Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie - Hans Blumenberg - E-Book

Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie E-Book

Hans Blumenberg

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Beschreibung

1947 legt Hans Blumenberg aus Bargteheide in Holstein an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel seine unter schwierigsten persönlichen Umständen entstandene Dissertation Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie vor. Hinter diesem Titel verbirgt sich eine mit ständigem Bezug auf die Philosophie Heideggers und seine »Fundamentalontologie« geführte Auseinandersetzung mit dem Denken des christlichen Mittelalters, in dem die Frage nach dem Grund des Seins eine so krisenhafte wie produktive Zuspitzung erfahren hatte. Die Dissertation wird von den Gutachtern Ludwig Landgrebe und Rudolf Schneider mit »ausgezeichnet« bewertet, aber sämtliche Bemühungen, zeitnah einen Verlag für die Arbeit zu finden, scheitern.

Blumenbergs brillantes Erstlingswerk blieb mehr als 70 Jahre ungedruckt. Nun wird es erstmals publiziert in einer leserorientierten Edition, die unter anderem Übersetzungen der zahlreichen altsprachlichen Zitate wie auch ein »Verzeichnis der Referenzliteratur« bietet, das die Lücke des im Original fehlenden Literaturverzeichnisses schließt und dieses darüber hinaus durch heute zugängliche Ausgaben ergänzt. In ihrem Nachwort beleuchten die Herausgeber den Entstehungskontext dieses Werks, das überraschende Perspektiven auf Blumenbergs Biographie und Denkentwicklung eröffnet.

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Seitenzahl: 351

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3Hans Blumenberg

Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie

Herausgegeben von Benjamin Dahlke und Matthias Laarmann

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

5Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

I

. Einleitung

§ 1. Das Problem der Ursprünglichkeit des ontologischen Ansatzes bei Martin Heidegger

(a) Geschichtlichkeit und Tradition

(b) Destruktion als Freigabe der Geschichtlichkeit

(c) Auszeichnung der Scholastik im Zusammenhang des Ursprünglichkeitsproblems

(d) Descartes als Fazit der Scholastik?

(e) Integration der Ursprünglichkeitsidee

§ 2. Voraussetzungen und Möglichkeiten eines ursprünglichen Seinsverständnisses in der mittelalterlichen Scholastik

(a) Kontinuität des Wirklichkeitsbewußtseins als Boden der ›Rezeption‹

(b) Einheit und Totalität der christlichen Erfahrung

(c) Direkte Rezeption und Spaltung des Erfahrungshorizontes

(d) Lebendige und autoritäre Tradition

II

. Die Durchbrechung der traditionellen ontologischen Interpretationsweisen

§ 3. Die Interpretation des Seins als Hergestelltsein

(a) Destruktion und ›ens creatum‹

(b) Ursache und Grund in der griechischen Ontologie

(c) Der biblische Schöpfungsgedanke

(d) Schöpfung und Seinsgrund bei Augustinus

(e) Schöpfung und Bewegungskausalität bei Thomas von Aquino

(f) Die Personalität des Seinsgrundes in der augustinischen Scholastik

(g) Kosmologie und Ontologie bei Duns Skotus

(h) Leistung und Ertrag

§ 4. Die Interpretation des Seins als Vorhandenheit

(a) Der Inbegriff der Destruktionskritik

(b) Der Umschlag der exemplarischen Orientierung

(c) Analogie und Univozität des Seins

(d) Erkenntnisschema und Seinsauslegung

(e) Überblick

§ 5. Die Interpretation des Seins als Wesenheit

(a) ›Existenz‹ als Kontrastbegriff

(b) Die Verschüttung des Existenzproblems in der Antike

(c) Vorzeichnung der christlichen Existenzerfahrung

(d) Das Individuationsproblem bei Thomas von Aquino

(e) Die Entwurzelung der Individuationsfrage

(f) Aktualität als Auslegungsmodus von ›existentia‹

(g) Substanz und Faktizität

(h) Überwindung der Wesensontologie?

§ 6. Die Interpretation des Seins als Gegenständlichkeit

(a) ›Welt‹ als ursprünglichstes Problem der Ontologie

(b) Weltphänomen und ›ontische Illumination‹

(c) Die Einheit ontischer und intellektualer Illumination

(d) Leistung und Gefährdung des Illuminationsgedankens

(e) Das Sein als

›primum obiectum‹ bei Duns Skotus

(f) Weitere Fragemöglichkeit

§ 7. Das außertheoretische Fundament der Seinsinterpretation

(a) Radikalisierung des ontologischen Phänomenbegriffes

(b) ›Weisheit‹ als Totalität des Seinsbezuges

(c) Grundbefindlichkeit und Illumination

III

. Letzte metaphysische Positionen

§ 8. Die Frage nach dem Sinn von Sein

(a) Sinn und Sinnverstehen

(b) Seinsverständnis als illuminative Methexis

(c) Die ontologische Exemplarität des Menschen

(d) Grenzen der Ursprünglichkeit

Anhang

Lebenslauf

Nachwort der Herausgeber

(1) Zum Entstehungskontext

(2) Editorische Bemerkungen

Verzeichnis der Referenzliteratur

Namenregister

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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11I. Einleitung

13§ 1. Das Problem der Ursprünglichkeit des ontologischen Ansatzes bei Martin Heidegger

(a) Geschichtlichkeit und Tradition

Darf Philosophie ihrem Wesen nach Tradition haben? Oder bedeutet Tradition für das philosophische Denken als Bindung an Vergangenheit und deren im Vollzug des Lebens überholte Möglichkeiten eine unangemessene, ständig sich vergrößernde Last? Diese Fragen lassen sich nur angehen von der Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit her, mit der das philosophische Verhalten es zu tun hat. Ist diese Wirklichkeit das sich unverwandt Durchhaltende und in sich Beruhende, das den Fluß des Lebens und Erlebens gleichsam an sich vorbei- und durch sich hindurchziehen läßt? Dann muß philosophische Tradition der legitime Beleg des diese Wirklichkeit mehr und mehr und immer im Aufnehmen des schon Gewonnenen sich aneignenden und erschließenden Denkens sein. Ist aber die Wirklichkeit, mit welcher Philosophie es zu tun hat, selbst geschichtlich, das heißt: überholt sie sich ständig selbst, indem ihre Gegenwart je wesentlich in sich selbst beruht, das Vergangene von ihrem Gestaltprinzip her metakinetisch einschmelzend, dann wird im jeweiligen philosophischen Verstehen – sofern Angemessenheit an die Wirklichkeit dessen leitende Idee ist – die Tradition nicht mächtiger sein dürfen als eben die Mächtigkeit des Vergangenen in der gegenwärtigen Wirklichkeit selbst.

