus und sechsmal in ... hinein. Ich scheine stur auf irgendeinem Bewußtseinszustand zu beharren (ich werde gleich interessanter!), wiederholt etwas zu gebrauchen, zu mißbrauchen.
Zurück: Liebe ist Eurem Glauben nach auswechselbar – mir graut es. – Man kann Liebe lernen – ich wende mich ab – und dann sie auch noch mit mehreren betreiben als Geschäft, heute diesen, morgen jenen lieben, weil sich die Liebe heute diesem, morgen jenem angenähert hat? – Ich enteile! Liebe ist ein Verhängnis, wie Tod, Kindheit, Wahnsinn. Unausweichlich muß man ihr folgen. Glaubt Ihr denn, Kindheit, Tod, und Wahnsinn ließen sich lernen? Glaubt Ihr, man spüre sie nicht sofort in sich, wenn Träume nur noch Liebesträume sind? Wenn Du je (ich erst jetzt) einen Mythos verstanden hast, dann kannst du Liebe fassen. Liebend, bist Du kein Mensch mehr. Irgendeine oder -welche Mächte (nimm’s ernst) beherrschen uns. Das soll man lernen können? O Einfalt! Nimm’s als Pathos!
Vielleicht interessiert Dich, daß ich fatalistisch werde: siegt das Schlechte, Grobe, Häßliche (nicht Böse, denn die beiden letzten sind in normalen Menschen, grob kann man sie derartig unterteilen, vertreten) über mich – dann kann ich ihnen nichts vorwerfen. Sie waren robuster als ich, was ihr Gewissen nicht zu belasten braucht und auch nicht tut. Hätte denn umgekehrt mein Gewissen etwas zu erleiden, wenn ein grober Mensch durch nichts als meine Subtilität vernichtet würde?
Bei von der Höh im Fenster sind zwei Graphiken Deines Bruders ausgestellt. Sie sind mir zum Kaufen zu teuer. Auch mag ich den Papageien nicht leiden. Er ist mir zu sehr Entwurf. Er hat einen Pfauenschwanz, ein wenig auseinandergeschlagen, und einen Rabenschnabel, sieht aus, als ob er mit Vorliebe Kirschkerne knackte. Zeichnet, ja, ich verbessere: „schafft“ Dein Bruder anatomisch genau? Sollte er, bis durch die Ungenauigkeit besser ausgedrückt wird, was er meint. Aber ich kenne nur das eine. Er hätte Schiffbaukonstrukteur werden sollen. Seine Schiffe würden nicht in Wellenschluchten zerstört werden, so genau wären sie konstruiert – nach seinen gezeichneten Schiffen zu urteilen. Empörte, vergib mir diese grobe Beleidigung eines Genies. Ich entschuldige mich mit zuwenig Sachverstand. Als ich die Oeuvres gesehen hatte, fand ich die Luft viel wärmer, beinah dacht’ ich, es wäre Frühling geworden. Vielleicht warst Du auch in der Nähe. Ist das obere eine Lithographie (hinter einem Gitter eine Frau)?
Träume schön.
Du bist noch ein Kind. Ich begreife Dich, wenn ich daran denke. Das Kindsein kann ich nicht begreifen, Du wirst also nur noch rätselhafter. Vergiß später nicht, Dich aufzulösen, ganz zuletzt.
Adieux, wenn es sie gibt, sonst à moi!
Werde nie erwachsen. Ich werde Dich in einer Wiege (cradle) zudecken.
Um 24.00 Uhr werde ich an Euch (toute la famille) denken und mir Dich wünschen. Richte, falls Wert darauf gelegt wird, meine Grüße aus, wenigstens an Nana, weil sie mich kennt.
1. Quartal
Mittwoch, 23.1.63, im Bett
Dear cuckoo!
In der Not schreibt der Teufel Briefe.
Male Dir aus, ich wäre am Freitag gestorben: wäre es nicht ein armer Tod nach einem armen Leben gewesen? Wäre ich aber vorher lange krank, todkrank gewesen und hätte ich endlich gemerkt, gleich würde ich sterben, hätte zudem Dich in den Armen: könnte man dann nicht sagen: es war ein reicher Tod nach einem reichen Leben? Du siehst, Tod und Leben entsprechen einander. Der arm gelebt hat, sucht sich ein reiches Leben, indem er reich stirbt.
Du, ich charakterisiere Dich seit gestern abend: Du bist hoffend, erwartend, neugierig, willfährig dem Erwarteten gegenüber; mit der Zeit wird mir noch mehr einfallen. Ich sag Dir’s dann, wenn Du Dich kennenlernen willst. Hast Du je von einem Genie gehört, das nicht glaubte, Genie zu sein? Der Glaube an sich ist notwendige, nicht hinreichende Bedingung zum Genie. Glaubt Dein Bruder das auch?
Mir fiel ein, wie ich zu einem Romanstoff kommen könnte: durch ein Schachspiel. Denke Dir König und Dame als zusammengehörig, herrschend, d.h. als Hauptfiguren; die Bauern als bedeutungslose Menschen um die beiden herum. Die Türme bedeutende Bekannte, Freunde, Verwandte, wie Du willst, mit mathematischem, gradlinigem Kopf und entsprechend langweiligen Seelen. Läufer seien von Dir bestimmt, was sie seien. Springer springen seelisch, sind schön wie Pferde, springen treulos hin und her, es wird ihnen wegen ihrer Pferdeart verziehen. Man brauchte sich nur irgendein Spiel herauszusuchen oder ich müßte mit Dir spielen. Der Mangel wäre, daß der König die Dame immer überlebt. Man könnte dem Spiel auch einen neuen, symbolischen Sinn geben: König und Dame sollten so lange wie möglich ungeschlagen bleiben. Wem als erstem das Paar beschädigt wird, habe verloren.
