Canopus - Der Kalte Krieg 1 - Dirk van den Boom - E-Book

Canopus - Der Kalte Krieg 1 E-Book

Dirk van den Boom

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Beschreibung

Das Imperium der Menschen in ferner Zukunft: ein politischer und wirtschaftlicher Gigant auf tönernen Füßen, mit Feinden an allen Grenzen und einem aggressiven Kurs der Expansion. In ihm leiden Menschen wie Außerirdische unter Kriegsbedingungen: Seit Jahren lebt das Imperium mit einem militärischen Konflikt, den es wahrscheinlich verlieren wird. Der "Kalte Krieg" zehrt an den Ressourcen und an den Nerven, innere Konflikte brechen auf und Loyalitäten werden infrage gestellt. Mittendrin: ein aus dem Kriegsdienst entlassener Veteran, ein Sklave ohne Erinnerung an seine Identität, eine Wissenschaftlerin, deren Vergangenheit sie einholt, ein havarierter Frachterpilot, eine Soldatin und ein Waisenkind sowie eine Rebellin, die über Leichen geht. Ihr aller Leben wird unter mysteriösen Bedingungen miteinander verbunden und ihr Schicksal führt sie auf einen Kurs, der nach Canopus und weit darüber hinaus weist.

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Inhalt

Introduktion

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Canopus

Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg März 2018 Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin Titelbild und Schriftzüge: Tony Andreas Rudolph Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Lektorat und Satz: André Piotrowski ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-561-7 ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-582-2 Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich. Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de

Introduktion

Sie kamen zusammen, um das Ende der Scissaro zu bezeugen. Der Himmel war bedeckt, wie immer auf Sciss, es war kalt, windig und der Boden graubrauner Matsch. Dendh hatte sich aus Respekt entschlossen, den Levitator nicht zu aktivieren. Seine Stelzfüße versanken tief im kühlen Morast und das schmatzende Geräusch seiner Schritte vermischte sich mit dem der anderen Zeugen. Sie waren nicht mehr viele und bald würden sie noch weniger sein. Das machte Dendh nicht einfach nur traurig. Er war zornig, vor allem auf den Fatalismus der anderen, nicht zuletzt den seines Begleiters Girn, der neben ihm in stiller Kontemplation einherging. Sie starben alle dahin – und alle akzeptierten es mit Gleichmut. Dendh fand dies nur sehr schwer zu ertragen.

Alle fünf Spezies des Alten Rates waren vertreten, die letzten, die es noch gab in den hundert Galaxien, zumindest die letzten, die ihre Planeten noch zu verlassen bereit oder in der Lage waren. Das tiefe Rot des Sternenhimmels kündete vom Ende allen Seins und das Präludium fand hier auf Sciss statt. Noch einige wenige Minuten würden es fünf Spezies sein, bis die Scissaro, die letzten dreizehn ihrer Art, den Suizid vollziehen würden, der gleichzeitig ein Völkerselbstmord war. Danach wären sie nur noch zu viert und beim nächsten Mal dann, wenn wieder eine der ganz alten Zivilisationen aufgab … Dendh wollte gar nicht daran denken.

Die Scissaro waren nicht die Letzten und nicht die Ersten, die diesen unumkehrbaren Weg beschritten. Als die Nachricht mit der Einladung von Sciss gekommen war, hatte sich niemand gewundert. Dendh selbst war an drei weiteren dieser Zeremonien beteiligt gewesen, als Zeuge, und mit jedem Mal war sein Unwille ob der Mutlosigkeit aller angestiegen. Es deprimierte ihn nicht einfach nur, es machte ihn wütend. Damit schien er über stärkere Emotionen zu verfügen als jeder andere hier, inklusive der Selbstmörder in spe, die sie hierhergerufen hatten, um aus ihrer Selbstaufgabe ein Schauspiel zu machen.

Er sah den Berg hoch und erkannte die Lichter der anderen Ätherschiffe. Dendh beobachtete die restlichen Zeugen, wie sie die Anhöhe herunterliefen zum Tümpel, in dem die Letzten der Scissaro darauf warteten, dass man ihr Ende beobachte.

Die Wargi waren wie immer durch den alten Feketer vertreten, seine gebrechliche Gestalt durch das angepasste, kaum sichtbare Exoskelett aufrecht gehalten. Feketer war Dendh voraus, er hatte schon siebenmal dieses deprimierende Schauspiel miterleben dürfen. Nach allem, was man wusste, hatte dies seiner geistigen Gesundheit nicht gutgetan. Es sprach aber für ihn, zumindest nach Dendhs Auffassung, dass er sich ans Leben klammerte. Alle sollten das tun.

Die Siebten waren vertreten durch drei Gesandte. Deren Name tat nichts zur Sache. Ihre humanoide Form war eine Schimäre, ihr Bewusstsein seit Jahrtausenden in Kristallcomputer hochgeladen, hochwertige Quantenmaschinen, die teilweise in mehrdimensionalen Räumen jenseits des Einsteinuniversums existierten. Die Siebten waren unerbittliche Protokollanten des Wärmetods des Universums. Ihre Prognosen waren von dermaßen erschreckender Genauigkeit, dass niemand sie mehr lesen wollte. Auch die Siebten nahmen die Zeugenpflicht ernst. Von ihnen vermutete Dendh, dass sie ihre eigenen Pläne schmiedeten. Mit ihnen wollte er ein Wort wechseln, anschließend, nach dem Genozid, wenn alles getan war und man miteinander sprach oder eben auch nicht.

Dann waren da noch die Stelzenmänner, die mit einem einzigen Vertreter gekommen waren. Dessen hohe Gestalt, dünn wie Stroh, beweglich durch wulstige Kugelgelenke, zeichnete sich deutlich vor dem trüben Himmel ab. Sein Strahlenkopf mit den Lichttendrilen schimmerte wie ein Leuchtturm. Die Stelzenmänner, das war Dendhs Vermutung, waren die Nächsten, die aufgeben würden. Anders ließen sich die Kommentare nicht interpretieren, die diese nach der Einladung durch die Scissaro von sich gegeben hatten. Es war traurig. Die Stelzenmänner hatten einst über eine ganze Galaxis geherrscht. Gut, es gab nichts mehr zu beherrschen außer ausgebrannten Sonnen, Roten Riesen, Schwarzen Löchern und leeren, verwaisten Systemen. Aber sie hatten so viel erreicht, so viel mehr als alle anderen zusammen, Dendhs eigenes Volk inbegriffen.

Dann blieben nur noch er und sein Gefährte Girn von den Nomaden, und die Gruppe war komplett. Im Umkreis von hundert Galaxien war sonst niemand zu finden gewesen, hatte keiner dem Aufruf des Alten Rates eine Antwort geschickt. Dendh hielt es durchaus für möglich, dass da noch jemand lebte und vielleicht sogar zuhörte. Aber von denen strebte anscheinend keiner mehr danach, die uralte Tradition aufrechtzuerhalten. Der Rat war ein Schatten seiner selbst geworden, seit er nichts mehr entschied oder beriet, sondern nur noch den Tod bezeugte. So, wie Dendh es heute wieder tun würde.

Schwach. Schicksalsergeben. Abstoßend. Es stank nach Verfall, selbst dann, wenn es nichts zu riechen gab. Dieser Verfall transzendierte ihrer aller Existenz und sie alle schienen ihn zu umarmen. Dendh wurde wieder zornig, wenn er nur daran dachte.

Sie erreichten den Tümpel.

Die schwache, bläuliche Sonne beleuchtete ihn nur mit müdem Glanz. Sie war schwach wie die Scissaro. Dendh trat an den Rand und blickte in das trübe Gewässer. Es kräuselte sich unter sanften, trägen Bewegungen. Die dreizehn letzten Scissaro schwammen darin umher, ihre aufgedunsen wirkenden Schwimmkörper deutlich zu erkennen, wo Biolumineszenz die Flüssigkeit durchdrang. Auf der anderen Seite des Tümpels, auf einer Anhöhe, standen die beiden letzten Ätherschiffe ihres Volkes, einst mit dem gleichen Wasser gefüllt. Vor achthundert Jahren noch hatten sie den kollektiven Selbstmord der Ponto bezeugt. Das war Dendhs erste Tat als Zeuge gewesen. Er hatte es damals mit einem Stolz gemacht, der ihm heute fehlte, der Verachtung und Wut Platz gemacht hatte. Gemeinsam hatten sie die Welt der Ponto umkreist und beobachtet, wie die letzten rund zehntausend dieses Volkes den Feuersturm auslösten. Es sei ein würdiges Ende gewesen, hatten die Scissaro damals kommentiert. Dendh verstand erst jetzt, dass sie zu dem Zeitpunkt bereits an ihr eigenes Ableben gedacht hatten. Vor achthundert Jahren hatte es noch gut 200 ihres Volkes gegeben, doch dann war irgendwann die Fortpflanzung eingestellt worden.

Sie ergab einfach keinen Sinn mehr.

Als sie alle versammelt waren, hörten sie die verstärkte Stimme eines Scissaro, der aus dem Tümpel zu ihnen sprach. Passend zum Anlass klang er müde und erschöpft, obgleich er die Modulation des Transkribors selbst manipulieren konnte. Alle hörten ihm zu, dem Abgesang. Dendh musste an sich halten, nicht in den Tümpel zu spucken.

