Die ontologische Distanz - Hans Blumenberg - E-Book

Die ontologische Distanz E-Book

Hans Blumenberg

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Beschreibung

Im Januar 1948, kurz nach Abschluss des Promotionsverfahrens, beginnt Hans Blumenberg mit der Arbeit an seiner Habilitationsschrift. Sie wächst sich rasch zu einem monumentalen Projekt aus, das nicht weniger will, als den philosophischen Horizont der Moderne vor dem Hintergrund ihrer Krise zu vermessen. Diesen Anspruch löst Die ontologische Distanz zwar nicht ganz ein, aber mit der Verknüpfung von geschichtsphilosophischen Interessen und phänomenologischer Methode bereitet die Studie den Boden, auf dem Blumenbergs große bewusstseinshistorische Untersuchungen der folgenden Jahrzehnte gedeihen.

Mehr als siebzig Jahre nach der Niederschrift wird Die ontologische Distanz nun erstmals publiziert, unter anderem ergänzt um Materialien aus dem Nachlass. In seinem Nachwort rekonstruiert der Herausgeber die komplexe Entstehungsgeschichte des Werks, in der Blumenbergs prekäre Arbeitsbedingungen ebenso eine Rolle spielen wie seine Lektüre von Husserls nachgelassenen Texten und sein wachsender Widerstand gegen Heideggers Philosophie. Der Band macht eine wichtige Etappe von Blumenbergs Denkweg nachvollziehbar und schließt mit Blick auf das Frühwerk eine markante Lücke.

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Seitenzahl: 563

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Titel

3Hans Blumenberg

Die ontologische Distanz

Eine Untersuchung zur Krisis der philosophischen Grundlagen der Neuzeit

Herausgegeben von Nicola Zambon

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-77409-0

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einleitung

Erster Teil Aufweisung und Entfaltung des Distanzproblems

§ 1. Die Infragestellung der Wissenschaftlichkeit der Philosophie

§ 2. Die Herkunft der wissenschaftlichen Selbstauslegung der Philosophie

§ 3. Die ontologische Entschiedenheit des wissenschaftlichen Gewißheitsentwurfes

§ 4. Die Radikalisierung des wissenschaftlichen Gewißheitsentwurfes in der Phänomenologie

§ 5. Das Distanzproblem der phänomenologischen Reduktion

§ 6. Die Umwendung des cartesisch-phänomenologischen Ansatzes

Zweiter Teil Durchblicke zur historischen Morphologie der ontologischen Distanz

§ 1. ›Mythos‹ und ›Logos‹

§ 2. Die sokratische Situation und der Logos

§ 3. Die metaphysische Festlegung der theoretischen Distanz

§ 4. Die Entmächtigung des kosmischen Logos

§ 5. ›Sehen‹ und ›Hören‹

§ 6. Die ›doppelte Wahrheit‹ und der Ursprung der Gewißheitskrise

§ 7. Die Selbstbehauptung der Vernunft vor der Gewißheitsfrage

§ 8. Die ontologische Entschiedenheit der ›Aufklärung‹ und das Erwachen des historischen Sinnes

Dritter Teil Gegenständigkeit und Inständigkeit als Termini der ontologischen Distanz

§ 1. Historische Vergangenheit und geschichtliche Gegenwart

§ 2. Die ursprüngliche Gestalt der philosophischen Frage

§ 3. Die Genesis des geschichtlichen Bewußtseins als originäre Gegenstandsbildung

§ 4. ›Welt‹ und Gegenstand

§ 5. Welt als geistige Leistung

§ 6. Die Grundlagen der phänomenologischen ›Welt‹wissenschaft in ihrer Ursprünglichkeitsproblematik

§ 7. Der Ertrag des phänomenologischen ›Horizont‹begriffes für die ›Welt‹thematik

§ 8. Die passive Genesis des Welthorizontes

Vierter Teil Die Endlichkeit des Denkens

§ 1. Der unendliche Entwurf der Phänomenologie als Anspruch geschichtlicher Unbefangenheit

§ 2. Der Zusammenbruch der universalen Vertrautheitsstruktur der Welt

§ 3. Die Destruktion der ontologischen Grundlagen des unendlichen Gewißheitsentwurfes

§ 4. Die Reduktion der Seinsvergessenheit und das neue Denken des Seins

Anhang

Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Strenge der Philosophie [Zwischenfassung von 1949]

Einleitung

Vierter Teil Die Endlichkeit der Philosophie

§ 1. Die ursprüngliche Fremdheit der ›Welt‹

§ 2. Die ›Reduktion‹ der Seinsvergessenheit und das Schicksal der Philosophie

§ 3. Dialogischer Vollzug als Krisis des andenkenden Denkens

§ 4. Die Strenge der Philosophie in ihrer Endlichkeit

Literatur

1. Werke Martin Heideggers

2. Werke Edmund Husserls

3. Weitere Literatur

Nachwort des Herausgebers

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Editorische Notiz

Bildnachweise

Namenregister

Fußnoten

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9Einleitung

Daß die Philosophie von der Bedrängnis der je gegenwärtigen geistigen Situation in Atem gehalten wird und ihre Probleme aus der Not des geschichtlichen Selbstverständnisses des Menschen vorgeworfen erhält, ist ihr selbst über weiteste Strecken ihrer Geschichte hin durch den Schein der Zeitentzogenheit ihrer Grundthemen verborgen geblieben. Hatte das Denken nicht schon am Anfang der für uns deutlichen Geschichte seine großen Fragen aufgeworfen – oder besser: aufgefunden – und sie in der inneren Zwangsläufigkeit des entfaltenden Nacheinanders von Problem, Lösung, Aporie durchgetragen? Gab es in irgendeiner anderen Disziplin eine auch nur entfernt vergleichbare Kontinuität? Sollte dies aber Schein sein – wo sollte man einen Standort finden, von dem aus er als solcher durchschaubar würde, da doch die Philosophie schon der äußerste aller denkbaren Standorte war? Die Geschichtlichkeit der ›Geschichte‹ der Philosophie mußte das verborgenste, vielleicht letzte Thema der Philosophie sein. Zu ihm gab es keinen methodischen Zugang, keinen Hinweis aus den Leerstellen eines Systems, nicht den Stoß einer Aporie; denn nirgendwo sonst ließen sich historische Zusammenhänge größter Tiefenerstreckung so geradlinig ins Zulaufen auf die jeweilige Gegenwart ein›richten‹, so bestätigend zur Vorläuferschaft dienstbar machen wie hier. Das ist gewiß nicht bloßer Zufall oder Folge besonderer Gewaltsamkeit; es deutet darauf hin, daß ›Geschichte‹ der Philosophie sich wirklich auf den Grund einer Einheit beruft. Daß aber diese Einheit gerade nicht das war, als was sie je von den Philosophien und Systemen in Anspruch genommen wurde, nämlich der bloße Vorlauf auf die je aktuelle Gegenwart des Denkens – diese Einsicht konnte nur selbst als Erfahrung eines geschichtlichen Geschicks durchbrechen.

Die Geschichtlichkeit der Geschichte des Denkens konnte also nicht als Gegenstand unter Gegenständen des Denkens gedacht werden. In welchem Stand sollte das Denken seine Geschichtlichkeit zum Gegen-10Stand vor sich bringen? Das ist etwas Grundverschiedenes von der historischen Besinnung und Berufung, in der sich ein Denken auf seine vergangenheitliche Herkunft bezieht. Hegels Philosophie der Geschichte der Philosophie war der letzte und der geschlossenste Versuch, die innere und wesentliche, gleichsam substantiale Einheit der Philosophiegeschichte als notwendigen Weg des Geistes zu sich selbst, d. ‌h. in seine aktuale Gegenwart, zu | S. 4 | begreifen, seit zuerst die griechischen Sophisten sich ausdrücklieh in einen Vorlauf des Denkens eingerichtet, vielmehr diesen auf sich gerichtet hatten und Aristoteles im ersten Buch der »Metaphysik« den Bestand der Probleme als vorgegeben dargetan hatte. Immer war seither die Auffassung der Geschichte der Philosophie beherrscht von dem fraglosen Grundverständnis des Seins, das in ihr zur Sprache, zu seinem Logos kam, als des Letztbeständigen, ewig in sich Beruhenden, ehern Notwendigen. Und wenn schließlich im deutschen Idealismus Denken und Sein nur noch die Aspekte des Absoluten waren, dann mußte das Denken in seiner Geschichte den ehernen Notwendigkeitscharakter des Seins vollends in sich aufnehmen: Denken und Wesen waren eins.

Die Geschichtlichkeit seiner Geschichte konnte dem Denken, über dessen Sinn und Möglichkeit solcherart entschieden war, nur widerfahren. Dieses Widerfahrnis hat nicht die Art der Aporie, in der das Denken vor diesem oder jenem nicht weiter weiß und die es als Problem eines Noch-nicht des Wissens aufnimmt, sondern radikaler die der Verlegenheit um sich selbst. Das Denken sucht solche Verlegenheit ins Gegenständliche abzuschieben und dadurch in den vertrauten Raum geübter Bewältigung zu versetzen. Diese Situation ist sehr deutlich an dem Versuch Diltheys abzulesen, durch eine Kritik der historischen Vernunft die im Historismus unabweisbar gewordene Frag-›Würdigkeit‹ der Geschichte der Philosophie darin aufzufangen, daß zwar nicht mehr eine durchgängige Einheit im Gange des Geistes als notwendige Struktur aufrechterhalten, statt dessen aber die Notwendigkeit in archetypische Grundkategorien möglicher Geistesgeschichte überhaupt verlegt wurde. Der Dienst, den Kant der Rettung der Notwendigkeitsstruktur der Realität geleistet hatte, sollte derart auf die Geschichte übertragen werden. Daß dieses Unternehmen nicht fundamental genug angesetzt und im Absehen verfehlt war, wurde durch Heidegger zu 11voller Klarheit gebracht. Bei ihm wird die Geschichtlichkeit des Denkens gerade darin als Widerfahrnis angenommen, daß das Denken selbst hinsichtlich seiner bis dahin fraglosen Zulassung als letzter ›Träger‹ seiner Geschichte in Frage gestellt wird. Notwendig fällt damit die Frage auf das Sein zurück; die Radikalisierung der Verlegenheit des Denkens geht auf die Frage nach dem ›Sinn von Sein‹ zurück. Diesen Rückgang zu ermöglichen, ist der Dienst, den die Existentialanalyse zu leisten hat: Sie durchbricht an der Phänomenologie des Daseins die traditionelle Festlegung des Seins auf Wesensnotwendigkeit, auf in sich beruhenden | S. 5 | Bestand.