Ich möchte kühn behaupten, Th.St.’s Gehirn sei beständig erschüttert: Wenn er sagt „Kreuz und Rüben“ statt Kraut, so ist es, glaube ich, das gleiche, wie wenn ich sage: „scheint’s?“ (die Sonne nämlich) statt schneit’s. Das Gehirn merkt, daß es Fehler macht (oder das Sprechen oder etwas ganz anderes macht sie), kann nicht umhin, sie doch zu machen. Th.St. hat sich abgewöhnt, sich selbst zu verbessern.
Auch typisch bist Du.
Liebe, ich kann Dir keine Briefe schreiben, die meine Liebe verlangen dürfte, von mir geschrieben zu sehen. Du wohnst ja in derselben Stadt! Wenn wir aber getrennt sein sollten irgendwann, wirst Du meine Briefe verbrennen müssen, weil sie, während ich zu erhitzt war, geschrieben wären.
Dichter kann heute und immer genannt werden, wer ein formales Talent besitzt, ohne etwas zu sagen zu haben. Die Silben – bei einem Gedicht – müßten nur ineinanderstürzen aus Schnelligkeit oder schier stehenbleiben, Reime geschickt gebildet, rhetorische Künste verwendet sein, Alliterationen usw. en masse: er wäre Publikumsgünstling. Wie das „Mammutmelken“: das Stück wird nie durchfallen wegen effektvoller Späße.
Leb wohl bis Freitag
***
Du verzeihst hoffentlich, daß ich dieses Papier benutze, Dir zu schreiben.
Zu Deiner Kritik an meinem Stück:
Der Schluß wird immer irrationaler. Der endliche Wahnsinn muß irrational dargestellt werden. Die Irrationalität muß, wenn sie gedichtet wird, vom Verstande ausgehen. So kann zwar Irrationalität entstehen, aber nie Wahnsinn – das nebenbei. Natürlich ist es, daß der Schlußauftritt konstruiert wirkt (in sich). Das meinst Du aber nicht. „Die Geschichte“ ist in Deinen Augen zu konstruiert. Die Motive, die im ersten Akt zum Unheil führen, sind konkret. Die Motive im 2. Akt sind es nicht. Die ersten Motive sind Fakten, die zweiten sind seelische. Das wirst du wohl kaum konstruiertnennen. Wenn doch, weißt du nicht, was Seele ist. Der Schlußauftritt bedarf eines deutlichen Spielens. In ihm ist viel Mythisches. Hast, scheint’s, kein Ohr dafür. Wenn du allerdings recht haben solltest, daß ich nicht dichten kann, dann werde ich so weise sein, jeden Anspruch auf Dich aufzugeben. Dann nämlich bin ich durch andere zu ersetzen, Du aber nicht, was nicht zusammenpaßt. Solange ich mich für einen Dichter halte – es wird weniger, leider, seit zwei Wochen –, beanspruche ich Dich auch, wenn ich Dich nur noch wenig und bald gar nicht liebe. Wenn du mir jedoch Hoffnung machst, daß Du dich mir ganz übergeben wirst, liebe ich Dich wieder, solange ein wenig Liebe in mir übrig bleibt. Wenn nichts mehr in mir ist, werde ich Dich sicherlich ein Jahr lang nicht lieben können, weil sich die Perioden abwechseln. Aber: meine Liebe kann festgehalten werden, nicht meine Gleichgültigkeit oder meine Eigenliebe. Du hast also immer die Möglichkeit, daß ich Dich ununterbrochen liebe; daß ich immer mich liebe, dazu kannst Du mich nicht führen. Wohl nicht mehr als drei Wörter dieses Briefes wurden aus Liebe zu Dir geschrieben. Wenn Du gern hast, daß ich Dich liebe, mache mir Hoffnung. Der braune Kuckuck ist Symbol. Wenn Du ihn mir wiedergibst: finis; wenn nicht: initium. Aber wenn Du mich nicht willst, gib ihn mir, sei nicht unehrlich. Was Hoffnung heißt, mußt Du herausfinden. Den Begriff habe ich festgelegt. Innerhalb des Begriffes kannst Du variieren (Hoffnung wecken, wie und in welchem Maße Du willst). Das entspricht doch Eurem weiblichen Scharwenzeln (ich glaube, das Wort ist falsch).
Ich bin unterbrochen worden. Eine Freundin meiner Schwester kam. Sie ist dreiundzwanzig. Sorge Dich, daß Du Dich noch weiterentwickelst. Sie benahm sich oft wie Du: verzog wie Du Deinen Mund, sprach wie Du. Wie Du die Menschen nach Dir schon bekannten einstufst („wie mein Vater“), stufe ich sie jetzt nach Dir ein. Die Frage ist: Bist Du so weit wie sie, sie zurückgeblieben, oder ist Euer Verhalten weibliches Prinzip? Ich bin geneigt, das letzte zu glauben. Dann bist Du auswechselbar. Welch befreiender Gedanke! Wenn ich nicht liebe, nehme ich keine Rücksicht auf Dich. Böte sich ein Laster mir an, so würde ich es ohne Scheu ergreifen. Ich würde nichts als Sünde bezeichnen. Wenn ist danach aber wieder lieben würde, müßte ich vielleicht einen Gott um Gnade bitten, weil der Mensch, der Gnade geben könnte, es nicht täte – ich denke an Dich. Wenn Du mir jetzt keine Gnade schenkst, d.h. mich irrenden Menschen nicht tröstest, nicht liebst, wie willst Du es dann nach meinen Sünden? Ich gebe Dir Macht über mich. Nutze sie!