Nein, das war unfair. Sie gaben ihm eine Chance. Dafür sollte er ein wenig dankbar sein.

»Ich danke allen Anwesenden dafür, dass sie das Ende unseres Volkes bezeugen. Wir gehen diesen Schritt leichten Herzens und aus großer Überzeugung. Wir beweinen weder unser Schicksal noch erwarten wir, dass andere unserem Vorbild folgen. Unsere Gedanken gelten all jenen intelligenten Spezies, die noch hoffnungsvoll und in Unkenntnis zu den verblassenden Sternen blicken und denken, eine große Zukunft läge vor ihnen. Wir Scissaro ertragen nicht mehr, ihnen die Aussichtslosigkeit ihrer Ambitionen vor Augen führen zu müssen. So treten wir ab, die letzten dreizehn, und ein jedes Individuum hat sich aus freien Stücken dazu entschlossen. Es wurde kein Zwang ausgeübt. Sobald wir fort sind, stehen alle technischen Anlagen unseres Volkes auf dieser Welt, in diesem System zur freien Verfügung. Unsere beiden Ätherschiffe sind bereits versprochen. Behandelt sie gut, sie haben uns über viele Jahrtausende treu gedient. Wir danken allen, die in den letzten Jahren unsere Begleiter waren, uns Mut zusprachen und zum Bleiben aufgefordert haben. Wir bleiben nicht. Wir ermuntern aber alle, die noch einen Sinn in ihrer Existenz finden, diesen auszuleben, und sei es nur, Zeugen des endgültigen Untergangs zu sein.«

Der Vortrag wurde kurz unterbrochen und der Scissaro vor ihnen im Wasser, im Halbkreis von seinen verbliebenen Artgenossen umgeben, stieß sanft einige Luftblasen aus. Die alten Rhetoriker, dachte Dendh. Mit Worten konnten sie umgehen. Mit dem Leben aber nicht.

»Wir Scissaro haben, wie alle uns bekannten intelligenten Lebewesen außer den Siebten, gewisse spirituelle Vorstellungen. Diese helfen uns dabei, darauf zu hoffen, dass wir den Tod dieses Universums auf einer höheren Daseinsebene überleben und der Geburt eines neuen Zyklus beiwohnen werden. Dies erleichtert uns natürlich gleichfalls die Entscheidung, diesen Zyklus für uns vorzeitig zu beenden. Daher sollte niemand um uns trauern. Wir wollen, dass dies ein natürlicher, wenngleich selbstbestimmter Vorgang des Werdens, Seins und Vergehens ist, der nun seinen Abschluss findet, ohne dass dies von Tadel sei oder zu negativen Emotionen Anlass gibt. Wir sind ruhig. Ihr solltet die gleiche Ruhe finden. Wir sehen die anderen Spezies des Rates als Freunde und Gefährten an, als unsere Anker in einer Zeit des universellen Untergangs. In diesem Sinne wollen wir gehen und so wollen wir gerne in Erinnerung bleiben.«

Der Vortrag endete. Dendh war dankbar dafür. Er hätte das dumme, selbstverliebte Geschwafel nur noch wenig länger ertragen. Das nun folgende Ritual war immer das Gleiche. Es wurde darauf gewartet, dass jemand etwas sagte, und diesmal war Dendh an der Reihe. Er hatte einen Text vorbereitet, aus wohlgesetzten Worten, voller Respekt und Abschied. Aber er kam ihm hohl und leer vor, eine Hülle von Silben, jeder echten Bedeutung beraubt. Er wollte diesen furchtbar abgestimmten Text ohne Ecken und Kanten nicht vortragen und niemand konnte ihn dazu zwingen. Es fehlte ihm an Respekt vor dem Anlass? Dann war das eben so. Er fühlte den warnenden Blick Girns. Girn wusste, wie er dachte. Er würde sich anschließend einiges anhören dürfen.

Er holte tief Luft und die Aufmerksamkeit aller richtete sich auf ihn.

»Ich bin Dendh von den Nomaden. Mein Volk kennt alle einhundert Galaxien und wir waren an vielen weiteren Orten, haben mehr gesehen, als alle Völker des Rates zusammen. Das war unsere Aufgabe. In keiner Galaxis, egal wie fern, gab es ein Volk wie die Scissaro und der Schmerz des Verlustes wiegt schwer. Wir werden die Weisheit und die Sanftmut unserer Freunde vermissen. Wir werden den Rat und den Einsatz unserer Freunde vermissen. Wir werden vor allem ihre Gesellschaft vermissen, deren Fehlen eine tiefe Wunde reißt, die bis zum Untergang niemals mehr heilen wird. Wir Nomaden haben unser Wissen immer mit den Scissaro geteilt und ihre Interpretation unserer Erkenntnisse hat zu jedem Zeitpunkt beigetragen, dass wir selbst noch dazugelernt haben. Wir sind unseren Brüdern und Schwestern zu großem Dank verpflichtet. Über die Jahrtausende haben wir von ihnen mehr erhalten, als wir haben geben können, und wir Nomaden haben ein langes Gedächtnis.«

Das war nicht nur so dahingeredet. Die Ursprünge der Nomaden lagen weit, weit zurück. Sie waren die älteste und stabilste noch existierende Zivilisation in den einhundert Galaxien und das entpuppte sich zunehmend als große Bürde. Lief es nicht darauf hinaus, dass sie ganz am Ende allein sein würden? Das musste einen doch verrückt machen!

Bis jetzt hatte Dendh nichts gesagt, was Aufsehen erregt hätte oder gar Unwillen. Es war auch nötig gewesen, erst einmal den aufrichtigen Respekt vor den bald Verstorbenen, wenn schon nicht vor dem Anlass, auszudrücken. Es war keine Lüge in seinen Worten gewesen. Die Scissaro würden vermisst werden und ihre Beziehung zu den Nomaden war eng und freundschaftlich gewesen. Dendh spürte den Verlust, von dem er gesprochen hatte, und als er von der Entscheidung zum kollektiven Suizid erfahren hatte, war dieses Gefühl wie ein körperlicher Schmerz gewesen, eine materielle Verletzung seiner Integrität. Er hasste die Scissaro für ihre Feigheit. Ihre Worte kamen ihm immer mehr wie Heuchelei vor. Sein Lob und seine Trauer hatten sie eigentlich gar nicht verdient.

»Doch gerade weil wir so ein langes Gedächtnis haben, ist es jetzt genug, zumindest für uns. Es ist genug. Wir bezeugen den Tod unserer Freunde, doch damit legitimieren wir den Verfall allen Lebens. Wir unterwerfen uns dem Gesetz der Natur oder dem Höheren Willen, dabei machen wir uns selbst zu Opfern. Es ist Zeit, den Status als Opfer abzuwerfen. Es ist genug. Ich habe genug.«

Dendh erkannte an den Reaktionen der anderen, dass er den vorgegebenen Pfad einer Bezeugungsrede verlassen hatte. Sie wurden alle auf ihre Art unruhig. Die Scissaro selbst aber blieben ganz gelassen, obgleich es am ehesten ihre Aufgabe gewesen wäre, ihn zu unterbrechen. Das war nicht verwunderlich. Er hatte sie darum gebeten, den Anlass in seinem Sinne nutzen zu dürfen. Sie hatten zugestimmt, auch wenn sie seine Absichten nicht teilten. Das war typisch für sie. Und die Dankbarkeit dafür war es, die seinen Zorn ob ihrer Scheinheiligkeit in zivilisierten Grenzen hielt.

»Wir wollen nicht mehr diejenigen sein, die unter dem breiten Stiefel des Schicksals zermalmt werden. Wen oder was repräsentieren wir hier? Primitivste Wesen, zu instinkthaftem Verhalten fähig, aber nicht zu mehr? Oder Zivilisationen, die Hunderttausende von Jahren Entwicklung und Aufstieg hinter sich haben, die dem Universum ihren Stempel aufdrückten, zumindest in dem Bereich, den wir den unseren nennen dürfen? Da sollen wir noch zurückschrecken, den letzten Kampf gar nicht erst aufnehmen und uns stattdessen nach und nach selbst töten, bis das Ende dieses Zyklus uns allen jede Alternative nimmt und mit ins Verderben reißt? Nein. Nein! Das sollten wir nicht tun. Wir sollten jetzt dafür sorgen, dass wir überleben. Wir sollten jetzt beweisen, dass wir Herren der Natur sind, nicht ihre Sklaven. Jetzt ist die Zeit zu zeigen, wer wen beherrscht – und was wir tun können, um die ewige Abfolge von Zerstörung und Neuerschaffung zu durchbrechen oder zumindest aufzuhalten.«

Er schwieg nun und schaute hinab in das trübe Wasser des Tümpels. Die Scissaro trieben in der Flüssigkeit dahin. Sie bewegten sich nicht mehr, wirkten ganz entspannt. Natürlich, das waren sie auch. Die ultimative Entspannung. Seine Worte und die darauf gerichtete Aufmerksamkeit hatten sie benutzt, das vorbereitete Gift zu nehmen und sich zu töten. Dreizehn Leichen schwebten durch das seichte Gewässer, die Körper ausgebreitet, ohne eigene Bewegung, eine stille, kontemplative Form des kollektiven Selbstmords und ohne weiteren Pathos. Ein Tod, wie er zu den Scissaro passte, und anstatt auf Dendhs Aufruf zu reagieren, blickten sie alle nur schweigsam auf die Wasserleichen und versuchten zu verstehen, dass hier eine Zivilisation zugrunde gegangen war, die einst mehr als zweihunderttausend Systeme besiedelt hatte.