Dieser Durchbruch durch die traditionelle Ontologie vollzieht sich nicht in der Inanspruchnahme methodischer Freiheit, in dem Beziehen einer neuen Einstellung des Denkens. Er läßt sich vielmehr charakterisieren als das Durchhalten einer geschichtlichen Situation bis in ihre Auslegung hinein. Diese Situation ist die der kritischen Wendung, die es mit dem Seinsverständnis der Neuzeit im ganzen genommen hat. Die Wendung ist prägnant markiert durch die Krisis der Phänomenologie Edmund Husserls, aus der das Denken Martin Heideggers entspringt. Darstellung, Einordnung und Auslegung dieser Krisis ist das vornehmliche Thema der ansetzenden Untersuchung. Die Einleitung hat anzuzeigen, mit welchem Recht und mit welcher Anwartschaft auf sachliche Vertiefung solches Ansetzen erfolgt.

Vom mehr oder weniger deutlichen Bewußtsein, in der Krisis der Neuzeit zu stehen, ist die Gegenwart erfüllt. Was bedeutet hier der Begriff der ›Krisis‹? Er bedeutet, daß das fraglos Selbstverständliche, auf dem eine ganze Epoche aufruhte, sich nicht mehr von selbst versteht. Es wird aber nicht nur problematisch, gegenständlich für Zweifel und Diskussion, dem Versuch der Korrektur ausgesetzt, sondern es entzieht sich radikal, wird nichtig. Diese Ver›nichtung‹ trifft der Name des Nihilismus. Anfänglich nur auf den Verfall der religiösen Bindungen und der moralischen Werte gewendet,[1]  erwies er sich alsbald für ein viel umfassenderes Phänomen als zutreffend: für die annihilatio des Wirklichkeitsbodens der Neuzeit im ganzen. Die Depotenzierung der Bin12dungen und Normen zeigt nur an, daß der Grund von Wirklichkeit, auf den ihre Verbindlichkeit bezogen ist, entzogen wurde. Nur Wirklichkeit kann den Menschen auf ein Sollen hinstellen, nur in der Dichte und Unaufhebbarkeit ihrer Selbstbezeugung können Werte, Ziele, Sinngehalte als verpflichtend erfahren werden. Wenn Nietzsche die Überwindung des Nihilismus in der Idee der ewigen Wiederkunft des Gleichen ermöglicht sieht, die der Verflüchtigung aller Sinngehalte des Lebens ein ›neues Schwergewicht‹ entgegensetzt, so ist in dieser Konzeption zwar die Einsicht in das ontologische Fundament von Verbindlichkeit wirksam, ebenso aber ist noch die Geschichtlichkeit des Geschickes der Neuzeit darin unterschätzt, daß ein hypothetischer Rückgang auf das kyklische Verständnis des Seinsgeschehens, wie es der Antike eigen war, als mächtig genug angesehen wird, | S. 6 | ihm Einhalt zu gebieten.[2]  Die Krisis der Neuzeit kann nur verstanden werden aus dem Rückgang auf den Ursprung der Neuzeit; zugleich damit aber gibt erst die Krisis den Ursprung in seiner Geschichtlichkeit frei. Wie ist das zu verstehen?

Es hat lange zu den Selbstverständlichkeiten gehört, die sich keinem Bedenken mehr anboten, daß wir in der ›Neuzeit‹ leben und daß dieser Name den Anspruch einer Endgültigkeit birgt, die ein Zeitalter danach gar nicht mehr zu denken offen läßt. Von dieser Perspektive aus sind zwar noch ›Altertum‹ und ›Mittelalter‹ Epochen, aber das Epochale ist eben nur das Vorläufige der Geschichte, das auf die ›moderne‹ Zeit – nämlich die nach dem Modus, dem endgültigen Maß geartete Zeit – verläuft und sich in ihr aufhebt. Es ist kein bloßer perspektivischer Umstand, daß eine neue Epoche schon hinsichtlich der Benennung in Verlegenheit kommen müßte; es darf sie gar nicht geben, wenn das hier waltende Selbstbewußtsein nicht ad absurdum geführt werden soll. ›Epochen‹ sind das der Geschichte nur Zufällige, das sich in nicht endende Einheit aufhebt, wenn die Geschichte zu ihrem Wesen gefunden hat. Wie es aus der Gewißheitsnot des zerfallenden Mittelalters 13zur Bildung dieses Geschichtsbewußtseins und dieses unbedingten Anspruches gekommen ist, wird ein entscheidendes Thema des zu gebenden historischen Durchblickes sein müssen. Hier ist nur anzudeuten, welche ver›nichtende‹ Enttäuschung des ›modernen‹ Selbstverständnisses aufbrechen mußte, wenn auch nur Anrücken oder Möglichkeit einer Endigung der Neuzeit sichtbar wurden. Die Vehemenz des Nihilismus, die unsere Gegenwart bedrängt, bezeugt das Offenbarwerden ebendieses enttäuschend-vernichtenden Faktums, daß auch die Neuzeit nur Epoche ist. Ebendies ist das Widerfahrnis, das das Denken inmitten seiner Fraglosigkeiten in Frage stellt: die Endlichkeit des ins Unendliche Entworfenen, der Abbruch des Absoluten, die Epoche des End-gültigen, mit einem Wort: die Geschichtlichkeit der Geschichte. Hier, am Fraglosen, muß die Frage angenommen werden; und es kommt nicht zuletzt darauf an, hier in den Blick zu bekommen, was ›Frage‹ denn im ursprünglichen Sinne heißt. Daran darf die Untersuchung nicht vorbeigehen.

Aber ist dies alles nicht schon bestens aufgehoben in der philosophischen Disziplin, die ›Geschichtsphilosophie‹ genannt wird? Nun, dieser Name enthält, daß wir es hier mit einer ausgegrenzten ›Region‹ des Wirklichen zu tun hätten, wie die Naturphilosophie mit der Natur, die Anthropologie mit dem Menschen usw. | S. 7 | Ontologie ist hier immer nur regionale Ontologie. Das Widerfahrnis der Geschichtlichkeit der Geschichte aber soll die Radikalisierung auf eine ›Fundamentalontologie‹, wie Heidegger sagt, herausgefordert haben? Das ließe sich nur dann rechtfertigen, wenn ›Geschichte‹ und Sein mehr, ja entscheidend mehr miteinander zu tun hätten als etwa ›Natur‹ und Sein, wenn Geschichtlichkeit in das ›Wesen‹ des Seins selbst gehörte, es als Sein des Seienden im ganzen bestimmte oder gar der rechte Name dieses Ganzen wäre. Und das ist in der Tat der Grundzug des Denkens, das sich dem Widerfahrnis der Krisis der Neuzeit zu stellen sucht; Heidegger hat dies neuestens formuliert als die Notwendigkeit, das Wesen der Geschichte ‌… aus dem Sein selbst zu denken.[3]  Diesem Anspruch unterzieht sich die vorliegende Untersuchung; aber nicht, indem sie sich einer These unterwirft, sondern indem sie den Anspruch selbst aus seinem Ursprung nachzudenken versucht.