Gottes Gnade ist ein Ausweg, wenn der Mensch keine Gnade gibt.
Wieder zu meinem Stück und allgemein. Es ist leicht, Gedachtes in sachlicher Sprache wiederzugeben; Gefühltes in einer Sprache, die nachfühlen hilft. Wenn Irrationales gedichtet wird, darf keine sachliche Sprache (und sachliche Bilder), darf keine Sprache benutzt werden, die nachfühlen hilft, weil so nicht nachgefühlt werden kann. Es muß eine irrationale Sprache benutzt werden. Wer hat die aber? Weil ich die Möglichkeiten a, b beherrsche, muß ich mich an c versuchen. Ich beherrsche nicht a, b, wenn die jeweiligen beiden Halbglieder chiastisch vertauscht sind. Also nicht: Gedachtes in „Gefühlssprache“ und Gefühltes in sachlicher Sprache wiedergeben. Vielleicht darf man es nicht, weil man es nie können wird. Ich tue es bisweilen, und es mißlingt mir.
Weitere Mängel: Mein Fragmentismus, der keinen langen Atem hat und der verhindert, daß ich gleichzeitig mehrere Gebiete überschaue und in ihnen arbeite. Entweder Verstand oder Gefühl. Wenn Gefühl: entweder Liebe (ich kenne kein anderes Gefühl. Das andere bewerkstellige ich mit meinem Verstande) oder Verachtung zum Beispiel. Wenn Verachtung, dann wieder irgendwelche Beschränkungen in ihr. Ich verliere also immer das Ganze aus den Augen. Und ich bin erst achtzehn. Von Monat zu Monat noch zu formen. Ein Stück über mehrere Monate hinweg wird konsequenterweise uneinheitlich – was Du mir vorwirfst.
Wenn ich am Grunde treibe, Du von der Sonne besprenkelt wirst, mußt Du eben ertrinken. Sag mir, was mehr wert ist: drei Takte Schubertscher Kammermusik oder tausend Albereien mit tausend Menschen? Ich versinke aber nicht ganz in Trauer und Melancholie, wenn das Gefühl der Trauer vorbei ist (Melancholie also ohne Gefühl): denn ich schätze tausend Albereien mit einem Menschen, nämlich mit Dir, tausendmal höher als tausendmal so viel Schubertscher Musik. Beleidige ich mit der Proportion 1:1 000 000 Schubert? Wenn ja, streiche zwei Nullen; damit streichst Du zwei Nullen von Deinem Wert.
Demnächst mehr.
cuckoo
Suchst Du noch ein Hotel in Florenz?
Ertrinke mit mir! Am Grunde sind wir selig, nicht, weil wir tot sind. Ich glaube an die Unsterblichkeit, weil wir uns in der letzten Sekunde mal 10 hoch minus 100 oder wie klein Du die Zeiteinheit haben willst, unsterblich dünken.
Sonnabend, den 23. Februar 63
ceterum censeo iocum irrationalem rationaliter positum
esse debere
at iocum rationalem irrationaliter positum esse debere.
Beschränkung auf eine logische Verbindung in diesem Brief: „aber“. Taucht sicherlich 10mal auf.
***
Sonntag, d. 3. März 1963
Dear coucou,
malae herbae non pereunt.
Gib Deiner Lust nicht nach. Kannst Du es versprechen? Nein. Ich kann einzig Dich lieben, weil jede Spätere von mir betrogen würde – mit Dir. Ich bin selber überrascht über meine Güte. Ja, es ist Güte.
***
26.3.63
Mein Liebes!
Völlig ungewiß ist, ob ich diesen Brief abschicke, denn ich weiß nicht, wo Du bist, und wenn ich’s weiß, halte ich ihn vielleicht zurück. In der Schule wollte ich Nana nach Deiner MünchenerAdresse fragen, aber hätte sie Dir das nicht gleich erzählt? Bevor Du ankommen würdest, sollte schon ein Brief von mir da sein. Aus Unlust und Abneigung gegen solches Geheimtun habe ich sie also nicht gefragt und Dich sowieso nicht.
Ich sehe mich wieder ganz als Künstler, Dich als Nichtkünstlerin. Mit einer Künstlerin könnte ich nicht leben, mit einer Nichtkünstlerin wollte ich es ein Jahr lang, jetzt nicht mehr. Ich brauche Dich nicht mehr. Am 5. Februar, nachdem Du mich am 4. verstoßen hattest, fühlte ich zum ersten Male nach einem Jahr eine unsägliche Erleichterung; ich lachte und war völlig frei von Dir und allen Lasten. Das anfängliche Weinen war am nächsten Tage schon wieder da und blieb lange, doch oft auch das Lachen, und es wird noch häufiger werden. Ein Jahr stand ich davor, Bürger – jedenfalls bürgerlich mein Leben einzurichten – zu werden (es bedingt sich in beiden Richtungen). Du hast meine Extreme, meine Ausschließlichkeit, die der Künstler haben muß, beengt und verkleinert, weil Du nichts von beiden hast. Beide sind Komponenten des Verstandes. Aus dem vorigen Satz will ich nicht schließen, daß Du keinen guten Verstand besitzt – es ist aber doch so, wie Du selbst zugibst. Dein ganzes Selbstbewußtsein basiert auf Deinem Gefühl: zu Unrecht vernachlässigst Du die Wertschätzung des ersteren. Ein Gefühl, das nicht in den Bahnen eines guten Verstandes sich bewegt, taugt nichts.