Es war kaum zu glauben.

Nach einigen Minuten wandten sie sich alle ab. Dendh wurden feindselige, ablehnende Blicke zugeworfen, die er an sich abprallen ließ. Er marschierte den Hügel hoch, auf dem die beiden letzten Ätherschiffe der Scissaro standen, in der zuletzt vorhandenen Konfiguration, nur ohne das Wasser. Sie warteten auf ihre neuen Herren. Eines der Schiffe war für die alten Freunde, die Nomaden, gedacht und es war Dendhs Pflicht, es in Empfang zu nehmen. Das war der beste Teil der ganzen Zeremonie, denn er hatte Pläne.

»Dendh, auf ein Wort«, hörte er die Stimme, die zu hören er erwartet hatte. Während im Hintergrund bereits die Ätherschiffe der anderen Zeugen wieder lautlos in den Himmel stiegen, um diese tote Welt auf immer hinter sich zu lassen, stand der Gesandte der Siebten vor ihm, hatte sich auf seine übliche, lautlose Art genähert und musterte nun das Ätherschiff.

»Es wird uns gute Dienste leisten«, erklärte der Siebte mit seiner wispernden, kaum hörbaren Stimme.

»Wenn wir alles richtig machen. Es bleibt bei unserem Plan?«

»Wir haben es besprochen und beschlossen. Was sollte uns davon abbringen?«

Dendh lachte glucksend. Es klang unpassend, am frischen Grab der Scissaro zu lachen, aber es machte ihm nichts aus. Er wusste, dass es niemandem mehr etwas ausmachte.

»Die Nomaden und die Siebten kennen sich … wie lange?«

»Fast eine Million Standardjahre. Wir sind neben euch die Ältesten, wie du weißt.«

»Und ich kenne euch davon rund 820 Standardjahre und ich bin nicht einmal der Älteste der Nomaden.«

Der skelettartige Leib des Siebten deutete eine Verbeugung an.

»Wir gehen einen langen Weg«, sagte er dann.

»Ich habe euch bis heute nicht richtig verstanden, weder eure Art noch eure Absichten oder die Motivation, die euch zum Handeln treibt. Niemand hat euch verstanden.«

Der Siebte bewegte sich, was irgendwas bedeutete, das Dendh auch nicht begriff. Die Gestik der Siebten wirkte auf ihn immer noch völlig zufällig, obgleich ihm bestätigt worden war, dass sie es nicht war. Die Verbeugung hatte Sinn ergeben. Andere Bewegungen taten es nicht.

»Wir wissen uns selbst oft nicht einzuschätzen. Aber tröste dich. Die Nomaden stellen uns manchmal auch vor Fragen.«

Dendh blies stoßartig Luft aus. Er breitete seine Arme aus. Die blank polierten Manipulatorklauen blitzten im fahlen Licht der Sonne von Sciss auf.

»Wir tun es also.«

»Wir werden das Ergebnis nicht miterleben – wie die Scissaro.«

»Das kann sein. Aber wir werden etwas getan haben. Und du weißt, dass es so nicht ganz stimmt. Ihr habt die Dinge besser im Blick als wir. Und ich gedenke, euer Angebot anzunehmen.«

»Damit sind Risiken verbunden.«

»Endlich! Endlich ein Risiko! Wie lange habe ich darauf gewartet!«

Dann standen sie noch für einen Moment zusammen auf dem Hügel, die beiden letzten Lebewesen auf Sciss. Unten im Tümpel begannen die Leichen der dreizehn sich ganz langsam aufzulösen, als die Bakterien des Wassers zu einem letzten Festmahl anhoben. Es war ein trauriger Augenblick und gleichzeitig einer, der Hoffnung in sich barg.

Progress 1

»Ich kann nichts sehen. Wer kann etwas erkennen?«

Niemand antwortete ihr. Sergeant Tani Vocis kauerte hinter der Mauer und atmete schwer. Hierherzurennen war nicht einmal das Anstrengende gewesen. Dass die Schmerzstiller nicht mehr richtig wirkten, hatte ihre Energie aufgebraucht.

Sie hob ihren Kopf über den Rand der Mauer. Durch die neblige Dunkelheit konnte sie nur schemenhafte Umrisse ausmachen. Die Infrarotverstärker des Helms halfen ihr nicht, da vorne war derzeit nichts, was Wärme ausstrahlte. Die Kalten Geher waren auf diese Weise nicht zu erfassen.

Auch sonst machten sie sich rar. Das war gut. Das war beunruhigend. Durch Bewegung nahm man sie wahr. Wenn sie still blieben, waren sie fast unsichtbar. Wenn man dann in einen hineinrannte, war es meist zu spät. Aber gut. Ruhe. Ein paar Minuten Ruhe. Sie atmete tief durch. Jetzt nur nicht schlappmachen.

Vocis hockte sich wieder hin, schaute nach hinten. Acht Lebenszeichen wurden ihr in den Helm projiziert, acht von einstmals 120. Es waren nicht mehr viele übrig von der VII. Kompanie, wie generell die Personalstärke der Arturischen Husaren nach der Landung stark gelitten hatte. Vocis fragte sich, wie es an den anderen Landestellen aussah. Seit drei Stunden war das Comnetz ausgefallen und der Leitstand meldete sich nicht mehr.

Falls es noch einen Leitstand gab. Für einen Moment fühlte sie sich furchtbar verlassen und ratlos. Sie musste aufpassen, dass sie diese Gefühle nicht auf ihre Leute übertrug. Denen ging es schlecht genug.

Soldat Amneos Dolmer saß direkt neben ihr. Er steuerte die beiden verbliebenen Aufklärungsdrohnen durch die Trümmer vor ihnen. Das war einmal die malerische Kleinstadt von Andami Port gewesen, etwa 40 000 Einwohner. Ob von diesen noch jemand lebte, war ebenso ungewiss wie das Schicksal des Leitstandes. Die Stadt bestand nur noch aus Ruinen. Wer genau für welche davon verantwortlich war, konnte man im Nachhinein kaum noch auseinanderhalten. Wer gegen die Kalten kämpfte, konnte sich den Luxus besonderer Rücksichtnahme nicht leisten. Jeder Sieg wurde so zu einer Niederlage, das war die Natur dieses Krieges.

Der kleine Schirm, der das zeigte, was die Drohnen aufnahmen, war schwarz. Sie wagten es nicht, den Radar einzuschalten. Der Radar weckte die Kalten Geher, wenn sie in den Ruinen schliefen und auf ihre Gegner warteten. Die Drohnen durften allein ihre optischen Sensoren benutzen und das war in dieser dunklen Suppe wenig hilfreich.

Sie hatten aber sonst nichts mehr. Es mochte wenig nützen, aber es war alles, was sie tun konnten.

»Kevins«, vokalisierte Vocis mit ihrem Kehlkopfmikro. Der Funker der Truppe war blutjung, frisch aus der Grundausbildung und er hatte sich zweimal eingenässt. Die sehr saugfähige Unterkleidung des Kampfanzuges hatte alles aufgesogen und war damit beschäftigt, aus der Flüssigkeit Trinkwasser zu machen. Kein angenehmer Gedanke. Doch Kevins hatte überlebt und das sprach für ihn. Und er hatte noch genug zu trinken. Man musste immer das Positive sehen.

»Kein Signal. Ich höre nur Maschinengeschnatter.«

Kevins Stimme zitterte.

»Von wo?«

»Ich glaube Nordwest.«

Vocis nickte. Die meisten der Satelliten waren abgeschossen worden, bereits kurz nach der Landung. Eine ganz große Verarsche. Wer auch immer der Ansicht gewesen war, diese Invasion sei ein Kinderspiel, der war hoffentlich tot. Angesichts des Schweigens des Leitstandes gab es dafür gute Chancen.

»Was für Maschinen?«

»Unsere. Aber sie reden nicht mit mir.«

»Ist besser so.«

Was sie ebenfalls gelernt hatten, war, dass jede Kontaktaufnahme mit den KIs der AKE – der Autonomen Kampfeinheiten – die Kalten Geher auf den Plan rief. Es war, als würden sie nur darauf warten. Nein, genau das taten sie ja auch. Dass noch AKE aktiv waren, beruhigte Vocis ein wenig. Die Kampfroboter waren intelligent und rücksichtslos, vor allem aber sehr gut bewaffnet. Wenn einige von ihnen operierten, dann hieß das, irgendwo da draußen wurden Kalte Geher vaporisiert. Ein schöner Gedanke. Er half ihnen hier draußen nicht, aber es war ein schöner Gedanke.