14Mit dem Titel der ›Geschichtsphilosophie‹ war dem traditionellen Komplex der philosophischen Thematik ein zweifelhafter Bereich zugefallen. Noch das Denken der Aufklärung hatte cognitio historica und cognitio philosophica streng geschieden und der ersten die Sphäre des nur Faktischen, des den Rang wahren Seins Verfehlenden zugeordnet. Das Seinsverständnis, das überhaupt den Hinblick auf Geschichte im Kern des philosophischen Fragens zulassen konnte, erweist sich schon darin als ein radikal gewandeltes. Diese Wandlung des Seinsverständnisses gründet sich auf die Wendung, die es mit der Neuzeit genommen hat. Die Wendung, obwohl sie mit der unverstandenen Härte des Faktums widerfährt und sich ableitender Begründung, wissenschaftlicher demonstratio per causas versagt, dennoch im Denken auszuhalten, das heißt: ihren Seinsgrund aufzuweisen, erfordert, aus der traditionellen Fixierung der cognitio philosophica entschlossen auszubrechen. Als philosophisches Vorgehen aber wird dies ein rechtfertigendes sein müssen, das heißt: Jene Fixierung der cognitio philosophica, die Sein und Geschichte ineins zu denken ausschloß, muß selbst zunächst auf ihren Seinsgrund zurückgedacht werden. Ursprung und Krisis der Neuzeit sind ein Thema; in ihm wird die Neuzeit als geschichtliche Epoche gesehen. Darin aber ist wieder freigegeben, Geschichte wesentlich von der Epoche her zu verstehen, die Geschichtlichkeit in der Wende jeweils eines Ganzen von Sinn zu begreifen. Damit greift die Untersuchung, vom Geschick der Neuzeit, ihrem Ursprung und ihrer Krisis herkommend, auf das Thema ›Geschichte‹ als ganzes über; | S. 8 | die vorbereitend aufgewiesenen und entfalteten Kategorien der Interpretation geschichtlichen Ursprungs und geschichtlicher Wende haben sich in einem umfassenderen Horizont auf ihre ontologische Triftigkeit hin zu bewähren. Die Deskription der ›Epoche‹ als Einheit eines Sinnganzen führt auf das Problem der ›Welt‹; unter diesem Titel gewinnt die zuvor nur angekündigte Einheit ›geschichtsphilosophischer‹ und fundamentalontologischer Fragestellung erst ihre volle Deutlichkeit. ›Deutlichkeit‹ besagt in philosophischer Absicht: Herausbildung der zureichenden kategorialen Mittel der Interpretation. In dieser Richtung versucht die vorliegende Untersuchung Boden zu gewinnen; inwiefern das Wesen der Geschichte aus dem Sein selbst gedacht werden kann, soll mit dem Organon der ›ontologischen Distanz‹ profiliert wer15den. Wenn dabei von den ›Termini‹ dieser ontologischen Distanz als Gegenständigkeit und Inständigkeit die Rede ist, so soll darin keine neue ›Typologie‹ der Geschichte aufgemacht werden. So weit sich im voraus andeuten läßt, was die Untersuchung an diesen Namen gewinnen kann, wäre etwa zu sagen: Die Geschichte ereignet sich ›im‹ Sein – also nicht nur in wechselnden und kausal erklärbaren Konstellationen von Seiendem –, aber dies derart, daß das Sein weder nur das Umgreifende der Geschichte wäre noch aber sich in ihr je als es selbst preisgibt und erschöpft. Dies zu bedenken, liegen Metaphern des Raumes am nächsten; bewußt werden daher Gegenständigkeit und Inständigkeit als ›Termini‹ der ontologischen Distanz gefaßt, und ebenso bewußt wird die Mehrdeutigkeit des Distanzbegriffes selbst der Justierung durch den jeweiligen Zusammenhang überlassen. Mißverständlichkeiten der Namen könnten vor allem durch den Gang der Untersuchung nahegelegt werden, die sich von der Bedrängnis des kritischen Verfalls der neuzeitlichen Gewißheit auf den Weg bringen läßt, deren Absehen aber doch darauf geht zu verstehen, welches das Wesen der Geschichte vom Sein her ist, um dann von diesem Verständnis aus die Krisis der Neuzeit am Paradigma der Phänomenologie Husserls begründeter zur Sprache bringen zu können. ›Gegenstand‹, zum Beispiel, ist daher nicht von vornherein in die Subjekt-Objekt-Vorstellung der Neuzeit einzuordnen, auch wenn der Begriff aus diesem Bezirk entfaltet wird.

Was die Untersuchung will, mag sich noch bestimmter abheben, wenn sie in den Zusammenhang des philosophischen Bemühens der Gegenwart hineingestellt wird. Die Kernstücke der Arbeit waren bereits abgeschlossen, als Heidegger in den »Holzwegen« wesentliche Weiterführungen des bisher nur sporadisch Angedeuteten vorlegte. | S. 9 | Man kann sagen, daß der Begriff der ›Seinsgeschichte‹ geradezu den roten Faden ausmacht, der durch die in dem Buch zusammengefaßten und thematisch sehr divergenten Einzelstücke hindurchläuft. Vor allem dem Stück »Die Zeit des Weltbildes« steht die Absicht dieser Untersuchung nahe, indem auch sie sich dem Anspruch unterwirft, die Wahrheit der eigenen Voraussetzungen in die nur irgend mögliche Schärfe der Fragwürdigkeit zu rücken.[4]  Heidegger sucht die auf den ersten Blick diffu16sen Phänomene der Neuzeit aus der Einheit eines Sinnganzen, und das heißt: als geschichtliche Epoche zu begreifen. Die Epoche aber entsteht nicht aus dem ›nächsten Schritt‹ eines linearen Geschichtsverlaufes, in gradueller Differenz zum Vorhergegangenen, sondern sie entspringt aus der Wende, die das Ganze des Seienden in seinem Sein nimmt. Diese Wende gilt es zu begreifen; sie wird nicht vom Denken heraufgerufen, sondern das von ihr herausgeforderte Denken hat sich in ihr ›einzurichten‹. Solches Sich-einrichten hat die Gestalt des ›Entwurfes‹. Der Entwurf zeichnet vor, in welcher Weise das erkennende Vorgehen sich an den eröffneten Bezirk zu binden hat.[5]  Dieses Sich-binden an das je geschichtlich Eröffnete, innerhalb dessen Erkenntnis verwirklicht werden kann, nennt Heidegger die Strengeder Forschung; Strenge ist der Begriff für das Verhältnis von Geschichte und Erkenntnis, ein Begriff, der sich unter historisch wechselnden Namen verbirgt. Strenge als Bindung an den Entwurf des sich in seinem geschichtlich eröffneten ›Raum‹ einrichtenden Denkens wird mit dem Einrücken der Geschichte in den Kern ontologischer Problematik notwendig zur erstrangigen Fragwürdigkeit des philosophischen Fragens selbst, die zunächst den Begriff der neuzeitlichen Fixierung auf szientifische ›Exaktheit‹ zu entreißen hat. Die Infragestellung des Charakters der Philosophie als ›strenger Wissenschaft‹, von der als einem vorgefundenen Faktum unsere Untersuchung ihren Ausgang nimmt und ihr Problem entfaltet, wird von diesen Zusammenhängen her weiter erhellt und in ihrer Unumgänglichkeit tiefer begründet.

Das Sich-einrichten des Entwurfes ist zugleich ein Standfassen gegen das Widerfahrnis der geschichtlichen Wende; diesem Standfassen entspringen Selbststand der Vernunft und Gegenstand des Seienden. Heidegger nennt dies das ›Ausmachen‹ dessen, was für das entworfene Erkennen überhaupt als gewisse Gegebenheit zugelassen werden kann; in diesen Grundriß der Gegenständlichkeit wird das Seiende gleichsam hineingesehen.[6] 

| S. 10 | Diesem Phänomen der originären Gegenstandsbildung, des ansetzenden Standfassens zu der Distanz von Selbststand und Gegen17stand sind wesentliche Analysen des dritten Teils dieser Arbeit gewidmet. Wenn dabei der Ausdruck ›Zurückwerfung‹ bevorzugt gebraucht wird, so geschieht dies in bewußter Gegenstellung zu dem phänomenologischen Generalbegriff ›Reduktion‹, der den methodischen Willen, die Freiheit der Einstellung, die Technik des Ansetzens und Vorgehens impliziert; wogegen unser Begriff geltend machen soll, daß ursprüngliche Gegenstandsbildung als Phänomen der ontologischen Distanz zwar ›Methode‹ und ›Einstellung‹ als zu sichtende und adäquat auszubildende, zur ›Strenge‹ zu perfizierende Möglichkeiten eröffnet, aber gerade darum nicht selbst als schon methodisches Geschehen gedeutet werden darf. Exemplarisch wird dies abgelesen an dem Fundierungsverhältnis von Geschichte und Historie; auch dafür findet sich nun der programmatische Satz bei Heidegger: Gegenständlich kann die Geschichte nur werden, wenn sie vergangen ist.[7]  In der Thematik ›Welt und Gegenstand‹ finden diese Analysen ihre ontologische Verwurzelung. Darin, daß schließlich nur ist, was Gegenstand sein kann, vollendet sich die ontologische Distanz als Gegenständigkeit. Heidegger hat den Begriff des ›Weltbildes‹ als Paradigma der neuzeitlichen Gegenständigkeit gewählt, und in der Tat repräsentiert sich hierin ein äußerster Terminus ontologischer Distanz: ›Welt‹ als das Worin der Inständigkeit wird als ›Bild‹ zu dem, was man vor sich stellen, ›vorstellen‹ und worüber man derart verfügen kann.[8]  Schärfer noch hinsichtlich des Charakters der Verfügbarkeit, des Konstruktiven mag diese Signatur der Neuzeit im Begriff des ›Systems‹ ausgeprägt sein, in dem sich die omnitudo entis befassen läßt.