Wie nun steht es mit dieser Wirklichkeit, um die es im philosophischen Verhalten geht? Wo man gebannt auf den Kosmos und sein nach exakten Gesetzen faßbares Geschehen blickt, wo die ganze dem Menschen zugängliche Wirklichkeit am Umlauf der Sphären und an der Mechanik der Körper zu hängen scheint, da muß sich der Begriff der Wirklichkeit an dieser kosmischen Unverwandtheit und übergeschichtlichen Gesetzmäßigkeit ausrichten. Einem solchen Wirklichkeitsverständnis kann die Geschichte des philosophischen Denkens nur im Schema des ›Fortschrittes‹ erscheinen; und diesem, durch den Fortschrittsge14danken bestimmten philosophischen Bewußtsein wird Tradition das in jedem Stadium zu Recht mit verwahrte, weil ein für allemal gewonnene ›Ergebnis‹ sein, das als Besitz je und je vorauszusetzen ist. Aber ist dies denn die dem Menschen nächsterfahrbare Wirklichkeit, durch die hindurch erst er anderer Bereiche gewahr würde, so daß diese Durchsicht sein Wirklichkeitserlebnis ganz und gar bestimmen muß? Oder drängt sich ihm nicht vielmehr zuerst und vor allem die eigene Existenz in ihrer völlig andersartigen Struktur auf? Diese Fragen dürfen nicht voreilig und von einem heutigen Blickpunkt aus beantwortet werden; bedurfte es doch offenbar in der Geistesgeschichte immer erst außerordentlicher Anstöße, ja Erschütterungen, um den ›nach außen‹ gewandten, immer schon außen verweilenden und sogar das eigene Selbst von außen gewahrenden Blick des Menschen ›nach innen‹ zu wenden. So war es, als der Mensch aus der antiken Seinssicherheit und kosmischen Offenheit herausgerissen und ihm die Sorge um sein Heil als das einzig Gewichtige und Entscheidende aufgegeben wurde. Nicht unähnlich, als der aufgeklärte Bürger aus dem Traum des Fortschrittsglaubens und der Existenzsicherheit jäh erwachte und inmitten der kraft seines Vertrauens freigesetzten technischen Welt von der Erfahrung seiner Nichtigkeit überfallen wurde. In diesen Wendungen verliert sich | S. 4 | das unverwandte gesetzliche Gleichmaß des Kosmos aus dem Blick, der nun gebannt wird durch die Erfahrungen der Geschichtlichkeit, der Faktizität, der Verfangenheit in die nächste Um- und Mitwelt und des in radikalen Umbrüchen sich immer selbst überholenden inneren Lebens. Die Bedeutung von Tradition verflüchtigt sich in solcher Blickwendung; die ›Ergebnisse‹ der Vergangenheit werden einer permanenten Revision unterworfen und erweisen sich schließlich als tote Last für die Existenz und den Wirklichkeitsbezug des Menschen.

Es kann hier nicht darum gehen, zu bestimmen, wo unsere eigene und heutige Wirklichkeitserfahrung einzuordnen ist. Was die Bedeutung der Tradition in ihr betrifft, so läßt sich sagen: Wie vielleicht niemals zuvor sind alle ›Einschlüsse‹ der Vergangenheit, alle formalen und gehaltlichen Bindungen an das Überholte infrage gestellt. Immer unmittelbarer wird unsere Weise des Wirklichkeitserlebnisses Ausdruck einer ›Lage‹, die selbst im Ablauf der Geschichte nur eine faktische Stelle 15hat. Es ist die radikale Projektion der uns nächstvertrauten Strukturen eigener Existenzweise auf die Wirklichkeit als Ganze, was unseren Weltbegriff bestimmt. Mit diesen kurzen Andeutungen sei auf die Selbstanalysen unserer Zeit, wie sie uns heute nicht selten geboten werden, verwiesen, um die Situation, von der jede philosophische Problemstellung ausgeht und an die ihre Erörterung gebunden bleibt, nicht außer acht zu lassen.

Sogleich drängt sich die Frage auf, zu welchen Sichtweisen der Anspruch der Wirklichkeitsangemessenheit die Philosophie unserer Tage geführt hat und wie tiefgehend ihre Aussagen von der faktisch-geschichtlichen Struktur unserer Wirklichkeitserfahrung bestimmt sind. Oder setzt die Philosophie in aller Heimlichkeit vor sich selbst noch einen Wirklichkeitsbegriff voraus, der nur das nach unverwandten Gesetzen faßbare kosmische Außen als wirklich nimmt und das Aufspüren allgemeinster fester Strukturen als die in kontinuierlichem Fortschreiten zu verfolgende Aufgabe der denkerischen Welterfassung in sich schließt? Das würde in einer kurzen Formel heißen: eine ihrem Wesen nach an Tradition gebundene und Tradition notwendig immer wieder aufnehmende Philosophie als Auslegung einer sich in ihrer Faktizität aufdrängenden Wirklichkeit! In der Tat scheint keine Äußerung des menschlichen Geistes so belastet mit Tradition zu sein wie die Philosophie. Ihre Grundfragen und ihre Grundbegriffe gehen durch ihre mit der des Abendlandes zusammenfallende Geschichte in einzigartiger Kontinuität hindurch. Erst der durch die Oberfläche der Begrifflichkeit und des zäh sich durchhaltenden philosophischen Idioms tiefer dringende Blick gewahrt die unaufhebbare Spannung, in der lebendig-gegenwärtiges Wirklichkeitsbewußtsein und dessen gedanklich-begriffliche Erfassung und Auslegung stehen. Immer ist Philosophie durch den Anspruch bestimmt, so geschichtlich zu sein wie die Wirklichkeit, deren Erfahrung sie auszulegen hat. Das gilt selbst dort und dann, wenn sie sich als philosophia perennis schon als der Geschichtlichkeit enthoben vermeint – ja, es zeigt sich gerade in dieser äußersten Spannung von innerer Möglichkeit und selbstbestimmtem Anspruch in bedeutsamer Zuspitzung.

16(b) Destruktion als Freigabe der Geschichtlichkeit

Es beginnt sich der Ort abzuzeichnen, an den Förderung und Leistung eines Neuansatzes der Ontologie als der Fundamentallehre der Wirklichkeitserfahrung zu stellen sind, wie sie in Heideggers Hauptwerk erhoben und vorentworfen sind. Ihre kritische Zuspitzung richtet sich mit der Forderung der ›Destruktion‹ gegen die ›traditionelle Ontologie‹. Wie ist das zu verstehen? Der Vollzug der ontologischen Grundfragen und die Ausbildung der ontologischen Verstehensweisen haben gleichsam nicht Schritt gehalten mit dem lebendig-geschichtlichen Vollzug des Wirklichkeitserlebens. Eine in sich verhärtete und sich selbst genügende Ontologie verstellt die Möglichkeiten, | S. 5 | je aus dem gegenwärtigen Wirklichkeitshorizont heraus die Seinsfrage zu stellen; immer findet dann solches Fragen schon vorgeprägte Begriffe und vorentworfene Verständnisweisen. Die Ontologie hat sich derart der Geschichtlichkeit ihrer Geschichte entäußert. Ihre Geschichte wird nicht mehr begriffen als der auslegende Mitvollzug des lebendig-geschichtlichen Seinsverständnisses des Menschen hinsichtlich seiner fundamentalen Strukturen und in seinem Totalhorizont, sondern als freischwebende Selbstentfaltung eines absoluten Problems, dessen Fragbarkeit – eben weil es traditionelles Problem ist – als selbstverständlich hingenommen wird. Diese Verfestigung ontologischer Sichtweisen im Gange der Tradition bleibt nicht auf die Ontologie beschränkt, sondern wirkt zurück auf das Seinsverständnis in den Einzelbereichen des Wirklichkeitsbezuges, vor allem in den Wissenschaften.

