Briefwechsel 1954-1978 und weitere Materialien - Hans Blumenberg - E-Book

Briefwechsel 1954-1978 und weitere Materialien E-Book

Hans Blumenberg

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Beschreibung

Auf die Frage, welchen Gegenwartsphilosophen er für den bedeutendsten halte, antwortete Hans Jonas mehr als einmal: Hans Blumenberg. Umgekehrt hatte Blumenberg vor wenigen seiner Kollegen mehr Respekt als vor Jonas. Ihr Briefwechsel, der sich über knapp 25 Jahre erstreckt, legt Zeugnis ab von dieser gegenseitigen Wertschätzung, aber auch von gelegentlichen Spannungen, und erlaubt Einblicke in biographische und werkgeschichtliche Hintergründe dieser beiden so wirkmächtigen Philosophen des 20. Jahrhunderts.

Der Briefwechsel beginnt 1954, nachdem sich die beiden Männer auf einem Kongress in Brüssel kennengelernt hatten, und endet 1978 mit der Erinnerung an dieses erste, so eindrucksvolle Treffen, das mit der Hoffnung einherging, der 1933 aus Deutschland vertriebene Jonas könne wieder nach Europa zurückkehren. Blumenbergs wiederholtes – und letztlich erfolgloses – Bemühen, Jonas erneut »in den Stromkreis des deutschen Geisteslebens« einzuschalten, durchzieht die Korrespondenz wie ein roter Faden. Dass der Briefwechsel 1978 abbricht, mag an Jonas’ spätem Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung liegen, das Blumenberg sehr kritisch sah. Dies belegen bislang unveröffentlichte Texte aus seinem Nachlass, die dieser Edition zusammen mit weiteren Materialien beigegeben sind.

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Seitenzahl: 422

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Titel

3Hans Blumenberg Hans Jonas

Briefwechsel 1954-1978

und weitere Materialien

Herausgegeben von Hannes Bajohr

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der Originalausgabe, 2022

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-77245-4

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

I

Editorische Vorbemerkung

II

Briefwechsel 1954-1978

III

Materialien

1 Hans Blumenberg: Eintausend Philosophen. Zum elften Weltkongreß für Philosophie in Brüssel (1953)

2 Hans Jonas: Vorwort (1954)

3 Hans Jonas: Brief an Walter Bröcker (1956)

4 Hans Blumenberg: Epochenschwelle und Rezeption (1958)

I

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II

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III

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IV

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5 Hans Blumenberg: Der Kunstmythos vom abenteuernden Gott und seine Exemplarität für den abenteuernden Menschen (1976)

6 Hans Blumenberg: Moralische Entropie und Resignation als Gegenbewegung zum Fortschritt (1976)

7 Hans Blumenberg: Kann die Ethik Kants nicht futuristisch sein? (1976)

8 Hans Blumenberg: Zur eschatologischen Moral von Hans Jonas' »Verantwortung« (1980)

9 Hans Blumenberg: Das Vorrecht des Unheilspropheten (Hans Jonas) (1981)

10 Hans Blumenberg: Hans Jonas (ca. 1981)

11 Hans Blumenberg: Hans Jonas

II

(ca. 1981)

12 Hans Blumenberg: Rette, was wer kann! (1985)

13 Hans Blumenberg: [Vergeßlichkeit] (ca. 1987)

14 Hans Blumenberg: Zukunft bleibt Zukunft – in allem Ernst (o. ‌D.)

15 Hans Blumenberg: Das jeweils Vergessene (o. ‌D.)

16 Hans Blumenberg: Die Grenzen von Hans Jonas' Verantwortungsprinzip: Das Recht der Gegenwärtigen (o. ‌D.)

17 Hans Blumenberg: Hans Jonas, Prognostiker der wiedergefundenen Gnosis (o. ‌D.)

18 Hans Blumenberg: [Philosophie ist nicht ein Fach der triumphalen Augenblicke] (nach 1993)

IV

Nachwort

Hannes Bajohr

Damals noch

Die Korrespondenz zwischen Hans Blumenberg und Hans Jonas

»Menschen Ihres und meines persönlichen und familiären Schicksals«

Vom Organismus zur Anthropologie

Selbstbehauptung oder Selbstbeschränkung?

Briefverzeichnis

Verzeichnis der Materialien

Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen

Bildnachweise

Namenregister

Fußnoten

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7IEditorische Vorbemerkung

9Die hier zum ersten Mal veröffentlichte Korrespondenz zwischen Hans Blumenberg und Hans Jonas befindet sich an zwei Archivstandorten: im Nachlaß Hans Blumenbergs, der im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt wird, und im Hans-Jonas-Archiv, das Teil des philosophischen Archivs der Universität Konstanz ist. Die im Materialienteil versammelten Texte stammen, so sie keine Wiederveröffentlichungen sind, ebenfalls aus den beiden Archiven. Der Briefwechsel ist, soweit das rekonstruiert werden konnte, vollständig; lediglich zwei Schreiben Jonas' an Blumenberg vom 11. und 20. November 1962 sowie eines von Blumenberg an Jonas vom 18. Juni 1964 sind nicht erhalten. Da sie aber wahrscheinlich nur Terminabsprachen betrafen, kann der substantielle Teil ihrer Korrespondenz als überliefert betrachtet werden.

Daß die Arbeitsweisen der beiden Philosophen beträchtlich voneinander abwichen, spiegelt sich im Briefbestand wider: Während Blumenberg seine Schreiben diktierte und die Durchschläge seiner Korrespondenz sorgfältig und nahezu vollständig aufbewahrte, entwarf Jonas, oft auf Reisen, seine Briefe per Hand und behielt häufig keine Kopien bei sich. In zwei Fällen wurden in Ermangelung der Originale daher diese Entwürfe abgedruckt. Wo zwei Versionen desselben Briefes vorlagen, sind sie in der Überlieferungsbeschreibung erwähnt. Zusätzlich zur Kernkorrespondenz aufgenommen wurden eine von Paul Lorenzen und Jonas gemeinsam an Blumenberg verfaßte Postkarte sowie die aus sechs Briefen bestehende Korrespondenz zwischen Blumenberg und Lore Jonas. Alle Schriftstücke lassen sich eindeutig datieren. Einzig eine Weihnachtskarte, die das Ehepaar Jonas an Blumenberg sandte, ist undatiert und 10wurde aus der chronologischen Anordnung gelöst; sie schließt nun den vorliegenden Briefwechsel ab.

Alle Briefe sind vollständig und ohne Kürzungen abgedruckt. Editorisches Vorbild dieser Ausgabe ist der Briefwechsel zwischen Hans Blumenberg und Jacob Taubes, den Herbert Kopp-Oberstebrink und Martin Treml besorgt haben.[1]  Die Wiedergabe der Schreiben erfolgte wie dort diplomatisch getreu, Eigenheiten wurden beibehalten, Unterstreichungen und Sperrungen im Brieftext aber als Kursivierungen umgesetzt, gerade Anführungszeichen durch Guillemets wiedergegeben und Umlaute vereinheitlicht. Auch Abkürzungen wurden im Text belassen, nur im Materialteil sind sie ihrer Häufung wegen vom Herausgeber aufgelöst worden. Offensichtliche Fehler wurden dort ebenfalls korrigiert.

Der Kommentar hat die Aufgabe, einerseits den zum Verständnis der Briefe notwendigen zeit- und philosophiehistorischen Hintergrund zu liefern, andererseits den eher mikrologischen Diskussionskontext aus umliegenden Korrespondenzen und Dokumenten bereitzustellen, die das unmittelbare Umfeld Jonas' und Blumenbergs betreffen. So sind etwa in den Kommentaren zur Korrespondenz um Jonas' Berufung nach Kiel Auszüge aus Briefen von und an Blumenbergs Vorgesetzte Ludwig Landgrebe und Walter Bröcker abgedruckt, wo sie erhellende und zum Verständnis dienliche Zusatzinformationen liefern. Was ausführliche Werkdeutungen und philosophische Interpretationen der Briefinhalte betrifft, sind die Kommentare dagegen zurückhaltend und beschränken sich auf Faktenvermittlung. Die Nachweise zur Biographie werden bei der ersten Erwähnung gegeben, in den Briefen nur angedeutete Literaturnachweise jeweils aufgelöst.