Die Herausarbeitung des Ursprungs der Neuzeit als Epoche und die Abtragung des Selbstverständnisses, das Denken habe sich in dieser Wende aus der Metaphysik in sein endgültiges Wesen befreit, ist vorangetrieben worden durch eine Untersuchung von Karl Ulmer, die die Bewegungslehren von Aristoteles und Galilei konfrontiert.[9]  Dabei kommt es Ulmer darauf an, über die bloße Darstellung der neuen Na18turansicht und ihrer Erkenntnismethoden hinaus diese selbst wiederum auf die grundlegenden Begriffe von Wahrheit, Wissen und Sein zurückzuführen. Es ist für Ulmer ganz fraglos, daß die geschichtliche Wende als Wandlung des Denkens sich radikal begreifen läßt und daß der Beweggrund dafür nur im Denken selbst liegen kann, dessen Epochen nichts anderes | S. 10 a | als sein Zu-sich-selbst-kommen sind.[10]  Obwohl also Ulmer selbst deutlich macht, daß die Selbstauslegung des neuzeitlichen Geistes als Freiheit von der Metaphysik für die Wissenschaft nicht standhält, daß das neue Denken im Bereich der Metaphysik – wenn auch einer gewandelten – verbleibt, das heißt: in seiner vermeintlichen Autarkie des Wissens doch auf ein grundgebendes Seinsverständnis bezogen und an dieses gebunden bleibt, trotz dieser Ergebnisse seiner eigenen Untersuchung ist für ihn die Idee von Sein nichts weiter als das logische Mittel, um sicheres und damit wahres Wissen zu gewinnen.[11]  Das Ergebnis, daß der Ursprung der Neuzeit keine Evolution, sondern eine Metakinese des ›Denkens im ganzen‹ sei, bleibt so lange nur eine historisch-geistesgeschichtliche Feststellung, wie nicht an die das Problem erst ins Philosophische übersetzende Frage herangegangen wird, was denn diese ›Ganzheit‹ des Denkens, das doch immer nur das je meinige und kein ›epochales‹ ist, bedeute, und wie dieses Ganze dazu komme, sich selbst umzuwerfen in eine radikal gewandelte Epoche seiner selbst. Worin denn ist das Denken mehr als ein Inbegriff der Gedanken je eines ›Subjekts‹ und woher ist es als ›Denken im ganzen‹ geschichtlich? Läßt man mit Ulmer den Wandel des Denkens die Idee des Seins jeweils ›bestimmen‹, so unterwirft man sich von vornherein im Auslegen der Neuzeit selbst derselben, indem man notwendig die idealistische Konsequenz übernimmt. Eine ›neue Metaphysik‹ als Ursprung, Wesen und innerer Zusammenhang des modernen wissenschaftlichen Denkens ist zwar der ›Entwurf‹, behilfs dessen sich das Denken in dem ihm ›eröffneten‹ Bereich einrichtet, aber doch nur in Erwiderung darauf, daß es sich in dieser Offenheit und den durch sie erschlossenen Möglichkeiten vorfindet, selbst durch sie ›bestimmt‹ wird, im Sich-einrichten Stand zu fassen. Schon hier deutet 19sich an, was wir immer wieder zu berühren haben werden, daß es nicht nur eine alternative Position der Auslegung (etwa nach dem Schema ›Idealismus – Realismus‹), sondern eine wirkliche Radikalisierung ist, das Wesen der Geschichte ontologisch zu denken, also das Wesen des Zeitalters aus der in ihm waltenden Wahrheit des Seins zu begreifen.[12] 

Im Freiwerden dieser Radikalisierung konzentriert sich das Verständnis der Krisis der Husserlschen Phänomenologie. Denn die Metaphysik, auf die Husserls Philosophieren zuläuft, ist gerade der vielleicht letzte und kühnste Versuch, im Denken haltmachend dennoch das Ganze des Seins zu begründen. Zwar erkennt auch Husserl die Neuzeit als Epoche, und er sieht das Problem, sie als | S. 10b | ein Ganzes des Denkens zu erklären. Seine Lösung ist eindeutig, indem sie die Bestimmung der Epoche aus dem Wandel des Denkens in ihre letzte Konsequenz führt: der Ursprung der Epoche ist universale Sinnverwandlung als Urstiftung der transzendentalen Subjektivität.[13]  Es zeichnet sich hier die wesentliche Aufgabe dieser Untersuchung ab: die Krisis der Grundkonzeption der Phänomenologie, die wir als ›Haltmachen im Denken‹ vor dem Problem der Geschichte charakterisieren könnten, als Kritik nachzuvollziehen, zugleich aber zu versuchen, dies nicht als Ende, sondern kraft der schon angebrochenen Wende geschehend zu erhellen. Der Begriff der ›ontologischen Distanz‹ steckt gleichsam den Raum ab, auf den der Name der Wende doch bezogen ist und von dem her er deshalb interpretiert werden kann.

Der Sinngehalt von ›Geschichtlichkeit‹ ist mit dem ontologischen Schema des Gegensatzes von Sein und Werden, wie es die Metaphysik der Antike ausgebildet hat, nicht zureichend zu fassen. Durch die Aufhebung des klassischen Begriffes von ›Wesen‹ als unverwandtem konstitutiven ›Bestand‹ des Seienden fällt ›Geschichte‹ noch nicht eo ipso dem ›Werden‹ und den ›übrigen Kategorien‹ außerhalb der Substanz zu; sie ist weder bloßer ›Fluß‹ des Faktischen noch ein morphogenetisch-entelechialer ›Prozeß‹. Sie liegt als ontologisches Thema überhaupt nicht in Reichweite der klassischen Kategorien der Metaphysik. Des20halb kann auch der Begriff der Zeit, der ohne Bruch auf dem Boden dieser Metaphysik entwickelt ist, keinen Ansatz zum Problem der Geschichtlichkeit enthalten. Diese Überlegung war bestimmend dafür, die ganze hier zu führende Erörterung aus dem Bereich der Begrifflichkeit von essentia und existentia herauszunehmen, obwohl Untersuchungen zu diesen beiden Begriffen zuerst auf die jetzt andringenden Fragen hingeführt hatten. Wir glauben auch nicht, daß sich das Neue in Heideggers Denken aus dem Schema des Gegensatzes von Essentialontologie und Existentialontologie bestimmen läßt, wie eine Darstellung von Max Müller es unternimmt.[14]  Freilich steht dieses Schema in einem engen Zusammenhang zur Problematik der ontologischen Distanz, aber in einem Fundierungszusammenhang. Diese Differenz wird auch bei Müller deutlich in der Unterscheidung von ›Existenz‹ und ›Ek-sistenz‹ im Anschluß an Heidegger: Existenzialismus ist Wesensphilosophie mit negativen Vorzeichen und daher nur von ihr aus und in ihr begreifbar ‌… Ek-sistenzphilosophie aber als der Versuch des Vollzuges neuer Erfahrung ist positiv, überhaupt nicht formal widerlegbar, sondern nur durch tiefere | S. 10 c | Erfahrung überholbar.[15]  Was hier als ›neue Erfahrung‹ bezeichnet wird, gilt es auszulegen, und zwar dahingehend, daß das ›Neue‹ der Erfahrung doch als das ›Alte‹ des Seins, nämlich als seine Geschichtlichkeit, denkbar wird. Daß dies ›Alte‹ jetzt in seiner Neuheit der Erfahrung so andringlich-unausweichlich auftritt, daß selbst die Philosophie um seine Auslegung nicht herumkommt, ja, um diese überhaupt leisten zu können, sich des beharrlichsten Erbes an Kontinuität und Tradition zu entäußern gezwungen ist, bedeutet nicht zugleich schon, daß es überhaupt noch nicht erfahren worden sei; geschichtliche Erfahrung und kategoriale Auslegung klaffen gerade in der gründigsten Dimension weit auseinander. Der historische Durchblick hat nicht zuletzt auch die Funktion, hierfür wenigstens Anzeichen aufzuführen. Stellt man nun aber die Auslegung dieser ›neuen Erfahrung‹ als Ontologie der Ek-sistenz jener klassischen Ontologie der Essenz entgegen, so drohen solche Zusammenhänge un21terzugehen vor dem Schein, den die Namen erwecken, daß sich ›die Geschichte‹ hier teilt. Die Einheit ihres Grundes, auf den zu kommen letztes Anliegen des Denkens sein muß, nämlich das Sein in seiner geschichtlichen Wahrheit, zerfällt. Es entsteht der Anschein, man könne auf ein und derselben Ebene, wenn auch in zeitlicher Differenz, Ontologie auf zwei Weisen treiben, gleichsam von zwei Aspekten aus; von da ist es nur ein Schritt, diese beiden Weisen als ›methodische‹ und damit wählbare Möglichkeiten mißzuverstehen. Diesen Mißverständlichkeiten sucht der Begriff der ›ontologischen Distanz‹ zu entgehen, indem er die Einheit des Grundes der Geschichte nicht außer acht läßt. Freilich muß auch dieser Begriff sich immer wieder dagegen wehren, daß ›Distanz‹ nicht als methodische ›Einstellung‹ verdeutet wird, die sich auf das erkennende Subjekt bezieht, ebenso wie dagegen, daß der Begriff mit Bezug auf seine entfaltende Herleitung aus den Strukturen des neuzeitlichen Denkens von vornherein als geistesgeschichtliche Kategorie für ebendieses, also namentlich für die Subjekt-Objekt-Konzeption, beschlagnahmt wird. Das Verständnis und der kategoriale Wert des Begriffes gehen verloren, wenn diesem von Anfang an seine ›Plastizität‹ genommen wird, die erst nach und nach in bestimmtere Form übergehen soll. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Ontologie des Wesens und Ontologie der Ek-sistenz wohl in den ›Termini‹ der ontologischen Distanz fundiert sind, daß aber diese Namen nicht ausreichen, die Kategorie des Verstehens herzugeben, die solche extremen ontologischen | S. 10 d | Positionen in ihrer Gegenstellung als auch in ihrer gründigeren Einheit erfassen läßt. Erst eine solche Einheit des geschichtlichen Grundes erlaubt, etwa einen solchen Begriff wie den des ›Verfallens‹ als ›ontologischen Bewegungsbegriff‹ nachzuvollziehen. Die räumliche Metaphorik der Fassung dieses Grundes ist dabei vorausgesetzt; man könnte vergröbernd sagen, daß die klassische Ontologie als Wesensontologie die Gestalt des Seienden, als Existenzontologie die innere ›Motorik‹ des menschlichen Daseins im Blick hat, daß das Sein und Geschichte einende Denken aber sich dem ›Spielraum‹ hierfür zuwendet und seine ›Räumlichkeit‹ als Dimension geschichtlicher Metakinetik abzusehen und zu terminieren sucht.

