Briefe aus Paris - Ludwig Börne - E-Book

Briefe aus Paris E-Book

Ludwig Börne

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Beschreibung

Börnes 1830 bis 1834 in der Korrespondenz mit Jeanette Wohl entstandenen Briefe aus Paris leiteten aus der Pariser Julirevolution die Notwendigkeit einer Revolution in Deutschland ab. Diese Schriften wurden verboten.

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Briefe aus Paris

Ludwig Börne

Inhalt:

Ludwig Börne – Biografie und Bibliografie

Briefe aus Paris

Erster Brief

Zweiter Brief

Dritter Brief

Vierter Brief

Fünfter Brief

Sechster Brief

Siebenter Brief

Achter Brief

Neunter Brief

Zehnter Brief

Elfter Brief

Zwölfter Brief

Dreizehnter Brief

Vierzehnter Brief

Fünfzehnter Brief

Sechzehnter Brief

Siebzehnter Brief

Achtzehnter Brief

Neunzehnter Brief

Zwanzigster Brief

Einundzwanzigster Brief

Zweiundzwanzigster Brief

Dreiundzwanzigster Brief

Vierundzwanzigster Brief

Fünfundzwanzigster Brief

Sechsundzwanzigster Brief

Siebenundzwanzigster Brief

Achtundzwanzigster Brief

Neunundzwanzigster Brief

Dreißigster Brief

Einunddreißigster Brief

Zweiunddreißigster Brief

Dreiunddreißigster Brief

Vierunddreißigster Brief

Fünfunddreißigster Brief

Sechsunddreißigster Brief

Siebenunddreißigster Brief

Achtunddreißigster Brief

Neununddreißigster Brief

Vierzigster Brief

Einundvierzigster Brief

Zweiundvierzigster Brief

Dreiundvierzigster Brief

Vierundvierzigster Brief

Fünfundvierzigster Brief

Sechsundvierzigster Brief

Siebenundvierzigster Brief

Achtundvierzigster Brief

Neunundvierzigster Brief

Fünfzigster Brief

Einundfünfzigster Brief

Zweiundfünfzigster Brief

Dreiundfünfzigster Brief

Vierundfünfzigster Brief

Fünfundfünfzigster Brief

Sechsundfünfzigster Brief

Siebenundfünfzigster Brief

Achtundfünfzigster Brief

Neunundfünfzigster Brief

Sechzigster Brief

Einundsechzigster Brief

Zweiundsechzigster Brief

Dreiundsechzigster Brief

Vierundsechzigster Brief

Fünfundsechzigster Brief

Sechsundsechzigster Brief

Siebenundsechzigster Brief

Achtundsechzigster Brief

Neunundsechzigster Brief

Siebzigster Brief

Einundsiebzigster Brief

Zweiundsiebzigster Brief

Dreiundsiebzigster Brief

Vierundsiebzigster Brief

Fünfundsiebzigster Brief

Sechsundsiebzigster Brief

Siebenundsiebzigster Brief

Achtundsiebzigster Brief

Neunundsiebzigster Brief

Achtzigster Brief

Einundachtzigster Brief

Zweiundachtzigster Brief

Dreiundachtzigster Brief

Vierundachtzigster Brief

Fünfundachtzigster Brief

Sechsundachtzigster Brief

Siebenundachtzigster Brief

Achtundachtzigster Brief

Neunundachtzigster Brief

Neunzigster Brief

Einundneunzigster Brief

Zweiundneunzigster Brief

Dreiundneunzigster Brief

Vierundneunzigster Brief

Fünfundneunzigster Brief

Sechsundneunzigster Brief

Siebenundneunzigster Brief

Achtundneunzigster Brief

Neunundneunzigster Brief

Hundertster Brief

Hunderterster Brief

Hundertzweiter Brief

Hundertdritter Brief

Hundertvierter Brief

Hundertfünfter Brief

Hundertsechster Brief

Hundertsiebter Brief

Hundertachter Brief

Hundertneunter Brief

Hundertzehnter Brief

Hundertelfter Brief

Hundertzwölfter Brief

Hundertdreizehnter Brief

Hundertvierzehnter Brief

Hundertfünfzehnter Brief

Briefe aus Paris, L. Börne

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849606602

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Dieses Werk bzw. Inhalt und Zusammenstellung steht unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz. Die Details der Lizenz und zu der Weiterverwertung dieses Werks finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/. Der Inhalt wurde der TextGrid-Datenbank entnommen, wo der Inhalt ebenfalls unter voriger Lizenz verfügbar ist. Eine bereits bestehende Allgemeinfreiheit der Texte bleibt von der Lizensierung unberührt.

Ludwig Börne – Biografie und Bibliografie

Schriftsteller, geb. als Sohn eines jüdischen Bankiers 6. Mai 1786 in Frankfurt a. M., gest. 12. Febr. 1837 in Paris, hieß vor seinem Übertritt zum Christentum Löb Baruch. Der Vater wünschte, daß er Medizin studiere, und vertraute ihn der Leitung des ausgezeichneten jüdischen Arztes Markus Herz zu Berlin an. Für dessen schöne Frau, Henriette Herz, faßte der bewegliche Jüngling eine Leidenschaft, die nicht Erwiderung, aber schonende Duldung fand (vgl. »Briefe des jungen B. an Henriette Herz«, Leipz. 1861). Später studierte B. in Halle, dann in Heidelberg, wo er 1807 die medizinischen Studien mit kameralistischen u. staatswissenschaftlichen vertauschte, die er 1808 in Gießen fortsetzte. 1809 in seine Vaterstadt zurückgekehrt, wurde er unter großherzoglich frankfurtischer Regierung 1811 Aktuar bei der Polizeidirektion, ohne daß ein Glaubenswechsel von ihm begehrt ward. Ende 1813, nach Auflösung des Großherzogtums Frankfurt, als Jude gegen seinen Wunsch pensioniert, verfaßte B. im Interesse der Frankfurter Judenschaft mehrere Denkschriften, mit denen er seine publizistische Laufbahn begann. Innerlich jedoch früh seinen Stammesgenossen entfremdet, trat er 5. Juni 1818 zum Christentum über und nannte sich von nun an Ludwig B. Vom Juli bis Oktober 1819 redigierte er »Die Zeitschwingen«, von 1818–21 »Die Wage, Blätter für Bürgerleben, Wissenschaft und Kunst«, in der er die Reihe jener sowohl ästhetischen als politischen Artikel zu veröffentlichen begann, die ihm den Ruf eines geistvollen Oppositionsschriftstellers verschafften. Fortan lebte er, journalistisch tätig, abwechselnd in Paris, Heidelberg, Frankfurt, Berlin und Hamburg. Der Tod seines Vaters gab ihm 1827 materielle Unabhängigkeit. Die Kunde von der Pariser Julirevolution begrüßte er mit Enthusiasmus, ging schon im Herbst des Jahres 1830 wieder nach Paris, das ihm nunmehr als das Mekka der politischen Freiheit galt, und ließ sich seit 1832 dauernd in der französischen Hauptstadt nieder. Seine literarische Wirksamkeit setzte er von hier aus mit den »Briefen aus Paris« fort und ward wie einer der Hauptvorläufer, so nunmehr auch einer der Hauptschriftsteller des »jungen Deutschland«, das die Zeit gekommen erachtete, die ästhetisch-sittliche Kultur der Nation mit der rein politischen zu vertauschen. Dabei entfremdete sich B. der Heimat mehr und mehr und schalt sich in eine höchst einseitige Verachtung des damaligen deutschen Lebens hinein. Seit 1833 war er kränklich. An Jeanne Wohl, an die er seine »Pariser Briefe« gerichtet hatte, fand B. eine sorgfältige, aufopfernde Pflegerin. Während seiner letzten Lebensjahre ergriffen ihn die Erscheinung und das Auftreten Lamennais' in mächtiger Weise; die Idee der demokratisch-christlichen Völkerverbrüderung eignete er sich an und sah sie zunächst durch die geistige Hegemonie Frankreichs verkörpert. In diesem Sinne nahm er seine seit 1821 eingegangene Zeitschrift »Die Wage« wieder auf und ließ sie als »Balance« in französischer Sprache erscheinen. Nach dem Beschluß des Bundesrates zu Frankfurt 1835, der infolge der Angriffe Menzels auf das »junge Deutschland« sämtliche vergangene und zukünftige Schriften desselben verbot, schrieb B. die Streitschrift: »Menzel, der Franzosenfresser« (Par. 1836), worin er dessen teutonische Einseitigkeit geißelte. Seine letzte Ruhestätte fand B. auf dem Friedhofe Père Lachaise, wo ihm 1843 von seinen Landsleuten ein von David gefertigtes Erzdenkmal errichtet wurde. – Der Schwerpunkt seines Wesens lag im politischen Pathos, in der Hingabe an die Idee der Freiheit, wie er sie verstand. In seinen Theater- und Literaturkritiken verriet er gelegentlich einen guten Blick für poetische Schönheit, ein treffendes Urteil, aber mit gröblicher Unduldsamkeit gegen jede andre Welt- und Lebensanschauung als seine eigne mißhandelte er selbst die Heroen der deutschen Literatur. Besonders sein Urteil über Goethe war äußerst beschränkt. Für den deutschen Journalismus galt B. jedoch lange Zeit als Meister und Vorbild. Die Uneigennützigkeit seines Charakters genügt freilich nicht, um die Einseitigkeit seiner Anschauungen und die Befangenheit seines Urteils vergessen zu machen. Der ersten Ausgabe seiner »Gesammelten Schriften« (Hamb. 1829–34, 14 Tle.) folgten die »Nachgelassenen Schriften« (Mannh. 1844–50, 6 Bde.); eine vollständigere Ausgabe der »Gesammelten Schriften« erschien in 12 Bänden (Hamb. 1862–63, neue Aufl. 1868) und in 6 Bänden, besorgt von A. Klaar (Leipz. 1899). Seine französischen Schriften (»Fragments politiques et littéraires«) gab Cormenin heraus (Par. 1842; deutsch von Weller, Bern 1847). Vgl. Gutzkow, Börnes Leben (Hamb. 1840); Heine, Über L. B. (das. 1840); Gervinus, Über Börnes Briefe aus Paris (»Historische Schriften«, Darmst. 1838); Holzmann, L. B., sein Leben und sein Wirken (Berl. 1888); Brandes, Das junge Deutschland (4. Aufl., Leipz. 1899); Joh. Proelß, Das junge Deutschland (Stuttg. 1892).