Die Edition dieses Briefwechsels erscheint zweimal: In der 11vorliegenden Form, als eigenständige Veröffentlichung und unter meiner Herausgeberschaft im Suhrkamp Verlag, und dann im Rahmen der kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas, nämlich in Band V/2: Panorama des deutsch-jüdisch-amerikanischen Geistes. Briefwechsel mit Hans Jonas, der unter der Herausgeberschaft von Dietrich Böhler und Bernadette Herrmann im Verlag Rombach Wissenschaft besorgt wird. Die Zusammenarbeit mit den beiden Jonas-Herausgebern betraf sowohl die Kollationierung der über zwei Archive verteilten Briefe als auch die Kommentierung; für den guten und produktiven Austausch sei ihnen hier herzlich gedankt. Ebenfalls möchte ich mich bei Bettina Blumenberg (München) für die Erlaubnis zur Veröffentlichung, bei Dorit Krusche (Marbach) und Brigitte Parakenings (Konstanz) für ihre Hilfe bei der Archivarbeit und insbesondere bei Rüdiger Zill (Potsdam) für seine freigiebige Unterstützung in Form von Gesprächen, Informationen und Abschriften bedanken. Seine Blumenberg-Biographie Der absolute Leser. Hans Blumenberg – Eine intellektuelle Biographie (Berlin 2020) war für die Kommentierung ebenso unverzichtbar wie Jürgen Nielsen-Sikoras Jonas-Biographie Hans Jonas. Für Freiheit und Verantwortung (Darmstadt 2017) sowie das von Michael Bongardt, Holger Burckhart, John-Stewart Gordon und Jürgen Nielsen-Sikora herausgegebene Hans-Jonas-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart 2021).

Basel und Berlin, im Winter 2021

Hannes Bajohr

13IIBriefwechsel 1954-1978

15[1]Blumenberg an JonasKiel, 19. ‌3. ‌1954

Hans Blumenberg

Kiel, den 19. März 1954

Neue Universität

Herrn

Prof. Dr. Hans Jonas

Carleton College

Ottawa/Ontario (Canada)

Sehr verehrter Herr Jonas,

längst hätte ich Ihnen einmal geschrieben, wenn ich 1. die mir von Ihnen anvertrauten Arbeiten sämtlich schon gelesen, und 2. die Photos aus dem in Brügge aufgenommenen Film endlich in Händen gehabt hätte. Der Umlauf Ihrer Arbeiten bei den hiesigen »Fachleuten« hat länger als erwartet gedauert; während des Semesters kommt man ja zu nichts. Die Photos, die aus dem Film herauskopiert werden müssen, hat der säumige Herr Schorr leider immer noch nicht machen lassen; ich werde ihn mahnen und sie Ihnen noch nachsenden.

Die erwarteten Veränderungen hier in Kiel sind noch nicht eingetreten; es ist auch zweifelhaft geworden, ob schon in absehbarer Zeit damit zu rechnen ist. Ich bin beinahe erleichtert, daß Ihnen der Konflikt bisher erspart geblieben ist.

Was Ihre mir mitgegebenen Arbeiten betrifft, so lasse ich Ihnen die, für die Sie Rückgabe erbaten, mit gleicher Post wieder zugehen. Ich glaube, daß der Aufsatz »Is God a Mathematician?« am deutlichsten den zentralen Punkt Ihrer Problemstellung zum Ausdruck bringt. Es wäre außerordentlich zu begrüßen, wenn der Aufsatz in deutscher Sprache hier erscheinen könnte. Falls Sie sich dazu entschließen könnten, würde ich einen Abdruck im STUDIUM GENERALE (Springer) empfehlen. Bitte, lassen Sie mich wissen, wie Sie zu dieser Möglichkeit stehen; ich würde dann bei der Redaktion erwirken, daß man an Sie direkt herantritt.

16Das STUDIUM GENERALE erscheint in Heften mit geschlossener Themenstellung. Beiträge zu bereits erschienenen Themengruppen werden aber auch nachträglich aufgenommen. Eine Reihe von Heften über die Berührungen der Mathematik mit anderen Disziplinen ist gerade erschienen, und ich würde es für sehr glücklich halten, wenn Ihr Aufsatz noch in Kontinuität zu diesem Thema innerhalb dieses laufenden Jahrganges erscheinen könnte.

Ein anderes Thema, das für den Jahrgang 1955 in Vorbereitung ist, soll die Bedeutung des SYSTEM-Begriffs im gesamten Bereich der Wissenschaften behandeln. Dieses Heft habe ich hinsichtlich der Mitarbeiter weitgehend betreut und werde auch selbst einen philosophischen Beitrag dazu liefern. Die Lektüre der Diskussion über »General System Theory« in »HUMAN BIOLOGY« hat mir nun den Gedanken erweckt, Sie um die Möglichkeit eines Beitrages über »System als Begriff innerhalb einer Philosophie des Organischen« anzusprechen. Selbstverständlich würde die Redaktion noch offiziell an Sie herantreten; doch habe ich bereits die ausgesprochen enthusiastische Zustimmung. Die Formulierung des Themas bleibt natürlich Ihnen überlassen.

Lieber Herr Jonas, ich hoffe, daß die Ansinnen, die ich an Sie gestellt habe, im Vergleich zu der Frage »Kiel« harmlos genug sind, um auf Ihre Einwilligung rechnen zu können. Lassen Sie mich, bitte, nicht allzu lange darauf warten.

Ich würde mich glücklich schätzen, wenn der in Brüssel begonnene Kontakt nicht ganz abreißen würde, und bleibe

mit herzlichen Wünschen und Grüßen

Ihr sehr erg. Hans Blumenberg

PS. Meiner gleichlaufenden Drucksachensendung ist beigefügt ein Separatum der Arbeit von Kurt Hübner »Leib und Erfahrung in Kants Opus Postumum«, von der ich Ihnen schon in Brüssel erzählt hatte.

17ÜBERLIEFERUNG O: Ts, hs am oberen Rand: »Antw. 10. ‌4. ‌54«; Hans-Jonas-Archiv. – TsD ohne hs Unterschrift; DLA Marbach, Nachlaß Hans Blumenberg.

die mir von Ihnen anvertrauten Arbeiten: Nicht zu rekonstruieren.

Photos aus dem in Brügge aufgenommenen Film: Hans Blumenberg und Hans Jonas begegneten sich zum ersten Mal auf dem XI. Internationalen Kongreß für Philosophie, der vom 20. bis 26. August 1953 in Brüssel stattfand. Blumenberg hielt dort den Vortrag »Technik und Wahrheit«, Jonas' Beitrag trug den Titel »Motility and Emotion. An Essay in Philosophical Biology«. (Blumenbergs Beitrag ist abgedruckt in: Actes du XIème Congrès International de Philosophie Bruxelles, 20-26 Août 1953, Bd. 2, Épistémologie, Amsterdam 1953, S. 113-120, wiederabgedruckt in: Schriften zur Technik, S. 42-50; Jonas' Beitrag ist abgedruckt in: Actes du XIème Congrès, Bd. 7, Psychologie philosophique, S. 117-122; in überarbeiteter Fassung als »Forth Essay. To Move and to Feel: On the Animal Soul« aufgenommen in: The Phenomenon of Life, S. 99-107; die deutsche Übersetzung »Bewegung und Gefühl. Über die Tierseele« findet sich in: Organismus und Freiheit, S. 151-163; KGA I/1, S. 189-204.)