Du hast ein sehr gutes schlechtes Gefühl, von dem ich, fühlend, geglaubt habe, es sei ein gutes gutes; urteilend erkenne ich, daß ich’s verkannt habe. Solange Du glaubst, man könne zwei Menschen lieben, taugst Du für mich nichts. Liebe den einen, suche aber nicht die Freundschaft des anderen: Wenn ich Dir ohne Erregung gegenübertreten kann, kannst Du mir keine Freundin sein; wenn ich von Dir berührt werde, kannst Du einzig mein geliebter coucou sein. Ich bin nun einmal extrem. Ich jubele, daß ich nicht liebe, daß mein Verstand das stickige Gefühl, die eintönige liebende Seele unterdrückt. Dahin wirst Du leider nie kommen. Ich lasse Dich dort stehen, wohin ich Dich geführt habe. Kommst Du nicht mit mir in höhere Luft, wirst Du dort stehen bleiben. Ich habe Deine Stufe überwunden! Hurrah! Später werde ich Dich wiedersehen: unvollkommen, fühlend, aber schwach fühlend, konventionell und immer Dich sehnend. Tu te trouveras toujours seule sans moi; et moi, je serai content avec moi parce’que j’aurai la beauté. Schon Deine Gesellschaft zeigt Deine Mängel auf: ein krankes Bürgertum, das auf Grund seiner Krankheit, d.h. seiner Morbidität, glaubt, Künstler zu sein. Euer Literatenklub ist nichts. Magere, magenkranke Schreibtischdichter, ohne sehr ordinär zu sein, was die Dekadenz retten kann in glücklichen Mischungen. Nun, da ich nicht mehr liebe, weiß ich, was aus Mitleid lieben heißt, ich habe es gefühlt, und wäre ich ein Mädchen, würde ich erröten vor Scham, Dich nur bemitleidend zu lieben. Im Mitleid steckt eben Verachtung. Stelle Dir einen Dichter vor, der zwei Menschen gleichermaßen liebt! Kennst Du einen? Vielleicht Herrn X, der in Eurem Hause verkehrt? Dem glaube ich es und Dir. Du bist untreu, unbeständig, unverläßlich. Das billige ich sehr, denn auch ich bin es, aber bin es nicht zu Dir gewesen, weil ich Dich geliebt habe. Du bist obiges mir gegenüber, d.h., Du liebst mich nicht. Vor drei Monaten, besser vier, gabst Du mir den „Menschenbeifall“. Das muß betrügerisch gewesen sein. Wenn nicht, kannst Du noch nicht lieben. Wenn Du mich aber liebtest damals, so warst Du dem andern gegenüber falsch. Oder Deine Liebe ist eben unbeständig. Solche Liebe finde ich bei vielen andern, beständige Liebe auch. Dir fehlt Konsequenz, die Dein Verstand festgelegt haben sollte. Deine Liebe ist mittelmäßig, dauert immer an. Meine ist von wenigen zu überbieten, währt dafür nicht allzu lange. Du hast Dich entschieden. Du wirst plärrend am Rande des Daseins stehen.
Auch Kepler hat meinen Extremismus, deshalb schätze ich ihn; ihm fehlt es an Gesundheit, die seinen Wert sehr erhöhen könnte. Er wird wegen seiner Dekadenz und formalen Verspieltheit keine Musik schreiben, die bestehen wird. Immerhin hat er sich umzubringen versucht wegen M., die ihm nicht bessere Briefe schreiben kann als Beschreibungen. Du tust mir aufrichtig leid – ich weiß eben doch, was Mitleid ist, eben keine Verachtung. Kepler wird sich in keine andere als M. verlieben, aus Konsequenz, aus extremer Geisteshaltung. Sage, konventionell urteilend, er kenne das Leben nicht. Er kennt es quantitativ nicht, weil er nicht Deine nivellierenden Erfahrungen gemacht hat, Du aber qualitativ nicht, weil Du kein ausschließendes Erlebnis gehabt hast. Behalte mein Kuckuckchen als Erinnerung wie den Hasen, erinnere Dich meiner mit sanftem Lächeln, verteidige mich lasch gegen üble Redner und glaube dabei, daß ich noch in Dir sei. Ich bin längst entflogen. Mit einem extremen Geist hättest Du mir alles von mir zurückgegeben oder mich an Deine Brust gedrückt. Nichts von beidem kannst Du. Du gleichst A.Bu. Zwei Jahre hat er geliebt, dann plötzlich festgestellt, es geht nicht mehr, beständig nach neuem Brauchbarem suchend und als Erinnerung ein Bild von der einstigen Lieben. Ab und zu denkt er an sie und sagt: „Wie schön!“ Soll er sich in Asche wälzen! Du bist mir Künstler eine Last. Verständig geworden nach einem Jahr, schmeiße ich Sie weg. Meine Liebe war bloß Neid auf Deine Fröhlichkeit, Deine gesundere Seele. Mir fällt ein, daß Du mir zum Sündenbewußtsein verholfen hast, weil ich Dich liebte. Meine bisherigen Sünden, die ich als Sünden anerkenne, waren gegen Dich begangene Sünden.