Briefe aus Paris

Erster Brief

Karlsruhe, Sonntag, den 5. September 1830

Ich fange an, den guten Reisegeist zu spüren, und einige von der Legion Teufel, die ich im Leibe habe, sind schon ausgezogen.

Aber je näher ich der französischen Grenze komme, je toller werde ich. Weiß ich doch jetzt schon, was ich tun werde auf der Kehler Brücke, sobald ich der letzten badischen Schildwache den Rücken zukehre. Doch darf ich das keinem Frauenzimmer verraten.

Gestern abend war ich bei S. Die hatten einmal eine Freude, mich zu sehen! Sie wußten gar nicht, was sie mir alles Liebes erzeugen sollten, sie hätten mir gern die ganze Universität gebraten vorgesetzt. Mir Ärmsten mit meinem romantischen Magen! Nicht der Vogel Rock verdaute das. Die W. hat einen prächtigen Jungen. Ich sah eine schönere Zeit in rosenroter Knospe. Wenn die einmal aufbricht! Wie gern hätte ich ihn der Mutter gestohlen und ihn mit mir über den Rhein geführt, ihn dort zu erziehen mit Schlägen und Küssen, mit Hunger und Rosinen, daß er lerne frei sein und dann zurückkehre, frei zu machen.

In Heidelberg sah ich die ersten Franzosen mit dreifarbigen Bändern. Anfänglich sah ich es für Orden an, und mein Ordensgelübde legte mir die Pflicht auf, mich bei solchem Anblicke inbrünstig zu ärgern. Aber ein Knabe, der auch sein Band trug, brachte mich auf die rechte Spur.

Ich mußte lachen, als ich nach Darmstadt kam und mich erinnerte, daß da vor wenigen Tagen eine fürchterliche Revolution gewesen sein soll, wie man in Frankfurt erzählte. Es ist eine Stille auf den Straßen, gleich der bei uns in der Nacht, und die wenigen Menschen, die vorübergehen, treten nicht lauter auf als die Schnecken. Erzählte man sich sogar bei uns, das Schloß brenne, und einer meiner Freunde stieg den hohen Pfarrturm hinauf, den Brand zu sehen! Es war alles gelogen. Die Bürger sind unzufrieden, aber nicht mit der Regierung sondern mit den Liberalen in der Kammer, die dem Großherzoge seine Schulden nicht bezahlen wollen. Das ist deutsches Volksmurren, das lass' ich mir gefallen; darin ist Rossinische Melodie.

Wenn Sie mir es nicht glauben werden, daß ich gestern drei Stunden im Theater gesessen und mit himmlischer Geduld »Minna von Barnhelm« bis zu Ende gesehen – bin ich gar nicht böse darüber. Aber das Unwahrscheinlichste ist manchmal wahr. Auf der Reise kann ich alles vertragen.

Die Theaterwache in Darmstadt war gewiß funfzig Mann stark. Ich glaube auf je zwei Zuschauer war ein Soldat gerechnet. Noch viel zu wenig in solcher tollen Zeit. Und diesen Morgen um sechs Uhr zogen einige Schwadronen Reiter an meinem Fenster vorüber und trompeteten mich und alle Kinder und alle Greise und alle Kranken und alle süßträumenden Mädchen aus dem Schlafe. Das geschieht wohl jeden Tag. Diese kleinen deutschen Fürsten in ihren Nußschal-Residenzen sind gerüstet und gestachelt wie die wilden Kastanien. Wie froh bin ich, daß ich aus dem Lande gehe.

Adieu, Adieu. Und schreiben Sie mir es nur auf der Stelle, sooft bei uns eine schöne Dummheit vorfällt.

Zweiter Brief

Straßburg, den 7. September

Die erste französische Kokarde sah ich an dem Hute eines Bauers, der, von Straßburg kommend, in Kehl an mir vorüberging. Mich entzückte der Anblick. Es erschien mir wie ein kleiner Regenbogen nach der Sündflut unserer Tage, als das Friedenszeichen des versöhnten Gottes. Ach! und als mir die dreifarbige Fahne entgegenfunkelte – ganz unbeschreiblich hat mich das aufgeregt. Das Herz pochte mir bis zum Übelbefinden, und nur Tränen konnten meine gepreßte Brust erleichtern. Es war ein unentschiedenes Gemisch von Liebe und Haß, von Freude und Trauer, von Hoffnung und Furcht. Der Mut konnte die Wehmut, die Wehmut in meiner Brust den Mut nicht besiegen. Es war ein Streit ohne Ende und ohne Friede. Die Fahne stand mitten auf der Brücke, mit der Stange in Frankreichs Erde wurzelnd, aber ein Teil des Tuches flatterte in deutscher Luft. Fragen Sie doch den ersten besten Legationssekretär, ob das nicht gegen das Völkerrecht sei. Es war nur der rote Farbenstreif der Fahne, der in unser Mutterland hineinflatterte. Das wird auch die einzige Farbe sein, die uns zuteil wird werden von Frankreichs Freiheit. Not, Blut, Blut – ach! und nicht Blut auf dem Schlachtfelde. 

Gott! könnte ich doch auch einmal unter dieser Fahne streiten, nur einen einzigen Tag mit roter Dinte schreiben, wie gern wollte ich meine gesammelten Schriften verbrennen, und selbst den unschuldigen achten Teil von ihnen, der noch im Mutterschoße meiner Phantasie ruht! Schmach, Schmach über unser Andenken! Einst werden die siegesfrohen, siegesübermütigen Enkel spottend einen Gansflügel auf unseren Grabeshügel stecken, während glücklichere Tote unter dem Schatten der Lorbeeren ruhen. Ich begreife, wie man gegenwärtige Übel geduldig erträgt – es gibt kein gegenwärtiges Übel, es wird nach jeder Minute zur Vergangenheit – aber wie erträgt man zukünftige Leiden? das fasse ich nicht.

Diesen Mittag war ein junger Mensch bei Tische, der in Paris mitgefochten. Es war mir gerade, als brennten ihm die Haare, und unwillkürlich rückte ich von ihm weg, obzwar ich deutsches nasses Holz ihn eher ausgelöscht hätte, als er mich angezündet. Wir waren unserer neun, worunter drei alte Weiber, mich mitgerechnet, und ich habe in einer einzigen Stunde mehr sprechen hören als im »Englischen Hofe« während der zwei Monate, daß ich dort zu Tische ging.

Ich wollte hier einen Platz im Coupé nehmen, aber schon auf acht Tage voraus war das Cabriolet in Beschlag genommen, und so lange habe ich keine Geduld zu warten. Mich in den innern Wagen zu setzen, dazu kann ich mich nicht entschließen. Übrigens sind auch hier die Plätze schon auf mehrere Tage besetzt. Diese Frequenz kommt von den unzähligen Soliciteurs, die täglich nach Paris eilen, den jungen Freiheitsbaum zu schütteln.

Donnerstag, den 8. September

Um zehn Uhr reise ich weiter. Ich habe mir einen Mietwagen bis Châlons genommen. Das ist zwei Dritteile des Weges. Mit dem nämlichen Kutscher und dem nämlichen Wagen ist vor kurzem Potter nach Paris gefahren. Ich wohnte hier in dem nämlichen Zimmer, das er bewohnte. Was das Zimmer betrifft, ist mir nicht bange; eine Nacht, das kann mir nicht schaden. Aber acht Tage in Potters Wagen? Ich werde ihn durchräuchern lassen.

Eben zog die Nationalgarde vorüber. Ich erstaunte über ihr gesundes und frisches Aussehen, da sie doch einige Jahre scheintot im Grabe gelegen. Aber die Freiheit lebt auch im Grabe fort und wächst, bis sie den Sarg sprengt. Das sollten sich die Totengräber merken.

Dritter Brief

Luneville, den 9. September

Guten Morgen oder guten Abend? Ich weiß nicht, um welche Tageszeit Sie meine Briefe erhalten. Hier übernachte ich, morgen Mittag komme ich nach Nancy. Ich befinde mich sehr wohl und reise bequem. Es ist freilich eine Schneckenfahrt, doch hat das auch seine Vorteile. Während die Räder sich langsam drehen, hat man Zeit, manches zu bemerken und die Physiognomie des Landes zu beobachten. Aber nein, so ein leeres Gesicht ist mir noch gar nicht vorgekommen. Lebloseres, Langweiligeres, Verdrüßlicheres gibt es gar nicht als dieser ganze Weg von der deutschen Grenze bis nach Paris. Es ist jetzt das dritte Mal, daß ich ihn zurücklege. Mir kommt es vor wie ein langer, stiller Gang, nur gebaut, in das wohnliche Paris zu führen, und die mir begegnenden Menschen erscheinen mir als die Diener des Hauses, die hin und her eilen, die Befehle ihres Herrn zu vollziehen und ihm aufzuwarten. Die Bevölkerung in den Provinzen hat eine wahre Lakaienart; sie spricht von nichts als von ihrem gnädigen Herrn Paris. Die Städte, die Dörfer sind Misthaufen, bestimmt Paris zu düngen. Wenn auch die andern Provinzen Frankreichs denen gleichen, die ich kenne, so möchte ich außerhalb Paris kein Franzose sein, weder König noch Bürger.