Bei einer gemeinsamen Exkursion nach Brügge, bei der auch Blumenbergs Freund Karl-Eberhard Schorr (s. ‌u.) zugegen war, wurden Jonas' Memoiren zufolge Spitzen erworben (Erinnerungen, S. 263); die erwähnten Fotos, von denen Schorr wohl für Jonas Abzüge zu machen versprach, sind nicht überliefert. Blumenberg beschrieb seine Eindrücke des Kongresses in einem Beitrag für die Düsseldorfer Nachrichten, für die er als Autor des Feuilletons in den 1950er Jahren regelmäßig schrieb (siehe Materialien 1).

der säumige Herr Schorr: Karl-Eberhard Schorr (1919-1995) war ein deutscher Erziehungswissenschaftler, der 1947 bei Blumenbergs Doktorvater Ludwig Landgrebe an der Universität Kiel mit der Dissertation HegelsKonzeption der Kraft in seiner Philosophie des absoluten Geistes promoviert wurde. Ab 1974 bekleidete er die Professur für Sozialgeschichte der Erziehung (Bildungspolitik) an der Universität Hamburg; er wurde 1984 emeritiert. Zusammen mit Niklas Luhmann verfaßte er 1979 die Schrift Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Er zählte zu Blumenbergs engsten Freunden dieser Jahre. Als Kommilitonen bei Landgrebe planten sie 1948 für den Fall akademischen Mißerfolgs die Gründung einer gemeinsamen Firma. 1955 reisten die Ehepaare Blumenberg und Schorr gemeinsam nach Ägyp18ten – es war Blumenbergs einzige größere Auslandsreise (siehe Brief 5, Anm.).

Die erwarteten Veränderungen hier in Kiel: Der Lehrstuhl von Blumenbergs Doktorvater Ludwig Landgrebe wurde vakant, nachdem dieser einen Ruf nach Köln erhalten hatte. Für seine Nachfolge stand Jonas als Kandidat an erster Stelle. Nicht zuletzt, um mit Jonas diesbezüglich Tuchfühlung aufzunehmen, trat Blumenberg mit diesem in Brüssel in Kontakt. Der erwähnte »Konflikt«, den Jonas in Brief 6 erneut aufgreift, mag sich auf die Frage einer Position im Täterland Deutschland beziehen.

»Is God a Mathematician?«: Hans Jonas, »Is God a Mathematician?«, in: Measure 2:4 (1951), S. 404-426; wiederabgedruckt in: ders., The Phenomenon of Life, S. 64-92 (dt.: »Ist Gott Mathematiker? Vom Sinn des Stoffwechsels«, in: Organismus und Freiheit, S. 107-150; KGA I/1, S. 125-187). Blumenberg vermerkte diesen Text in seiner Leseliste für den 9. Oktober 1953 und gab ihm die Schulnote 2 (Leseliste 1942-1959; DLA Marbach, Nachlaß Hans Blumenberg).

einen Abdruck im STUDIUM GENERALE empfehlen: Zwischen 1951 und 1960 publizierte Blumenberg regelmäßig in der Zeitschrift Studium Generale, einer von Karl Jaspers angeregten Nachkriegsgründung, die im Julius Springer Verlag erschien. Im Untertitel als Zeitschrift für die Einheit der Wissenschaften im Zusammenhang ihrer Begriffsbildungen und Forschungsmethoden ausgewiesen, besaß sie eine interdisziplinäre Programmatik und veröffentlichte zwischen 1947 und 1971 Beiträge aller Fächer. Als Herausgeber betätigte sich Blumenberg nur einmal, für die erwähnte Ausgabe zum Systembegriff, deren Planung er am 3. Januar 1953 durch eine Anfrage bei Manfred Thiel, dem Schriftleiter von Studium Generale (siehe Brief 4, Anm.), einleitete. Da sie frühestens 1955 würde erscheinen können, ruhte die Planung, bis Blumenberg Thiel am 8. Dezember 1953 Jonas sowie Ludwig von Bertalanffy mit Verweis auf deren Aufsätze zur »General System Theory« in Human Biology als Beiträger vorschlug (s. ‌u.). Am 19. Dezember wurde Blumenberg von Thiel brieflich beauftragt, mit Jonas Kontakt aufzunehmen (DLA Marbach, Nachlaß Hans Blumenberg). Die System-Ausgabe verzögerte sich wiederholt und erschien schließlich als Heft 2 (1957); darin stand Jonas' Beitrag »Bemerkungen zum Systembegriff und seiner Anwendung auf Lebendiges« (S. 88-94, s. ‌u.) neben Blumenbergs Essay »Kosmos und System. Aus der Genesis der kopernikanischen Welt« (S. 61-80, eingegangen in: Hans Blumenberg, Die kopernikanische Wende, Frankfurt am Main 1965).

19»General System Theory« in »HUMAN BIOLOGY« … »System als Begriff einer Philosophie des Organischen«: Die von Blumenberg erwähnten Diskussionsbeiträge zur Allgemeinen Systemtheorie sind versammelt unter dem Obertitel General System Theory.A New Approach to Unity of Science, in: Human Biology 23:4 (1951). Von Hans Jonas stammt der vierte Beitrag: »Comment on General System Theory«, ebd., S. 328-335. In Studium Generale erschien auf Anregung Blumenbergs 1957 folgender Beitrag von Hans Jonas: »Bemerkungen zum Systembegriff und seiner Anwendung auf Lebendiges«, in: Studium Generale, 10:2 (1957), S. 88-94. Dieser Aufsatz bildete später die Grundlage des vierten Kapitels – »Harmonie, Gleichgewicht und Werden. Zum Systembegriff und seiner Anwendung auf Lebendiges« – von Jonas' philosophisch-biologischem Hauptwerk Organismus und Freiheit. Siehe dazu KGA I/1, S. 109-123, und den editorischen Hinweis ebd., S. 604f.

Hübner, »Leib und Erfahrung in Kants Opus Postumum«: Kurt Hübner (1921-2013) war ein deutscher Philosoph und Wissenschaftstheoretiker. Er wurde 1951 mit der Dissertation Das transzendentale Subjekt als Teil der Natur. Eine Untersuchung über das Opus postumum Kants in Kiel promoviert; 1955 habilitierte er sich mit der Schrift Der logische Positivismus und die Metaphysik an der Universität ebendort. Von 1960 bis 1971 war er ordentlicher Professor an der Technischen Universität Berlin; von 1971 bis zu seiner Emeritierung 1988 bekleidete er dieselbe Position an der Universität Kiel. Der erwähnte Aufsatz – erschienen in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 7:1 (1952), S. 204-219 – geht auf die Dissertation zurück und war für Jonas womöglich im Kontext seiner philosophischen Biologie von Interesse.

20[2]Jonas an BlumenbergOttawa, 8. ‌4. ‌1954

Privatadresse:

R. ‌R. 1, Billings Bridge

Ottawa, Ont.

8. ‌4. ‌1954

Lieber Herr Blumenberg!

Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief v. 19. ‌3., mit dem ich mich sehr freute. Auch ich würde es begrüßen, wenn der in Brüssel begonnene Kontakt bestehen bleibt. Seitdem wir uns verabschiedeten, hat sich mancherlei bei mir ereignet, wovon einiges Sie interessieren wird. Als unmittelbare Folge meiner Deutschlandreise, auf der ich meine Verleger in Göttingen besuchte, wird in diesem Jahr ein unveränderter Neudruck von »Gnosis u. spätantiker Geist« Bd. I erscheinen, zugleich mit Bd. II 1. Hälfte, der einen Band für sich bildet. Ich lese gerade die letzten Korrekturen. Daß dies nach so langer Zeit noch gewünscht wird, bereitet eine melancholische Genugtuung. – Anfang dieses Jahres erhielt ich eine Berufung als Ordinarius für Philosophie an die Graduate Faculty of Political & Social Science in New York (affiliiert mit der New School for Social Research, eine stark mitteleuropäisch zusammengesetzte, also unamerikanische Institution), mit Verantwortung für das ganze philosoph. Department. Ich habe mich nach längerem Zögern zur Annahme entschlossen und werde nächsten Januar dort anfangen. Übrigens war mein Vorgänger dort Karl Löwith, jetzt Heidelberg. Den bevorstehenden Sommer will ich ganz der Abfassung meiner Philosophie des Organischen widmen, und hoffe in dieser Gnadenfrist das engl. Buchmanuskript druckfertig machen zu können. In New York werde ich die ersten 2-3 Jahre zu so etwas schwerlich kommen.