Damit verdeutlicht sich, was die geforderte Destruktion der traditionellen Ontologie zu leisten hat: nämlich die Wiedergewinnung der Geschichtlichkeit der Geschichte der Seinsfrage und darin die Freigabe einer angemessenen Auslegung des lebendig-gegenwärtigen Seinsverständnisses. Das soll nicht negativ eine Abschüttelung der ontologischen Tradition[1]  bedeuten, sondern ihre Zurückführung auf die ihr jeweils zu17grundeliegenden ›ursprünglichen Erfahrungen‹.[2]  Damit zeigt sich bereits, daß mit der Destruktion die ontologische Tradition nicht kurzerhand als nichtig erklärt wird; die Wiedergewinnung der Geschichtlichkeit der Seinsfrage weist der Tradition eine sehr bestimmte Funktion zu und gibt der Aufgabe ihres Verständnisses wirkliches Gewicht. Diese Funktion sei vorwegnehmend bezeichnet als Klärung der Möglichkeiten der Ontologie, das heißt ihrer ›Grenzen‹.[3]  Also nicht insofern sich eine bestimmte geschichtliche Wirklichkeitserfahrung in einer zugehörigen Gestalt der Ontologie ausgelegt hat und diese Auslegung die Geschichte der Ontologie mit ausmacht, verfällt sie der Destruktion; sondern insofern sie sich als Tradition verdeckend über die je gegenwärtigen Möglichkeiten, radikal und ursprünglich zu fragen, legt, sofern sie zur Autorität wird. Dies ist gemeint, wenn Heidegger sagt: Negierend verhält sich die Destruktion nicht zur Vergangenheit, ihre Kritik trifft das ›Heute‹ …[4] 

Der für die vorliegenden Untersuchungen leitende Begriff von ›Ursprünglichkeit‹ beginnt sich nun abzuzeichnen. Er ist bezogen auf das Heute der lebendigen geschichtlichen Erfahrung und die diesem zugehörige ontologische Interpretation; er ist zugespitzt gegen den verdeckenden Vorrang der Vergangenheit als auf ihr sachliches Recht unbefragter und unfragwürdiger Autorität in diesem Heute, nicht gegen die geschichtliche und als solche ihrem Recht nach ausgewiesene Gegenwärtigkeit des Vergangenen in der heutigen Wirklichkeit. So gewinnt das ›Heute‹ keineswegs einen absoluten normativen Rang. Es ist nicht unser Heute, das den Rechtstitel abgeben könnte, die geschichtlichen Leistungen der Ontologie zu entwerten, weil sie unser Wirklichkeitsbewußtsein nicht angemessen auszulegen vermögen. Die Destruktionsforderung stellt nicht den geschichtlichen Rang ontologischer Konzeptionen infrage, sondern sie will das Ansetzen des ontologischen Fragens aus der Lebendigkeit des Wirklichkeitsbewußtseins freigeben und gewährleisten gegen den Überhang der Tradition. Insofern ist Destruktion ein immanenter Anspruch jeder philosophi18schen Situation; findet sich doch diese immer inmitten von verfestigtem Überkommen, gegen das sie ihre genuinen Erfahrungen durchzusetzen hat. Mag also Destruktion als ausdrückliche These ein so scharfes und betontes Erlebnis geschichtlicher Faktizität voraussetzen, wie es unserer Gegenwart zuteil wird, die wie kaum je zuvor die Erfahrung der kurzatmigen Mutabilität ihrer Wirklichkeit mit so viel beharrlicheren und zur Dauer gewillten Kategorien des geistigen Verstehens zu bewältigen hat und die Spannung von Erfahrung und Verstehen in | S. 6 | einzigartiger Weise – man darf schon sagen: – erleidet; als innerer Anspruch ist sie die Wesensspannung des Philosophierens selbst und in jeder Situation gültig. Gerade das wird die vorliegende Untersuchung zu erweisen haben, daß diese innere Spannung auch die in einmaligem Maße von der Autorität der Tradition in Anspruch genommene Philosophie des christlichen Mittelalters zu einer Art Selbstdestruktion aus der Kraft ihrer genuinen Erfahrungen heraus treibt. Sowenig also Ursprünglichkeit ein beliebiger noch ein spezifisch ›moderner‹ Anspruch des Philosophierens an sich selbst ist, sowenig ist Destruktion ein Zuwachs für das philosophische Verhalten – es sei denn als explizites Postulat.

Mit dieser ersten Verzeichnung des Begriffes von Ursprünglichkeit als der in der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz und ihrer Welt beschlossenen Forderung an das philosophische Verhalten ist bereits eine gewisse kritische Wendung gegen Heideggers Destruktionsbegriff grundgelegt. Weniger in der entwerfenden Vorgabe des die Destruktion fundierenden Ursprünglichkeitsbegriffes als in der Orientierung und dem Vollzug dieser selbst – soweit uns davon aus dem allein vorliegenden ersten Teil von »Sein und Zeit« ein Begriff möglich ist – wird sichtbar, daß für Heidegger Ursprünglichkeit als adäquate Bezogenheit geschichtlich-genuinen Wirklichkeitsbewußtseins und dessen autochthoner Auslegung nicht eindeutig die leitende Idee bleibt, während die Destruktion zunächst das gegenwärtige Wirklichkeitsbewußtsein und seine ontologische Auslegung vom verdeckenden Überhang traditioneller Elemente zu befreien hätte und ferner rückgreifend dasselbe für ein ursprüngliches Verständnis vergangener Epochen der Ontologiegeschichte leisten könnte, drängt sich bei Heidegger das Abzielen auf die Möglichkeit einer absoluten Normgebung des Seinsverständnis19ses auf. Ob freilich die Existenzialanalyse dies zu leisten bestimmt ist – was auf den normativen Rang unserer gegenwärtigen Selbsterfahrung, die in Heideggers Existenzbegriff ihren Ausdruck findet, hinauslaufen würde – oder ob die Ursprünge selbst der Philosophiegeschichte die Norm von Ursprünglichkeit abzugeben hätten, das bleibt ungeklärt. Vieles – zumal wenn man den Umkreis der Zeugnisse über »Sein und Zeit« hinaus erweitert und den Fortgang des Heideggerschen Denkens einbezieht – deutet auf die Neigung hin, das frühgriechische Denken, eben die uns erreichbaren Ursprünge des Philosophierens, als normativen Hinblick des Ursprünglichkeitsproblems zu nehmen; le sens authentique et les conquêtes profondes des premières spéculations sur l'être, denen gegenüber die ganze weitere Entwicklung der Ontologie angesehen werden muß comme une monstrueuse excroissance étouffant les vérités entrevues dans les débuts.[5]  Destruktion wäre dann nichts anderes als der Rückgang auf eine geschichtlich unwiederholbare Situation und der Hinblick auf die in ihr gesetzte Norm.