Diese Metaphorik, die seit Parmenides der Philosophie nicht fremd ist, darf freilich nicht zu einer Art ›Mechanik‹ der Seinsgeschichte gepreßt 22werden, die in Gesetzen aufgeht und Antizipationen zuläßt. Was das Sein je geschichtlich sein läßt, welcher Sinn je das Seiende beherrscht, dafür ist Interpretation der einzige Ausweis. Deshalb gilt ein letzter Vorbehalt der Einleitung dem Mißverständnis, das die ›Termini‹ der ontologischen Distanz, die in den Namen ›Inständigkeit‹ und ›Gegenständigkeit‹ gefaßt werden, als Ideen der Geschichte nehmen könnte; das Vorstellungsmäßige in diesen Namen hat nicht das Recht des Bezuges auf ›Gestalt‹, sondern auf Grenze, die jenen ›Spielraum‹ terminiert und so verstehen läßt, was ›ontologische Bewegung‹ überhaupt heißen kann. Es kommt also nicht darauf an, ob es so etwas ›gibt‹; denn diese Fragestellung bewegt sich schon unter Seiendem und beachtet nicht den ›Spielraum‹ des Seins, in dem solches möglich ist. Wenn z. ‌B. Heidegger neuestens davon spricht, daß die neuzeitliche Steigerung des Bewußtseins in eins ein ›Steigen‹ des Standes und des Gegenstehens der Gegenstände bedeutet, so daß der Mensch der Welt gegenüber steht,[16]  so glauben wir, daß in solcher Deutung die Kategorie der ontologischen Distanz schon im Spiele ist, zumal wenn die ›Benommenheit‹ als Gegenbegriff für ›Bewußtsein‹ und damit Gegenständigkeit auftritt und darin die Inständigkeit impliziert.

Die einleitenden Ausführungen mußten manches vorwegnehmen, was hier den Charakter unvermittelter Plötzlichkeit und Gewaltsamkeit zu haben scheint. Die nun ansetzende Untersuchung wird all diesem den Platz anzuweisen suchen müssen, wo es im ungebrochenen Nachvollzug angetroffen werden kann. | S. 11 |

23Erster Teil Aufweisung und Entfaltung des Distanzproblems

25§ 1. Die Infragestellung der Wissenschaftlichkeit der Philosophie

Der Anspruch der Philosophie, als ›Wissenschaft‹ vollzogen und anerkannt zu werden, ist nicht nur von außen, das heißt: von den Positionen der Wissenschaften und ihres je exemplarischen Ideals wissenschaftlicher ›Strenge‹ her, umstritten und bestritten. Das wäre schon nach dem, was einleitend umrissen worden ist, keine legitime Anfechtung. Aber auch in der philosophischen Besinnung selbst ist die fraglose Geltung dieses Anspruches erschüttert. Darin gibt sich zweifellos die Durchbrechung einer Faszination kund, die von der Philosophie nicht ›aus eigener Kraft‹ geleistet worden ist, sondern erst mit der Ent-täuschung der Zeit am Gesamt›werk‹ der Wissenschaft möglich wurde. Sicher ist der letzte Grund jener Faszination der Philosophie durch die ›exakten‹ Wissenschaften darin zu suchen, daß in diesen der Grundantrieb der neuzeitlichen Philosophie sich so überwältigend und so endgültig zu bewähren und zu verwirklichen schien, daß jene selbst von dem aus ihr Entsprungenen gleichsam aufgesogen und entrechtet wurde. Denn wo war je der Philosophie in ihrer Geschichte eine so glänzende Bestätigung zuteil geworden, wo hatte sie je über so starke Mittel, zur Anerkennung ihrer Ideen zu zwingen, verfügen können? So kam es zu jener wahrhaften ›Ausraubung‹ der Philosophie, deren ureigenste Bereiche sich nach und nach verselbständigten und unter das Ideal exakter Wissenschaftlichkeit stellten, wie z. ‌B. die Psychologie.

Man darf also nicht ohne weiteres und auf Grund des bloßen Faktums die Infragestellung der Wissenschaftlichkeit der Philosophie schon als eine Wiedergewinnung ihres ›Selbstbewußtseins‹ werten. Die Flucht in die Unwissenschaftlichkeit hat ja auch auf breiter Front eingesetzt und ist alles andere als eine Bekundung von sicherem Selbstbewußtsein. Aber wenn irgendwo überhaupt ein Fußfassen erkennbar werden soll, so müßte es sich im Raume des philosophischen Denkens anzeigen. Die Abwerfung der | S. 12 | szientifischen Faszination kann die Freigabe dieser Möglichkeit bedeuten. In welcher Weise, das ist zu untersuchen.

26Daß also die Infragestellung der Wissenschaftlichkeit der Philosophie nicht einfachhin als unfruchtbarer Skeptizismus oder Agnostizismus abgetan werden kann, daß hier mit echter Vor-Sicht der freiwerdenden Möglichkeit geurteilt werden muß, ergibt sich aus dem Gesagten. Daß solche Infragestellung der szientifischen Faszination der Philosophie gerade dort ihren ersten Ansatz erfahren hat, wo die Forderung der ›Philosophie als strenge Wissenschaft‹ mit einzigartiger Prägnanz in unserem Jahrhundert wieder gestellt worden ist, das verweist nicht nur auf die philosophische Legitimität dieser Problematik abseits aller literarischen Leichtfertigkeit, sondern auch auf die Verführungen zu vorschnellem Urteilen und Festlegen, die hier mit der Vieldeutigkeit der Namen gegeben sind. Es gibt freilich einen Sinn von ›Wissenschaftlichkeit‹, der so originär philosophisch ist, daß ihn die Philosophie vielleicht gar nicht verleugnen kann; wenn aber hier von der Faszination der ›Wissenschaftlichkeit‹ gesprochen wird, so ist die Unterwerfung der Philosophie unter das Ideal der wissenschaftlichen Methoden, der Erkenntnischaraktere, der Exaktheit und Strenge gemeint, die sich faktisch und aus dem sachlichen Bedürfnis und den materialen Möglichkeiten der modernen Wissenschaftsdisziplinen, zumal der naturwissenschaftlichen, herausgebildet haben. Insofern freilich die Philosophie in diesen Wissenschaften die Bestätigung und Vollstreckung ihres eigenen Entwurfes von absoluter Gewißheit gesehen und beansprucht hat, greift die Faszination auf jenen ursprünglichen Wissenschaftsbegriff über, damit aber auch ihre Erschütterung. Es wird darauf ankommen, den Zusammenhang, das Fundierungsverhältnis von philosophischem Entwurf der ›Wissenschaft‹ und faktischer Entwicklung der ›Wissenschaften‹ zu untersuchen, um hier die Prägnanz der Begriffe wiederzugewinnen.

Erst dann wird man absehen können, was die Forderung an das philosophische Denken, die ungemäße Absicht auf ›Wissenschaft‹ und ›Forschung‹ fallen zu lassen,[17]  bedeuten kann. Und ob es nur eine bestimmte Selbstauslegung des Denkens, nämlich die technische ist, wodurch die Philosophie in die ständige Notlage geraten ist, vor den ›Wissenschaften‹ 27ihre Existenz … rechtfertigen zu müssen.[18]  Was sie dadurch am sichersten vollziehen zu können meine, daß sie sich selbst zum Range einer Wissenschaft erhebt. Dieses Bemühen aber ist die Preisgabe des Wesens | S. 13 | des Denkens. Die Philosophie wird von der Furcht gejagt, an Ansehen und Geltung zu verlieren, wenn sie nicht Wissenschaft sei.[19]  Es ist hier deutlich jene Prätention der ›Philosophie als Wissenschaft‹ abgewiesen, die nichts anderes als sich bergende Einordnung des philosophischen Denkens in eine vorgefundene Sphäre und unter ein vorgegebenes Ideal ist, also Flucht vor radikaler Selbstverantwortung durch Übernahme eines fremden Ernstes.

Insofern also kann die Philosophie nicht ›eine‹ Wissenschaft sein, wie irgendeine andere akademische Disziplin ›eine‹ Wissenschaft ist. Diese zwar auch dadurch, daß sie ihre je sachgeforderten Methoden ausbildet, prüft und bewährt, aber letztlich doch unter Übernahme ihres Seinsollens als Wissenschaft aus einem Entwurf und unter einer Idee, die sie selbst erst zur Existenz bringen, denn daß Wissenschaft überhaupt sein soll, ist niemals unbedingt notwendig,[20]  ist vielmehr einem originären und in der Philosophie sich zuerst Ausdruck bildenden Selbstverständnis des Gewißheitswillens in seiner Möglichkeit verdankt. Die Wissenschaften stehen immer schon ›in‹ der Notwendigkeit ihres Wissenschaftlichseins und haben in dieser den zureichenden Grund und das Recht ihrer Existenz; die Philosophie dagegen ist wesentlich selbstaufstellend.[21]  Sie konstituiert erst in ihrem Selbstvollzug, was sie ist und zu sein hat, und mit diesem zugleich, ob Wissenschaft zu Recht und notwendig die Gestalt der Verwirklichung des Gewißheitswillens sein kann. Sie hat, sofern sie ursprünglich zu denken unternimmt, die Idee der Wissenschaftlichkeit nicht zu ihrer Verfügung, aber sie verfügt – in einem noch zu klärenden Sinne – unter ihren Möglichkeiten auch über diese. Halten wir also fest: Wird der Philosophie das Prädi28kat ›wissenschaftlich‹ verpflichtend beigelegt, so besteht die Gefahr, daß das Fundierungsverhältnis von Philosophie und Wissenschaft verkehrt, die Dignität der Notwendigkeit auf die falsche Seite verschoben wird. Für das Dasein der Philosophie gibt den Rechtsgrund nicht etwa eine ›offene Stelle‹ im System der Wissenschaften, in der universitas litterarum ab. Vielmehr kann erst im philosophischen Denken im Zuge der ihm obliegenden Erhellung der Möglichkeiten und Strukturen von Seinsgewißheit überhaupt die Idee möglicher Wissenschaft und der ihr zukommenden Strenge zutage treten. | S. 14 |