Nun zu Ihren Anregungen. Ich will gerne »Is God a Mathema21tician?« auf deutsch im Studium Generale erscheinen lassen. Gewisse Teile davon waren ohnehin ursprünglich deutsch geschrieben und von mir mühevoll ins Englische übersetzt worden; andere direkt englisch geschriebene müßten, weniger mühevoll, noch einmal deutsch verfaßt werden. Ich würde mir übrigens, wenn die Raumverhältnisse des Studium Generale es zulassen, vorbehalten, gewisse bei der englischen Veröffentlichung aus Umfangsgründen mir aufgezwungene Kürzungen bei der deutschen Fassung wieder rückgängig zu machen und überhaupt den Aufsatz nicht als endgültige Gegebenheit, sondern frei zu behandeln.

Während dies eine Arbeit ist, die ich »zwischendurch« machen kann, stellt der andere, an sich mich mehr interessierende, Beitrag über den Systembegriff etwas schwierigere Zeitprobleme. Bis wann müßten Sie ihn für die betr. Nummer haben? Ich möchte mein möglichstes tun, ihn neben meinen andern Arbeiten während des Sommers oder Herbstes zu schreiben, denn er wäre für mich eine Gelegenheit, statt Wiederholung von schon Gesagtem Neues aus einem lange durchdachten Problemkreis vorzulegen. Sie können also die Redaktion veranlassen, mir näheres über Zeit, Umfang, andere Beiträge zu diesem Hefte etc., mitzuteilen.

Ihnen möchte ich herzlich danken für Ihr aktives Interesse. Sie sind eine der Kräfte am Werke, mich wieder zu einem deutschen Autor zu machen. Gerne würde ich auch von Ihrem Tun etwas hören. Grüßen Sie bitte Bröcker von mir u. erzählen Sie ihm, was Sie erzählenswert finden.

Ihnen selbst, in Eile, herzliche Grüße und Wünsche für schöne Osterferien

Ihr Hans Jonas

Dem Hübner-Separatum sehe ich mit großem Interesse entgegen – vielen Dank!

22ÜBERLIEFERUNG O: Hs, gedruckter Briefkopf »Carleton College, Ottawa 1 – Ontario«; DLA Marbach, Nachlaß Hans Blumenberg.

meine Verleger in Göttingen besuchte: Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, in deren Verlag 1930 Augustin und das paulinische Freiheitsproblem. Ein philosophischer Beitrag zur Genesis der christlich-abendländischen Freiheitsidee und 1934 Gnosis und spätantikerGeist. Erster Teil:Die mythologische Gnosis erschienen waren. Der Verlag hatte dem jüdischen Autor durch die Zeit des Nationalsozialismus die Treue gehalten: Schon gesetzte, aber noch nicht von Jonas korrigierte Teile des zweiten Bandes des Gnosis-Werkes wurden aufbewahrt, obwohl eine Knappheit an Typen herrschte, wie Jonas in seinen Erinnerungen berichtet, S. 231ff.

Neudruck von »Gnosis u. spätantiker Geist« … der einen Band für sich bildet: Hans Jonas konnte seine bereits fertiggestellte Habilitation Gnosis und spätantiker Geist nicht mehr in Deutschland einreichen, als er 1933 das Land verließ. Der erste Teil erschien dennoch 1934 in Göttingen. Das Buch, das auf der Grundlage von Heideggers Existenzialanalytik eine Interpretation christlich-gnostischer Strömungen als Ausdruck einer gemeinsamen »Daseinshaltung« entwickelte, machte auf Blumenberg, der es 1948 ausweislich seiner Leseliste las und mit einer 1 bewertete (siehe Brief 12, Anm.), einen großen Eindruck; besessen hatte er das Buch freilich schon früher (siehe Brief 4, Anm.). Er besprach 1958 die vier Jahre zuvor erschienene erweiterte Neuauflage in seiner Sammelrezension »Epochenschwelle und Rezeption« (siehe Brief 12 und Materialien 4).

Ordinarius für Philosophie an die Graduate Faculty of Political & Social Science in New York: Nachdem Jonas schon im Sommer 1951 als Visiting Professor an der New School for Social Research gelehrt hatte, wurde ihm im Januar 1954 ein Lehrstuhl für Philosophie an der Graduate Faculty of Political and Social Science an der New School angeboten, den er ab 1955 bis zu seiner Emeritierung 1976 innehatte.

ein Vorgänger dort Karl Löwith: Karl Löwith (1897-1993) war ein deutscher Philosoph. Er studierte in Freiburg bei Edmund Husserl und Martin Heidegger und lernte dort auch Jonas kennen. 1923 wurde er in München bei Moritz Geiger mit der Arbeit Auslegung von Nietzsches Selbst-Interpretation und von Nietzsches Interpretationen promoviert. 1925 folgte er Heidegger nach Marburg, wo er Hans-Georg Gadamer und Leo Strauss begegnete und sich 1928 bei Heidegger mit der Schrift Das Individuum in der Rolle des Mit23menschen habilitierte. Bis zu seiner Amtsenthebung durch die Nationalsozialisten 1935 lehrte er als Privatdozent in Marburg, wurde 1936 an die Kaiserliche Universität Tōhoku in Sendai, Japan, berufen, wo er jedoch als deutscher Emigrant nur bis 1941 bleiben durfte, weshalb er im selben Jahr, empfohlen von Paul Tillich und Reinhold Niebuhr, in die USA ging. 1949 erhielt er einen Ruf an die New School for Social Research in New York und lehrte dort bis 1952, als er dank der Fürsprache Gadamers an die Universität Heidelberg berufen wurde, wo er bis zu seiner Emeritierung 1964 lehrte und publizierte.

Abfassung meiner Philosophie des Organischen: Es handelt sich um das zu Jonas' Lebzeiten nicht fertig ausgearbeitete systematische Werk Organism and Freedom. An Essay in Philosophical Biology, für das er keinen Verleger fand. Für den Text und seine Geschichte siehe den Online-Appendix zur KGA: http://hans-jonas-edition.de/wp-content/uploads/2016/10/KGA_Hans-Jonas-Kontext-Bd.-I1-Organism-and-Freedom.pdf.

»Is God a Mathematician?« auf deutsch im Studium Generale erscheinen lassen: Siehe Brief 1, Anm. Dieses Vorhaben wurde nicht verwirklicht.

Sie können aber die Redaktion … mitzuteilen: Blumenberg empfing diesen Brief am 15. April 1954 und schrieb am selben Tag an Manfred Thiel (siehe Brief 4, Anm.), den Chefredakteur des Studium Generale, um Jonas' Mitarbeit anzukündigen: »Jonas bereitet ein Buch über die Philosophie des Organischen vor, und ich bin aus Gesprächen in Brüssel und unserem Briefwechsel überzeugt, daß er einen ganz wesentlichen Beitrag liefern wird.« Ebenso empfahl er im selben Brief, »Is God a Mathematician?« in einer der kommenden Ausgaben auf Deutsch abzudrucken (DLA Marbach, Nachlaß Hans Blumenberg).

Grüßen Sie bitte Bröcker: Der deutsche Philosoph Walter Bröcker (1902-1992) wurde 1928 über Kants ›Kritik der ästhetischen Urteilskraft‹ promoviert und habilitierte sich 1934 zu Aristoteles, beide Male unter Martin Heidegger, dessen Assistent er zwischen 1933 bis 1940 war. Von 1941 bis 1948 war er, nach Kriegsende kurz unterbrochen wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft, ordentlicher Professor an der Universität Rostock, bevor er ab 1948 einen der beiden Philosophielehrstühle in Kiel bekleidete, den er bis zu seiner Emeritierung innehatte. Bröcker war für Blumenberg eine wichtige Bezugsperson in Kiel. Das Verhältnis trübte sich angesichts Bröckers ablehnender Haltung zu Blumenbergs Habilitationsvorhaben, aber auch im Zusammenhang mit der geplanten Berufung Jonas' nach Kiel (sie24he Brief 8) kurzzeitig ein. Jonas, der ebenfalls bei Heidegger studiert hatte, war Kommilitone Bröckers gewesen, hatte aber seit seiner Emigration 1933 keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt.