Vitry-sur-Marne, den 12. September

– Das menschliche Leben ist voller Rechnungsfehler, und ich weiß wahrhaftig nicht, wozu uns das Einmaleins nützt. Der Teufel ist Kontrolleur und hat seine Freude am Widerspruch, um jeden Abend den ehrlichen Buchhalter zu verwirren. Am zwölften September des vorigen Jahres war ich, wie ich aus meinem Tagebuche ersehe, in Soden der letzte Gast im Bade, der einzige Städter im Dorfe; saß gefangen auf meinem Zimmer, von dem schlechtesten Wetter bewacht, ward gefoltert von den boshaftesten Nerven. Es war abends acht Uhr; ich lag auf dem Sofa, das ungeputzte Licht brannte düster, Wind und Regen klopften leise an das Fenster; es war mir, als wenn die Elemente riefen: komm zurück, wir erwarten dich! Es war mir unendlich wehe. Ich fühlte mich wie fortgeschleppt von den gewaltigen Armen der Natur, und kein Freund kam zu meiner Hülfe ... Wer mir damals gesagt hätte: heute über das Jahr bist du um diese Stunde in Vitry-sur-Marne, froh und gesund, und wirst dort schlafen und nicht unter der Erde – ich hätte ihn ausgelacht inmitten meiner Schmerzen. Und wer am nämlichen Tage dem Könige von Frankreich gesagt hätte: heute übers Jahr bist du nicht König mehr und schläfst in England? ... Es ist doch schön, kein König sein! Daran will ich künftig denken, sooft ich leide. Armer Karl! Unglücklicher Greis! die Menschen – nein, unbarmherzig sind sie nicht, aber sie sind unwissende Toren. Sie begreifen gar nicht, was das heißt: König sein; sie begreifen nicht, was das heißt, auf schwachen menschlichen Schultern den Zorn und die Rache eines Gottes tragen; sie begreifen nicht, was es heißt, einem einzigen Herzen, einer einzigen Seele die Sünden eines ganzen Volkes aufladen! Denn warum haben die Menschen Könige, als weil sie Sünder sind? Ist das Fürstentum etwas anderes als ein künstliches Geschwür, welches die heilbedächtige Vorsehung den Völkern zuzieht, daß sie nicht verderben an ihren bösen Säften, daß ihre giftigen Leidenschaften alle nach außen fliehen und sich im Geschwür sammeln? Und wenn es aufspringt endlich – wer hat es strotzend gemacht? Nicht schonen soll man verbrecherische Könige, aber weinen soll man, daß man sie nicht schonen dürfe. Doch erzählen Sie das ja keinem wieder. Denn die Toren anderer Art möchten sagen: da ist nun ein freiheitsliebender Mann, der doch noch sagt, es sei dem Könige von Frankreich unrecht geschehen! Was? Recht! Unrecht! leere, tolle Worte! Verklagt den Sturm, verklagt den Blitz, verklagt das Erdbeben, verklagt das Fieber, verklagt die spitzbübische Nacht, die euch um den halben Tag geprellt – – und wenn ihr den Prozeß gewonnen, dann kommt ihr geschickten Advokaten und verklagt ein Volk, es habe seinem Könige unrecht getan!

– Ich habe schon viel in Frankreich geschlafen: in Straßburg, in Pfalzburg, Luneville, Nancy, Toul, Bar-le-Duc, und heute schlafe ich hier. Es ist eine schöne Erfindung, wie Sancho Pansa sagt; und wo man schläft, man schläft immer zu Hause, und wo man träumt, man hat überall vaterländische Träume. Aber was geht das mich an? Ich bin auch wachend nirgends fremd.

In den Niederlanden scheint es arg herzugehen. Was aber die Leute dort wollen und nicht wollen, begreife ich nicht recht. Ihr hättet mich nicht abhalten sollen, über Brüssel zu reisen. Es ist freilich kein Vergnügen, totgeschossen zu werden und nicht zu wissen wofür. Aber wenn man im Bette stirbt, wie die meisten, weiß man dann besser, wofür es geschieht? die Unannehmlichkeit dauert einige Minuten; das Vergnügen aber, nicht totgeschossen worden, der Gefahr entgangen zu sein, reicht für das ganze Leben hin. Man muß rechnen, zählen, wiegen. Auf mehr oder weniger, schwerer oder leichter kommt alles an. Die Qualitäten sind nicht sehr verschieden.

Ach! ich spüre es schon, es ergeht mir dieses Mal in Frankreich wie die beiden vorigen Male. Die feuchte Philosophie schlägt an mir heraus, wie, wenn warme Witterung eintritt, die Steinwände naß werden. Es ist mir recht; diese Hautkrankheit der Seele ist meiner betrübten Konstitution sehr heilsam.

– Soeben las ich in einem Pariser Blatte die aus einer englischen Zeitung entlehnte Nachricht: in Hamburg wären Unruhen gewesen; man hätte die Juden aus den Kaffeehäusern verjagt. Und in Hannover hätten sie geschrien: »A bas la noblesse!« Ich kam mir gar nicht denken, wie das im Deutschen gelautet haben mag; denn unsere guten Leute kennen keinen andern Zornruf als das lateinische Pereat; was nun den Adel betrifft, so habe ich, bei aller Menschenfreundlichkeit, nichts dagegen. Mit guten Fallschirmen versehen, wird er herunterkommen, ohne sich sehr wehe zu tun. Aber die Juden! die Franzosen hatten ihre Julitage, wollen die Deutschen ihre August-, ihre Hundstage haben? Fängt man so die Freiheit an? O wie dumm! O wie lächerlich! O wie unästhetisch! Von der Niederträchtigkeit will ich gar nicht sprechen; die versteht sich von selbst. Ist es aber wahr?

– Die Kellnerin kam herauf und sagte mir: sie hätte meinem Bedienten ein ganz gutes Zimmer angewiesen, er verlange aber ein Appartement. Ich ließ ihn rufen und fragte, was das sein sollte. Da fand sich denn, daß er die bescheidenste Forderung gemacht und eine unschuldige Neugierde zu befriedigen gesucht, der kein Mensch, von welchem Stande er auch sei, lange widerstehen kann. Als feiner Nordländer war er gewohnt, das unartige Ding Appartement zu nennen.

Vierter Brief

Dormans, den 15. September

Der Ort liegt 28 Stunden von Paris entfernt, hat 2300 Einwohner und 2 Seelen, die meinige mitgerechnet. Denn das weiß ich nun aus achttägiger Erfahrung, daß alle Franzosen eine gemeinschaftliche Seele haben, und die in der Provinz gar nur eine Mondseele, ein Licht aus zweiter Hand; Paris ist die Sonne.

Napoleon, Rothschild, schlimme Nachrichten und andere berühmten Kuriere haben den Weg von Frankfurt bis Paris schon in 48 Stunden zurückgelegt. Aber wer vor mir könnte sich rühmen, diesen Weg in dreizehn Tagen gemacht zu haben, wenn es vielleicht eintrifft, daß ich morgen nach Paris komme, was noch gar nicht entschieden ist? Bin ich ein Narr? Ach wie gern wollte ich einer sein, fände sich wenigstens ein Echo, das es mir bejahte. Aber nicht einmal eine menschliche Seele, die mich auslacht! Allein zu sein mit seiner Weisheit, das ist man gewöhnt, das hat man ertragen gelernt; aber allein mit seiner Torheit, das ist unerhörter Jammer, dem unterliegt der Stärkste! O teures Vaterland, wie einfältig verkannte ich deinen Wert! Dort fand ich in jedem Nachtquartier eine kleine Residenz oder den Sitz einer hohen Regierung oder eine Garnison oder eine Universität, und in jedem Gasthofe eine Weinstube mit scharf geprägten Gästen, die mir gefielen oder nicht gefielen, die meinem Herzen oder meinem Geiste Stoff gaben, der ausreichte bis zum Einschlafen. Aber hier in diesem vermaledeiten Rat-losen Lande! Seit acht Tagen saß ich jeden Abend allein auf meinem Zimmer und verschmachtete. Glauben Sie mir, man stirbt nicht vor Langerweile; das ist nur eine dichterische Redensart. Aber wie gern hätte ich für jeden Lieutenant einen Schoppen Wein bezahlt, für jeden Hofrat eine Flasche, für jeden Professor zwei Flaschen, für einen Studenten drei; und hätte ich gar einen schönen Geist, einen Theaterkritiker an mein Herz drücken können, nicht der ganze Keller wäre mir zu kostspielig gewesen. Hofräte, Hofräte! wenn ich je wieder eurer spotte, dann schlagt mir auf den Mund und erinnert mich an Dormans.

Dormans– wie das lieblich lautet! Wie Wiegen-Eiapopeia. Und doch steckt der Teufel in jedem Buchstaben.

Aber lesen Sie nur erst das Stück dormantische Poesie, das Gebet an die Geduld, das ich diesen Vormittag in der Verzweiflung meiner Ungeduld niedergeschrieben, und dann sollen Sie meine Leiden erfahren.