(c) Auszeichnung der Scholastik im Zusammenhang des Ursprünglichkeitsproblems

Wenn die hier vorgelegten Untersuchungen die mittelalterlich-scholastische Ontologie zum Gegenstand nehmen und an ihr das Problem der Ursprünglichkeit entfalten wollen, dann wird damit nicht ein willkürlich herausgegriffener Abschnitt der Geschichte der Seinsfrage zum Ursprünglichkeitsproblem in Beziehung gebracht, sondern diese Wahl trifft auf eine zur Klärung des ganzen Problembereiches paradigmatische Epoche. Worin ist die Auszeichnung der scholastischen Ontologie im Gesamtbegriff der ›traditionellen Ontologie‹ zu sehen? Die Scholastik ist von jener ›Ursprünglichkeit‹ der frühen Anfänge der Philosophie, wie sie bei Heidegger normativ hervortreten, ebensoweit entfernt wie von einer Auslegung des in unserem modernen Wirklichkeitshorizont entstandenen Seinsverständnisses. Gerade indem sich diese beiden, zu normativer Geltung vordrängenden Horizonte für die 20Scholastik nicht anwenden lassen, ergibt sich die Notwendigkeit, das Problem der Ursprünglichkeit genauer und eindeutiger zu stellen. | S. 7 |

Die mittelalterliche Scholastik kann in ihrer Belastung durch Rezeption und traditionelle Autorität als einzigartig angesehen werden; der Anspruch philosophischer Ursprünglichkeit tritt dadurch hier in eine Krise, indem Rezeption und Tradition mit einem Wirklichkeitsbewußtsein ebenso einzigartiger Neuheit – nämlich dem christlichen – zusammentreffen. Diese kritische Zuspitzung des Ursprünglichkeitsproblems lenkt die Aufmerksamkeit auf all die Momente, an denen sich die Auseinandersetzung mit der Last der Tradition bevorzugt zeigen muß, sei dies in den Phänomenen des Aufstandes, des Durchscheinens oder des Durchbruches. Diesen Phänomenen hat sich also die vorliegende Untersuchung zuzuwenden. Als Ertrag strebt sie nicht nur die Darstellung ontologischer Einzelzüge der Scholastik unter einem neuen Gesichtspunkt, sondern auch eine Weiterführung und Klärung des Problems der Ursprünglichkeit an.

Heidegger hat in seiner Habilitationsschrift über die – inzwischen dem Magister Thomas von Erfurt zugewiesene[6]  – »Grammatica speculativa« programmatisch die Durchführung einer wirklich philosophisch-problemgeschichtlichen Bearbeitung der Scholastik gegenüber einer nur historisch-quellenkritischen Bestandsaufnahme gefordert[7]  und damit zugleich den Rang der Eigenleistung des mittelalterlichen Denkens anerkannt. Freilich scheint es für ihn dort noch zeitlose Probleme der Philosophie zu geben, denn die theoretisch-systematische Auswertung der Scholastik[8]  kann den historischen Zeitbezug – d. ‌h. aber auch das Moment der Ursprünglichkeit – ausschalten und die einzelne Leistung mit anderen, zentripetal auf das Problem an sich gerichtet,[9]  zusammentreten lassen. Worauf Heidegger in dieser Arbeit hinzielt und worin er einen ersten Versuch einer prinzipiell neuen Bearbeitungsart der mittel21alterlichen Scholastik unternehmen will, das ist eine Ausdeutung und Wertung mit Hilfe des philosophischen Problemgehaltes als solchen.[10]  Auch in seinem Hauptwerk bleibt Heidegger bei der ausdrücklichen Anerkennung der weiterführenden Arbeit und Eigenleistung der scholastischen Ontologie, indem er in ihr alles andere denn eine Zusammenfügung überkommener Stücke zu einem Bau[11]  sieht. Aber das hebt nicht die klar erkennbare Tatsache auf, daß seine Forderung der Destruktion in besonderer Zuspitzung die scholastische Metaphysik betrifft, so daß de Waelhens im Hinblick auf die von Heidegger angenommene, nach den ursprünglichen Anfängen bei den Griechen einsetzende ›déformation‹ der ontologischen Entwicklung die Meinung Heideggers so kennzeichnen kann; c'est la scolastique qui porte à ce sujet la responsabilité la plus lourde.[12] 

Die Gegenstellung des Heideggerschen Ansatzes der Ontologie zur mittelalterlichen Scholastik läßt sich vielleicht objektiv noch schärfer fassen, als es Heidegger bewußt geworden ist. Es ist gar nicht so sehr eine Gegenstellung nur im Ansatz oder in wesentlichen Einzelkonzeptionen, sondern vielmehr der Umfang und die Radikalität, mit der hier wie dort letzte Problemstellungen aufgenommen und in ganz horizontverschiedener Orientierung durchgearbeitet werden, also letztlich die Totalität und das Pathos des Philosophierens selbst, was die Schärfe der Antithese ausmacht, die zugleich den hervorragenden Rang der ›Auseinandersetzung‹ bestimmt. Überall, wo nur engere Ausschnitte der philosophischen Problematik behandelt wurden, konnten denn auch mit Fleiß ›Vorläufer‹ für diesen oder jenen Zug der Existenzialanalyse gefunden werden. Aber wenn etwa auf die augustinische Anthropologie hingewiesen wird, wie Heidegger selbst es tut bzw. nahelegt, dann gibt es im Grunde doch nur einen Bezug zur Existenzialanalyse: die Totalität des Fragens selbst hier wie dort; dagegen ist es von geringerer Bedeutung, daß die Existenzialanalyse u. ‌a. aus einer Interpretation der augustinischen Anthropologie erwachsen ist[13]  – denn 22was kann hier ›Interpretation‹ anderes besagen als die Aufnahme derselben Grundfragen in einem ganz anderen Wirklichkeitshorizont? | S. 8 |

(d) Descartes als Fazit der Scholastik?

Ist es richtig, daß die Seinsfrage, die das Forschen von Plato und Aristoteles in Atem gehalten hat, von da an als thematische Frage wirklicher Untersuchung verstummt ist?[14]  Ist es seitdem nicht wieder zu jener höchsten Anstrengung des Denkens gekommen, ist die Unruhe des ontologischen Fragens nach den Griechen endgültig der sonnenklaren Selbstverständlichkeit gewichen?[15]  Dies ist der weitere Problemzusammenhang, in den sich die vorliegende Arbeit hineinstellt und von dem aus das Ursprünglichkeitsproblem als geschichtliches einige Klärung erwarten darf. Die ›traditionelle Ontologie‹ ist ja nicht eine Ablauffolge, in der die späteren Phasen immer die ›Ergebnisse‹ der früheren sind, in der ein ›Endergebnis‹ möglich wäre, das alles Vorhergehende enthält und es voraussetzt. Muß aber nicht eine derartige Vorstellung in den Begriff der traditionellen Ontologie bei Heidegger hineinspielen, wenn Descartes in so ausgezeichnetem Maße zum ›Blickfang‹ destruktiver Kritik werden kann? Soll in ihm nicht gleichsam das Fazit der scholastischen Ontologie getroffen werden? Dann allerdings muß er den unmittelbaren Hinblick auf die mittelalterliche Scholastik in ihrer Eigenleistung abfangen, deren begriffliche Apparatur er zwar verwendet, aber ohne auch nur entfernt ihre autochthonen Fragen aufzunehmen oder an ihrem Wirklichkeitsbewußtsein noch Anteil zu haben. Vielmehr steht Descartes schon in einem anderen Horizont und repräsentiert nicht mehr den Gehalt der scholastischen Begriffe, die er verwendet. So ist der cartesische Substanzbegriff in seiner Starrheit der des ein für allemal Meßbaren und quantitativ Bestimmbaren. Der Einbruch mathematischer Strukturmomente in die Ontologie, der schon beim späten Plato bedeutsam wurde, wiederholt sich hier mit der Mächtigkeit der Anzeige des naturwissenschaftlich-technischen Zeitalters, 23welches erst in seinem Endergebnis in einer radikalen Entsubstanzialisierung und Funktionalisierung diesen Ansatz selbst ad absurdum geführt haben wird.