29§ 2. Die Herkunft der wissenschaftlichen Selbstauslegung der Philosophie

Die Infragestellung der Wissenschaftlichkeit der Philosophie ist, wie sich gezeigt hat, in zwei Dimensionen möglich. Einmal in jeder Dimension, in der die Philosophie durch die in der historischen Entfaltung der Wissenschaften innerhalb ihrer sachlichen Horizonte herausgebildeten Ideale von Strenge, Methodik, Exaktheit fasziniert ist und sich bereit gezeigt hat, sich in diesen Zusammenhang einzuordnen und seine Normen anzuerkennen. Hier ließ sich die Infragestellung unschwer bis zum Aufweis der Ungemäßheit, ja der Verkehrtheit des Fundierungszusammenhanges vortreiben. Was verbleit und weiterleitet, ist die Bekundung einer engen Affinität zwischen Philosophie und Wissenschaft, die auf eine weitere, gründigere Dimension ihres Zusammenhanges verweist. Denn was Wissenschaft in ihrer modernen Erscheinungsweise ist, gegliedert und immer endgültiger geschieden in die Vielheit ihrer Einzeldisziplinen, das ist an seinem Ursprung die Erscheinungsweise der Philosophie selbst, legitim entstanden aus dem konsequenten Vollzug ihrer Selbstauslegung, notwendige Exekution des der spätmittelalterlichen Gewißheitsnot entgegengesetzten Entwurfes neu zu begründender Gewißheit durch radikal sich sicherndes Wissen, eben durch Wissenschaft. Daß dieser Entwurf der Philosophie entwächst, die ihn für sich selbst übernommen hatte, daß er nicht in der Weise ihres eigenen Selbstvollzuges zu verwirklichen war, wie er konzipiert gewesen ist, das ist freilich ein historisches Faktum. Entscheidend ist zu sehen, daß ›Wissenschaft‹ ursprünglich in der Dimension des philosophischen Selbstvollzugs liegt, daß in ihr das philosophische Denken seine legitime Verwirklichung erkennt.

Das bedeutet freilich nicht, dies Erkennen sei der Ausweis der Notwendigkeit jenes Selbstvollzuges der Philosophie als Wissenschaft. Es bedeutet nur, daß für die Philosophie die Möglichkeit ihrer neuzeitlichen Gestalt entschieden ist. Was solche Entscheidung ausmacht, wird noch zur Sprache kommen; daß sie als geschichtliches Ereignis 30nicht nach der Analogie des Willensentscheids gesehen werden darf, den man sich zunächst unentschieden im Anblick seiner Möglichkeiten vorzustellen pflegt, mag hier angedeutet sein. Sei also noch dahingestellt, was das näherhin heißen kann: Die wissenschaftliche | S. 15 | Selbstauslegung der Philosophie ist eine geschichtliche Entscheidung; das Wesen des menschlichen Denkens ist gerade darin geschichtlich, daß es immer schon ›entschieden‹ ist. Solche Entschiedenheit tritt im Modus der Selbstverständlichkeit auf und entzieht sich darin jeder Infragestellung. Erst wo die Geschichtlichkeit des Denkens selbst zum Gedachten wird, kommt solche Entschiedenheit zur Explizität. Dann erst kann verstanden werden, was die Rede von den ›Möglichkeiten‹ des philosophischen Selbstvollzuges bedeutet.

Ohne den historischen Durchblick schon hier, wo es noch um die Gewinnung der Problemaspekte geht, vorwegzunehmen, läßt sich sagen, daß die wissenschaftliche Selbstauslegung der Philosophie ihre entschiedene Artikulation zuerst bei Descartes erfahren hat. Man wird einwenden können, daß der Begriff der ›Wissenschaft‹ doch bei den Griechen entspringt, und zwar auch dort aus dem Selbstverständnis des philosophischen Denkens, daß Plato und Aristoteles doch der Philosophie zuerst methodisch den Boden einer unbedingten Sicherheit zu geben suchten und daß schließlich auch durch das ganze Mittelalter hindurch die Philosophie als scientia anerkannt und gefördert wurde. Dennoch scheint uns der Wissenschaftsgedanke der Neuzeit, wie er bei Descartes seine Wirksamkeit beginnt, von einer so radikal originären Prägung zu sein, daß er nur in einem sehr ungenauen Sinne den bei den Griechen geprägten und im Mittelalter behaupteten Begriff von ›Wissenschaft‹ übernehmen konnte. Auf diese Ursprünglichkeit wird noch zurückzukommen sein; hier muß sie nur kurz umrissen werden. Die cartesische Philosophie versteht sich selbst als vorgebungsfreien Anfang; von diesem Anfang muß alles ausgehen, was fortan dem Menschen Wirklichkeit heißen soll. Wirklichkeit aber kann sich dem Denken nur bezeugen im Wissen, d. ‌h. in der einsichtigen Rechtfertigung ihrer Gegebenheit. Gewißheit wird zum Ertrag kritischer Reflexion, sie wird erleisteter Besitz. Den Gegebenheiten der Erfahrung wird ihre Ausweisung als Wirklichkeit abgefordert. Jene Unverfügbarkeit, die in der als Gnade verstandenen Glaubensgewißheit und in der Deutung 31aller unrückführbaren Wahrheitseinsicht als illuminatio lag, aber auch jene, die in der Anerkennung des unwiederholbaren Geistesranges der ›Autoritäten‹ der Antike und Patristik hingenommen worden war, diese Unverfügbarkeit für die kritische Reflexion wurde als letzter Grund der Gewißheitskrise gesehen, in die das ausgehende Mittelalter geraten war. Das | S. 16 | Denken mußte gleichsam auf seinen archimedischen Punkt gebracht werden, von dem aus es die Wirklichkeit seinem absoluten Gewißheitsanspruch verfügbar machen konnte. In ihrem Grunde ist diese Gewißheitsidee schon das, was erst in ihrer technischen Manifestation zutage treten wird, die Herrschaft des Menschen über die Wirklichkeit. Der ausschlaggebende Verantwortungssinn des philosophischen Denkens erfährt hier die zugespitzte Auslegung als In-Verantwortung-ziehen alles Gegebenen und alles den Menschen Beanspruchenden. Da diese Leistung nur als eine unendliche, stets ›vorläufige‹ vollbracht werden kann, darf das noch nicht Bewältigte nur ›provisorisch‹ stehengelassen werden, wie es die cartesische Ethik exemplifiziert. So ist die Wissenschaft die – zwar unendliche, aber doch sich verwirklichende – Aufhebung der Sorge des Menschen um seine Gewißheit in wissende Souveränität.

Was also den Ursprung des wissenschaftlichen Denkens der Neuzeit charakterisiert, ist die einzigartige Ausdrücklichkeit des Gewißheitsproblems, das nun zum Agens der Geistesgeschichte wird. Von hier aus gewinnt die Idee der Wissenschaft ihre alles ergreifende, nicht zu sättigende Universalität und jene Ausschließlichkeit für das moderne Bewußtsein, die sich in dem ›Unbehagen‹ anzeigt, mit dem der Mensch der Neuzeit den Bereich des Wissens verließ und etwa den des Glaubens suspektierte. Ein solcher ›Übergang‹ ließ sich nur als Selbstentäußerung, als ein Sich-stürzen und Sich-werfen, als abseitige Form des Wagnisses verstehen; Kierkegaard hat dieses Bewußtsein des Absurden für den Sinn der Zeit aufs schärfste herausgetrieben.

Wie die cartesische Philosophie den Ansatz zur Neugründung von Gewißheit durchgeführt hat, braucht hier nicht nachvollzogen zu werden. Der ›archimedische Punkt‹ wurde im Cogito, in der absoluten Gewißheit des Bewußtseins gefunden. Aber dies kam nicht zum Austrag einer ›Ent-deckung‹ der Bewußtseinssphäre, sondern war für Descartes nur der ›notwendige‹ Grund und Ausgang, genau so wie ihm Gott – nicht 32der geglaubte, wohlgemerkt, sondern der bewiesene – nur die ›notwendige‹ Garantie dessen war, worum es ihm eigentlich und letztlich ging: um die Wirklichkeit der Welt, und zwar der Welt als Natur, die er als res extensa schon zum Gegenstand der Naturwissenschaft ›präformiert‹ hatte. Diese ›Welt‹, auf die Dimension des Quantifizierbaren reduziert, ist schon ›selektiv‹ daraufhin gesehen, Sphäre wissenschaftlicher Bewältigung sein zu können. | S. 17 |

33§ 3. Die ontologische Entschiedenheit des wissenschaftlichen Gewißheitsentwurfes

Descartes also ging es um die Welt als res extensa, und das ›Ego‹ als res cogitans wie der Deus verax als ens perfectissimum hatten für ihn ihre Bedeutung in der unbedingten Gewährleistung dieser Realität. Damit war nicht nur die universale Wissenschaft als ein Inbegriff des derartig Gewährleisteten hinsichtlich der letzten Bedingungen ihrer Möglichkeit freigegeben, sondern auch zugleich entschieden, in welchem Sinne Wissenschaft ihre Strenge und worin sie ihren eigentlichen Gegenstand haben sollte. Daß die Mathematik exemplarisch für diesen Begriff von ›Strenge‹ sein müsse, besagt nicht so sehr etwas über den Rang dieser Disziplin selbst als vielmehr über die solcher Rangzuweisung vorausgehende Sicht der Wirklichkeit, die eben in mathematischer Erfassung die ihr adäquate Weise ihrer genauen Erfahrbarkeit hat. In dieser Sicht ist antizipiert, was je überhaupt im strengen Sinne szientifische Ergebnisbildung sein kann. Die Auslegung der ›Substanz‹ des Seienden als Extensität, die ihren Ursprung in der Deutung der aristotelischen materia als quantitas hat, bedeutet nicht nur die Möglichkeit der modernen Wissenschaft und Technik, sondern zugleich den Ausschluß, der solcher Auslegung widerstehenden Gegebenheiten aus dem Bereich des ›Realen‹ als des eben wissenschaftlich Bezeugbaren. Hierin liegt die spezifische ›Selektion‹, die den Wirklichkeitsbegriff der Neuzeit entscheidend bestimmt; sie konstituiert sich als ›Heraus-Sehen‹ und als ›Über-Sehen‹. In ihr präformiert sich die Welt zum ›Gegenstand‹ der Naturwissenschaft, zum Herrschaftsfeld der Technik.