Vocis nickte Kevins zu, hob den Daumen, sah seine unmerkliche Reaktion, ein unsicheres Grinsen. Mehr konnte sie nicht für ihn tun. Er musste es selbst schaffen.

»Der Lieutenant?«

Die Frage galt dem Sanitäter, Marksen, der sich über den leblosen Körper des Offiziers gebeugt hatte. Sie hatten mal drei Sanitäter gehabt und Marksen war auch nur noch halb da, nachdem die Geher ihm den linken Arm abgeschossen hatten. Doch sein Kampfanzug hatte die Wunde perfekt versiegelt und seinen Kreislauf stabilisiert. Die Nanobots taten das Ihre, und da Sanitäter ohnehin mit Medtech aufgerüstet waren, konnten sie eine Menge aushalten. Genug, um Marksen seine Arbeit tun zu lassen. Einhändig, aber für den Lieutenant konnte er ohnehin nicht mehr viel tun. Marksen war ein Veteran. Wenn die Nanos irgendwann seinen Arm hatten nachwachsen lassen, dann war das bereits sein dritter neuer. Er nahm es mit stoischer Gelassenheit.

Vocis hatte fragen müssen. Fürs Protokoll. Solange der Offizier atmete, kommandierte sie unter Vorbehalt. Starb er, war sie endgültig verantwortlich.

»Er lebt noch, Sarge.«

»Wie lange noch?«

»Halbe Stunde.«

Marksen sagte es mit kalter Ruhe, entweder aufgrund der Dinge, die er in den acht Jahren Dienst schon gesehen hatte, oder weil sein Blut voller Drogen steckte, die ihn effektiv, aber nicht sonderlich empathisch machten. Doch auf die Information konnte sie sich verlassen. Wenn er sagte, der Offizier habe nur noch dreißig Minuten zu leben, war dies weder besonders optimistisch noch konservativ gerechnet. Es war einfach so. Es war schade. Ein guter Mann, der Sterbende. Etwas unerfahren, aber kein Dummkopf. Schade.

Vocis sah an sich herab. Die Stelle, in die der Metallsplitter gefahren war, als ein Kalter Geher ihr Transportfahrzeug angegriffen hatte, war vom Anzug gut verschlossen worden. Er hatte dazu Blut und Gewebe ihres Körpers benutzt, denn davon hatte sie einiges verspritzt. Darunter versuchten die Nanobots, die zerrissene Niere wiederherzustellen, von dem Gewebe drumherum einmal ganz zu schweigen. Es war ein schmerzhafter Prozess und er dauerte länger als sonst, da sie ihren Körper nicht schonte. Man starb heutzutage an so etwas nicht mehr, wurde nicht einmal großartig beeinträchtigt. Die Medtechnik war gut, zu gut. Sie verlängerte das Leid dieses Krieges und gab ihnen keine Ruhe.

Falsch, korrigierte sie sich. Die Geher gönnten ihnen keine Ruhe.

Die halbe Stunde konnten sie hier auch noch abwarten, befand sie. Alle waren sie am Ende ihrer Kräfte. Und sie hatte ohnehin keine Ahnung, wohin sie jetzt noch sollten.

»Munition und Waffen?«, fragte sie.

»Zwei Magazine, drei Granaten«, kam die erste Stimme. »Ein Magazin«, berichtete die nächste. So ging es reihum. Corporal Antonov, der den Plasmawerfer trug, meldete ein volles Energiepaket. Ohne den Plasmawerfer – und ohne Antonovs stoische Sicherheit im Umgang mit der mächtigen Waffe – gäbe es nicht einmal die acht Überlebenden, die Vocis um sich geschart hatte. Alles in allem war die Situation erbärmlich. Sie schaute auf ihre eigene Bewaffnung: der HGX Pulsator, die Standardinfanteriewaffe der Arturischen Husaren, lag neben ihr auf dem Boden. Ein volles Magazin. An der Hüfte trug sie die Handfeuerwaffe des Lieutenants, der dafür keine Verwendung mehr hatte. Zwei Magazine. Drei Granaten hingen an ihrem Gürtel. Sie war kaum dazu gekommen, sie einzusetzen.

Sie aktivierte mit einer Zungenbewegung die taktische Karte und betrachtete sie schweigend. Der HUD-Projektor flackerte etwas, seit sie böse mit dem Helm aufgetroffen war. Er würde demnächst seinen Geist aufgeben. Vielleicht besser so, wenn man das Leid nicht mehr ansehen konnte. Sie schaute sich die Karte an, drehte und wendete sie, kontemplierte, plante, verwarf. Am Ende war sie so klug wie vorher und die Zeit war verstrichen ohne weitere sinnlose Grübelei.

»Sergeant!«

»Marksen?«

»Er ist tot.«

Vocis holte tief Luft. Sie schaute auf die Uhr. 28 Minuten. »Nehmen Sie seinen Chip und schließen Sie seine Augen. Wir lassen ihn hier.«

»Sergeant.« Marksen hatte eine ganze Chipsammlung in der Gürteltasche. Die Reste der Kompanie. Ein paar letzte Worte waren darauf. Vielleicht würde es jemanden geben, der sie eines Tages abhörte. Vocis glaubte nicht recht daran.

Sie schaute sich um.

»Ich habe das Kommando. Der Lieutenant ist tot.«

Niemand widersprach. Keine Neuigkeit. Sie hatte sie ja ohnehin seit Tagen rumgescheucht, seit es den Mann erwischt und er nur noch pro forma das Kommando geführt hatte.

»Wir haben zwei Möglichkeiten. Nach Nordwesten, wo das Maschinengeschnatter herkommt. Wenn wir uns einer AKE anschließen können, wäre das eine Chance, wenn sie nicht völlig austickt und die Beschützerroutine wieder hakelt.«

Allgemeines Gestöhne. Jeder hatte die Geschichten gehört.

Vocis hob eine Hand und fuhr fort.

»Nach Südosten, wo wir herkamen. Irgendwo da hinten könnte es weitere Überlebende geben, vielleicht sogar eine aktive Evakuierungszone, zumindest laut Notfallplan. Problem in beiden Fällen: Kalte Geher. In den anderen Richtungen: nicht einmal die Ahnung unserer Truppen, aber auf jeden Fall Feinde. Ich plädiere für Nordwesten. Jeder darf mal meckern, ich bin müde.«

»Sergeant«, meldete sich Antonov, der jetzt offiziell ihr Stellvertreter war, da er der einzige Überlebende außer ihr war, der mehr als einen Balken auf der Uniform trug. »Mir isses egal. Alles die gleiche Scheiße.«

»Corp hat recht«, murmelte jemand anders. »Alles egal. Wir folgen Ihnen, Sergeant, alleine verrecken will hier keiner.«

Niemand kommentierte das. Vocis nickte, was niemand sah, vielleicht mehr zu sich selbst. Sie hatte mit keiner anderen Reaktion gerechnet. Das waren die Freuden der Befehlsgewalt.

»Nordwest«, sagte sie schließlich. »Modersohn, Albenk, Sie gehen vor. Antonov macht die Nachhut. Der Rest in Gefechtsformation. Nutzt jede Deckung. Wer einen Geher sieht, schießt erst, wenn alle anderen in Reichweite sind. Ihr wisst, wie zäh die Viecher sind.«

Gemurmelte Bestätigung. Vocis erhob sich vorsichtig, lugte über die Mauer. Nebel, Dunkelheit, Schemen von Ruinen. Nichts. Da draußen konnten tausend Geher hocken und sie würden ihre Gegenwart erst bemerken, wenn die ihre tiefgefrorenen Molekülwaffen abfeuerten.

»Dolmer, schick die beiden Drohnen nach Nordwest, halb automatischer Modus.«

Der Mann nickte. Die Drohnen würden in diesem Modus nicht dauernd Beaufsichtigung brauchen und ein eigenes Suchmuster fliegen. So konnte Dolmer auf seine Umgebung achten und versuchen zu überleben. Leider waren Drohnen dumm. Sie überlebten diesen Modus meistens nicht allzu lange.

Besser als gar keine Vorwarnung.

»Alle bereit? Ich will was hören, von jedem!«

Gemurmel. Bereit war im Grunde keiner. Aber hier sitzen zu bleiben, war auch keine Alternative. Vocis warf einen letzten Blick auf den toten Lieutenant. Der hatte es immerhin hinter sich.

Sie machten sich auf den Weg. Das Eis knirschte unter ihren Sohlen. Nordwest. Eine Richtung so gut wie eine andere.

Sie kamen nicht weit.

»Die Drohnen sind tot!«, meldete Dolmer nach etwa zehn Minuten. Seine Stimme klang mutlos, fast traurig. Er hatte die Beschäftigung verloren, die ihn einigermaßen bei Verstand gehalten hatte.

»War da was?«

»Nein, einfach weg.«

Jeder wusste, was das bedeutete. Vocis gab das Signal. Die Truppe verstreute sich, suchte jede Deckung, die sie finden konnte. Jemand schluchzte. Vocis beschloss, es zu überhören.

»Modersohn«, zischte der Sergeant.