Was also an Descartes sichtbar wird, das könnte man eher als eine Überholung der scholastischen Ontologie durch die kosmologische Orientierung der Antike denn als Ergebnis der mittelalterlichen Seinsphilosophie selbst charakterisieren. Freilich kann man den Ansatz dieser Überholung schon in der Hochscholastik, und zwar mit der Vollrezeption des Aristoteles, erkennen; aber eben dieses Faktum muß gerade als Einbruch in die Ursprünglichkeit des christlichen Seinsverständnisses gewertet werden. Von der Höhe der aristotelistischen Ausformung der Scholastik mag man die Entwicklung schon auf Descartes zulaufen sehen; aber – und darin hat sich die Fruchtbarkeit des die Untersuchung leitenden Gesichtspunktes der Ursprünglichkeit zu erweisen – wird der Blick auf das autochthone Eigengut einer dem christlichen Wirklichkeitshorizont entspringenden Metaphysik gerichtet, dann muß es gerade auf das ankommen, was sich außer und trotz der direkten, ausdrücklichen und autoritativen Rezeption der Antike ausgebildet hat und in ihr oder gegen sie sich behaupten konnte oder gar die Kraft zur Umschmelzung antiker Kategorien besaß. Der Zugang zur Scholastik führt damit aber nicht über Descartes und rückwärtsgehend auf die Hochscholastik; einem solchen Vorgehen liegt – wenn auch methodisch nicht bewußt – das Schema einer evolutionären Kontinuität zugrunde, die im Endergebnis das voll ausgeprägt zeigt, was schon von den keimhaften Ansätzen her im Werden war. Das leitende Prinzip der Ursprünglichkeit legt einen anderen, prospektiven Zugang zur mittelalterlichen Scholastik nahe, der mit dem Namen Augustinus bezeichnet ist. Zwar spielen auch für die Patristik Rezeption und Autorität der Antike eine – noch näher zu würdigende[16]  – Rolle; aber hier hat das christliche Bewußtsein noch die volle ursprüngliche Kraft, aus der heraus Rezeption Einschmelzung und Aneignung bedeutet. | S. 9 |

Mit diesen kritischen Bemerkungen zur repräsentativen Stellung Descartes' für die Destruktionskritik Heideggers war herauszustellen, daß 24es in der Geschichte der Philosophie das Phänomen der ›Überholung‹ gibt und daß ein Begriff dieser Geschichte, der sie als das Ganze einer kontinuierlichen Entwicklung faßt, in der man von bestimmten Ausprägungen her die diesen vorausgehenden Phasen interpretieren kann, das Problem der Ursprünglichkeit verfehlen lassen muß. Die Scholastik ist nicht nur Vermittlung und Durchgang für das antike Erbe. Sie hat eine ausgeprägte ursprüngliche Eigenleistung, in der keineswegs nur die entwurzelte griechische Ontologie … zum festen Lehrbestand systematisiert wird, in der die griechischen Grundauffassungen des Seins nicht nur dogmatisch übernommen,[17]  sondern ganz im Gegenteil geradezu ihres Bodens beraubt sind. Aber – und daran mögen sich kritischer Vorwurf oder Bedauern mit ihrem zweifelhaften Recht allem Geschichtlichen gegenüber entzünden – diese Eigenleistung der christlichen Metaphysik des Mittelalters kommt im ›Endergebnis‹ der traditionellen Ontologie gerade nicht zu Wort, sie ist darin schon überholt und entkräftet von einer ihr unangemessenen Orientierung. Das gilt auch dann, wenn gewisse Entdeckungen der christlichen Reflexion sich durchzuhalten vermögen, ja gerade in ihrer entwurzelten Gestalt nun erst voll wirksam werden können; denn gerade dann zeigt sich eine neue Ursprünglichkeitsproblematik an, die nun die Philosophie der Neuzeit betrifft.

(e) Integration der Ursprünglichkeitsidee

Ist nun mit der durch die Destruktion gewährleisteten Freigabe der Geschichtlichkeit der ontologischen Konzeptionen das ganze Problem der Ursprünglichkeit nicht einem rein historistischen Interesse überliefert und für das lebendig-gegenwärtige Philosophieren unter den Spiegel des Bedeutsamen und denkerische Spannung Beanspruchenden gesunken? Und ist nicht Heideggers Ausblick nach einem normativen Anhalt als Sicherung vor diesen historistischen Konsequenzen des Destruktionsgedankens zu verstehen? Diese Fragen können nicht ernst genug genommen werden; an der aus ihrer Klärung entspringenden Grund25konzeption hängt die Möglichkeit, von einem Neuansatz der Ontologie überhaupt sinnvoll reden zu können. Die Philosophie selbst darf sich nicht in der Faktizität der menschlichen Wirklichkeitserfahrung auflösen; sie muß sich bezogen wissen auf einen metaphysischen Halt, der verständlich und sinnhaft macht, daß vor dem Hintergrund des faktisch-geschichtlichen Wirklichkeitsbewußtseins eine so einzigartige Einheit und Kontinuität der fundamentalen Fragen sich bilden konnte, wie sie die Geschichte der Philosophie von ihren Anfängen bis auf den heutigen Tag durch alle Metakinesen ihrer Horizonte durchgehalten hat. Diese Einheit des fragenden Anspruches der Philosophie ist das der Geschichtlichkeit des Erlebens und Erfahrens gleichberechtigte Phänomen, das im Ansatz des Ursprünglichkeitsgedankens ebenso zu Wort kommen muß. Weshalb etwa läßt sich überhaupt sinnvoll von einer ›Seinsfrage‹, von ›Ontologie‹ in den verschiedenen Epochen der Philosophiegeschichte reden? Weshalb ist trotz der radikalen Geschichtlichkeit des jeweiligen Seinsverständnisses der einende Begriff einer ›Geschichte‹ der Ontologie von sachlichem Recht, so daß die Forderung der Destruktion ihn unangetastet belassen muß?