27.3.63
Ich kann ohne Hingebung nicht leben. Wem aber soll ich mich hingeben? Dir, Deiner Seele. Ich bin wieder da, wo ich vor zwei Jahren war: Liebe gibt es in der Phantasie; verwirklichte ist keine mehr. Das Mädchen, welches ich damals liebte (Du kennst es!), wußte nichts davon. Du wirst jetzt auch nichts mehr von mir wissen. Heimlich wirst Du mir zur Göttin, Dein Leib zur göttlichen Schönheit. Wird sie zu sehr von andern abgenutzt, suche ich mir neue Götter: elfjährige Mädchen. Begreife die Wonne, mit der ich ihre Gesichter sehe! Und in vier Jahren werden Knaben ihre Antlitze küssen, die Mädchen werden bei guter Anlage wie Du, sonst verachtungswürdig. Kannst Du mir Schöneres als solche Unschuld zeigen, die kein Bewußtsein besitzt? Aber noch kann ich Deine Seele zum Ideal fingieren, das nie verwirklicht werden wird, das meine Trauer steigert, meine Einsamkeit zum Endgültigen hin führt. Une fille banale, qui fréquente des fêtes. So habe ich Dich damals gesehen, dahin wirst Du zurückkehren, mir verloren. Dein Körper und Deine Seele werden idealisiert; mit dieser jener. Er birgt dann nichts Gefährliches für meine Phantasie mehr. Ich durchlaufe in diesen Tagen die Skala der Todesarten, die ich kenne. Am Sonnabend hörte ich op. posth. Der Tod und das Mädchen nach einigen Monaten wieder. Es war wieder traurig. Mit dem ersten und zweiten Satz verbinde ich den Juni in Württemberg, und nichts war vergessen. Ich hatte Alkohol getrunken und sah Schönheit, die fort ist. Ich weinte hemmungslos. Eine Art ekstatischer Rausch, ich wollte sterben, immer in solcher Wonne und Schönheit leben danach. Rätselhaft, ein Mysterium war dabei der Anfang unserer erfüllten Liebe, wie wir im Wasser uns küßten, dann das Abendrot vor Rothenburg. Daß es nie zurückkommt, dem will ich mich nicht beugen, und gehe ich dabei zugrunde. Es muß wiederkommen, selbst wenn ich Dich – vernichten muß. In solchem Rausch sehe ich Dich, nichts mehr, und wenn ich weiß, daß ich Dich behalten kann bei mir und in Deine Augen weinen kann, wenn ich Dich ermorde, dann tu ich’s. Eine selige Sekunde wiegt das Leben auf. Dich wollte ich bei mir haben und mit stürzenden Tränen sehnte ich mich nach Wahnsinn, wenn ich in ihm Dich ewig so nah hätte wie an diesem Sonnabend. Es war wie im vorletzten Sommer (bevor ich Dich kannte): mystische Verzückung, die bei mir klangliche Dichtung produziert. Kein neues Bild, keine neue Sprache, sondern vollendeter Klang entsteht, Plastizität; sie scheint mir das höchste. Wales: war konventionelle Liebe. Wir beide erwarteten das vom andern, was der auch tat, aber auf der Veranda Wochen zuvor war es unbewußt, mich trieb unschuldigste Liebe, Dich wohl nicht, denn Du warst ja nicht mehr als verliebt. Was noch zwischen uns kommen mag, die Unschuld ist fort, ich will zu ihr zurück und kann es doch nicht. Wären wir küssend ertrunken oder könnte ich Dich mit meinen Tränen ertränken, daß Du mich nicht mehr quälst! Wenn ich keine Aussicht hätte, Dich einst mit extremster Hingebung auszulöschen, wärst Du wohl schon tot. Man muß Deine süße Seele töten, darin man versinkt, darin man ertrinkt und uferlos stirbt. Sie verführt mich. Ich habe gegen sie prozessiert und werde das Urteil, das sie für schuldig befunden hat, irgendwann vollstrecken. Hüt’ Dich, schön’s Blümelein. Im Rausch werden wir vergehen. Was kümmert mich die Justiz und wer hindert mich sonst? (falls man mich, wenn ich leben sollte, einsperrte).
Die zweite Todesart war am Tag darauf. Ein großer Mißmut, eine Lustlosigkeit, eine Unzufriedenheit ließen mich wünschen, ohne Auferstehung zu sterben, zu verfallen im Grab. Da war noch irgendwie eine dritte. Man muß ein Ideal erzwingen können, sonst wird umsonst gelebt. Dich erzwinge ich mir: Ich werde Dich hemmungslos vor Augen haben. Du wirst nichts von meiner Liebe bemerken. Wenn Du zurückwillst, will ich Dich nicht. Ich lasse mir nicht meine Kunst verderben. Bleib allein, bis ich wiederkomme, sonst ist mein Ideal tot und ich selbst.
Adieu!
War nicht heute ich, ganz allein ich der erste? Ich bleibe der erste und Du mein geliebtes Phantom. Wenn Du so fortfährst wie bisher, wünsche ich Dir, Deinem Mann, daß er von impotentia befallen werde, chronisch, peinlich. Das wäre ein göttlicher Spaß, meiner und meines Phantoms würdig! Dieser Satz verdirbt zwar wieder fast gänzlich die Erfüllung meiner gründlichen Wünsche, Dich von mir begutgeistert (böse sind’s) zu sehen – doch hinab alles Gute, hinab selbst mich!
Ich werde fortan etwas Neues glauben: Du seist verdammt zu immer neuen neuartigen Qualen, ich zu meinen, bis zum Versanden der Zeit. Wir dazu, daß wir uns bald zuletzt sehen werden und jeder sich quält. Du wirst scheitern, ich werde scheitern. So herum hat es Wert für uns zu denken. Dies Krückengehen unserer Gehirne kommt von unserm amputierten Dasein. Hin – her – hin – her, nichts ganz. Weine einmal mit mir, und ich bin, ja was? Aber das, was hinter meinem Weinen steht, drückt nicht Deines. Meins drückt solches Bewußtsein von Dir, wovon meine unglückliche Erzählung eine leere Hülse ist.