»Ich sehe nichts, ich höre nichts«, kam es von vorne. »Ich glaube nicht … Ach Scheiße! Geher auf zwei Uhr.«

Vocis’ Kopf ruckte nach rechts. Ein Schemen, mehr nicht. Groß wie ein Haus, von kalter Präsenz. Er war kaum auszumachen, aber mittlerweile wusste sie, wonach sie zu suchen hatte.

Tatsächlich senkte sich die Umgebungstemperatur. Die Geher liefen nahe dem Gefrierpunkt und sie ließen die Luft um sich herum erstarren. Die kalte Brise war die einzige Vorwarnung, die ihnen blieb. Die Thermometer der Anzüge blinkten.

»Bleibt ruhig«, befahl Vocis, obgleich sie selbst das Zittern ihrer Stimme unterdrücken musste. »Ganz ruhig. Er sieht euch nur, wenn ihr euch bewegt.«

Das stimmte nur fast. Geher reagierten bevorzugt auf Bewegung, ihr langsames Gehirn nahm diese am besten wahr und ihre Schwerfälligkeit machte sie anfällig gegen sich rasch bewegende Ziele. Doch auch Funk- und Radarsignale schreckten sie auf. Niemand wusste, wo genau in den tropfenförmigen Aufsätzen auf den mächtigen vielgliedrigen Körpern die dafür notwendigen Sensoren saßen. Bis heute war noch kein Geher erbeutet worden. Wer einen traf, zerschmetterte ihn sofort in Tausende Einzelteile, die für sich wenig Erkenntniswert besaßen. Es gab keine beschädigten Geher, nur funktionierende oder zerstörte. Funktionierende töteten, bis man sie zerstörte. Der Krieg war so einfach, obgleich immer noch niemand wusste, warum sie ihn überhaupt führten.

»Das Gebet«, meldete Modersohn. »Sie fangen an.«

Bevor die Geher angriffen, sendeten sie. Es war eine wirre Botschaft, die bisher nicht sinnvoll transkribiert worden war. Es gab endlos viele Interpretationen, aber die hohe, singende Stimme, in die die Translatoren die Signale übersetzten, sorgte für den Spitznamen. Es klang wie die Anrufung einer Gottheit, wie ein Gesang, um sich auf das Gemetzel einzustellen. Das Gebet. Das Gebet war immer Pflicht. Noch nie hatte ein Geher angegriffen, ohne es vorher auf allen Frequenzen zu senden, und obgleich es niemand verstand, hatte es immer den gleichen Effekt: Es verursachte Angst.

Wenn ein Geher kam, kehrte er nicht wieder um. Er siegte oder er starb.

Wer hier sterben würde, daran hatte Vocis keinen Zweifel.

»Antonov.«

»Geladen und bereit.«

»Wenn du danebenschießt, sind wir am Arsch.«

»Mit Verlaub, wir sind auf jeden Fall am Arsch.«

»Sehr gut, Corporal. Das ist die richtige Einstellung.«

Irgendwer kicherte. Galgenhumor war besser als Panik und verbreitete eine sehr fatalistische Form von Kameraderie, die viele davon abhielt, schreiend davonzurennen. Wer rannte, war tot. Ein Geher schoss selten daneben und er war beharrlich, seine Munitionsvorräte unermesslich. Die Projektile bestanden aus Kälte, winzigen Pellets nahe dem Gefrierpunkt. Keine Explosion nötig, keine Lenksysteme, gar nichts. Der Tod kam kalt, schnell, vieltausendfach und er überwand jeden Schutzschirm – den keiner von ihnen trug – und jeden Kampfanzug. Er verwandelte jeden in ein Stück Eis, wenn der Anzug das getroffene Körperteil nicht rechtzeitig isolierte oder die Nanos die Vereisung eingrenzten. Der einzige echte Schutz lag darin, nicht getroffen zu werden.

Vocis sah sich um. Sie lag in einem Einschlagkrater. Was hier vorher gewesen war – undefinierbar. Neben ihr lag Marksen, seine Waffe vor ihm, er kaute irgendwas. Marksen saß an der Quelle. Sein Anzug war vollgestopft mit Psychopharmaka, Schmerzkillern, Aufputschmitteln. Er war ständig high. Nie so stark, dass er seine Arbeit nicht erledigen konnte, aber weit genug, dass ihm alles egal war und er sich auch beim Sterben gut fühlen würde. Beinahe beneidenswert. Die Langzeitwirkungen seines Drogenkonsums waren unabsehbar.

Vocis seufzte.

Als ob das noch irgendeine Rolle spielte.

Der Geher kam. Seine hohe, schlanke Gestalt, seine staksigen, fahlweißen Beine – es schien ein Wunder zu sein, dass er nicht sofort umkippte, wenn er anfing, sich zu bewegen. Doch Vocis wusste es besser. Geher gingen, Geher rannten, Geher sprangen, tänzelten zur Seite, hüpften, wenn es sein musste. Sie waren groß, schwer, echte Ungetüme und dabei von tödlicher Grazie. Niemand wusste, welche Mechanik dies ermöglichte, welche Energieerzeuger oder Technologie. Genau gesagt wusste niemand, ob die Geher überhaupt Technologie waren oder … irgendwas anderes.

Dieser Geher stolzierte. Er schaute sich um, womit auch immer er es tat. Er beobachtete seine Umgebung. Vocis drückte sich in den Krater, bewegte sich nicht. Bewegung war das Problem. Geher suchten nicht nach Energiesignaturen, nach Hitzeentwicklung. Sie reagierten wirklich fast ausschließlich auf Bewegung und Signale aus dem Funkäther. Die einzige Möglichkeit, sich vor ihnen zu verstecken, war absolute Regungslosigkeit. Zum Glück sah man im Anzug nicht, wie sie atmete. Auch das nahmen Geher wahr.

Der Geher machte einen Schritt. So nahe an ihm dran spürte man die Erschütterung. Die Dinger waren schwer, konnten Mauern und Gebäude durch bloßes Treten zerkrümeln. Vocis schloss die Augen. Was war der angenehmere Tod? Durch einen Geherfuß zerquetscht oder von der unermüdlichen, zielsicheren Eisgatling auf dem Kopf des Dings getroffen zu werden? Wahrscheinlich war es egal, wenn es nur schnell ging.

Sie betete, dass jetzt keiner die Nerven verlor.

Progress 2

Er wurde in die Zelle gestoßen. Das war möglicherweise gar nicht so grob gemeint wie ausgeführt, aber er stolperte und schlug gegen die Metallkante der Pritsche, fügte damit den Schrammen an seinem Körper eine weitere hinzu. Die Zellentür schloss sich mit einem Geräusch, das Unerbittlichkeit signalisierte.

Er war allein. Das wusste er. Alles andere war … unklar.

Mit etwas Mühe zog er sich auf die dünne Plastikmatratze. Das eiskalte Polster war durch den dünnen Stoff seiner Hose gut zu spüren. Es quietschte leise, als es belastet wurde. Er zitterte.

Die Zelle wurde durch eine fahlblau scheinende Lampe erhellt. Er blickte sich um, beide Arme fest um den Oberkörper geschlungen: ein Loch in der Wand, viereckig, dahinter ein winziges Waschbecken; in der einen Ecke unweit der Pritsche ein Loch im Boden, das seine Notdurft aufnehmen würde; ein ausklappbarer Tisch, ein ausklappbarer Stuhl, beide derzeit verborgen in der Wand. Sonst war die Zelle leer.

Würde er hier lange ausharren müssen?

Er wusste es nicht.

Warum war er hier?

Er wusste so vieles nicht.

Wer war er?

Das war sicher die drängendste Frage.

Seine Zähne klapperten aufeinander. Ihm war so kalt. Er zog die Beine an den Oberkörper und umschlang sie mit seinen nackten Armen. Das eingerissene und stinkende Hemd hatte keine Ärmel.

Er versuchte, ein Zittern zu unterdrücken, doch es gelang ihm nicht. Sah ihn niemand frieren? Hatte niemand zumindest etwas Erbarmen?

Er schloss die Augen und versuchte, sich an etwas zu erinnern. Wieder kreisten die Fragen in seinem Kopf. Er bestand nur aus Fragen. Das war etwas, an dem er sich festklammern konnte, wenngleich das Fehlen der Antworten ihn mehr schmerzte als seine eher oberflächlichen Verletzungen.

Wie war er hierhergekommen? Wo war »hier« eigentlich? Warum saß er in dieser Zelle, ernsthaft der Gefahr einer Unterkühlung ausgesetzt?

Und wohl am wichtigsten: Wer war er? Wie lautete sein Name?

Er fühlte, wie sich seiner Kehle ein Schluchzen entrang. Die Erkenntnis, dass er auf keine dieser Fragen eine Antwort wusste, traf ihn erneut hart. Er hatte keine Tränen mehr, er musste sie ein andermal vergossen haben. Es war bezeichnend für seinen Zustand, dass er sich nicht einmal mehr daran entsinnen konnte.

Er schaute auf seine Arme, ausgemergelt und abgemagert. Seine Beine sahen nicht besser aus. Er öffnete seine Umklammerung und blickte auf seinen Körper. Er hob das Hemd, unter dem er nichts trug. Die Rippen zeichneten sich deutlich unter seiner Haut ab.