Diese Fragestellung ist selbst eine ontologische; es ist die Zirkelhaftigkeit alles menschlichen Verstehens, die es uns nicht erlaubt, von vornherein den Boden endgültig zu befestigen, auf dem unsere Untersuchungen aufbauen könnten. Es wird sich zeigen, daß die mittelalterliche Scholastik selbst sehr bestimmte Vorstellungen von jenem metaphysischen Boden besitzt, der dem inmitten seiner faktischen Welt stehenden Menschen die Gewähr des Verstehens des Sinnes von Sein gibt und ihn daraus zum | S. 10 | Mut der letzten Fragen befähigt. Die Reflexion des Mittelalters, zumal in seiner augustinischen Linie, ist geradezu angetrieben von dem Grunderlebnis dieses Kontrastes zwischen Faktizität und Kontingenz der Wirklichkeit, in der sich der Mensch vorfindet, und der Gewißheit und Sicherheit, mit der er sich den Seinssinn erschlossen weiß. Im Hinblick auf die Möglichkeit eines metaphysischen Bodens der Seinsfrage und des Seinsverständnisses rücken die geschichtlichen Gestaltungen der Ontologie, deren vermeintliche Einheit im Sinne einer außergeschichtlichen Entwicklungskontinuität durch die Destruktion zerschlagen war, zu einer neuen legitimen Einheit zusammen. Die sich andeutende metaphysi26sche Fundierung des Seinsverständnisses erfordert nun auch eine Integration der leitenden Idee von Ursprünglichkeit, an der sich die vorliegende und jede derartige Untersuchung zu orientieren hat.

Die menschliche Existenz ist in ihrem Existieren seinsbezogen; Seinsbezogenheit ist geradezu konstitutiv für menschliche Existenz. Die konstitutive Offenheit für Seiendes in seinem Sein nun ist der Spielraum, in dem sich die geschichtliche Ausprägung des Seinsverständnisses vollzieht, und zwar in immer neu zentrierten Verdeckungen und Entdeckungen innerhalb dieses Spielraumes. Hier wird die Idee eines integralen Seinsbezuges und seiner möglichen ontologischen Auslegung sichtbar. Gerade im Hinblick auf diese Idee gewinnt der Begriff der philosophischen Tradition nochmals Bedeutung; unter diesem Namen verbergen sich Einengungen und Verstellungen eben dieses Spielraumes der Seinserschlossenheit. Gegen sie wendet sich etwa Heideggers Grundforderung des Destruktionsvollzuges, die durch die philosophische Tradition so zäh festgehaltene Auszeichnung der reinen Anschauung und des auf sie gegründeten Erkennens als der primären Zugangsweisen zum Seinsverständnis zu revidieren. Bleibt doch gerade im Erkennen und Anschauen das Sein als Ganzes und in seiner Welthaftigkeit verschlossen und begegnet lediglich in der sekundären Weise des Gegenständlichen.[18]  Der Idee des integralen Seinsbezuges entspricht also die Idee einer integralen Verständnisweise des Seins, in der nicht einfach ein schon Bekanntes einen weiteren Zuwachs an neu Bekanntwerdendem gewinnt, sondern sich das Sein als Ganzes in einer entscheidend das Erkannte transzendierenden Weise darbietet: als Welt in ihrer Welthaftigkeit. Die auf solche Erschlossenheit des Seins im Ganzen gerichtete unverstellte Offenheit des Seinsbezuges bietet nun die Möglichkeit, die Vorzeichnung des Ursprünglichkeitsbegriffes abzuschließen.

Wie Ursprünglichkeit hier zu verstehen ist, zeigt vielleicht am besten ein Hinweis auf die Funktion der Analyse der nächsten Umwelt bei Heidegger, die im Gesamtaufbau die Bedeutung des das Weltproblem als solches vorbereitenden Aufweises übergegenständlicher Seinsstrukturen hat. Diese Umwelt in ihrer Charakteristik als Zeugwelt hat ihre 27ursprüngliche Zugangsweise: … je weniger das Hammerding nur begafft wird, je zugreifender es gebraucht wird, um so ursprünglicher wird das Verhältnis zu ihm.[19]  Der ursprüngliche Seinsbezug ist hier die fundierende Ermöglichung alles weiteren betrachtenden und beredenden Sich-Zuwendens an den Gegenstand. Ursprünglichkeit meint die fundamentale Offenheit für das Sein in seinen Totalstrukturen; wie diese näher zu charakterisieren ist, kann hier noch nicht erörtert werden. Nur ist gewiß, daß der ursprüngliche Seinsbezug keineswegs durch ›Einfachheit‹ gekennzeichnet sein muß; vielmehr ist in ihm eine sehr komplexe Einheit zu sehen, wie denn auch die Idee von Sein überhaupt ebensowenig ›einfach‹ ist wie das Sein des Daseins.[20]  Dies gegen die Verwechslung von Ursprünglichkeit und Primitivität. | S. 11 | Damit folgt der Begriff der Ursprünglichkeit genausowenig der in ihrem Recht fragwürdigen, aber meist unbefragten Forderung höchster Simplizität fundamentaler Sachverhalte, wie die letzten ontischen Strukturen selbst. Einerseits zielt dieser Leitbegriff auf die Freigabe der Geschichtlichkeit des Seinsverständnisses; indem er mit dieser Ernst macht, muß er den ›romantischen‹ Gedanken von Ursprünglichkeit, der in den fernen urtümlichen Anfängen einen normativen Anhalt sucht – gleichsam eine absolute Situation des seinsnahen Philosophierens[21]  –, ausschließen. Das Seinsverständnis des Menschen ist bestimmt durch den Horizont, innerhalb dessen ihm Wirklichkeit als seine Welt erschlossen ist; dieser Horizont aber ist unablösbar auf die Geschichtlichkeit des Menschen bezogen, ja er macht seine Geschichtlichkeit wesentlich selbst aus. Die Leitidee der Ursprünglichkeit verweist auf diese geschichtliche Horizontgebundenheit des Seinsverständ28nisses. Das bedeutet keine Relativierung der Ontologie, wenn man eine solche nicht schon darin zu sehen glaubt, daß Wirklichkeit nur in faktisch-geschichtlichen Horizonten und nicht in einem absoluten An-sich dem Menschen gegeben ist; diese ›Relativität‹ allerdings ausschalten zu wollen, würde heißen, ein anderes Subjekt der Philosophie zu unterschieben als den Menschen. Dieser Leitidee gegenüber erweisen sich als nicht ursprünglich die Elemente des Seinsverständnisses, die einfachhin übernommen werden, sei es aus der Tradition oder aus dem trägen und mutlosen Seinsbezug des ›Man‹. Was die Analyse der Alltäglichkeit des Daseins ergibt, ist ganz wesentlich der Verlust oder die Verleugnung der Geschichtlichkeit des Menschen; demgegenüber ist Eigentlichkeit die Annahme des geschichtlichen Daseins und des ihm gemäßen Selbst- und Seinsverständnisses.[22] Andererseits nun zielt die Leitidee der Ursprünglichkeit auf die Freilegung des metaphysischen Bodens, der die geschichtlichen Möglichkeiten von Ontologie fundiert. Ursprünglichkeit ist hier das Zutagetreten der tragenden Strukturen, auf denen erst die Artikulation eines Seinsverständnisses ansetzt. Sie ist der Anspruch, nicht an den Derivaten und Sekundärmomenten des Seinsbezuges zu haften, sondern im Befragen dieser nach ihren Ermöglichungen der ersten und fundamentalen Weisen gewahr zu werden, in denen Sein erschlossen ist und sich der Auslegung darbietet. Auch hier kann Tradition die vorgegebene Verfestigung einer exemplarischen Erschließungsweise und die Abweisung anderer bedeuten; demgegenüber hat sich ein ursprüngliches Ansetzen der ganzen Breite der Möglichkeiten von Seinserschlossenheit zu versichern und von dieser Breite her das Zurückgehen auf die fundierenden Strukturen anzusetzen. In der Gewinnung dieser Breite der Problemansätze liegt die Funktion der Durcharbeitung und Interpretation der geschichtlichen Gestaltungen der Ontologie.