Wußtest Du übrigens, daß … kommen würde? (Ich scheue sogar den Namen zu nennen.) Dein Verhalten scheint’s mir anzudeuten.
le seul
30. Mai 1963
Es tut mir leid, daß Du diesen Brief bekommst, ich bereue es, er ist bösartig, bitte vergib mir, bitte, mir kommen gleich die Tränen, aus Scham, und bitte!
Wir sehen unsere Zukunft noch zu glücklich.
Mein Liebes!
Fragst Du, wie ich dies zweite Würzburg ertrage? Ach, es ist schwer. Sobald ich in seine Nähe kam, da waren mir alle Straßen, Berge bekannt. Dies Tal und jener Fluß; und schon in seinem Norden flatterten die Erinnerungen an mir vorbei und ich hatte es gewußt, daß es mehr werden würden. Du, ich, als ich wegfuhr, wollte Herbst erleben, solchen warmen orangen, der die Sonne um 7 ins Grab schickt, und hier versinkt sie um 8, so scheinen mir die Mainwolken, die rechts von der Brücke, zum Dom, zur Residenz gesehen, aufsteigen und links flach über dem Horizont, den Bergen, liegen. Länger waren die Schatten, als sie bei Dir sind. O genieße noch den ersetzenden Sommer, wir wollen dann einen Herbst zwischen Rosen erleben. Alle Mauern stehen und sind tot, während sie anderen Leben sind. Liebt hier einer so wie ich, so ausschließlich Eines? Sag nicht ja, nein, ich würde es nicht glauben. Bis jetzt habe ich den Kanarienvogel nicht gefunden, Du weißt, welchen? Hier dieser Dialekt rührt mich, melancholisch macht er und, resigniert, lacht er dennoch.
Morgen werde ich hinter die Residenz gehen, zu den Putten und Rosen unserer Pracht. Glaube nur fest, unsere Körper seien Tand. Wie anders war meine Phantasie von der wiedergefundenen Stadt. Die Brücke und die Residenz, der Bahnhof und die steile Festung des Südwestens und alle Wege kürzer und vor allem regnerisch, und ich fand’s in Hitze und süß, o Du, Liebes, was wir berührt, könnte mich ewig anwurzeln, und fort, während der Wert unendlich wird, rauscht’s, weg. Morgen im Museum habe ich dann Württemberg und jene Welt vor mir und sehe sie zum zweiten Mal, ist’s nicht ein böses Omen wie die Friedhofsbank? O ich begreife nicht, wie Du nicht mehr auf Deinen Bänken sitzt, wieso geht das nicht?; alles, was wir erblickt, was für uns geduftet hat, soll ewig uns haben, wir müssen überall dort sein; und was bleibt uns?: nur einem, Ding, uns zu schenken, daß es uns ewig habe und wir es nicht verlassen müssen. Oder gar Einem, Menschen, gegenseitig uns, also sterben. Ach, ich werde wirr. Schlaf und träume und wache nicht mehr auf. Das ist schöner als meine Phantasien. Gute Nacht.
Würzburg, den 7. Juli 1963
***
Würzburg, den achten Juli 1963
Mon coo!
Bei der Residenz bin ich und schreibe auf einer Bank. Die Blumen sind vereinzelt und duften nicht in den vorjährigen Schwaden. Der Morgen war kalt. Die Kirchen läuteten um sechs, ich wachte auf und ein grauer Himmel war vorm Fenster. Weißt Du wohl, was uns bildet? Was bedeutet mir ein Schloß? Was ist sein Begriff? Mir bedeutet’s Dich, und Du bist in ihm verankert. Was unsere vorher leeren Begriffe füllt, bildet uns. Noch weiß ich nichts vom Tod. Werde ich je einen Toten sehen, bildet, füllt er mich, vielleicht, und bis zu meinem gilt mir dieser bestimmte als allgemeiner. Meiner wird ihn, vielleicht, aufheben, und, vielleicht, beeindruckt mich keiner? Aus Wortkörpern Wortinhalte machen, und was für welche! Das tu und Du bist wenigstens zufrieden. Auf württembergischen Feldern steht mein Tod, unsichtbar, in Hecken. Auf den Straßen bin ich sicher. Doch er raubt mir Dich, und zu oft seh ich das, mir raubt er, lege alles hinein, was in Dir ist: das Glück, und auch Dir. Wenn Du dann tot bist, hast Du meines. Und ist das immer so?, daß einer des andern Glück besitzt?, das aus dem Dunkeln?
Jetzt ist’s Nachmittag, bin beim Wellensittich, nicht Kanarienvogel war’s. Aber alle Erinnerung ist weg. Ich weiß nicht, wie es kommt. Ich war beim Kiliani (St. Kilianus) Fest. Es ist eine Mischung zwischen Markt und Jahrmarkt. Dort war ein Quacksalber, der für 10 M eine Flasche Krautsaft verkaufte, nach einer langen, ins Gehör beißenden Rede. Er stakkatierte, war schon heiser, attackierte die einzelnen und hatte die Seelen, den Glauben, Anschauungen der Umstehenden tief in pectore. Er gab jedem etwas in die Hand, damit sie sich einrieben, tat einem etwas davon auf die Schläfen – die Stirn zu beschmieren war falsch –, man sollte den Duft der Hände einsaugen, und hatte aller Augen an seinem Munde. Einer Sechzigjährigen warf er hin, daß das häufigste Leiden wunde Füße seien; dankbar nickte sie mit dem Kopf, weil sie, dick, sicherlich daran litt. Dieser Mensch mochte den Bäuerinnen als Teufel gelten; er hatte nur ein Auge, entnahm ich seinem zweigestrichenen Wortschwall, ich konnte das fehlende hinter der Brille nicht entdecken, und, unheimlich, beängstigend, verkaufte er etwa acht Flaschen.