Er fühlte sich schwach. Er verspürte Hunger und Durst. Wann hatte er zuletzt etwas zu sich genommen? Noch eine Frage, die er nicht beantworten konnte.

Als wäre jemand Zeuge seiner wachsenden Verzweiflung geworden, öffnete sich die Tür wieder. Jemand stand im Türrahmen: groß, breit, ein Mann. Er trug einen Overall. Sein Blick zeigte kein Mitleid. Doch zeigte er sich barmherzig, ob nun aus eigenem Antrieb oder auf Anordnung. Er machte einen Schritt nach vorne, legte ein Bündel auf der Pritsche ab. Dann drehte er sich wortlos ab und ging. Die Tür schloss sich. Kein Wort. Kein Hinweis.

Der Gefangene betrachtete das Bündel: eine Decke und ein zusammengefalteter Overall, ähnlich dem, den der Mann getragen hatte. Es gab kein Zögern. Ohne die eigene Kleidung auszuziehen, entrollte er das Bündel, streifte sich den Overall über. Etwas war zu Boden gefallen und er bückte sich danach. Ein Metallteller, eisig in seinen Händen. Wieder spürte er seinen Magen, schmerzhaft, drängend.

Ein Geräusch. Ein Summen. Warme Luft von irgendwoher. Ein wunderbares Gefühl. Er reckte dem Luftstrom sein Gesicht entgegen. Erbarmen. Jemand zeigte Erbarmen. Beinahe empfand er so was wie Dankbarkeit.

Ein weiteres Geräusch, ein Gurgeln aus der Öffnung in der Wand. Ein Symbol leuchtete auf, ein Teller, aus dem es stilisiert dampfte. Instinktiv stand er auf und schob den Metallteller in das Loch. Er passte genau. Etwas dampfte. Hitze wurde spürbar. Wieder das Gurgeln, das abrupt endete.

Er nahm den Teller heraus. Eine ihm unbekannte Masse lag da, offenbar heiß, von bräunlicher Farbe, aber ohne unangenehme Assoziationen zu wecken. Sie roch nicht schlecht, etwas künstlich vielleicht. Es gab kein Zögern. Die Alternative war der Hunger. Der Brei brannte auf seinen kalt gefrorenen Fingern, als er ihn hastig, ja gierig in den Mund schaufelte; er hatte eine halbflüssige Konsistenz. Der Mann setzte mehrmals den Teller an den Mund, schlürfte vernehmlich. Er achtete peinlich darauf, nichts zu verschwenden, keinen Tropfen. Er holte Luft, als der Brei seine Zunge zu verbrennen drohte. Doch er wagte nicht, ihn wieder auszuspucken. Und das warme Gefühl, das sich nach dem ersten Schluck in seinem Magen ausbreitete, war eine Belohnung seiner Disziplin. Sein Hunger verblasste. Sein Durst seltsamerweise auch. So etwas hatte er noch nie gegessen.

Oder doch?

Das wusste er auch nicht.

Er leckte den Teller aus, bis dieser vor Sauberkeit im Blaulicht zu schimmern begann. Neugierig stellte er ihn zurück in die Öffnung. Es gurgelte. Wasser umspülte den Teller. Dann wurde dieser zum Abschluss mit Flüssigkeit gefüllt, wie mit einer Suppe.

Den Behälter wieder in den Händen, trank der Insasse der Zelle begierig. Er seufzte leise. In seinem Magen rumorte es wohltuend. Die letzte Mahlzeit musste entweder sehr lange zurückgelegen haben oder war sehr klein gewesen. Sein Magen schien sich noch nicht recht entschieden zu haben, ob er die Gabe behalten oder abweisen sollte. Der Gefangene hoffte auf das Beste.

Er betastete seine Rippen, seine hervorstechenden Beckenknochen.

Das war nicht gesund.

Er stellte den Teller ab und wickelte sich in die Decke. Es war nicht direkt warm geworden in der Zelle, aber nunmehr erträglich und sowohl die Decke wie auch die Mahlzeit halfen. Er zitterte nicht mehr. Er fühlte eine Erschöpfung, für die er bis eben keine Aufmerksamkeit gefunden hatte.

Er genoss Wärme und Ruhe für einen Moment, bis die Unruhe wieder von ihm Besitz ergriff. Den Kopf in die Hände gestützt, den Oberkörper nach vorne gebeugt, versuchte er sich zu erinnern. Es fehlte so viel. Er konnte es nicht auf sich beruhen lassen. Erinnern. Erinnern!

An irgendwas.

Was war seine früheste Erinnerung?

Er schloss die Augen, konzentrierte sich.

Er entsann sich kräftiger Hände, die ihn hochrissen von … irgendwas. Er hatte sich gewehrt und war geschlagen worden. Der Schmerz war stark gewesen. Man hatte eine Art kurze Peitsche benutzt.

Die Unbekannten hatten ihn in einen dunklen Raum gestoßen. Dann war da Licht gewesen. Noch mehr Schläge. Stimmen. Was sie sagten … es fiel ihm nicht ein. Wie lange all das gedauert hatte … er wusste es nicht. Es war lange her, das fühlte er. Eine lange Zeit, in der er offenbar wenig zu essen bekommen hatte und während der man ihm nicht nur Körperfett nahm, sondern auch sein Gedächtnis.

Dann diese Zelle.

Und das war alles.

Verdammt wenig.

Hilflosigkeit und Verzweiflung drohten von ihm Besitz zu ergreifen. Er kämpfte die Emotionen herunter. Dafür war später immer noch Zeit. Es war warm. Er aß. Das war kein Präludium für seinen nahen Tod, das war ein Zeichen dafür, dass er leben sollte. Also konzentrierte er sich darauf. Leben. Leben und erinnern, alles zu seiner Zeit. Methodisch vorgehen. Ja, das berührte eine Saite in ihm.

Was konnte er über sich herausfinden?

Er kannte sein Gesicht nicht, es gab hier keinen Spiegel, aber er vermochte den Rest seines Körpers zu inspizieren. Er war etwa 1,80 m groß und hatte seit langer Zeit zu wenig zu essen bekommen. Er war nicht alt, soweit er das feststellen konnte. Jung. Ziemlich jung. In den Zwanzigern. Das fühlte sich richtig an.

Seine Hände waren voller Abschürfungen aber ohne Hornhaut. Eine harte Zeit, aber keine harte körperliche Arbeit. Seine nackten Füße sahen nicht viel besser aus. Er war zuletzt nicht in den Genuss bequemer Schuhe gekommen, vorher aber schon. Auf der Außenseite seines rechten Oberschenkels fand er eine dünne, drei bis vier Zentimeter lange Narbe.

Messerwunde.

Woher wusste er das?

Eine zweite, vergleichbare Narbe am Brustkorb.

Unruhige Vergangenheit. Gewalt. Gefahr. Sein Leben hatte sich zumindest nicht wesentlich verschlechtert. Hier war derzeit niemand, der ihm nach dem Leben trachtete, das spürte er deutlich. Oder war es nur eine Hoffnung, die jederzeit vernichtet werden konnte?

Kein tröstlicher Gedanke.

Ihm fielen derzeit ohnehin keine sehr tröstlichen Gedanken ein. Doch. Nicht so schnell. Er hatte es schon erkannt: Er sollte hier offenbar nicht verhungern oder erfrieren.

Er schloss seine Augen und lauschte. Er hörte seinen eigenen Atem. Wenn er diesen ausblendete, was hörte er dann?

Da war ein leises, kaum hörbares Summen. Eine Art Hintergrundgeräusch, etwas Permanentes. Eine Maschine. Ein tiefer Ton mit einer Vibration.

Ein Raumschiff. Das war wieder einer dieser spontanen Gedanken. Woher wusste er das nur? Aber er empfand eine gewisse Sicherheit bezüglich dieser Annahme. Ein Raumschiff. Er befand sich in einem Raumschiff. Er war unterwegs. Das beunruhigte ihn. Es stellte zu irgendwas einen Kontrapunkt dar, wenngleich er natürlich nicht wusste, wozu. Es war falsch. Es sollte nicht sein.

Er hatte das vage Gefühl, damit eine gewisse Erfahrung zu haben. Er war nicht das erste Mal in einer solchen Umgebung.

Hoffentlich nicht immer in einer Zelle.

Die Vibrationen nahmen fast unmerklich zu.

Er streckte sich auf der Pritsche aus, in die Decke gewickelt. Der lauwarme Luftzug aus der Ventilation strich wohltuend über sein Gesicht. Die Luft roch etwas abgestanden, als ob jemand sie bereits einmal geatmet hätte. Recht betrachtet dürfte das sogar stimmen.

Er fühlte, wie ihm die Augen zufielen. Obgleich er kein Zeitgefühl hatte, war ihm klar, dass sein Körper seinen Tribut forderte. Gegessen hatte er. Jetzt musste der Schlaf folgen. Er schaltete die rotierenden Fragen aus, eine nach der anderen. Zeit brachte Antworten. Und er musste ausgeruht sein, um zu verstehen. Schlaf. Jetzt.

Er musste sich nicht weiter dazu zwingen.