Die derart umrissene Leitidee von Ursprünglichkeit läßt sich nicht hier oder dort in der Geschichte der Ontologie als erfüllt lokalisieren, um 29alle übrigen geschichtlichen Ausprägungen unter den Titel des Abgleitens und Verfallens zu stellen. Anspruch und Abgleiten, Ursprünglichkeit und Traditionshörigkeit, Autorität der dicta authentica [›originäre Aussagen‹ (der Bibel und der Kirchenväter)] oder dicta magistralia [›Lehraussagen‹ (neuerer scholastischer Autoren)],[23]  Vorherrschaft des konventionellen Schonverstandenhabens lassen sich nicht einem zeitlichen Nacheinander in der Geschichte der Ontologie zuweisen, sondern machen die innere Spannung des philosophischen Verhaltens selbst aus. Eben das wird sich in ausgezeichnetem Maße auch für die mittelalterliche Scholastik zeigen lassen. | S. 12 |

30§ 2. Voraussetzungen und Möglichkeiten eines ursprünglichen Seinsverständnisses in der mittelalterlichen Scholastik

(a) Kontinuität des Wirklichkeitsbewußtseins als Boden der ›Rezeption‹

Der Einbruch des Christentums in die antike Welt bedeutete eine Versetzung und Neuzentrierung des Wirklichkeitshorizontes von geschichtlich einzigartiger Radikalität. Dennoch ist der Übergang zu einem nur geringfügig vorbereiteten neuen Welterlebnis nicht in einem dem objektiven Vorgang auch nur annähernd adäquaten Maße als Bruch des Erfahrungszusammenhanges bewußt geworden. Der Mangel von Zeugnissen einer solchen Umbruchserfahrung hat ja gerade dazu verleitet, die christlichen Eigengehalte aus der antiken Geistesgeschichte herauswachsen zu lassen. Daß dies objektiv unhaltbar ist, bedarf keiner Erörterung mehr. Dennoch bleibt das Phänomen der bruchlosen Kontinuität des Weltbewußtseins von der Antike in die christliche Zeit hinein. Wie ist das zu erklären? Die Erörterung dieser Frage kann sich als bedeutsam für unsere durch das Problem der Ursprünglichkeit geleitete Untersuchung erweisen; die Möglichkeit des unfaßbaren Umfanges an indirekter und selbstverständlicher wie auch direkter und ausdrücklicher ›Rezeption‹ antiker Geistesautorität mag hieran in etwa verständlich werden.

Alles Verhalten, Denken und Handeln ist auf Wirklichkeit gerichtet und bezogen; es geht darin um Wirklichkeit insofern, als es sich überhaupt nur in dieser Bezogenheit als sinnvoll – z. ‌B. als ›wahr‹ oder ›gerecht‹ – verstehen kann und sich derselben immer wieder zu versichern hat. Wird der Wirklichkeitsboden einer Haltung als fragwürdig bewußt, dann ist ihre Sinnhaftigkeit überhaupt infrage gestellt. Eine solche Erfahrung von Fragwürdigkeit des Realitätsbezuges hätte nun dort sich aufdrängen müssen, wo der Einbruch des Christentums mit seinen einzigartigen Ansprüchen an die ganze Existenz des Menschen eben als radikaler Umbruch der Welt, in welcher das an31gesprochene und herausgeforderte Bewußtsein stand, erfahren und bewußt geworden wäre. Es ist für den Menschen der Neuzeit selbstverständlich, daß er das Wirklichkeitskorrelat des Glaubens in seinem Gewißheitsrang, in seiner Versicherbarkeit und damit in seinem die Existenz beanspruchenden Recht scharf absetzt gegen die empirisch gegebene und nach der Idee der Wissenschaftlichkeit sicherbare Wirklichkeit. Pascals argument du pari ist das große Symbol des neuzeitlichen Verständnisses des Wirklichkeitsranges der ›Glaubenswahrheit‹: Sie hat Entscheidungs- und nicht Erfahrungsgewißheit. Pascal selbst hat das beherrschende Gewißheitskriterium der Neuzeit, das Experiment, forciert. Von diesem, an der Erfahrung der neuzeitlichen Leistung der Wirklichkeitsversicherung der exakten Wissenschaften orientierten Gewißheitsbegriff her darf nicht jenes Bewußtsein gedeutet werden, dem das Erlebnis der Neuheit des Christentums zuteil wurde; dessen Möglichkeiten von Wirklichkeitsgegebenheit waren ungleich weiter gespannt, der Wirklichkeitshorizont hatte einen größeren Radius als der neuzeitliche, mag dieser auch vielmals reicher angefüllt sein. Es liegt daher nahe, von einem modernen Aspekt aus das als Umbruch zu deuten, was mit einem anderen Wirklichkeitsbegriff als Übernahme verstanden wurde.

In der Tat läßt sich die Aneignung der christlichen Glaubenserfahrung durch das aus der Antike hervorgehende Bewußtsein nur unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität verstehen. Es kommt nicht zur Erfahrung des Ein- und Umbruches, weil in solcher Erfahrung | S. 13 | sich die sinngewährleistende Wirklichkeitsbezogenheit infrage gestellt sehen würde. In der Aneignung des Christentums wird eine erfüllende Möglichkeit des antiken Weltverständnisses bewußt; gerade darin liegt die selbstverständliche Sicherheit dieses Prozesses. Darin liegt aber auch die Wurzel der durch die folgenden Jahrhunderte gehenden Rezeptionsvorgänge, kurz: der unfaßbaren Geltung der Antike durch das ganze Mittelalter hindurch. Wollte der ›Glaube‹ sich als sinnvoller Anspruch, als integrierender Bestand der Wirklichkeit ausweisen, dann mußte er Kontinuität mit dem verbindlichen Weltverständnis der Antike gewinnen und zu halten suchen. Darin eben liegt die Leistung der Patristik, liegt die Bedeutung der dort vollzogenen ›in32direkten Rezeption‹,[24]  der umfassenden Aufsaugung oder besser der selbstverständlichen Mitführung des antiken Weltverständnisses im christlichen Bewußtsein. Die ungebrochene Kontinuität des Wirklichkeitsbezuges gewährt die große Kraft der Sicherheit und Selbstverständlichkeit der patristischen und scholastischen Denkentwicklung. Das christliche Selbstverständnis der ersten Apologeten etwa weiß das Christentum als die legitime Integration des antiken Denkens. Gegen die Kontinuität gewährleistende Funktion dieses Selbstverständnisses besagt es nichts, daß die fortlebende heidnische Antike im Christentum tatsächlich einen Ein- und Umbruch und eine radikale Gefährdung ihrer ›Welt‹ sah[25]  und damit sogar objektiv im Recht war, denn das Bewußtsein der geradlinigen Fortsetzung des herrschenden Weltbildes war irrig. Dennoch dominierte dieses christliche Selbstverständnis bis zur Höhe des Mittelalters und ermöglichte dort die volle und direkte Rezeption des Aristoteles. Aber auch dort, wo sich das neue Bewußtsein von dem antiken als dem ›heidnischen‹ betont absetzt, bleibt die Gemeinsamkeit eines Horizontes, der den ›Dialog‹ oder die ›Apologie‹ erst sinnvoll macht und in dem man sich über die verbindlichen Weisen der Argumentation einig ist. Es wäre reizvoll, dieses Moment etwa in den augustinischen ›Contra‹-Schriften herauszuheben.