Geduld,sanfte Tochter des grausamsten Vaters; schmerzerzeugte, milchherzige, weichlispelnde Göttin; Beherrscherin der Deutschen und der Schildkröten; Pflegerin meines armen kranken Vaterlands, die du es wartest und lehrest warten.

Die du hörest mit hundert Ohren und siehest mit hundert Augen und blutest an hundert Wunden, und nicht klagest.

Die du Felsen kochst und Wasser in Steine verwandelst.

Schmachbelastete, segenspendende Geduld; holdes mondlächelndes Angesicht; heiligste Mutter aller Heiligen, erhöre mich!

Sieh! mich plagt die böse Ungeduld, deine Nebenbuhlerin; befreie mich von ihr, zeige, daß du mächtiger bist als sie. Sieh! mir zucken die Lippen; ich zapple mit den Füßen wie ein Windelkind, das gewaschen wird; ich renne toll wie ein Sekundenzeiger um die schleichende Stunde; ich peitsche und sporne vergebens die stätige Zeit: die hartmäulige Mähre geht zurück und spottet meiner. Ich verzweifele, ich verzweifele, o rette mich!

Lösche mein brennendes Auge mit dem Wasserstrahle deines Blickes; berühre mit kühlen Fingern meine heiße Brust. Hänge Blei an meine Hoffnungen, tauche meine Wünsche in den tiefsten Sumpf, daß sie aufzischen und dann ewig schweigen. Deutsche mich, gute Göttin, von der Ferse bis zur Spitze meiner Haare und lasse mich dann friedlich ruhen in einem Naturalienkabinett unter den seltensten Versteinerungen.

Ich will dir von jetzt an auch treuer dienen und gehorsamer sein in allem. Ich will dir tägliche Opfer bringen, welchen du am freundlichsten lächelst. Die »Didaskalia« will ich lesen und das »Dresdner Abendblatt« und alle Theaterkritiken und den Hegel, bis ich ihn verstehe. Ich will bei jedem Regenwetter ohne Schirm vor dem Palaste der deutschen Bundesversammlung stehen und da warten, bis sie herauskommen und die Preßfreiheit verkündigen. Ich will in den Ländern das Treiben des Adels beobachten und nicht des Teufels werden, und nicht eher komme Wein über meine Lippen, bis dich die guten Deutschen aus dem Tempel jagen und dein Reich endiget.

Vorgestern gegen Mittag kam ich nach Châlons. Ich wollte meinen Straßburger Wagen, den ich einstweilen nur bis dahin gedingt hatte, nun weiter bis Paris mieten. Aber der Kutscher hatte keine Lust dazu, die Wege wären zu schlecht, oder was ihn sonst abhielt. Ich schickte nach einem andern Mietkutscher. Jetzt denken Sie sich die greuliche Statistik: In Châlons, einer Stadt von 12000 Einwohnern, gibt es nur eine einzige Mietkutsche, und für diese wurde für die Reise nach Paris, das nur zwanzig Meilen entfernt ist, 200 Franken gefordert! Da dieses viel mehr als die Reise mit Postpferden beträgt, entschloß ich mich zu letzterem. Da hatte ich mich wieder verrechnet. In Deutschland findet der Reisende auf jeder Post Kutschen, die ihn von Station zu Station führen. Hier aber hat die Post zu diesem Gebrauche nur zweiräderige bedeckte Wagen, die nicht in Federn hängen, uns leicht die Seele aus dem Körper schleudern und nicht einmal Platz haben, einen Koffer aufzupacken. So blieb mir nichts anderes übrig, als mit der Diligence zu reisen, die eine halbe Stunde vor meiner Ankunft in Châlons abgegangen war und die erst den andern Mittag wiederkehrte. Vierundzwanzig Stunden sollte ich warten! Ich war an diesem Tage ganz gewiß der verdrießlichste Mensch in ganz Europa und war schwach genug zu überlegen, was besser sei, Preßfreiheit ohne Retourwagen, wie in Frankreich, oder Retourwagen ohne Preßfreiheit, wie in Deutschland.

Ich machte einige Gänge durch die Stadt, aber in den Straßen war es so öde und stille, die Menschen erschienen mir so langweilig und gelangweilt, und selbst im Kaffeehause, sonst dem Pochwerke jeder französischen Stadt, hatte alles so ein schläfriges Ansehen, daß ich bald wieder nach Hause eilte. Dort zog ich Pantoffeln und Schlafrock an, um wenigstens mit Bequemlichkeit zu verzweifeln. Da erinnerte mich ein zufälliger Blick in den Kalender, daß es wieder Zeit sei, den guten Blutigeln, die zur Erhaltung meiner Liebenswürdigkeit so vieles beitragen, ihr kleines monatliches Fest zu geben. Es war mir eine willkommene Zerstreuung, und ich schickte nach einem Chirurgen. Statt dessen kam aber eine Frau von sechzig Jahren, die sich mir als Hebamme vorstellte und mich artig versicherte, der von mir verlangte Dienst sei eigentlich ihr Geschäft. Ich muß gestehen, daß die Französin die Operation mit einer Leichtigkeit, Sicherheit, Schnelligkeit und, ich möchte sagen, mit einer Grazie ausführte, die ich bei dem geschicktesten deutschen Chirurgus nie gefunden hatte. Sie zeigte so viel Anstand in ihrem Betragen, war so abgemessen in allen ihren Bewegungen, sprach so fein, so bedächtig und umsichtig, daß ich mich nicht enthalten konnte, sie mit der Oberhofmeisterin einer gewissen deutschen Prinzessin zu vergleichen, die ich vor vielen Jahren zu hören und zu beobachten Gelegenheit hatte. Vor meinem Bette sitzend, unterhielt sie mich auf das angenehmste und lehrreichste. Von der letzten Revolution sprach sie kein Wort, und dieses überzeugte mich, daß es keine Prahlerei von ihr war, wenn sie mich versicherte, daß sie nur die vornehmsten Krankenhäuser besuche. Sie erzählte mir viel von Unterpräfekten, von einem gewissen Colonel, von der Frau des Gerichtspräsidenten, und daß sie weit und breit als Hebamme gebraucht werde. Erst kürzlich wäre sie zu einer Entbindung nach St.-Denis geholt worden. Sie war die treueste und verschwiegenste Hebamme, verriet nichts, hatte aber eine so geschickte Darstellung, daß auch die schläfrigste Phantasie alles erraten mußte: zuweilen unterbrach sie ihren Bericht von den auswärtigen Angelegenheiten, warf einen Blick auf mich und rief mit Künstlerbegeisterung aus: Ils travaillent joliment, ils travaillent joliment! So ging mir eine Stunde angenehm vorüber, aber dreiundzwanzig Leidensstunden bis zur Ankunft der Diligence blieben noch übrig, und als die Hebamme fort war, jammerte ich armer Kindbetter, daß es zum Erbarmen war.

Ich nahm Reichards Reisebuch zur Hand, und da las ich, zu meinem Schrecken, daß Châlons einen Spaziergang habe, Jard genannt, und das wäre die schönste Promenade Frankreichs. Ferner: in der Nähe von Châlons wäre das Schlachtfeld, wo einst Attila von den Römern und Franken besiegt worden. Das hätte ich nun alles sehen mögen, war aber jetzt so schwach, daß ich nicht ausgehen konnte. Es war mir lieblich zumute! Aber alles geht vorüber; es kam der folgende Tag, und mit ihm die Diligence, auf der ich Platz nahm. Man fährt von Châlons in 24 Stunden nach Paris, aber ich fühlte mich unbehaglich, scheute die Nachtfahrt und faßte den rasenden Entschluß, mich nur bis Dormans, wo man abends ankömmt, einschreiben zu lassen und da zu übernachten. So tat ich es auch.

Meine Gefährten im Coupé waren eine junge schöne Modehändlerin aus der Provinz, die ihre periodische Kunstreise nach Paris machte, und ein schon ältlicher Herr, der, nach seiner dunklen Kleidung und der Ängstlichkeit zu beurteilen, in welche ihn die kleinste schiefe Neigung des Wagens versetzte, wohl ein protestantischer Pfarrer oder Schulmann war. Diese beiden Personen von so ungleichem Alter und Gewerbe unterhielten sich, ohne die kleinsten Pausen, auf das lebhafteste miteinander; aber ich achtete nicht darauf und hörte das alles wie im Schlafe. In früheren Jahren war mir jede Reise ein Maskenballfest der Seele; alle meine Fähigkeiten walzten und jubelten auf das ausgelassenste, und es herrschte in meinem Kopfe ein Gedränge von Scherz und Ernst, von dummen und klugen Dingen, daß die Welt um mir her schwindelte. Was hörte, bemerkte, beobachtete, sprach ich da nicht alles! Es waren Wolkenbrüche von Einfällen, und ich hätte hundert Jahrgänge des »Morgenblatts« damit ausfüllen können, und hätte die Zensur nichts gestrichen, tausend Jahrgänge. Wie hat sich das aber geändert! ... Ich sitze ohne Teilnahme im Wagen, stumm wie ein Staatsgefangener in Östreich und taub wie das Gewissen eines Königs. In der Jugend bemerkt man mehr die Verschiedenheiten der Menschen und Länder, und das eine Licht gibt tausend Farben, im Alter mehr die Ähnlichkeiten, alles ist grau, und man schläft leicht dabei ein. Ich kann jetzt einen ganzen Tag reisen, ohne an etwas zu denken. Fand ich doch auf dem langen Weg von Straßburg hierher nichts weiter in mein Tagebuch zu schreiben als die Bemerkung, daß ich in Lothringen mit sechs Pferden habe pflügen sehen und daß mein Kutscher stundenlang mit Konrad von der Preßfreiheit und den Ordonnanzen mit einem Eifer gesprochen, als wäre von Hafer und Stroh die Rede. Und selbst dieses wenige schrieb ich nur kurz und trocken nieder, ohne alle satirische Bemerkungen gegen die Mietkutscher in der großen Eschenheimer Gasse, in der kleinen Eschenheimer Gasse, hinter der Schlimmen Mauer und den übrigen Frankfurter Gassen, die in der Nähe des Taxisschen Palastes liegen. Den kleinen guten Gedanken: was würde Herr von Münch-Bellinghausen tun, wenn sich einmal sein Kutscher erkühnte, von Preßfreiheit zu sprechen, und würde ihm das nicht Anlaß geben, eine vertrauliche Sitzung der hohen Bundesversammlung zu veranstalten und darin auf schärfere Zensur in den Bundesstaaten anzutragen? – diesen habe ich jetzt in diesem Augenblicke erst, und ihn ganz allein der Verzweiflung der Langenweile zu verdanken; im Tagebuch steht nichts davon. Ist das nicht sehr traurig?