25[3]Jonas an BlumenbergOttawa, 18. ‌8. ‌1954

Ottawa 18. ‌8. ‌54

Lieber Herr Blumenberg!

Ich habe Ihnen noch zu danken für Ihre Zusendungen, von denen ich vor allem »Das Verhältnis von Natur und Technik« ganz außerordentlich wertvoll finde. Dies vielleicht auch deshalb, weil ich selber dem Problem im Einleitungskapitel zu meinem jetzt der Vollendung entgegengehenden engl. Buch über die Philosophie des Organismus nachgegangen bin, und ich Ihre Sicht – bei allem, was ich von ihrer Ausführung zu lernen hatte – mit meiner in wesentlicher Übereinstimmung finde. Darf ich Sie für die Aufhebung des Unterschiedes zwischen »natürlich« und »künstlich« (technisch) hinweisen auf Descartes' Brief 266, an Regius, Jan. 1642, Adam-Tannery III p. 504, und Principia IV art. 203? Zu dem ebenfalls sehr schönen u. belehrenden Aufsatz über den Ursprung des Begriffs der wiss. Methode erlaube ich mir, re: umfassendes Erkenntnissubjekt, dem die Individuen nur als sich ablösende Funktionäre untergeordnet sind (S. 135), an Bacons Programm des über Raum und Zeit hinweggreifenden »team work« der Forschung zu erinnern, das die Entwicklung radikaler vorwegnimmt als Descartes' Idee des einsamen Erkenntnissubjekts, das die Wahrheit in sich selbst findet.

Ich sende Ihnen gleichzeitig mit gewöhnl. Post etwas von mir zu. Heute wollte ich Sie folgendes fragen. In wenigen Wochen erscheint meine »Gnosis« neu, zusammen mit einem 2 Band. Der 1. Teil hat seinerzeit in Deutschland überhaupt keine philosoph. Besprechung gefunden. Es läge mir daran, diesmal nicht nur auf den theolog. u. religionsgeschichtl. Bereich beschränkt zu bleiben. Hätten Sie Lust, eine Besprechung beider Bände zu übernehmen (ohne Ansehen der Person natürlich)? Wenn Sie die Zeitschrift bezeichnen könnten, würde der Ver26lag bei der Versendung des Besprechungsexemplars einen entsprechenden Vorschlag machen. Es war der Verlag selber, der mich um Hinweise dieser Art gebeten hat. Sollten Sie nicht geneigt sein, können Sie mir vielleicht andere Namen nennen, wo Sie eine Eignung voraussetzen?

Ich hoffe Sie haben einen guten Sommer. Ich arbeite fieberhaft. Es wäre freundlich, wenn Sie mir bald antworten würden.

Herzlich Ihr Hans Jonas 

ÜBERLIEFERUNG O: Hs, Aerogramm; DLA Marbach, Nachlaß Hans Blumenberg.

»Das Verhältnis von Natur und Technik«: Hans Blumenberg, »Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem«, in: Studium Generale 4:8 (1951), S. 461-467; wiederabgedruckt in: Ästhetische und metaphorologische Schriften, S. 253-265. Blumenberg diente dieser Text am 24. Januar 1951 für die Antrittsvorlesung als Kieler Privatdozent. Es war zudem seine erste Veröffentlichung im Studium Generale.

Buch über die Philosophie des Organismus: Siehe Brief 2, Anm.

Descartes' Brief 266, an Regius, Jan. 1642, Adam-Tannery III p. 504, und Principia IV art. 203: Im Brief an Henricus Regius legt Descartes dar, daß »Automaten ebenfalls Werke der Natur« seien (automata sint opera naturae); in den Principia erklärt er die Rückführbarkeit aller physischen Vorgänge auf Gesetze der Mechanik, die gleichermaßen für organische und mechanische Konstrukte gälten.

Aufsatz über den Ursprung des Begriffs der wiss. Methode: Hans Blumenberg, »Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik des Begriffs der wissenschaftlichen Methode«, in: Studium Generale 5:3 (1952), S. 133-142.

Bacons Programm des über Raum und Zeit hinweggreifenden »team work« der Forschung: Anders als Descartes, der zunächst noch an ein durch nur einen Forscher abschließbares System der Naturerkenntnis glaubte, postulierte Francis Bacon in seiner im Novum Organon (1620) niedergelegten Wissenschaftstheorie, daß wissenschaftlicher Fortschritt nur als gemeinsame, aufeinander aufbauende Arbeit einer Gemeinschaft von Forschern zu erlangen sei.

27erscheint meine »Gnosis« neu, zusammen mit einem 2 Band: Siehe Brief 2, Anm.

Der 1. Teil hat seinerzeit in Deutschland überhaupt keine philosoph. Besprechung gefunden: Jonas schreibt im Vorwort zur zweiten Auflage, die 1954 erschien, vom Wunsch, »das unter den anormalen Bedingungen der dreißiger Jahre nur unvollkommen zur Kenntnisnahme und Erörterung gelangte Werk« einer neuen Rezeption zuzuführen: »In der Tat hat es seine erste Kritik zumeist noch zu finden. Denn so belehrend die wenigen gelehrten Besprechungen sind, die ihm damals zuteil wurden […], so ist doch weithin die wissenschaftliche Kritik wenigstens in Deutschland ausgeblieben. Ich kann nicht beurteilen, wie weit dies dem Umstand, daß es sich um einen jüdischen Autor handelte, und wie weit dem Ausstehen des zweiten Teils zuzuschreiben ist, auf dessen angekündigtes Erscheinen mancher Rezensent, wie ich weiß, wartete.« Gnosis und spätantiker Geist. Teil 1, S. vii.

28

29[4]Blumenberg an JonasBargteheide, 17. ‌9. ‌1954

Hans Blumenberg

Bargteheide/Holst., 17. September 1954

Am Bahnhof 1

Sehr verehrter Herr Jonas,

bei der Rückkehr von einer schönen Ferienreise, die ich wieder zusammen mit Herrn Schorr und seinem – diesmal neuen! – Wagen zuerst zu den Salzburger Festspielen und anschließend in die Bourgogne gemacht habe, fand ich Ihren Brief vom 18. ‌8. vor, für den ich Ihnen danke und den ich um so schneller beantworte, als ich auch Ihren Brief vom 8. ‌4. noch unerwidert liegen hatte. Von allen Mitteilungen die wichtigste, Ihre Berufung nach New York, möchte ich mit herzlichen Glückwünschen bedenken; für mein geographisches Bewußtsein liegt New York unendlich viel näher als Ottawa, und angesichts der Fülle von Austausch über den Ozean hege ich die Hoffnung, daß uns diese Veränderung bald wieder Gelegenheit zu persönlichen Gesprächen geben wird.

Das Wiedererscheinen Ihres Gnosis-Buches, vermehrt um den ersten Teil des zweiten Bandes, begrüße ich sehr. Der Verlag hat seine Restexemplare nur noch bei Abnahme der ganzen Reihe abgegeben, antiquarisch waren angebotene Exemplare stets sofort verkauft, so daß nicht einmal unsere Kieler Seminarbibliothek das Buch besitzt. Wie ich selbst nach dem Brand von 1942 wieder zu einem Exemplar gekommen bin, habe ich Ihnen wohl erzählt; auch, daß ich in meiner Habilitationsschrift versucht habe, Ihre methodischen Prinzipien auf das Epochenproblem Mittelalter–Neuzeit anzuwenden. Ich würde sehr gern in einer Rezension mich mit den Grundlagen Ihrer Untersuchung auseinandersetzen. Ich würde dafür die von den Herren Gadamer und Kuhn herausgegebene PHILOSOPHISCHE RUNDSCHAU vorschlagen, deren Mitarbeiter ich 30bereits bin und für die ich gerade eine Untersuchung der theologischen Logik von Bultmann mache. Als kritisches Organ dürfte diese Zeitschrift das größte Ansehen genießen. Jedoch halte ich es nicht für glücklich, wenn der Verlag mich als Rezensenten vorschlägt. Eine entsprechende Anregung müßte besser von Ihnen oder von mir an Herrn Gadamer gelangen.