Die moderne scharfe Scheidung von Wissen und Glauben als zwei in ihrem Gewißheitsrang nicht vergleichbaren Weisen des Bezuges, hier auf eine ›reale‹, dort auf eine ›jenseitige‹ Gegenständlichkeit, darf also nicht in das frühchristliche und mittelalterliche Bewußtsein übertragen werden. Die Glaubenswahrheiten gehören dort nicht einer eigenen, sorgfältig ausgegliederten ›Sphäre‹ an, deren Gewißheitssicherung gegenüber der empirischen Gegebenheit ein mit Unbehagen verbundenes Problem ist. Vielmehr ist dieser christliche Wirklichkeitshorizont nicht durch eine Grenze zwischen Glaubens- und Wissenssphäre zerteilt; seine Einheit ist durch Erfahrung und Offenbarung in 33gleicher Unmittelbarkeit und Gewißheit gewährleistet. Das belegt vielleicht am deutlichsten das Unbedürfnis nach einem Gottesbeweis in der Patristik und Frühscholastik.[26]  Das Problem des ›Beweises‹ für Gott und die Glaubenswirklichkeit stellt sich gar nicht, weil die Trennung zweier Wirklichkeitssphären, die je in Wissen oder Glauben zugänglich sind, noch nicht aufgebrochen ist; so berühren noch in der Frühscholastik Rhabanus Maurus, Abaelard, Johannes von Salisbury, Wilhelm von Conches und Petrus Lombardus das Problem des Gottesbeweises gar nicht.[27]  Die starke und das Interesse zentral beanspruchende Entwicklung der Gottesbeweise zeigt eine Differenzierung des Wirklichkeitsbewußtseins an, die ihren endgültigen Ausdruck in der Trennung von Theologie und Philosophie finden wird. Würde zum Einwand für die Frühscholastik das ›ontologische Argument‹ des Anselm von Canterbury angeführt, so läßt sich gerade an diesem zeigen, wie sehr ›Welt‹- und Glaubensbereich noch eine unteilbare, in einer durchgehenden Struktur und | S. 14 | begrifflichen Systematik befaßbare Wirklichkeit darstellen; auf dieser durchgehenden Struktur der Wirklichkeit und der ihr korrespondierenden Logik des Denkens beruht geradezu die Stringenz des Anselmschen Argumentes. Diese Einheit des Wirklichkeitshorizontes ist am nachhaltigsten in der augustinischen Denklinie des Mittelalters bewahrt; wie zum Ausdruck dessen geht etwa Bonaventura auf das Gottesbeweisproblem in systematischem Zusammenhang überhaupt nicht ein.[28]  In der Lehre von der analogia entis [›Seinsanalogie‹] mag ein letztes Sich-Behaupten dieser Einheit, die Gott und Welt, Offenbartes und Erfahrenes zu einer Gewißheit zusammenschloß, zu sehen sein; aber diese Konzeption trägt schon die Konsequenz der Zerspaltung von ›Diesseits‹ und ›Jenseits‹ in sich.[29] 

Das Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen 34Ontologie läßt sich nicht angemessen aufnehmen, wenn die Rezeption der Antike durch das christliche Denken nur unter dem quellenhistorischen Aspekt gesehen wird. Der Begriff der Rezeption wird dabei eingeengt auf die Entlehnung von fertigen Aussagen und Denkformen, hier aus Aristoteles, dort aus Plato, wobei über dem Nachweis des Zitates oder Einflusses die die Kontinuität des Wirklichkeitsbewußtseins tragende Funktion der Rezeption aus der Sicht verschwindet. Es ist das Verdienst von Étienne Gilson,[30]  den literarisch-quellenhistorischen Begriff der direkten Rezeption unterbaut zu haben durch den Begriff einer ursprünglichen, in der Ungebrochenheit des Wirklichkeitsbezuges selbst sich vollziehenden indirekten Rezeption. Hier ist es von geringem Belang, die Elemente dieser ursprünglichen Rezeption nach ihrer platonischen oder aristotelischen Herkunft zu zerlegen; dieses Bestreben kennzeichnet die wesentlich quellenhistorische Behandlung des Rezeptionsproblems. Nach Gilsons Darstellung wird es möglich, die Einheit des das Christentum aufnehmenden Bewußtseinsstromes und seine die Sicherheit der neuen Welthaltung tragende Funktion zu gewahren. Erst der seiner selbst sichere und zu einer homogenen Einheit geschlossene neue Horizont gibt den Boden für eine literarisch ausdrückliche Rezeption ab. Wenn dann schließlich die Rezeption sich an eine hier platonistische, dort aristotelistische Vorentscheidung bindet und der Rezeptionsvorgang in eine Schulbildung ausmündet, dann ist das antike Weltverständnis nicht mehr lebendiges und funktionales Element des Weltbildes, sondern nun erst ›Tradition‹ im zugespitzten Sinne. Was bis dahin Boden und Grund eines in seiner Kontinuität ungebrochenen und damit in seiner Sicherheit unverwandten Wirklichkeitsbewußtseins war, wird nun zur ›Autorität‹ und Last.

35(b) Einheit und Totalität der christlichen Erfahrung

Vor der Aufnahme des Ursprünglichkeitsproblems in Einzeluntersuchungen bedarf es einer vorbereitenden Charakterisierung des Erfahrungshorizontes, als dessen angemessene ontologische Interpretation eine ursprüngliche mittelalterliche Seinsphilosophie verstanden sein will. Von dieser Charakteristik hat schon die Behandlung des Rezeptionsproblems das eine Wesentliche herausgehoben: die Einheit von gläubiger und ›natürlicher‹ Erfahrung. Es ist nicht möglich, dieses Phänomen begrifflich und positiv zu kennzeichnen; es verdeutlicht sich vor allem in der Abhebung gegen die mit der Hochscholastik einsetzende Zerspaltung dieser Einheit, die sogleich darzustellen ist. Gerade unter diesem Aspekt bietet sich Augustinus als der ausgezeichnete Zugang zum ursprünglichen Seinsverständnis des Mittelalters dar. Bei ihm ist die ontologische Valenz der Glaubens- und Heilserfahrung nicht nur voll gegen die der kosmischen ›Außen‹erfahrung der Antike aufgekommen, sondern aus beiden hat sich auch eine komplexe Einheit konstituiert. Erst die | S. 15 | aristotelistische Hochscholastik wird diese Verwobenheit in der Trennung einer wieder wesentlich kosmologisch orientierten Philosophie von der Theologie auseinanderlösen. Für Augustinus ist die im Glauben berührte Wirklichkeit nicht weniger und nicht anders Gewißheit als die in sinnlicher oder seelischer Erfahrung gegebene. Die Einheit seines Begriffes von Philosophie als der Weisheit