– Man reist jetzt auf der Diligence unglaublich wohlfeil. Der Platz von Straßburg bis Paris kostet nicht mehr als 20 Franken, im Cabriolet 26. Diese Wohlfeilheit kömmt daher, weil es drei verschiedene Unternehmungen gibt, die sich wechselseitig zugrunde zu richten suchen. Bei solchen niedrigen Preisen haben die Aktionärs großen Verlust, den sie nicht lange ertragen können. Es kömmt jetzt darauf an, wer es am längsten aushält. Von Châlons bis Paris gehen täglich, die Malle-Poste ungerechnet, sechs Diligencen, drei von Metz, drei von Straßburg kommend. Unter diesen sieben Losen habe ich schon drei Nieten gezogen; denn in den drei Wagen, welche diesen Mittag durchkamen, waren keine Plätze mehr. Heute abend kommen die andern, und wenn ich Glück habe wie bisher, werden sie gleichfalls besetzt sein und ich vielleicht acht Tage in Dormans bleiben müssen. Das wäre mein Tod. Und welcher Tod! Der Tod eines Bettlers. Denn man wird hier auf eine so unerhörte Art geprellt, daß ein achttägiger Aufenthalt meine Kasse erschöpfen und mir nicht so viel übrigbleiben würde, meine Begräbniskosten zu bestreiten. Hören Sie weiter, wie es mir ging.

Um, wenn der Wagen ankäme, nicht aufgehalten zu sein, verlangte ich diesen Vormittag schon meine Wirtshausrechnung.

Die Wirtin machte die unverschämte Forderung von etlichen und zwanzig Franken. Ich hatte gestern abend nichts als Braten und Dessert gehabt, ein elendes Schlafzimmer und diesen Morgen Kaffee. Der Bediente das nämliche und wahrscheinlich alles noch schlechter. Ich sagte der Wirtin, sie sollte mir die Rechnung spezifizieren. Sie schrieb mir auf: Nachtessen 9 Fr., Zimmer 8, Frühstück 3, Zuckerwasser 1 Fr. und für einige Lesebücher, die ich aus der Leihbibliothek hatte holen lassen, 30 Sous. Ich fragte sie kalt und giftig, ob sie bei dieser Forderung bestände, und als sie erwiderte: sie könne nicht anders, nahm ich die Rechnung und ging fort, die Wirtin zu verklagen. Ich wollte einmal sehen, wie in einer auf eine Monarchie gepfropften Republik die Justiz beschaffen sei. Ich trat in den Laden eines Apothekers, um mich nach der Wohnung des Friedensrichters zu erkundigen. Die Apotheke sah derjenigen, welche Shakespeare in »Romeo und Julie« beschrieben, sehr ähnlich, und ich glaube, ich hätte da leicht Gift haben können. Der müßige Apotheker las die neue Charte Constitutionelle. Statt aber auf meine Frage nach der Wohnung des Friedensrichters zu antworten, fragte er mich, was ich da suche. Ich erzählte ihm meinen teuren Fall. Er erkundigte sich nach dem Wirtshause, und als ich es ihm bezeichnete, erwiderte er mir, er wisse nicht, wo der Friedensrichter wohne. Wahrscheinlich war er mit der spitzbübischen Wirtin befreundet. Ich ging fort und ließ ihm einen verächtlichen Blick zurück. So sind die Liberalen! Ich ließ mir von einem andern das Haus des Friedensrichters bezeichnen. Ich trat hinein, ein Hund sprang mir entgegen, der mich bald zerrissen hätte, und auf dessen Gebell eilte ein Knecht herbei, der mir sagte, der Friedensrichter wäre verreist, und ich sollte mich an den Greffier wenden. Mit Mühe fand ich die Wohnung des Greffiers.

Der war über Land gegangen. Ich suchte den Maire auf; man sagte mir, der wäre zum Präfekten gerufen worden, und ich sollte zum Maire-Adjunkten gehen. Diesen fand ich zu Hause. Es war ein kleines altes Männchen in blonder Perücke, der einen großen Pudel auf dem Schoß hatte und ihn schor. Ein junges Frauenzimmer, Tochter oder Haushälterin, war mit Bügeln beschäftigt. Als ich eintrat, ließ der Maire-Adjunkt den Hund laufen, hörte meine Klage an und sah mir über die Schulter in die Rechnung, die ich ihm vorlas. Das Mädchen trat auf meine linke Seite, sah mir gleichfalls über die Schulter in die Rechnung, verbrannte mir mit dem heißen Bügeleisen den kleinen Finger und rief in größtem Eifer aus: »Nein, das ist unerhört, aber diese Leute machen es immer so.« Der Maire-Adjunkt fiel seiner wahrscheinlichen Haushälterin nicht ohne Schüchternheit in das Wort, bemerkte, er könne sich nicht in die Sache mischen, das ginge den Friedensrichter an. »Übrigens, mein Herr« schloß er seine Rede, »Sie werden schon öfter gereist sein.« Diese kurze und weise Bemerkung brachte mich zur Besonnenheit, ist strich meinen verbrannten Finger an der noch ungeschornen Seite des Pudels, welches mir sehr wohl tat, und ging fort.

Nach Hause zurückgekommen, erzählte ich der Wirtin, ich hätte sie verklagen wollen, aber die Behörden wären alle abwesend, und so blieb mir nichts übrig, als sie noch einmal zu fragen, ob sie sich denn gar nicht schäme, ich hätte ja ganz schlecht zu Nacht gegessen? Die Tochter der Wirtin erwiderte darauf: ich hätte sehr gut zu Nacht gegessen, ich hätte ein Suprême de Volaille gehabt. Dieses Suprême de Volaille war nichts als ein Dreieck von dem Leibe eines Huhns, in dessen einem Winkel eine kalte Krebsschere stak, welche irgendein Passagier vielleicht schon vor der Revolution ausgehöhlt hatte. Ich glaube, die Suprematie dieses Gerichts bestand bloß in dieser hohlen Krebsschere; denn das übrige war etwas ganz Gewöhnliches.Ich ward heftig und antwortete der Tochter: Que me parlez-vous d'un Suprême de Volaille? Vous êtes un Suprême de Canaille!Kaum hatte ich das Zornwort ausgesprochen, als ich es bereute. Erstens aus Höflichkeit, und zweitens aus Furcht; denn der Koch war mit seinem langen Messer hinzugetreten, und ich dachte, er würde mich auf der Stelle schlachten. Aber zu meinem Erstaunen achteten Wirtin, Tochter und Koch gar nicht auf mein Schimpfen, sie verzogen keine Miene, und es war, als hätten sie es gar nicht gehört. Ich kann mir diese Unempfindlichkeit nicht anders erklären, als daß ich zu feines Französisch gesprochen, welches die Kleinstädter nicht verstanden.

Ich bezahlte meine Rechnung; um mich aber an den Leuten zu rächen und sie zu ärgern, ließ ich meine Sachen in das gerade gegenüber liegende Wirtshaus bringen. Hier aß ich zu Mittag und ließ mir dann ein Zimmer geben, wo ich Ihnen schreibe und auf die Ankunft der Diligence warte.

Morgen oder übermorgen schreibe ich von Paris. Sollten Sie aber morgen wieder einen Brief mit dem Postzeichen Dormans erhalten, dann öffnen Sie ihn nur gleich mit weinenden Augen; denn Sie können voraus wissen, daß ich Ihnen meinen Tod melde.

Fünfter Brief

Paris, den 17. September 1830

Seit gestern bin ich hier, und alles ist vergessen. Ob ich gesund und froh, wie Sie es wünschen, in Paris angekommen oder durch mein Ankommen erst geworden bin, wüßte ich kaum zu bestimmen; doch glaube ich eher das letztere. Ich habe wunderliche Nerven. Wenn sie kein Lüftchen berührt, sind sie am unruhigsten und zittern wehklagende Töne gleich Elvirens Harfe in der »Schuld«. Diese Kränkelei macht mich so wütend, daß ich meine eignen Nerven zerreißen möchte. Sooft sie aber ein grober Sturmwind schlägt, bleiben sie philosophisch gelassen, und verlieren sie ja die Geduld, brummen sie doch männlich wie die Saiten einer Baßgeige. Ich kann es Ihnen nicht genug sagen, wie mir so behaglich worden gleich von der ersten Stunde an. Das moralische Klima von Paris tat mir immer wohl, ich atme freier, und meine deutsche Engbrüstigkeit verließ mich schon in Bondy. Rasch zog ich alle meine Bedenklichkeiten aus und stürzte mich jubelnd in das frische Wellengewühl. Ich möchte wissen, ob es andern Deutschen auch so begegnet wie mir, ob ihnen, wenn sie nach Paris kommen, wie Knaben zumute ist, wenn an schönen Sommerabenden die Schule geendigt und sie springen und spielen dürfen! Mir ist es gerade, als müßte ich unserm alten Konrektor einen Esel bohren.