Was sich sonst an Publizität bei mir bekannten Zeitschriften und Zeitungen gewinnen läßt, werde ich zu nutzen suchen; doch hängen die Möglichkeiten dafür sehr davon ab, wieweit der Verlag dieses doch auch für den Nichtfachmann »lesbare« Buch in einer Form herausbringt, die auch ein etwas weiteres Publikum nicht abweist.

Wie haben sich die Beziehungen zum STUDIUM GENERALE entwickelt? Ist ein deutscher Abdruck von IS GOD A MATHEMATICIAN? vereinbart worden? Und kommt der SYSTEM-Aufsatz zustande? Falls Herr Thiel noch nicht »funktioniert« haben sollte, müßte ich noch einmal bei ihm einen Vorstoß machen. Da Plan und Mitarbeitergewinnung für das SYSTEM-Heft von mir ausgingen, möchte ich auf keinen Fall ohne Ihren Beitrag auskommen. Das Heft wird erst gegen Ende 1955 erscheinen, so daß genug Zeit ist, alles in Ruhe vorzubereiten.

Besonders herzlichen Dank schulde ich Ihnen für Ihr Urteil und für Ihre Anregungen zu meinen Arbeiten. Den Problemkreis von »Natur und Technik« – meine Kieler Antrittsvorlesung – habe ich inzwischen sehr gefördert; er steht jetzt innerhalb eines umfassenderen Gesamtplanes, dessen zweiten Teil »Technik und Wahrheit« ich in den Akten des Brüsseler Kongresses (Bd. II, 113ff.) skizziert hatte (falls Sie diese Akten nicht besitzen, würde ich Ihnen noch ein Separatum schicken). Der dritte Teil »Technik und Moral« ist erst im letzten Jahr zu Umrissen gekommen. Das Ganze könnte vielleicht eines Tages das Desiderat einer »Geistesgeschichte der Technik« zu erfüllen suchen. Auch der Methodenaufsatz hat in diesem Plan einen, allerdings noch nicht genau definierten Platz; er gehört in den Bezirk »Mediatisierung des Menschen«. Ihre Ausstellung hin31sichtlich des Fehlens von BACON ist wirklich berechtigt; ich habe aber erst in diesem Sommer über Bacon gelesen und hatte bei Abfassung des Aufsatzes keine zureichende Ahnung von der prägnanten Formulierung, die das Methodenproblem in seinen Hintergründen dort findet.

Ich möchte mich revanchieren mit einem Zitat aus dem Nachlaß von KANT (Akad. Ausg. XIX Nr. 6870), das mir den Kern Ihrer Überlegungen zum Organischen und seiner eigentümlichen Präformation von Strukturen der Freiheit zu erfassen scheint: »Der vollständige Gebrauch des Lebens ist freyheit.« Natürlich steckt dahinter noch die Metaphysik von Leibniz.

Beiliegend noch ein Bild aus dem Brügge-Film. Soeben trifft »The Nobility of Sight« ein; zunächst herzlichen Dank.

Mit herzlichem Gruß

Ihr erg. Hans Blumenberg

ÜBERLIEFERUNG O: Ts; Hans-Jonas-Archiv. – TsD ohne hs Gruß und Unterschrift; DLA Marbach, Nachlaß Hans Blumenberg.

Wie ich selbst nach dem Brand von 1942 wieder zu einem Exemplar gekommen bin, habe ich Ihnen wohl erzählt: Hans Blumenbergs Bibliothek sowie die erste Version seines Zettelkastens wurden beim Brand am 28. März 1942, der durch einen britischen Luftangriff auf Lübeck in seinem Elternhaus ausgelöst wurde, vollständig vernichtet. Details der angedeuteten Wiederbeschaffung von Jonas' Gnosis und spätantiker Geist sind nicht erhalten; am 4. Juni 1948 schrieb er an Jonas' Lehrer Rudolf Bultmann, »[m]it vieler Mühe war ich szt. in den Besitz des ersten Bandes dieser Arbeit gekommen«, und bat um den zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht erschienenen zweiten Teil (DLA Marbach, Nachlaß Hans Blumenberg).

Habilitationsschrift … anzuwenden: In der 1950 in Kiel eingereichten Habilitationsschrift Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls greift Blumenberg methodisch auf Jonas' Gnosis und spätantiker Geist zurück. Jonas verwendete darin den (aus Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes übernommenen) geologischen Begriff der »Pseudomorphose«. Dieser beschreibt das Phänomen, daß ein Mineral in die ausgespülte 32Form eines anderen hineinwächst und so dessen äußere Gestalt annimmt. Jonas bemüht diese morphologische Täuschung für die Behauptung, daß die Gnosis durchaus über eine kohärente Existenzhaltung verfügt habe und somit als einheitliches – statt, wie bisher angenommen, nur synkretistisches und nachträglich konstruiertes – Phänomen analysiert werden könne. Der Eindruck des Synkretismus sei lediglich durch Pseudomorphose, nämlich den erzwungenen Rückgriff auf die je verfügbaren sprachlichen und symbolischen Ausdrucksmittel anderer Kulturen und Epochen hervorgerufen worden (Gnosis und spätantiker Geist. Teil 1, S. 73). An Jonas anschließend argumentierte Blumenberg in Die ontologische Distanz, daß zwischen Mittelalter und Neuzeit keine Einflußkontinuität geherrscht, sondern eine nur pseudomorphotische Übernahme von Begriffen stattgefunden habe (S. 97); dieses Argument taucht später unter dem Namen »Umbesetzung« in Die Legitimität der Neuzeit an zentraler Stelle auf (v. ‌a. S. 42).

PHILOSOPHISCHE RUNDSCHAU: 1952 von den Philosophen Hans-Georg Gadamer und Helmut Kuhn gegründet, war die Philosophische Rundschau lange Zeit wichtigstes Rezensionsorgan der deutschsprachigen Philosophie. Blumenberg publizierte hier zwischen 1955 und 1962 regelmäßig Besprechungen.

Untersuchung der theologischen Logik von Bultmann: Hans Blumenberg, »Marginalien zur theologischen Logik Rudolf Bultmanns«, in: Philosophische Rundschau, 2:3/4 (1954/55), S. 121-140. – Rudolf Bultmann (1884-1976) war ein deutscher evangelischer Theologe. Er studierte unter anderem bei Adolf von Harnack und Hermann Gunkel in Berlin und wurde 1910 in Marburg mit der Arbeit Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe promoviert; ebendort habilitierte er sich 1912 mit Die Exegese des Theodor von Mopsuestia. Nach Professuren in Breslau und Gießen folgte er 1921 einem Ruf nach Marburg, wo er mit Martin Heidegger befreundet war und bis zu seiner Emeritierung 1951 lehrte. Während des Nationalsozialismus war er Teil der Bekennenden Kirche. Bultmann erlangte vor allem Bekanntheit als Vertreter der dialektischen Theologie sowie durch sein Programm einer »Entmythologisierung« des Neuen Testaments und die Freilegung des darin enthaltenen kerygma, des Kerns der christlichen Verkündigung, das er in seinem Vortrag »Neues Testament und Mythologie« (1941) vorstellte. Jonas hielt in Bultmanns Seminar 1925 das Referat »Gnosis im Johannesevangelium«, woraufhin ihn Bultmann überzeugte, über dieses Thema zu promovieren; er warb zudem bei Heidegger darum, Jonas' Arbeit zu be33treuen. Die Dissertation erschien 1928 als Der Begriff der Gnosis in der von Bultmann herausgegebenen Reihe »Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments«. Zu Jonas' vertiefter Studie Gnosis und spätantiker Geist schrieb Bultmann das Vorwort. Auch nach dem Krieg blieben beide in freundschaftlichem Kontakt, wobei Bultmann Jonas zur Neuauflage des ersten Bandes des Gnosis-Werks und zum Abschluß des zweiten ermutigte. Hans Blumenberg korrespondierte mit Bultmann seit 1948 und lud ihn als Gast in ein von ihm und Walter Bröcker 1953 abgehaltenes Seminar über den Römerbrief ein, übte aber auch Kritik an dessen Theologie des Neuen Testaments.