Progress 3

»Hier wären wir dann!«

Der Taxifahrer drehte sich um, das unrasierte, schweißglänzende Gesicht Hamid zugewandt. Er kaute irgendwas. Es stank. »Eine schöne Gegend. Sie wohnen hier?« Er kicherte hässlich.

»So sagte man mir«, erwiderte Hamid und nickte dem Mann zu. Er öffnete den Verschlag und trat heraus, sog die Luft ein, geschwängert von Abgasen, den Düften, die aus den unteren Ebenen emporstiegen, vor allem viel zu viel altes Frittierfett. Und Blut. Er sah, wie sich die Heckklappe des Taxis öffnete und die Automatik eine Transportkiste heraushievte, die sich daraufhin selbst aktivierte, auf ihr Gravkissen stellte und neben Hamid glitt. Der rund zwei Meter lange Transportsarg enthielt alles, was der Mann sein Eigentum nennen konnte, das Ergebnis von zehn Jahren Dienst in den Streitkräften, eine Zeit, die ihm Blessuren, Beförderungen und Traumata gebracht hatte.

Er sah sich um.

Und eine Pension sowie die lebenslange Nutzung eines Apartments auf seiner Heimatwelt Stratum, gelegen im Canopus-System. In einer schönen Gegend. Das war natürlich nicht ernst gemeint vom Taxifahrer, der sich über ihn lustig machen wollte. Turm 4 in Stratum City war nicht der mieseste Slum, aber weit davon entfernt, zu den guten Wohngegenden der Stadt zu gehören. Es war das, was man bekam, wenn man ein regelmäßiges Einkommen bezog, das gerade mal so zum Leben reichte.

Das Taxi hob ab, seiner Ladung entledigt.

Hamid schaute sich immer noch um. Direkt an der Landeplattform begann der um das Gebäude laufende Ring, den man zu Fuß benutzen konnte und der zu den äußeren Apartments führte, die aneinandergereiht wie auf einer Schnur nebeneinander in Modulbauweise in den Turm eingefügt waren. Ebene 4, Turm 16, das bedeutete auf einer Scheibe mit einem Gesamtdurchmesser von 850 Metern eine Anzahl von gut 200 Apartments, größere wie kleinere, und davon gab es in diesem Turm 36 Ebenen übereinander. Die äußeren Apartments hatten so etwas wie einen Balkon, der einen Ausblick nach draußen ermöglichte, die inneren, preiswerteren, mussten sich mit holografischen Illusionen eines solchen Blickes ermöglichen. Hamid hatte es gut, er hatte ein äußeres. Er hatte darauf bestanden.

Dafür war es klein.

Das war nicht schlimm. Es gab ja nur ihn und seinen Transportsarg vom Typ »Defender«.

Er betrat sein neues Zuhause nach einem kurzen Fußweg. Turm 16 war dreckig. Die Wände waren fleckig, es roch unangenehm, selbst dort, wo die Dämpfe der unteren Ebenen nicht die Luft schwängerten. Graffiti an der Wand, manche revolutionär, manche obszön, manche verzweifelt, ein paar Gangmarkierungen: territoriale Ansprüche, künstlerisch verbrämt. Der Boden war verwaschen, die Spuren Hunderter von Schritten über Dutzende von Jahrzehnten. Turm 16 war während der dritten Stadtexpansion errichtet worden, vor gut 160 Jahren, und seitdem bewohnt und mehr schlecht als recht gewartet. So sah es hier auch aus. Trotzdem eine der besseren Gegenden. Das wiederum sagte so manches über Stratum aus. In der größten Stadt des Planeten hausten rund 22 Millionen Lebewesen und nur ein Bruchteil davon unter Lebensumständen, die man als würdig bezeichnen konnte.

Aber das war ohnehin ein dehnbarer Begriff.

Der »Balkon« war zwei Quadratmeter groß und vom Rundgang nur durch eine einen Meter hohe Plastikwand abgetrennt. Eine Klapptür ließ ihn eintreten, er sah durch das Fenster, etwas verkratzt und milchig, in den dahinter liegenden, leeren Raum. Hamid nestelte die Identmarke hervor, die man ihm bei der Ausmusterung gegeben hatte. Sie sollte sein Wohneigentum für ihn öffnen. Es funktionierte. Die elektrische Tür fuhr knarrend in den Rahmen. Ein Schwall abgestandener Luft kam ihm entgegen, sodass er reflexartig den Kopf abwendete.

Das Apartment bestand aus einem Raum sowie einer Nasszelle. Die Möbel waren in die Wände eingeklappt, sodass auf den ersten Blick der Eindruck von Geräumigkeit entstand. Die Wände bestanden aus angelaufenem Plastik. Sie waren offenbar chemisch gereinigt worden, ein scharfer Gestank wurde bemerkbar, wenn er sich einer der Wände näherte. Wer hatte hier vorher gewohnt? Wer war hier gestorben? Wer hatte sein Leben in 22 Quadratmetern Plastik beendet, genau so, wie man es von Hamid erwartete?

Er legte seine Hand auf den Identscanner, eine flache Scheibe an der Wand, das einzig sichtbare Stück Einrichtung. Letzte Verifikation. Sekunden später akzeptierte das Haus ihn als neuen Eigentümer der Unterkunft. Eine krächzende Stimme erklang aus einem Gitter in der Wand. Vor 150 Jahren mochte sie melodiös gewesen sein, jetzt war sie nur noch anstrengend. Sie klang etwas müde. Vielleicht dachte sich die Haus-KI das Ihre. Noch ein Säufer. Noch ein Junkie. Noch eine mehr oder weniger gescheiterte Existenz, wie so viele in diesem Turm.

»Willkommen. Ich konfiguriere die Wohnung nach Ihren Wünschen. Designaufpreis 100 Kredite, zahlbar sofort.«

Hamid schüttelte den Kopf. Er war sein eigener Innenarchitekt. Zehn Jahre hatte er in engen Kabinen auf Raumschiffen der Flotte zugebracht. Davor war er auf Stratum aufgewachsen, einer der unteren Ebenen. 33 Quadratmeter für seine Mutter und seine sieben Geschwister. Ebene 35, Turm 3. Zerstört, als das Bombardement begann und die Abwehr diese eine, nur diese eine Lenkrakete durchließ, vor sieben Jahren.

Er war jetzt allein. Er hatte keine Bedürfnisse, jedenfalls nicht in Bezug auf Innenarchitektur. Bett. Tisch. Stuhl. Bildschirm. Hygiene. Nahrung.

Hamid setzte sich auf die Transportkiste. Er war müde, bedurfte dringend einer Dusche. Drei Wochen hatte der Flug hierher gedauert, bezahlt von der Flotte, aber genau deswegen nur auf der Basis sehr günstiger Linien, denn er war jetzt ein Reservist und damit teuer genug. Nur etwa 20 Prozent der Zehnjährigen überlebten die Dienstzeit – eine Tatsache, die man Hamid und anderen Rekruten wohlweislich erst mitgeteilt hatte, als sie sich bereits auf dem Flug ins Ausbildungslager befunden hatten. Doch was hätte er tun sollen? Er hätte sich einer Gang anschließen können. Er hätte vielleicht eine einfache Arbeit gefunden, zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben. Eine Existenz irgendwo auf Ebene 35. Es gab für Jungs wie ihn nicht viele Auswege aus dem Slum und die Flotte suchte nach Kanonenfutter, gerade wegen des Krieges, der glücklicherweise so richtig ausgebrochen war, als Hamid das passende Alter erreicht hatte.

Er hatte Talent bewiesen. Nicht im Töten, da waren andere besser und ihn verlangte auch nicht danach. Technisches Talent, würdig der Förderung und Ausbildung. Marineingenieur war er geworden und hatte es bis zum Rang eines Spezialisten erster Klasse gebracht. Man hatte ihm noch einmal zehn Jahre angeboten, als sich seine Dienstzeit dem Ende zuneigte. Etwas höherer Sold, Aussicht auf ein Offizierspatent nach fünf Jahren. Er war versucht gewesen, doch dann hatte er in seinen Spiegel geschaut und es hatte ihm nicht gefallen, was der Krieg aus ihm gemacht hatte. Es war notwendig, die Reißleine zu ziehen. Und vor allem: Wenn nur ein Fünftel der Zehnjährigen überlebte, wie viele von den Zwanzigjährigen schafften es dann bis zum Ende ihrer Dienstzeit?

Hamid war zu dem Schluss gekommen, dass es sich nicht lohnte, das eigene Glück unnötig zu strapazieren. Er hatte das Angebot abgelehnt und war gegangen.

Jetzt, hier, daheim, in 22 Quadratmetern Ödnis, den Gestank der Ebenen in der Nase, fragte er sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Haarstoppel. Seit drei Wochen kein Flottenfraß mehr, keine Inhibitoren, die seinen Haarwuchs aus hygienischen Gründen massiv begrenzten. Auch andere Dinge würden sich jetzt wieder regen, wie er an seinen zunehmend feuchten Träumen bemerkt hatte. Er war froh, dass der Drogencocktail, den er seit zehn Jahren geschluckt hatte, nun nicht mehr zu seiner täglichen Nahrung gehörte. Ein Grund mehr aufzuhören. Wieder normal werden. Ein Mensch.