– Ich wohne hinter dem Palais Royal. Die Zimmer sind gut, aber die enge Straße mit ihren hohen Häusern ist unfreundlich. Kein Sonnenblick den ganzen Tag. Und doch ist es mir manchmal noch zu hell; denn ich habe merkwürdige Gegenüber. Erstens sehe ich in die Küche eines Restaurateurs. Schon früh morgens fangen die ungewaschenen Köche zu tüchten und zu trachten an, und wenn man so mit ansieht, wie die Grazie, die allen französischen Schüsseln eigen ist, zustande kömmt, kann man die Eßlust auf eine ganze Woche verlieren. Dann sehe ich in das Zimmer einer Demoiselle; in eine Schneiderswohnung; in einen Roulettesaal und in eine lange Galerie von Cabinets inodores. Wie schön, freundlich und glänzend ist alles nach der Gartenseite des Palais Royal: nach hinten aber, wie betrübt und schmutzig alles! Ich werde mich eilen, aus diesen Kulissen zu kommen, und mich nach einer andern Wohnung umsehen.

Sie können es sich denken, daß ich nicht lange zu Hause geblieben, sondern gleich forteilte, die alten Spielplätze meiner Phantasie aufzusuchen und die neuen Schlachtfelder, die ihr Wort gehalten. Aber ich fand es anders, als ich erwartete. Ich dachte, in Paris müsse es aussehen wie am Strande des Meeres nach einem Sturm, alles von Trümmern bedeckt sein, und das Volk müsse noch tosen und schäumen. Doch war die gewohnte Ordnung überall und von der Verheerung nichts mehr zu sehen. Auf einigen Strecken der Boulevards fehlen die Bäume, und in wenigen Straßen wird noch am Pflaster gearbeitet. Ich hätte die Stiefeln ausziehen mögen; wahrlich, nur barfuß sollte man dieses heilige Pflaster betreten. Die vielen dreifarbigen Fahnen, die man aufgesteckt sieht, erschienen mir nicht als Zeichen des fortdauernden Krieges, sondern als Friedenspaniere. Die Fahne in der stolzen Hand Ludwigs XIV. auf dem Place des Victoires machte mich laut auflachen. Wir haben die Reiterstatue vor acht Jahren zusammen aufrichten sehen. Wer hätte das damals gedacht? Träume von Eisen und Marmor – – und doch nur Träume! – Noch schwebt jener Tag mir vor, noch höre ich den Polizeijubel, höre alle die Lieder mit ihren Melodien, welche bezahlte Bänkelsänger auf dem Platze sangen.Das eine Lied fing an: Vive le roi, le roi, le roi, que chante le monde à la ronde – jetzt müßte es heißen statt que chante, que chasse le monde à la ronde.Wenn er nur nicht so alt wäre! das verbittert mir sehr meine Freude. Gott segne dieses herrliche Volk und fülle ihm die goldnen Becher bis zum Rande mit dem süßesten Weine voll, bis es überströmt, bis es hinabfließt auf das Tischtuch, wo wir Fliegen herumkriechen und naschen. Summ, summ – wie dumm!

Alte deutsche Bekannte suchte ich gleich gestern auf. Ich dachte, durch sie mehr zu erfahren, als was ich schon gedruckt gelesen, aber nicht einer von ihnen war auf dem Kampfplatze, nicht einer hat mitgefochten. Es sind eben Landsleute! Engländer, Niederländer, Spanier, Portugiesen, Italiener, Polen, Griechen, Amerikaner, ja Neger haben für die Freiheit der Franzosen, die ja die Freiheit aller Völker ist, gekämpft, und nur die Deutschen nicht. Und es sind deren viele Tausende in Paris, teils mit tüchtigen Fäusten, teils mit tüchtigen Köpfen. Ich verzeihe es den Handwerksburschen; denn diese haben es nicht schlimm in unserm Vaterlande. In ihrer Jugend dürfen sie auf der Landstraße betteln, und im Alter machen sie die Zunfttyrannen. Sie haben nichts zu gewinnen bei Freiheit und Gleichheit. Aber die Gelehrten! Diese armen Teufel, die in Scharen nach Paris wandern und von dort mit dem »Morgenblatte«, mit dem »Abendblatte«, mit dem »Gesellschafter«, mit der »Allgemeinen Zeitung« korrespondieren; die das ganze Jahr von dem reichen Stoffe leben, den ihnen nur ein freies Volk verschaffen kann; die im dürren Vaterlande verhungern würden – diese wenigstens, und wäre es auch nur aus Dankbarkeit gegen ihre Ernährer, hätten doch am Kampfe teilnehmen sollen. Aber hinter einem dicken Fensterpfosten, im Schlafrocke, die Feder in der Hand, das Schlachtfeld begucken, die Verwundeten, die Gefallenen zählen und gleich zu Papier bringen; zu bewundern statt zu bluten, und die Leiden eines Volks sich von einem Buchhändler bogenweise bezahlen zu lassen – nein, das ist zu schmachvoll, zu schmachvoll!

– Die Pracht und Herrlichkeit der neuen Galerie d'Orléans im Palais Royal kann ich Ihnen nicht beschreiben. Ich sah sie gestern abend zum ersten Male in sonnenheller Gasbeleuchtung und war überrascht wie selten von etwas. Sie ist breit und von einem Glashimmel bedeckt. Die Glasgassen, die wir in früheren Jahren gesehen, so sehr sie uns damals gefielen, sind düstere Keller oder schlechte Dachkammern dagegen. Es ist ein großer Zaubersaal, ganz dieses Volks von Zauberern würdig. Ich wollte, die Franzosen zögen alle Weiberröcke an, ich würde ihnen dann die schönsten Liebeserklärungen machen. Aber ist es nicht töricht, daß ich mich schäme, diesem und jenem die Hand zu küssen, wozu mich mein Herz treibt – die Hand, die unsere Ketten zerbrochen, die uns frei gemacht, die uns Knechte zu Rittern geschlagen?

Sechster Brief

Paris, den 18. September

– Ich komme aus dem Lesekabinett. Aber nein, nein, der Kopf ist mir ganz verwirrt von allen den Sachen, die ich aus Deutschland gelesen! Unruhen in Hamburg; in Braunschweig das Schloß angezündet und den Fürsten verjagt; Empörung in Dresden! Seien Sie barmherzig, berichten Sie mir alles auf das genauste. Und wenn Sie nichts Besonderes erfahren, schreiben Sie mir wenigstens die deutschen Zeitungen ab, die ich hier noch nicht habe auffinden können. Den französischen Blättern kann ich in solchen Dingen nicht trauen; nicht der zehnte Teil von dem, was sie erzählen, mag wahr sein. Was aber deutsche Blätter über innere Angelegenheiten mitteilen dürfen, das ist immer nur der zehnte Teil der Wahrheit. Hätte ich mich also doch geirrt, wie mir schon manche vorgeworfen? Wäre Deutschland reifer, als ich gedacht? Hätte ich dem Volke unrecht getan? Hätten sie unter Schlafmützen und Schlafrock heimlich Helm und Harnisch getragen? O, wie gern, wie gern! Scheltet mich wie einen Schulbuben, gebt mir die Rute, stellt mich hinter den Ofen – gern will ich die schlimmste Züchtigung ertragen, wenn ich nur unrecht gehabt. Wenn sie sich nur erst die Augen gerieben, wenn sie nur erst recht zur Besinnung gekommen, werden sie sich erstaunt betasten, werden im Zimmer umherblicken, das Fenster öffnen und nach dem Himmel sehen und fragen: welcher Wochentag, welcher Monatstag ist denn heute, wie lange haben wir geschlafen? Unglückselige! nur der Mutige wacht. Wie hat man es nur so lange ertragen? Es ist eine Frage, die mir der Schwindel gibt. Einer erträgt es, noch einer, noch einer – aber wie ertragen es Millionen? Der Spott zu sein aller erwachsenen Völker! wie der kleine dumme Hans, der noch kein Jahr Hosen trägt, zu zittern vor dem Stöckchen jedes alten, schwachen, gräulichen Schulmeisters! ...

Aber wehe ihnen, daß wir erröten! Das Erröten der Völker ist nicht wie Rosenschein eines verschämten Mädchens; es ist Nordlicht voll Zorn und Gefahren.