Die Entschiedenheit dieses Seinsverständnisses läßt sich noch um einen weiteren Schritt zurückführen. Ihre Grundstruktur ist die des ›Gegen‹. Ziehen wir in Betracht, wie sich bei Descartes das Wirklichkeitsbewußtsein bildet. Aus der Unverbindlichkeit der unmittelbaren Perzeption gewinnt er sich durch das Zurückgehen auf das Cogito über die Instanz des Deus verax allererst den gesicherten Boden der Realität. Er stellt sie sich behilfs einer diskursiven Operation gegenüber. Diese 34logisch erzwungene, statuierte Realität ›ist‹ für den Menschen im Modus der ›Distanz‹. Nicht daß er diese ontologische Distanz in einem ›Akt‹ des Sich-distanzierens erst zu ›schaffen‹ hätte; vielmehr findet er sich in ihr vor, sie ist selbst der Charakter der Entschiedenheit seines Seinsverständnisses | S. 18 |, sie fordert ihm die logische Sicherung der Wirklichkeit, das Prinzip absoluter Gewißheit ab. Diese Grundstruktur der Distanz hat in der cartesischen Philosophie ihre klare Bezeugung, und sie treibt das leitende Problem aller neuzeitlichen Philosophie, den Vorrang der ›Erkenntnistheorie‹ heraus. Fortan wird die Frage, wie der Mensch zu seiner Wirklichkeitserfahrung kommt, dem Philosophen seine Impulse geben. Dieses Zu-seiner-Wirklichkeit-kommen wird künftig nur unter der fraglosen Vorstellung des ›Er-fassens‹ gedacht werden können. Darin aber ist die Entschiedenheit der ontologischen Distanz mitgeführt und ausgetragen.

Bewußtsein und Wirklichkeit sind als res und res verstanden, als res cogitans und res extensa. Da sie je ›Substanz‹, Selbststand sind, kann Erkenntnis nur unter der Vorstellung des Gegen-Standes begriffen werden, aus dem heraus faktische Akte des Erfassens statthaben können. Die moderne Erkenntnisproblematik faßt diese Grundvorstellung unter dem Begriffspaar ›Subjekt‹ und ›Objekt‹; der Begriff der Erkenntnis impliziert folgerecht den von Distanz und Relation, welcher letztere Grade der Klarheit und Deutlichkeit mit sich führt. Daß es Descartes letztlich ›um‹ die Natur als res extensa ging, bleibt als weiterwirkender Antrieb erhalten: die Subjektivität bleibt die ›verdächtige‹ Instanz der Erkenntnisrelation. Zwar gehörte das Subjekt in den cartesischen Ansatz der radikalen Versicherung der Möglichkeit der Erkenntnis hinein – nicht anders als Gott, die garantierende ›Hilfsgröße‹ der Ich-Welt-Beziehung –, aber in der als Wissenschaft zu vollziehenden Verwirklichung dieses Entwurfes geht die Tendenz auf die Eliminierung der Subjektivität. In aller modernen Wissenschaft ist sie als gefährdende, aber in methodischer Anstrengung aufzulösende und einzuklammernde Größe beachtet, die im ›Ergebnis‹ nicht auftreten darf. Dem wissenschaftlichen Ergebnis ist das Neutrum wesentlich, es ist heraussetzbar, hinstellbar als ein ganz und gar Objektives. In solcher restlosen Vergegenständlichung hat der Begriff der Exaktheit sein Ziel. Im Dienste dieses Ideals ist das ›Experiment‹ zum genauen Inbegriff szientifischen 35Geistes geworden; in ihm haben die Möglichkeiten und Folgerungen der ontologischen Distanz ihren zugespitzten Ausdruck gefunden. Im Experiment ist das Subjekt nur noch konstatierende Hilfsfunktion, die den gegenständlichen Sachverhalt in die gegenständliche Feststellung, das Ergebnis, zu überführen hat, ohne diesen objektiven Bereich selbst | S. 19 | zu tangieren. Es mußte daher eine schwerwiegende Brechung dieser originären Tendenz des wissenschaftlichen Gewißheitsentwurfes bedeuten, daß die Forschung jüngster Zeit Wirklichkeitsbereiche ausgedeckt hat, die diese im Experiment verkörperte Forderung nicht ›annehmen‹.

Es zeigt sich derart, daß die Idee strenger Wissenschaftlichkeit von ihrer Heraufkunft am Beginn der Neuzeit her unabdingbar gebunden ist an die Auffassung des Seienden als mögliche, pure Gegenständlichkeit, als das aus einer Distanz heraus und über eine Distanz hinweg ›klar und deutlich‹ Erfaßbare, wobei dann dieses Erfassen wiederum durch den ontologischen ›Vorgriff‹ der Auslegung des Wirklichen auf Extensität hin den spezifisch ›exakten‹ Modus des quantitativen Konstatierens annimmt. Die Einbringung der Wirklichkeit als Natur in den Horizont der Extensität ist ihrerseits fundiert in der ontologischen Entschiedenheit der gegenständlichen Distanz. Umfassender geistesgeschichtlich gesehen, führt auf sie der Gesamtbereich dessen zurück, was die Bewegung der ›Aufklärung‹ im weitesten Sinne ausmacht. Das gegenständliche Seinsverständnis selbst läßt sich verstehen als eine ›Aufklärung‹ im gründigsten, ontologischen Sinne. Sie gibt das große geschichtliche Unterfangen der Sicherung absoluter Gewißheit, universaler Erkenntnis, technischer Wirklichkeitsbemächtigung und moralischer Selbstbeherrschung und Bildung gleichsam erst frei, das sich selbst als Aufklärung verstand.

Ist damit aufgewiesen, daß der neuzeitliche Entwurf wissenschaftlicher Gewißheit auf der geschichtlichen Entschiedenheit der ontologischen Distanz aufruht und aus ihr seine Möglichkeit hat, so ist freilich noch nicht gezeigt, daß darin mehr als eine Frage historischer Interpretation aufgenommen ist. Zwar wird sich diese Problematik erst im Fortgang der Untersuchung aktualisieren lassen; dennoch ist es wichtig, schon hier kurz in den Blick zu bekommen, worum es dabei gehen kann.

Die Welt der Wissenschaft ist nicht die Welt, in der wir ›leben‹; freilich 36auch nicht eine ›andere‹ oder fiktive Welt, aber doch eine unter bestimmter Hinsicht ausgelesene, freigelegte, ihrer Ursprünglichkeit entkleidete Welt – eben gar keine ›Welt‹ im genuinen Sinne, sondern ein Universum von Gegenständlichkeit, dem ein mögliches Universalsystem der Wissenschaften entspricht. Nicht also jenes in keiner Freiheit auszuschlagende Worin unseres Lebens, das uns nie zum Gegenstande werden kann, wohl aber unser ständiges Geschick ist, von dem wir noch im wissenschaftlichen | S. 20 | Verhalten betroffen sind, das uns gegenwärtig ist vor und in allem Leisten des Erkennens und Forschens. Kann jenes Universum von Gegenständlichkeit, das für ein wissenschaftliches Denken allein ›in Frage kommt‹, überhaupt der Horizont sein, von dem her wir uns selbst zu verstehen und daraus unser Dasein nach der Sicht seiner Freiheit zu verwirklichen vermögen? Und wenn dies fragwürdig ist: kann die Philosophie sich je von dem Selbstverständnis unseres Daseins so ablösen und sich in dem Universum wissenschaftlicher Gegenständlichkeit genügen, ohne ihren Ursprung und damit den Boden ihres Sinnens preiszugeben? Das aber heißt doch, die Frage nun in den Zug unserer Untersuchung hineingestellt: Kann die Philosophie fraglos und selbstverständlich aus der Distanz des Gegen-Standes ansetzen, der die ontologische Ermöglichung von Wissenschaft ist, ohne sich selbst gerade in ihrem eigensten Anspruch von ›Strenge‹ zu gefährden? Diese Fragen lassen jedoch noch nicht die volle Problemlast zutage treten oder verschieben sie sogar einseitig. Denn weiter: vorausgesetzt, das philosophische Denken dürfte nicht ohne weiteres die wissenschaftliche Distanz übernehmen, wie ist dann seine Verwirklichung vorzustellen und zu vollziehen, da doch die ihm bisher so selbstverständlich zugemessenen Ausdrücke des ›Er-kennens‹, des ›Be-greifens‹, des ›Er-fassens‹ schon alle das Distanzmoment zu implizieren scheinen?

Diese Fragen, die hier unverrückt belassen werden müssen, haben an jetziger Stelle nur die Funktion, die Fraglosigkeit aufzubrechen, mit der die Formel ›Philosophie als Wissenschaft‹ hingenommen wird, und zwar nun nicht mehr in der Dimension der Unterwerfung und Einordnung unter einen faktisch gegebenen Inbegriff von Erkenntnismethoden, sondern jetzt gerade in der schon herausgearbeiteten, für unsere Untersuchung allein entscheidenden Dimension des Vollzuges der phi37losophischen Selbstauslegung. Um diese Selbstauslegung geht es, um die Bedingungen ihrer Möglichkeit, letztlich um ihre Freiheit, und damit um die genaue Bedeutung solcher Ausdrücke wie ›Anspruch‹, ›Seinsollen‹, ›Aufgabe‹.