Herr Thiel: Der Philosoph und Schriftsteller Manfred Thiel (1917-2014) wurde 1946 bei Karl Jaspers mit der Arbeit Moralität und Persönlichkeitsideal. Eine systematische Untersuchung promoviert. Zwischen 1947 und 1965 war er Chefredakteur des Studium Generale. Ab Ende der 1950er Jahre nutzte er seine Position, um in der Zeitschrift unter verschiedenen Pseudonymen eigene Beiträge unterzubringen und in ihnen vor allem Gadamer anzugreifen. Blumenbergs zunächst produktives Verhältnis zu Thiel verschlechterte sich, als er sich weigerte, in dieser Auseinandersetzung zugunsten Thiels Stellung zu beziehen. Weil das Studium Generale trotz Blumenbergs Beschwerden an Thiel festhielt, kündigte er 1960 die Mitarbeit für die Zeitschrift auf. Thiel wurde 1965 aus der Redaktion entlassen und arbeitete seitdem als Privatgelehrter.

Den Problemkreis … »Mediatisierung des Menschen«: Nach seiner Habilitation hatte sich Blumenberg in den 1950er Jahren mit der Technikphilosophie ein neues Themenfeld erschlossen. Trotz einer Reihe von Aufsätzen blieb die angestrebte »Geistesgeschichte der Technik« allerdings unabgeschlossen. Die genannten Texte sowie weitere Arbeiten zu diesem Thema wurden postum in Schriften zur Technik versammelt. Der angekündigte Aufsatz »Technik und Moral« ist nicht überliefert und wurde von Blumenberg wahrscheinlich nie ausgearbeitet. Grundideen dieses Projekts flossen ab 1957 in das neue Projekt einer Metaphorologie ein.

»The Nobility of Sight«: Hans Jonas, »The Nobility of Sight. A Study in the Phenomenology of Senses«, in: Philosophy and Phenomenological Research 14:4 (1954), S. 507-519; in überarbeiteter Fassung aufgenommen in: ders., The Phenomenon of Life, S. 135-152 (dt.: »Der Adel des Sehens« in: Organismus und Freiheit, S. 198-225; KGA I/1, S. 243-276). Für Blumenberg war dieser Essay besonders im Kontext seiner späteren philosophischen Anthropologie wichtig.

34[5]Blumenberg an JonasKitzeberg, 23. ‌7. ‌1955

Hans Blumenberg

Kiel-Kitzeberg, den 23. Juli 1955

Drosselhörn 31

Sehr verehrter Herr Jonas,

wir haben gegenseitig lange nicht voneinander gehört, und ich besitze leider nicht einmal Ihre (wahrscheinlich) neue Adresse in New York, hoffe aber, daß Ihnen dieser Brief nachgesandt wird. Auch ich bin inzwischen umgezogen, auf das herrliche Ostufer der Kieler Föhrde.

Der Grund der Dringlichkeit meines Schreibens liegt in Ereignissen, die wir prospektiv schon in Brüssel besprachen. Natürlich läßt sich brieflich darauf schlecht zurückkommen; ich sichere Ihnen daher volle Diskretion zu, wie ich sie auch von Ihnen erbitten muß. Herr L. hat vor kurzem Rufe nach Köln und Marburg bekommen, und es ist wohl stark mit seinem Weggang zu rechnen. Zwischen Herrn Br. und mir besteht Einigkeit darüber, daß wir Sie an erster Stelle als Nachfolger hier wissen möchten. Die verwaltungstechnischen Schwierigkeiten, diesen Wunsch zu realisieren – Ihr Einverständnis einmal vorausgesetzt –, werden nicht gering sein, und es wäre erforderlich, daß sich die Fakultät sehr stark macht, um die Einleitung von Verhandlungen durchzusetzen. In dieser Situation wird für mich eine schwere Belastung entstehen, da ich um die inneren Widerstände weiß, die bei Ihnen bestehen. Die für mich erschütternde Lektüre des Vorwortes zur 2. Auflage der »Gnosis« hat sie mir lebhaft wieder vergegenwärtigt. Trotzdem möchte ich Sie noch einmal herzlich und aus wirklicher Teilnahme an diesem Problem bitten, die Frage einer Rückkehr nach Deutschland zu erwägen. Kiel ist, wie ich Ihnen schon in Brüssel sagte, vielleicht der geeignetste Platz, wenn 35Sie es überhaupt in Erwägung ziehen. Wenn Sie darüber ein drittes Urteil hören wollen, setzen Sie sich doch einmal mit Herrn Kroner in Verbindung (New York 27, Claremont Avenue 99). Wenn Sie sich aber in Ihrem neuen Wirkungskreis so definitiv wohl fühlen, daß Sie für eine solche Möglichkeit keinen Spielraum sehen, so würde ich Sie bitten, mir das offen zu schreiben, damit ich mich hier nicht zu sehr exponiere. Ich werde von Ihrer Antwort jedoch niemand Kenntnis geben, um die Ehre einer Nominierung nicht zu gefährden. Hoffentlich kommt in dieser ganzen Frage eine schnelle erste Verständigung zwischen uns zustande. Ich fahre am 20. ‌9. für 7 Wochen nach Ägypten und hätte gern noch vorher eine erste Stellungnahme von Ihnen, ob wir überhaupt noch weiter über die Sache »reden« wollen.

Was macht Ihr Buch über die Philosophie des Organischen? Und welche Entwicklung nimmt die Verbindung zum STUDIUM GENERALE? Das System-Heft nimmt allmählich Konturen an und dürfte im Frühjahr 1956 zum Erscheinen reif sein. Ich bin an der Planung eines weiteren Heftes beteiligt, das den Problemen des Sehens gewidmet sein wird. Ich dachte daran, daß das der geeignete Zusammenhang für die deutsche Fassung Ihrer ebenso scharfsinnigen wie ausblickreichen Analyse THE NOBILITY OF SIGHT wäre, die ich mit großem Gewinn auch für meine Probleme der Geschichte des Wahrheitsbegriffs gelesen habe. Die größere »Macht«, die das Hören im Vergleich zum Sehen über die Menschen zu fast allen Zeiten gehabt hat, kommt durch Ihre Überlegungen zu einer verblüffenden Bestätigung.

Von Herrn Gadamer erhielt ich Ihr Gnosis-Werk zur Besprechung für die PHILOSOPHISCHE RUNDSCHAU, in der gerade meine BULTMANN-Arbeit erschienen ist, die ich Ihnen zusende, sobald mir Ihre neue Anschrift bekanntgeworden ist. Über Ihre »Gnosis« hatte ich vor kurzem auch eine eingehende Unterhaltung mit dem Plotin-Editor Paul Henry (Paris), den wir hier zu Gast hatten. Ich hoffe, die Besprechung für den Jahrgang 1956 noch fertigstellen zu können.

36Abschließend noch eine Frage, die auch mit unserem Kieler Nominierungsproblem zusammenhängt: ist Ihnen der gegenwärtige Aufenthalt und evtl. der thematische Arbeitsbereich von Herrn Kristeller bekannt? Falls Ihnen eine Auskunft möglich ist, wäre ich Ihnen dafür dankbar.

Herzliche Grüße und Wünsche

Ihr erg.

Hans Blumenberg

ÜBERLIEFERUNG O: Ts, Unterstreichung der Adresse mit Rotstift; Hans-Jonas-Archiv. – TsD ohne hs Grüße und Unterschrift; DLA Marbach, Nachlaß Hans Blumenberg.