Sonntag, den 19. September

Mitternacht ist vorüber; aber ein Glas Gefrorenes, das ich erst vor wenigen Minuten bei Tortoni gegessen, hat micht so aufgefrischt, daß ich gar keine Neigung zum Schlafe habe. Es war himmlisch! Das Glas ganz hoch angefüllt, sah wie ein langes weißes Gespenst aus. Nun bitte ich Sie – haben Sie je gehört oder gelesen, daß jemand ein Glas Gefrorenes mit einem Gespenste verglichen hätte? Solche Einfälle kann man aber auch nur in der Geisterstunde haben. Den Abend brachte ich bei *** zu. Es sind sehr liebenswürdige Leute und die es verstehen, wenn nur immer möglich, auch ihre Gäste liebenswürdig zu machen. Das ist das Seltenste und Schwerste. Es war da ein Gemisch von Deutschen und Franzosen, wie es mir behagt. Da wird doch ein gehöriger Salat daraus. Die Franzosen allein sind Öl, die Deutschen allein Essig und sind für sich gar nicht zu gebrauchen, außer in Krankheiten. Bei dieser Gelegenheit will ich Ihnen die höchst wichtige und einflußreiche Beobachtung mitteilen, daß man in Frankreich dreimal soviel Öl und nur ein Dritteil soviel Essig zum Salate verwendet wie in Deutschland. Diese Verschiedenheit geht durch die Geschichte, Politik, Religion, Geselligkeit, Kunst, Wissenschaft, den Handel und das Fabrikwesen beider Völker, welches vor mir die berühmtesten deutschen Historiker, die sich doch immerfort rühmen, aus der Quelle zu schöpfen, leichtsinnig übersehen haben. Sie sollen sich aber den Kopf darüber nicht zerbrechen. Es ist gerade nicht nötig, daß Sie alles verstehen, was ich sage, ich selbst verstehe es nicht immer. Wie herrlich wäre es, wenn beide Länder in allem so verschmolzen wären, als es beide Völker heute abend bei *** waren. In wenigen Jahren wird es ein Jahrtausend, daß Frankreich und Deutschland, die früher nur ein Reich bildeten, getrennt wurden. Dieser dumme Streich wurde, gleich allen dummen Streichen in der Politik, auf einem Kongresse beschlossen, zu Verdun im Jahre 843. Aus jener Zeit stammen auch die köstlichen eingemachten Früchte und Dragées, wegen welcher Verdun noch heute berühmt ist. Einer der Kongreßgesandten hatte sie erfunden und war dafür von seinem genädigen Herrn in den Grafenstand erhoben worden. Ich hoffe, im Jahre 1843 endigt das tausendjährige Reich des Antichrists, nach dessen Vollendung die Herrschaft Gottes und der Vernunft wieder eintreten wird. Wir haben nämlich den Plan gemacht, Frankreich und Deutschland wieder zu einem großen fränkischen Reiche zu vereinigen. Zwar soll jedes Land seinen eigenen König behalten, aber beide Länder eine gemeinschaftliche Nationalversammlung haben. Der französische König soll wie früher in Paris thronen, der deutsche in unsrem Frankfurt und die Nationalversammlung jedes Jahr abwechselnd in Paris oder in Frankfurt gehalten werden. Wenn Sie Ihre Nichte O*** besuchen, benutzen Sie doch die Gelegenheit, mit dem Koche des Präsidenten der Bundesversammlung von unsrem Plane zu sprechen. Der muß ja die Gesinnungen und Ansichten seines Herrn am besten kennen.

– Die lieben Tuilerien habe ich heute wiedergesehen. Sie hießen mich willkommen, sie lächelten mir zu, und alles dort war wie zu meinem Empfange glänzend und festlich eingerichtet. Ich fühlte mich ein Fürst in der Mitte des fürstlichen Volkes, das unter dem blauen Baldachin des Himmels von seiner Krönung zurückkehrte. Es ist etwas Königliches in diesen breiten, vom Goldstaube der Sonne bedeckten Wegen, die an Palästen vorüber, von Palast zu Palast führen. Mich erfreute die unzählbare Menschenmenge. Da fühlte ich mich nicht mehr einsam; ich war klug unter tausend Klugen, ein Narr unter tausend Narren, der Betrogene unter tausend Betrogenen. Da sieht man nicht bloß Kinder, Mädchen, Jünglinge, Greise, Frauen; man sieht die Kindheit, die Jugend, das Alter, das weibliche Geschlecht. Nichts ist allein, geschieden. Selbst die mannigfachen Farben der Kleider erscheinen, aus der Ferne betrachtet, nicht mehr bunt; die Farbengeschlechter treten zusammen; man sieht weiß, blau, grün, rot, gelb, in langen breiten Streifen. Wegen dieser Fülle und Vollständigkeit liebe ich die großen Städte so sehr. Seine angeborne Neigung und Richtung kann keiner ändern, und um zufrieden zu leben, muß darum jeder, was ihm lieb ist, auf seinem Wege suchen. Aber das kann man nicht überall. Zwar findet man auch in der kleinsten Stadt jedes Landes Menschen von jeder Art, unter welchen man wählen kann; aber was nützt uns das? Es sind doch nur Muster, die zu keinem Kleide hinreichen. Nur in London und Paris ist ein Warenlager von Menschen, wo man sich versehen kann, nach Neigung und Vermögen.

Still, heiter, freundlich und bescheiden wie ein verliebtes glückliches Mädchen lustwandelte das Pariser Volk umher. Als ich dieses sah und bedachte: noch sind zwei Monate nicht vorüber, daß es einen tausendjährigen König niedergeworfen und in ihm Millionen seiner Feinde besiegt – wollte ich meinen Augen oder meiner Erinnerung nicht trauen. Es ist der Traum von einem Wunder! Schnell haben sie gesiegt, schneller haben sie verziehen. Wie mild hat das Volk die erlittenen Kränkungen erwidert, wie bald ganz vergessen! Nur im offenen Kampfe, auf dem Schlachtfelde hat es seine Gegner verwundet. Wehrlose Gefangene wurden nicht ermordet, Geflüchtete nicht verfolgt, Versteckte nicht aufgesucht, Verdächtige nicht beunruhigt. So handelt ein Volk! Fürsten aber sind unversöhnlich, und unauslöschlich ist der Durst ihrer Rache. Hätte Karl gesiegt, wie er besiegt worden, wäre das fröhliche Paris heute eine Stätte des Jammers und der Tränen. Jeder Tag brächte neue Schrecken, jede Nacht neues Verderben. Wir sehen ja, was in Spanien, Portugal, Neapel, Piemont und in andern Ländern geschieht, wo die Gewalt über die Freiheit siegte. Seit Jahren ist der Sieg entschieden, und das Werk der Rache und die Verfolgung geht fort wie am Tage der Schlacht! Und es war ein Sieg, den man nur dem Meineide verdankte! Tausende schmachten noch im Kerker, Tausende leben noch in trauriger Verbannung, das Schwert des Henkers ist immer gezückt, und wo es schont, wo es zaudert, geschieht es nur, um länger zu drohen, um länger zu ängstigen. So entartet, so herabgewürdigt hat sich die Macht gezeigt, daß sie oft mit Grausamkeiten prahlte, die sie gar nicht begangen; sich der Gerechtigkeit schämend, manche ihrer Gefangenen nur heimlich schonte und es als Verleumdung bestrafte, wenn man sie mild gepriesen! Mich empört die niederträchtige Unverschämtheit der Fürstenschmeichler, welche die Völker als Tiger, die Fürsten als Lämmer darstellen. Wenn jeder Machthaber, sobald er zum Besitze der Macht gelangt, gleich seine Leidenschaft zur Regel erhebt, grausame Strafen für jeden Widerspruch vorausbestimmt und diese Regel, diese Anwendung sich herabrollt durch Jahrhunderte – nennen sie das Gesetzlichkeit. Das Volk hat seine Leidenschaft nie zum Gesetz erhoben, die Gegenwart erbte nie die Missetaten der Vergangenheit, sie vermehrt der Zukunft zu überlassen. Wenn dumme, feige oder bestochene Richter aus altem Herkommen und verblichenen Gesetzen nachweisen können, daß sie in gleichen Fällen immer gleich ungerecht gewesen – nennen sie das Gerechtigkeit. Wenn der schuldlos Verurteilte, durch Reihen schön geputzter Soldaten, durch die Mitte des angstzitternden Volkes, das nicht zu weinen, nicht zu atmen wagt, ohne Laut und Störung zum Blutgerüste geführt wird – nennen sie das Ordnung; und schnellen Tod in langsame Qual des Kerkers verwandeln – das nennen sie Milde.

–Ich eilte die Terrasse hinauf, von wo man in die Elysäischen Felder herabsieht. Dort setzte ich mich auf einen Traumstuhl, und meine Gedankenmühle, die wegen Frost oder Dürre so lange stillgestanden, fing gleich lustig zu klappern an. Welch ein Platz ist das! Es ist eine Landstraße der Zeit, ein Markt der Geschichte, wo die Wege der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich durchkreuzen. Da unten steht jetzt ein Marmorpiedestal, auf welches man die Bildsäule, ich glaube Ludwigs XVI., hat stellen wollen. Die dreifarbige Fahne weht darüber. Es ist noch nicht lange, daß Karl X. mit großer Feierlichkeit den Grundstein dazu gelegt. Die Könige sollten sich doch nicht lächerlich machen und noch ferner den Grundstein zu einem Gebäude legen. Sie täten besser, den letzten Ziegel auf dem Dache anzunageln; die Vergangenheit raubt ihnen keiner. Wahrlich, die Zeit wird kommen, wo die fürstlichen Köche, wenn sie morgens vor ihren Töpfen stehen, einander fragen werden: wem decken wir das wohl mittags? und in ihrer philosophischen Zerstreuung manche Schüssel verfehlen werden ... Was kam mir da oben nicht alles in den Sinn! Sogar fiel mir ein, woran ich seit zwanzig Jahren nicht gedacht: daß ich vor zwanzig Jahren in Wien gewesen. Es war ein schöner Tag wie heute, nur ein schönerer, denn es war am ersten Mai. Ich war im Augarten, welcher schöner ist als die Tuilerien. Die Volksmenge dort war groß und festlich ausgebreitet wie die hier. Doch heute bin ich alt, und damals war ich jung. Meine Phantasie lief umher wie ein junger Pudel, und sie war noch gar nicht dressiert; sie hatte noch nie etwas dem »Morgenblatte« oder sonst einem Zeitblatte apportiert. Sie diente nur sich selbst, und was sie holte, holte sie nur, es als Spielzeug zu gebrauchen, und ließ es wieder fallen. Und da fragte ich mich heute in den Tuilerien: damals, im Frühlinge des Lebens und der Natur, was dachtest du mit deinem frischen Geiste, was fühltest du mit deinem jungen Herzen? Ich besann mich ... auf nichts. Mir fiel nur ein, daß der Erzherzog Karl und noch andere kaiserliche Prinzen öffentlich im Gartensaale gefrühstückt und daß sie unter andern Schokolade getrunken und gleich darauf Spargel mit Buttersauce gegessen, worüber ich mich zu seiner Zeit sehr gewundert. Ferner: daß ich selbst gefrühstückt, und zwar ganz köstliche Bratwürstchen, nicht länger und dicker als ein Finger, die ich seitdem in keinem Lande mehr gefunden ... Schokolade, Spargel, Bratwürste – das waren alle meine Jugenderinnerungen aus Wien! Es ist ein Wunder!