Für die Ausweisung und Entfaltung dieser Problematik wird es nun akzentuierend und verschärfend sein, sie in die gegenwärtige philosophische Denklage zu transponieren. | S. 21 |

38§ 4. Die Radikalisierung des wissenschaftlichen Gewißheitsentwurfes in der Phänomenologie

Der Denker, der in unserem Jahrhundert sein philosophisches Programm unter dem Titel »Philosophie als strenge Wissenschaft« vorgelegt[22]  und fast drei Jahrzehnte später die Rechenschaft des Geleisteten als »Cartesianische Meditationen« bezeichnet hat,[23]  der Begründer der phänomenologischen Methode Edmund Husserl, muß als der kühne und konsequente Vollstrecker des cartesischen Entwurfes absoluter Gewißheit in ausgezeichnetem Maße die Bewährung und Weiterführung des thematischen Motivs dieser Untersuchung herausfordern. Hier, bei Husserl, ist noch einmal der cartesische Anspruch erneuert, philosophisch einen bedingungslosen Anfang zu machen und von ihm her nichts anderes anzuerkennen als das, was sich in absoluter Notwendigkeit ausgewiesen hat. Der phänomenologisch Denkende verwirklicht Philosophie als sein selbsterworbenes universal fortstrebendes Wissen, das er von Anfang an und in jedem Schritte verantworten kann aus seiner absoluten Einsicht.[24]  In diesem Satz, der den Entschluß radikal anfangender Philosophen ausspricht,[25]  ist der cartesische Gewißheitsentwurf zu gedrängtester Explizität gebracht. Mit Recht kann die Phänomenologie für sich in Anspruch nehmen, die eigentlich radikale Entfaltung Cartesischer Motive zu sein,[26]  obwohl sie in ihren Ergebnissen von dem Lehrgehalt des cartesischen Systems nichts bestehen läßt.

Dieses unverwandte Bestehen auf dem einmal entworfenen Ansatz des 39neuzeitlichen Denkens muß dabei eine Verschärfung der Bedingungen seiner Möglichkeit übernehmen und austragen, die es ihm unmöglich macht, den von Descartes eingeschlagenen Weg im ganzen nochmals zu gehen. Für Descartes war, so hatten wir herausgestellt, die Reflexion auf das Cogito nur die im methodischen Durchgang gesuchte absolute Versicherung dessen, worum es ihm eigentlich und letztlich zu tun war, der Wirklichkeit als res extensa, als Natur, als Gegenstand der exakten Ergebnisgewinnung. Diese vorentschiedene Tendenz des cartesischen Gewißheitsentwurfes hatte zur Folge, daß im Cogito, im Bewußtsein, zwar eine Sphäre absoluter Gewißheit entdeckt, aber doch eben nur diskursiv ›eingesetzt‹, nicht jedoch in sich selbst in Betracht gezogen und durchforscht wurde. Hier nun nahm Husserl den cartesischen Ansatz auf, ohne den in der Reflexion gewonnenen Boden der Gewißheit wieder zu verlassen, | S. 22 | oder genauer gesagt: verlassen zu können. Denn gerade hier tritt jene Verschärfung der Bedingungen der Möglichkeit eines radikalen Gewißheitsentwurfes in Kraft. Die den Überschritt zur Naturgegenständlichkeit für Descartes noch gewährleistende Instanz eines bewiesenen – aber doch auch darin noch von der Wirklichkeitsdignität des mittelalterlichen Glaubensbewußtseins ›zehrenden‹ – Deus verax ist in der Folgezeit ihrer Ansprechbarkeit für das Gewißheitsproblem verlustig gegangen, und dies nicht zuletzt aus den autochthonen Antrieben der cartesischen Konzeption selbst heraus. Die Entwicklung der Naturwissenschaft hatte den Gott des Descartes wie eine zur Erleichterung der Rechnung eingeführte Hilfsgröße, die aus den Schlußgleichungen herausfällt, erscheinen lassen und faktisch erwiesen, daß die Rechnung auch ohne die Hilfsgröße aufgehe.[27]  Die stupende Bewährung dieser entschlossenen Auslassung begründete das Vertrauen in die autonome Bewältigung des Gewißheitsproblems fest im Grundgefühl der Neuzeit. Die ›Notwendigkeit‹ des Deus verax wurde in der Selbstbeständigkeit des Erkenntnisfortschrittes bis zur vollen Entbehrlichkeit aufgeweicht; für ein Denken, dessen Grundentwurf von Gewißheit doch Notwendigkeit als Ausweis der Wirklichkeit implizierte, mußte dies von besonderer Nachhaltig40keit sein. Aber der stürmische Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis verstellte nur das aus dem cartesischen Ansatz mitgeführte Problem, ohne es doch aufzuheben. Es war die Leistung der philosophischen ›Kritik‹ seit Kant, dies zur Klarheit zu bringen und unter dem nun unumgänglichen Verzicht auf die cartesische ›Hilfsgröße‹ eine neue Lösung zu unternehmen. Die Konsequenz dieser Bedingung der Möglichkeit des Durchhaltens des cartesischen Entwurfes ist in der Phänomenologie vollends ausgetragen. Sie liegt in der Herausstellung des Bewußtseins als der einzig möglichen Sphäre unbedingter Gewißheitsbildung. Hierin bekundet sich der geschichtliche Ort der Phänomenologie am Ausgang der Neuzeit, der ihre innersten Tendenzen zu reiner Artikulation bringt.

Schon Augustinus war in der inneren Erfahrung auf die ›ewigen‹ und notwendigen Wahrheiten gestoßen, auf denen unser Denken in seiner Gewißheit aufruht. Inmitten der Zufälligkeit und Bedingtheit unserer von faktischer Erfahrung abhängigen Erkenntnis hatte er sie nur aus der illuminativen Teilhabe am göttlichen Geist zu erklären vermocht. Die unableitbare Evidenz, die wir in unserem Bewußtseinsleben antreffen, ist auch für Husserl der Ansatz seines Philosophierens. Die Notwendigkeit, die im | S. 23 | Bewußtsein auftritt, ist nicht die der kausalen Zusammenordnung der raum-zeitlichen Tatsachen, sondern im Wesen der Sachen gründende Notwendigkeit.[28]  Allem Tatsächlichen wohnen wesentliche Strukturen inne und können ihm als reines Eidos abgewonnen werden, und zwar gerade dadurch, daß es auf seine Tatsächlichkeit hin nicht angesehen wird. Schon das cartesische Cogito hätte nicht die absolute Gewißheit hergeben können, die ihm abverlangt wurde, wenn es nur den Rang einer empirisch-psychologischen Feststellung, nicht den evidenter Wahrheit, gehabt hätte. Die Phänomenologie ist die methodisch umfassende, universale Heraushebung der absoluten Gewißheitscharaktere des Bewußtseins. Der Inbegriff dieser Methode ist die ›phänomenologische Reduktion‹, die Einklammerung und Sistierung aller Setzungen, in denen die ›Welt‹ als das raumzeitliche Worin aller Tatsächlichkeit, und damit auch der psychologischen Empirie, hinge41nommen wird. Was als Ertrag dieser Reduktion verbleibt, ist das phänomenologischeResiduum,[29]  das Bewußtsein nicht als je meiniges im Hier und Jetzt, sondern das ›reine‹ Bewußtsein in seinem absoluten Eigenwesen und als Region notwendiger Wesentlichkeit überhaupt.

Mit dieser Thematisierung dessen, was für Descartes nur methodisch sichernder Durchgang gewesen war, hat sich die philosophische Forschung einen Bereich erschlossen, in dem die Notwendigkeit aller Sachverhalte der bestimmende Index ist und damit das Ideal ›strenger Wissenschaft‹ nicht mehr ein äußerer, hinzukommender Anspruch, sondern die sachgeforderte Gestalt des Verständnisses selbst, der sich anbietende einzige Modus adäquater Explikation. Indem derart ›Wissenschaft‹ für die Philosophie als mögliches Ideal aufgewiesen ist, kann es allerseits auch Anspruch und Maß werden. Damit schüttelt die Philosophie endgültig das Joch der Faszination durch den partiellen Methodenbegriff der Wissenschaften ab, der z. ‌B. die formal-logischen Denk›gesetze‹ als nichts anderes denn Naturgesetze des Denkens verstehen ließ und sie so zum Analogon der exakten Mechanik machte.[30]  Was in der Phänomenologie gegen das naturalistische Denken durchgesetzt wird, ist nicht weniger als die Selbstbehauptung der Philosophie, die Wiedergewinnung ihrer radikalen und grundgebenden Position, auf die sich die experimentelle Psychologie gesetzt hatte. Diese Leistung, die aller gegenwärtigen Philosophie erst ihren Raum freigab, wird der Phänomenologie keine Kritik streitig machen können, so tief in Frage stellend | S. 24 | sie auch immer sein mag.

Es ist der Sinn der phänomenologischen Reduktion, die Philosophie von aller Vorentschiedenheit freizumachen, sowohl von der des schlichten und selbstverständlichen Realitätsglaubens als auch von der des wissenschaftlichen Realitätsbegriffes. Die Sicherung der Vorentscheidung wird geradezu zur Grundanstrengung des Philosophierens, das sich erst darin seine radikal entwerfende Möglichkeit sichert, daß es sich 42vor alle Entschiedenheit bringt, jede Präsumption seiner Möglichkeiten abweist. Die Tendenz der Universalität