Herr L. hat vor kurzem Rufe nach Köln und Marburg bekommen: Der deutsch-österreichische Philosoph Ludwig Landgrebe (1902-1991) wurde 1928 bei Edmund Husserl mit der Arbeit Wilhelm Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften promoviert. Bis zu Husserls Zwangsemeritierung 1933 war er dessen letzter Assistent. 1934 folgte die Habilitation in Prag bei Oskar Kraus mit der Schrift Nennfunktion und Wortbedeutung. Eine Studie über Martys Sprachphilosophie. Als Gatte einer jüdischen Frau verlor er nach dem Einmarsch der Deutschen in der Tschechoslowakei seine Stellung und arbeitete ab 1939 mit Eugen Fink und Herman Leo van Breda an der Erschließung des Husserl-Nachlasses in Leuven. Nach dem Überfall auf Belgien kehrte er nach Deutschland zurück, wo er bis Kriegsende als kaufmännischer Angestellter arbeitete. 1946 wurde er an der Universität Hamburg umhabilitiert. Dort hörte Hans Blumenberg bei ihm Seminare über Phänomenologie und Heideggers Sein und Zeit und folgte ihm als Doktorand nach Kiel, wohin Landgrebe im Wintersemester 1946/47 als Ordinarius berufen worden war. Landgrebe übernahm 1954 eine Professur in Köln, die auch die Leitung des dortigen Husserl-Archivs beinhaltete, konnte sie aber erst 1956 antreten; er starb 1991 in Köln. Blumenberg verfaßte sowohl seine Dissertation (1947, Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie) wie seine Habilitationsschrift (1950, Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls) unter Landgrebe.

Zwischen Herrn Br. und mir: Gemeint ist Walter Bröcker. Siehe Brief 2, Anm.

37Lektüre des Vorwortes zur 2. Auflage der »Gnosis«: Blumenberg meint den 1954 erstmals erschienenen zweiten Band, erster Teilband von Gnosis und spätantiker Geist mit dem Titel Von der Mythologie zur mystischen Philosophie. Jonas hatte ihm als Widmung vorangestellt: »Dem Andenken meiner Mutter, Auschwitz 1942« (siehe hierzu Erinnerungen, S. 220f.). Im Vorwort berichtet er von den Umständen, die zur Verzögerung dieses ursprünglich für 1934 geplanten Teils geführt haben (siehe Materialien 2). In seiner Rezension dieses Buchs bezeichnete Blumenberg dieses Vorwort als »ebenso bestürzendes wie nobles document humain« (siehe Materialien 4).

mit Herrn Kroner: Richard Kroner (1884-1974) war ein deutscher Philosoph und Theologe. Dem Neukantianismus sowie der Phänomenologie nahestehend – er promovierte 1908 bei Heinrich Rickert mit der Arbeit Über logische und ästhetische Allgemeinheit, in der er sich auch Husserl zuwandte –, war er ab 1928 Ordinarius in Kiel. Wegen seiner jüdischen Abstammung wurde er an die Universität Frankfurt 1934 zwangsversetzt. Sein Lehrstuhl wurde zunächst von Gadamer vertreten und dann mit dem NS-Philosophen Ferdinand Weinhandl besetzt, bis ihn 1947 Landgrebe übernahm. Kroner emigrierte erst nach England und 1940 schließlich nach New York, wo er am Union Theological Seminary bis zu seinem Ruhestand 1952 Religionsphilosophie lehrte.

Ich fahre am 20. ‌9. für 7 Wochen nach Ägypten: Hans Blumenberg unternahm im September 1955 zusammen mit seiner Frau und dem befreundeten Ehepaar Karl-Eberhard und Helga Schorr eine siebenwöchige Reise nach Ägypten. Er beschrieb sie später als enttäuschend; es war die einzige größere Auslandsreise seines Lebens.

an der Planung eines weiteren Heftes beteiligt: Blumenberg war mit dem Studium Generale seit 1955 wegen eines Sonderheftes zum Thema »Sehen« im Gespräch, hatte dabei aber eher beratende als herausgebende Funktion. In einem Brief im Juli 1955 empfahl er Manfred Thiel, dem Chefredakteur des Studium Generale (siehe Brief 4, Anm.), Jonas' Aufsatz »The Nobility of Sight« (wie Brief 4, Anm.) für diese Ausgabe, der aber nicht berücksichtigt wurde (DLA Marbach, Nachlaß Hans Blumenberg).

meine Probleme der Geschichte des Wahrheitsbegriffs: Blumenbergs eigener Beitrag zum Sonderheft »Sehen« war der Essay »Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung«, in: Studium Generale 10:7 (1957), S. 432-447; wiederabgedruckt in: Ästhetische und metaphorologische Schriften, S. 139-171. Darin zitiert er Jonas' »Nobility of Sight« mit dem Hinweis, »[d]ie 38metaphorischen Aussagequalitäten von ›Auge‹ und ›Ohr‹ implizieren eine ganze Phänomenologie der Sinnesvermögen« (ebd., S. 162).

zur Besprechung für die PHILOSOPHISCHE RUNDSCHAU: Siehe Brief 4, Anm.

meine BULTMANN-Arbeit: Siehe Brief 4, Anm.

Plotin-Editor Paul Henry: Paul Henry (1906-1984) war ein belgischer Philosophiehistoriker und jesuitischer Theologe. Neben seinen Arbeiten zu Augustinus (354-430) trat er vor allem als Historiker des Neuplatonismus und Editor der maßgeblichen Plotin-Ausgabe hervor (Plotini opera, 1951-1973). Zwischen 1955 und 1981 stand Blumenberg mit Henry in brieflichem Kontakt und wurde von ihm mehrmals besucht.

Herrn Kristeller: Paul Oskar Kristeller (1905-1999) war ein deutsch-US-amerikanischer Philosophiehistoriker sowie Renaissance- und Humanismusforscher. Er studierte Philosophie bei Karl Jaspers, Martin Heidegger und Richard Kroner; er wurde 1929 bei Ernst Hoffmann mit der Dissertation Der Begriff der Seele in der Ethik des Plotin promoviert und begann unter Heidegger seine Promotion über Marsilio Ficino. Wegen seiner jüdischen Herkunft verließ er Deutschland 1934, zunächst in Richtung Italien, von wo er 1939 in die USA emigrierte; dort lehrte er an der Columbia University bis zu seiner Emeritierung 1973.

39[6]Jonas an BlumenbergOttawa, 10. ‌8. ‌1955

20 Third Avenue

Ottawa, Canada

10. August 1955

Lieber Herr Blumenberg,

mit Ihrem Brief, für den ich Ihnen herzlich danke, habe ich mich ungemein gefreut. Zunächst meine Glückwünsche zu Ihrer neuen Adresse. Die meinige ist bis Ende August wie oben angezeigt, danach am besten durch die New School, da wir erst am 1. Oktober in unsere permanente Wohnung, 9 Meadow Lane, New Rochelle, N. ‌Y., einziehen können.

Zu der Frage nun, vor die Sie mich stellen. Im Augenblick wirft sie – soll ich sagen: glücklicherweise? – nicht dieselben inneren Probleme auf wie in Brüssel, nicht weil ich dieselben inzwischen nach der einen oder anderen Seite endgültig ins Reine gebracht hätte, sondern weil ich für die nächsten 2-3 Jahre nicht frei bin. Nachdem ich die ehrenvolle Berufung an die Spitze des Department of Philosophy an der New School (Graduate Faculty) angenommen und meine Tätigkeit dort soeben angetreten habe, kann ich weder die Fakultät noch meine Studenten dort – vor allem die Doktoranden – im Stich lassen, bevor ich wenigstens ein Stück der übernommenen Aufgabe erfüllt habe: nämlich, das nach dem Abgang von Riezler, Löwith, Leo Strauss, Felix Kaufmann in den letzten Jahren verwaiste Philosophiestudium an dieser Institution wieder auf die Beine zu stellen und das Department zu reorganisieren. Es ist also nicht eine Frage des sich definitiv Wohlfühlens in dem neuen Wirkungskreis (definitiv wohlfühlen werde ich mich wahrscheinlich nie in New York), sondern der zeitweiligen moralischen Verpflichtung. Der geschilderte Umstand wird wahrscheinlich rein datenmäßig Ihre mich stark berührende Anfrage im negativen Sinn erledigen. Dennoch möchte ich für Sie per40sönlich hinzufügen, daß die Anfrage alte Träume wieder aufleben läßt, die nicht sterben können. Erspart mir auch der Zeitpunkt, in dem sie erfolgt, die Notwendigkeit, die große Seelenrechnung von neuem anzustellen, so darf ich doch, da Sie auf das Vorwort zu Gnosis II