Dann war ich am Mainufer, dessen Kai in den Fluß fällt in ein braunes Wasser. Trotzdem waschen manche Wäsche darin. Zwei Waschboote liegen an der Flußmauer, über eine schmale Treppe zu erreichen, nach unten, eine Frau auf dem einen – das zweite weit weg, nachher habe ich’s erst entdeckt –, welche wusch am Heck. Im Dirndlkleid, rotrosa-weiß, mit rotem Kopftuch, wusch sie grüne Dirndlkleider, Schürzen, weiß, mit braunem Mainwasser. Ich stieg hinunter, setzte mich an den Bug und aß. Ganz schnell blickte sie mich danach oft an, so kurz wie möglich, sah weg, von neuem, während ich in der Sonne unentwegt auf sie sah. Sie war etwa dreißig und doch ratlos. Sonst ließ mich noch eine Schwester von etwa sechzig Jahren staunen. Ich guckte in ihr Gesicht, rieb mit der Hand, in der Briefumschläge waren, meine Nase, worauf sie mit dem Kopf zum Gruße nickte.
Morgen will ich nach München. Noch zu Würzburg: hier gibt es mehr Frauen als Männer, und auf der Universität sitzen bloß Bürger.
Lebe zufrieden.
I.
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12.7.63
Liebe!
Was soll ich Dir von München erzählen? Du kennst es, und nichts empfinde ich neu, wenn es schon von Dir empfunden worden ist. Ich sah es so, als wenn nur Schauspieler es durchliefen, und tausend andere mochten nicht den Eindruck löschen, den einer, der Schauspieler hätte gewesen sein können, in mich gedrückt hatte. Und die Einzelnen hatten reiches Aussehen, blickten kalt-glücklich vor der Flickfassade der verschiedenen Mauern. Ohne Wahrheit ragen Beflügelte auf Säulen hoch, höchste Häuser wetteifern mit Kirchen, eine ungeheure Innenstadt und zwei gewohnte fassend – was hätte mich reizen können? Doch gab es etwas: der Fluß, die durchflossenen Parks und Antiquitäten in den Innenstadtgassen. Doch Armut ist’s, wenn nur dreierlei Geschmack beweist. Noch die Universität, während auf der Würzburger der Reichsapfel der Bürger und das Szepter des Staates, so schien mir’s, unsichtbar thronten, fiel aus dem Schema auf und bleibt um so sicherer in ihm. Ich liebe keine geschäftigen Studenten, mit Taschen, in Parks, zu zweit, zu dritt, nie sah ich mürrische: leben denn die? Und Fröhlichkeit stellt sich ein, wenn zwei sich begegnen. Fröhlichkeit bestellt sich bei ihnen wie Wein. Das ist Begeisterung, was nicht so scheint. Zwei Kinder sah ich hier, die mich erschreckten. Begreif es wohl! Sie waren sich ihrer selbst bewußt. Der eine gab Küsse auf seine Hand, warf sie der wegfahrenden Mutter nach, wandte sich dann seiner Großmutter eifrig zu, und solche treulose Eitelkeit, denn Eitelkeit war’s, überstürzte sich in mir zu Schrecken. Seine Liebe war nicht kindlich, und des Mädchens zu ihrer Mutter auch nicht, war bestürzt, als ich böse auf sie sah, sie lachte erleichtert, staunend, als ich sie auslachte, weil sie’s für Lachen hielt. Sie ertragen keinen Ernst; das vierjährige verhielt sich wie ein sechzehnjähriges Mädchen und war unsicher mit sich.
***
Gestern erreichte ich Innsbruck. Ich bestaune seitdem noch mehr die schnellen Flüsse, die kalkgrau fließen, in München chlorgrün die Isar, der Inn hier und die Sill. Die Wellen schwimmen, und stürzen zurück, nicht vor wie Meerwellen. Glocken bimmeln und dröhnen auch hier, Ausländer fluten durch die Gassen, die wie Schächte aus dem Himmel fallen, vier Stockwerke hoch, nur fünf Meter breit, Erker an den Häusern, die uralt sind, mit Rundbogentoren, darinnen Schränke, gebeizt die Türen, teils rohes Holz, und weiter draußen Ställe in den Häusern, Heu und Kühe mit Läden, Zimmern. Innsbruck liegt im Tal, wie Würzburg, doch die Berge drohen dunkler als dort, wo die Hänge lieblich anstiegen grün, und hier doch fast schwarz. Selbst die Straßenbahn hat echtere Farben, wie auch die Landschaft mit größerer Wucht lebt. Kirschrot leuchtet sie, und Wagen der Linie zum Bad Hall messen vier Meter vom Heck zum Bug, werden von einem großen mit elektrischem Antrieb gezogen, es ist zum Freuen. So wie Dunkelheit immer dem Tode mehr angenähert ist als Helligkeit, so dunkles als helles Rot. Wir haben uns einen neuen Mythos erfunden. Für mich lebt der Tod auf Feldern, begrenzt sein Bereich von Straßen, darauf wir uns fürchten. Ein Mythos ist dies. Dies Jahrhundert macht sich neue. Prüfe es, ich meine es. Morgen werde ich in Italien sein. Wo, weiß ich nicht, wann nicht und wie, und wo ich schlafen werde. Der Gedanke macht mir Angst. Nun will ich zum Ufer.