Und erst heute in den Tuilerien lernte ich verstehen, daß man auch die Freiheit der Gedanken fesseln könne, wovon ich oft gehört, es aber nie habe fassen können.

Als nun die Frau kam und für ihren Stuhl zwei Sous einforderte, sah ich sie verwundert an und gab ihr zehn. Für diesen Stuhl, diese Stunde, diese Aussicht, diese Erinnerung hätte ich ein Goldstück bezahlt. Das macht Paris so herrlich, daß zwar vieles teuer ist, das Schönste und Beste aber wenig oder gar nichts kostet. Für zwei Sous habe ich meinem Zorn einen Schmaus gegeben, habe hundert Könige und ein großes Reich verspottet und Taschen voll der schönsten Hoffnungen mit nach Hause gebracht.

– Es ist drei Uhr, und die Rasenden im Roulettezimmer gegenüber stehen noch in dicken Kreisen um den Tisch. Das Fenster nach der Straße ist durch ein Drahtgitter verwahrt. Die Unglücklichen dahinter sehen wie wilde Tiere aus. Ich hoffe, es ist keiner darunter, der im Juli mitgefochten. Gute Nacht.

Siebenter Brief

Paris, Dienstag, den 21. September 1830

Schreiben, Schriftstellern, Gedanken bauen – wie wäre mir das möglich hier? Der Boden wankt unter meinen Füßen, es schwindelt um mich her, mein Herz ist seekrank. Manchmal kömmt es mir selbst spaßhaft vor, daß ich die Sorgen eines Königs habe und so angstvoll warte auf die Entscheidung der Schlacht, als hätte ich dabei eine Krone zu gewinnen oder zu verlieren. Ach, wäre ich doch nur König einen kurzen Monat! Wahrlich, ich wollte keine Sorgen haben, aber geben wollte ich sie.

Die tägliche, ja allstündliche Bemühung der stärksten Denkreize macht die Menschen hier endlich stumpf und gedankenlos. Wenn es nicht so wäre, man ertrüge nicht Paris sein ganzes Leben durch. Die Erfahrung, die anfänglich bedächtig macht, macht später leichtsinnig, und so erkläre und entschuldige ich den Leichtsinn dieses Volkes. Wir Deutschen, die wir am längsten unter einem sanften wolkenfreien Traumhimmel leben, sind rheumatisch, sobald wir wachen; wir spüren jede Erfahrung, und jeder Wechsel der Empfindung macht uns krank.

Diesen Mittag stand ich eine halbe Stunde lang vor dem Eingange des Museums und ergötzte mich an der unvergleichlichen Beredsamkeit, Geistesgegenwart und Keckheit eines Marktschreiers, der ein Mittel gegen Taubheit feilbot und mehrere aus der umstehenden Menge in Zeit von wenigen Minuten von dieser Krankheit heilte. Als ich unter dem herzlichsten Lachen fortging, dachte ich: mit diesem Spaß ernähre ich mich den ganzen Tag. Und er dauerte keine drei Minuten lang, keine dreißig Schritte weit!

Im Hofe des Louvres begegnete ich einem feierlichen Trauerzuge, dessen Spitze dort stillhielt, um sich zu ordnen. Voraus ein Trupp Nationalgarden, welche dumpfe Trommeln schlugen, und dann ein unabsehbares Gefolge von stillen, ernsten, bescheidenen, meistens jungen Bürgern, die paarweise gingen und in ihren Reihen viele Fahnen und Standarten trugen, welche mit schwarzen Flören behängt und deren Inschriften von Immortellen oder Lorbeeren bekränzt waren. Ich sah, fragte, und als ich die Bedeutung erfuhr, fing mein Blut, das kurz vorher noch so friedlich durch die Adern floß, heftig zu stürmen an, und ich verwünschte mein Geschick, das mich verurteilte, jeden Schmerz verdampfen zu lassen wie eine heiße Suppe und ihn dann löffelweise hinunterzuschlucken. Wie glücklich ist der Kämpfer in der Schlacht, der seinen Schmerz, seinen Zorn kann ausbluten lassen und der keine andere Schwäche fühlt, als die dem Gebrauche der Kraft nachfolgt!

Es war eine Todesfeier für jene vier Unteroffiziere, welche in der Verschwörung von Berton der Gewalt in die Hände gefallen und als wehrlose Gefangene ermordet wurden. Heute vor acht Jahren wurden sie auf dem Grève-Platz niedergemetzelt, und weil es ein Mord mit Floskeln war, nannte man es eine Hinrichtung. Abends war Konzert bei Hofe. Es ist zum Rasendwerden! Acht Jahre sind es erst, und schon hat sich in Tugend umgewandelt, was damals für Verbrechen galt. Wenn man, wie es die Menschlichkeit und das Kriegsrecht will, auch die im Freiheitskampfe Besiegten in Gefangenschaft behielte, statt sie zu töten, dann lebten jene unglücklichen Jünglinge noch. Mit welchem Siegesjubel wäre ihr Kerker geöffnet worden, mit welchem Entzücken hätten sie das Licht, die Luft der Freiheit begrüßt! Könige sind schnell, weil sie wissen, daß es keine Ewigkeit gibt für sie, und Völker sind langsam, weil sie wissen, daß sie ewig dauern. Hier ist der Jammer. Wie damals, als ich die fluchwürdige Hinrichtung mit angesehen, so war auch heute mein Zorn weniger gegen den Übermut der Gewalt als gegen die niederträchtige Feigheit des Volkes gerichtet. Einige tausend Mann waren zum Schutze der Henkerei versammelt. Diese waren eingeschlossen, eingeengt von hunderttausend Bürgern, welchen allen Haß und Wut im Herzen kochte. Es war kein Leben, kaum eine Wunde dabei zu wagen. Hätten sie sich nur so viel bemüht, als sie es jeden Abend mit Fröhlichkeit tun, sich in die Schauspielhäuser zu drängen; hätten sie nur rechts und links mit den Ellenbogen gestoßen: die Tyrannei wäre erdrückt und ihr Schlachtopfer gerettet worden. Aber die abergläubische Furcht vor der Soldatenmacht! Warum taten sie nicht damals schon, was sie acht Jahre später getan? Es ist zum Verzweifeln, daß ein Volk sich erst berauschen muß in Haß, ehe es den Mut bekömmt, ihn zu befriedigen; daß es nicht eher sein Herz findet, bis es den Kopf verloren.

Mit solchen Gedanken ging ich neben dem Zuge her und begleitete ihn bis auf den Grève-Platz. Dort schlossen sie einen Kreis, und einer stellte sich auf eine Erhöhung und schickte sich zu reden an. Ich aber ging fort. Was an diesem Orte und über solche jammervolle Geschichten zu sagen ist, war mir bekannt genug. Ich ging die neue Kettenbrücke hinan, die jetzt vom Grève-Platz hinüberführt, und setzte mich auf eine der Bänke dort, um auszuruhen. Ich sah den Strom hinab, maß die kurze Entfernung zwischen dem Louvre, wo Frankreichs Könige herrschten, und dem Revolutionsplatze, wo sie gerichtet wurden von ihrem Volke, und ich erstaunte, daß die Gerechtigkeit, wenn auch eine Schnecke, so lange Zeit gebrauchte, diesen kurzen Weg zurückzulegen. Zwischen der Bartholomäusnacht und der Eroberung der Bastille sind mehr als zwei Jahrhunderte verflossen. Heillos wuchert die Rache der Könige; aber die edle Rache der Völker hat niemals Zinsen begehrt! Man kann ungestört träumen auf dieser Brücke. Sie ist nur für Fußgänger, und sooft einer darüberging, zitterte die ganze Brücke unter mir, und mir zitterte das Herz in der Brust. Hier, hier an dieser Stelle, wo ich saß, fiel in den Julitagen ein edler Jüngling für die Freiheit. Noch ist kein Winter über sein Grab gegangen, noch hat kein Sturm die Asche seines Herzens abgekühlt. Die Königlichen hatten den Grève-Platz besetzt und schossen über den Fluß, die von jenseits andrängenden Studenten abzuhalten. Da trat ein Zögling der Polytechnischen Schule hervor und sprach: »Freunde, wir müssen die Brücke erstürmen. Folgt mir!

Wenn ich falle, gedenket meiner. Ich heiße d'Arcole;