vale
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Rapallo, am fünfzehnten Juli 1963
Liebes, Liebes. Ich möchte zu Dir – ich komme nur langsam hinunter. In Begleitung, habe ich noch weniger Zeit. Briefe an Dich stehlen mir zwei Stunden. Nein, dies Unternehmen raubt mir meine Suchtgedanken an Dich. Ich verliere den Mut, ehe ich in Florenz bin. Doch ich muß hin. Die Wetter wechseln. Ein Nachtgewitter, Schwarzwolken, rote; die Natur, Büsche, Blüten, Libellen, Käfer, nie habe ich solches gesehen, ich arbeite nichts, kann ich’s denn? Während eines Alpengewitters, beim Lago di Garda, nach Mitternacht, Wetterleuchten, der Geruch nasser Birken davor; das ist’s, was in Deinem Haar, seit Wales, ich immer wieder rieche; und fünf Italiener in einem ristorante, Baßbariton, Tenor, singend vorm erhellten Himmel; was schöner war, weiß ich nicht zu sagen. Du, es ist nicht mehr lange, viermal die Zeit, nicht vierfache Ewigkeit. Ertrag’s, wenn Du es denn überhaupt ertragen mußt. Ich reise mit einem amerikanischen Studenten aus München. Ich will zuerst am Mittelmeer bleiben, jetzt glaube ich, mit ihm, dann nach Firenze, allein, und ich träume wieder mehr am grauen Tag. Wo ich gewesen bin? Würzburg, über Ingolstadt nach München,Innsbruck, mit dem Zug bis Bozen, Sarche,Brescia,Rapallo, wo ich heute bin. Tagesenden sind unterstrichen. In Brescia schlief ich auf einem Feld zwei Stunden. Es war zu kalt, um länger zu schlafen. Mir vergehen die Gedanken vor Neuem. Ich bezahle aus Deinem roten Portemonnaie, das vor meiner rechten Leiste hängt, und verwunderte Blicke begleiten es. Ich lieb es immer mehr. Liebes, in Florenz will ich Dir mehr schreiben. Laß mich, ich bin müde jetzt. Höre noch, daß ich mir oft vorstelle während dieser Reise, durch eine äußere Gewalt zu sterben. Aber ich mache dies zu einem Aberglauben, nicht einmal ist es einer. Gute Nacht, schlafe wie ich. Freue Dich, daß Du nicht hier bist. Es ist eine tiefe Mühsal, und so würde ich keine Fessel um uns schlingen und nicht einmal schlingen lassen, weil sie nicht hielte.
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Rapallo, Freitag, der neunzehnte Juli 1963
Mon coo!
Mein Herz läuft nicht über, was soll ich Dir also schreiben? Daß die Italienerinnen stolz ihren Weg auf der Straße behaupten und niemandem ein gleichmäßiges Gehen einräumen? Daß dies Wetter meine Gedanken nicht aufstehen läßt, und zu anderen Zeiten, kalten, anderes sie daran hindert? Daß ich mich nach einer nördlichen See sehnte, das lebhaftere Klima nie mit solchem wie diesem vertauschen werde, können werde? Daß ich Stürme und kalte Dunkelheit, um zu leben, brauchte? Daß die Natur nichts intensiv tut, intensiv nur von der Sonne beheizt wird, ihr nichts anderes übrigbleibt; daß eine Heide so viel ist wie dieses Meer, aber sind hier Eichen im Schnee, Sturm, sind hier wohl Wolken, Nordgewitter, deren Kälte das zur Natur hinzufügt, was Südgewitter durch Wärme ihr nehmen? O wie möchte ich Kälte lieben, wenn ich sie nur wieder haben kann. Schon mag ich nicht mehr, schon will ich zurück. Mein Gehirn freut sich an der dritten und vierten Juniwoche. Die letzten zwei Wochen messe ich verlängert. Was von ihnen ich erlebt habe, ist mir so weit wie alles Vergangene. Gibt es denn ein komparatives „vergangen“? Liebe, hier lebe ich ohne Sinn. Nie habe ich so gefühlt, daß, nein, ich sage es nicht, es war nur gedacht. Es gibt hier mehr Sterne nachts. Ich kann nicht mehr. Auf Wiedersehen.
I.
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Mon coo!
Es ist mir, als ob die Welt, die ich betreten habe, keinen Verlust erlitten habe, nicht einmal etwas verlieren und dann auch gewinnen könnte. Ich war lange nicht so gleichgültig gegen das Leben, es gibt mir hier nichts und ich nichts ihm. Es ist hier belanglos, zu leben. Doch ich träume wieder, ich war vor Peking, wurde dorthin in einem offenen Wagen gezogen, von bunten Soldaten wurde einer auf Bergkornfeldern, gemäht und zu Hocken gebunden das Korn, gejagt, und der Name Schellings war in meinem Bewußtsein und in seltsamer Gestaltlosigkeit auch wir. Das Meer zeigt mir Lichtfarben, die ich nie gesehen habe, meist Grün, von jungen Blättern, und Rot, Orange. Das Meer selber, wenn die Sonne hindurchdringt, ist blau, daß ich es bestaune, und unmenschlich darin scheinen mir meine weißen, von der Sonne geweißten Beine, vielmehr wie Tierglieder, wie bleiche Frösche, sich zu bewegen.
Ich entwickele nur meine Kunst. Vor drei Jahren habe ich gelebt wie jetzt, mit mehr Hoffnungen, dem Leben zu gefallen, so daß es mir gefallen hätte. Ohne mein Geschriebenes wäre mein Platz in vergessenem Sand unter tausend, neben Millionen Steinchen. Hier löst sich sogar das Erinnern auf; solche von Dir abgetrennte Welt wird mir unbegreiflich, und doch ist sie das, was fast alle empfinden. Es sind noch drei Wochen.
Auf Wiedersehen
St. Maria (Rapallo), Dienstag, der 23. Juli 1963
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Mon coo!