Er war auf die Nebenwirkungen und Langzeitfolgen gespannt.

Offiziell gab es keine.

Offiziell gab es so einiges nicht, unter anderem auch keine 80-prozentige Todesrate.

Hamid hätte jetzt aufstehen können, um sich häuslich einzurichten. Stattdessen blieb er so sitzen. Draußen begann ein leichter Regen, dessen Tropfen auf die Plastikmauer vor seinem Eingang platschten. Es war ein bemerkenswert lautes Geräusch, aber nicht unangenehm. Er spürte, wie die Spannung aus seinen Schultern verschwand. Ja, es war doch etwas anderes, zehn Jahre lang ruhelos zu sein, von einer Station zur nächsten versetzt zu werden und jetzt hier zu sitzen. Es waren 22 fleckige Quadratmeter und es roch. Aber es war das erste Mal seit dem Zeitpunkt, da er sich freiwillig gemeldet hatte, dass er etwas sein Heim nannte. Und er sah keinem Leben in Armut entgegen. Da war die Pension. Er würde Arbeit finden, er wusste was. Und er hatte vorgesorgt.

Es war ein seltsames Gefühl. Er versuchte sich zu erinnern, wie es damals gewesen war. Zu Hause war es anstrengend gewesen, laut, eng, arm, hungrig. Auf seinem Konto lag der Bonus, ein Jahressold, das Geld, das er gespart hatte, und dieses Apartment war sein Eigentum, ein großzügiges Geschenk einer dankbaren Regierung. Es war kein schlechter Start, beileibe nicht. Und die Stange mit unmarkierten Denominatoren in seinem Koffer, Ergebnis aller schrägen Geschäfte eines zehnjährigen Einsatzes, machte ihn im Grunde sogar wohlhabend.

Er musste nur sehr vorsichtig beim Ausgeben sein. Dies war nicht die beste Gegend.

Es wurde dunkel und der Regen hatte noch nicht nachgelassen. Irgendwann schaltete die Automatik das Licht draußen auf dem Rundgang ein, es schien auf die Wasserspritzer der Plastikmauer und beleuchtete die Feuchtigkeit auf dem Fenster. Es war immer noch schwülwarm, die Abendluft brachte keine echte Erleichterung. So war Stratum.

Hamid erhob sich und verließ sein Heim, einige Schritte. Er stellte sich an den Rand des Rundgangs, an das Gitter, von dem er aus in die Tiefe sehen konnte. Vier Ebenen unter ihm gab es eine Promenade, von dort kamen die Gerüche, auch die der Garküchen. Hamid bekam Hunger.

Ein besserer Einstand als keiner, dachte er bei sich. Geld unter die Leute bringen. Irgendwer da unten produziert etwas Genießbares.

Vier Ebenen tiefer stand er schließlich, durch einen Baldachin vor dem intensiver gewordenen Regen geschützt, vor »Wongs Delikatessen und Apotheke«, einem Stand, an dem man eine seltsame Mischung lokaler Speisen sowie die üblichen Medikamente kaufen konnte. Wong, ein spindeldürrer Mann unbestimmbaren Alters, hockte hinter der Theke und sah seinen einzigen Gast mit einer Mischung aus Neugierde und professionellem Misstrauen an. Ebene 8 war keine Gegend mehr, in die sich oft Sicherheitskräfte verirrten, erst recht nicht um diese Zeit. Darüber hinaus waren diese auf Stratum nicht immer von den Gaunern zu unterscheiden, wie Hamid in seiner eigenen Jugend mehrfach hatte erfahren dürfen.

Hamid schaute auf die Speisekarte, speckig, mit abblätterndem Laminat.

»Die Bratnudeln … ist das Schweinefleisch?«

Wong nickte. »Selbst gezogen im Vat-Tank. Beste Qualität.«

»Und ein Bier.«

Wong kam zu dem Schluss, dass Hamid ihn nicht überfallen, sondern tatsächlich nur etwas essen wollte. Dass er trotzdem in einer unbewussten Geste das Holster unter seiner Jacke zurechtrückte, nahm der ehemalige Soldat ihm nicht übel.

»Neu in der Gegend?«, fragte Wong, als er Öl in einen Wok goss. Frische zubereitete Speisen. Hamid fühlte sich gleich wohl. Wong verlangte auch einen guten Preis. Das konnte er nur, wenn er Qualität bot. Ebene 8 hin oder her, niemand hatte hier etwas zu verschenken, auch nicht für Bratnudeln mit Schweinefleisch.

»Zehnjähriger«, sagte er dann. »Ich wohne jetzt hier.« Er zeigte mit dem Daumen nach oben. Sein Apartment war damit beschäftigt, eine Standardkonfiguration zu erstellen, sodass er ein Bett hatte, wenn er zurückkehrte. Bett war wichtig.

»Nicht die übelste Gegend«, meinte Wong, seine Miene aufgehellt in Erwartung eines neuen Stammkunden, in den man etwas Freundlichkeit investieren konnte.

»Gibt bessere.«

»Die gibt es immer. Armee? Flotte?«

»Flotte.«

»Ah.« Wong hob einen Arm, der Ärmel rutschte herunter, zeigte das Tattoo. Auch Herr Wong hatte seine zehn Jahre gemacht, aber sicher zu einer Zeit, als es noch keinen Krieg und keine 80-prozentige Todesrate gegeben hatte. Hamid kniff die Augen zusammen. Flotte, medizinischer Dienst. Das erklärte die Apotheke.

»Sanitäter, fast die ganze Zeit auf der Adrianus Superior. Gibt es die alte Dame noch?«

»Die Adrianus wurde vor Tantak vernichtet, zusammen mit der Dritten Flotte.«

»Ach fuck!«

Das war sieben Jahre her. So richtig hatte es Wong dann anscheinend doch nicht interessiert. Er warf vorgekochte Nudeln in den Wok und schnippelte Gemüse hinein, dazu gewürfelte Fleischbrocken. Er tat es mit fließenden, routinierten Bewegungen und behielt dabei Hamid im Auge. Ein Meister seines Faches, ohne Zweifel. Auf Sicherheit bedacht. Ein Überlebender von Ebene 8.

Respekt!

Das Geräusch des Regens auf der Plane wurde intensiver. Ein leichter Wind kam auf, sprühte Feuchtigkeit in die Theke hinein. Wong drückte einen Knopf und seitlich schoben sich knirschend Markisen aus ihrer Halterung.

»Scheißwetter heute.«

Eine Gestalt löste sich aus der Dunkelheit, als Wong den Teller mit der Mahlzeit vor Hamid abstellte. Es war ein junger Mann, er trug Tattoos, die sicher eine Bedeutung hatten. Hamid hatte die Gangs in seinem Viertel gut gekannt, aber das war zehn Jahre her und dies war nicht sein Turm, zumindest noch nicht richtig. Dass der Ankömmling aber Mitglied einer der Banden war, sprach aus seiner Haltung, der Nonchalance, mit der er sich ans andere Ende der Theke setzte, und aus dem Blick, den Wong ihm zuwarf.

»Kettik«, sagte der alte Mann. »Was darf ich dir bringen?«

»Ein Bier, Wong. Einen Fleischspieß. Und die Rate.«

Hamid aß. Die Rate war das Schutzgeld. Die einzige Möglichkeit für einen Geschäftsmann, auf den Ebenen zu überleben. Das war schon immer so gewesen und würde immer so sein, wenn kein Wunder geschah. Deswegen wollte Hamid kein Geschäftsmann werden. Er hatte es ja auch nicht eilig. Als Reservist und Zehnjähriger stand ihm jederzeit eine ehrliche, einigermaßen gut bezahlte Arbeit im Manufaktorium offen, der großen Waffenfabrik auf Stratum. Er musste nur zusagen.

Hamid sagte nichts. Noch nicht. Er würde sich schnell genug langweilen.

Er aß und trank sein Bier, ein Getränk, tausendmal besser als die Flottenplörre. Er genoss es. Das Essen war frisch, nicht chemisch konserviert. Wong kochte gut. Er würde wiederkommen.

Der junge Typ bekam sein Bier und seinen Fleischspieß, und als er seine Karte hinhielt, dann nicht, um zu bezahlen, sondern um eine Zahlung zu erhalten. Wong blieb ungerührt. Er zahlte natürlich. Er überlebte.

»Neu?«

Hamid sah auf und nickte dem Tattoo zu.

»Im Turm?«

»Zehnjähriger.«

»Hast das Apartment geschenkt bekommen?«

Hamid nickte. Die Praxis war bekannt. Kein Grund, es abzustreiten.

»Suchst Arbeit?«

Hamid schüttelte den Kopf. Er wusste, worauf der Junge hinauswollte. Es gab genug zerbrochene Zehnjährige, die jederzeit bereit waren, ihren Hass auf alles dadurch auszudrücken, dass sie für eine Gang den Muskel machten. Wurden sicher nicht schlecht bezahlt. Überlebten keine weiteren zehn Jahre. Das war nicht Hamids Weg.

Der junge Mann aß schweigend. Dass er dabei Hamid immer wieder forschend ansah, war nicht verwunderlich. Er würde seinem Boss berichten müssen. Zur effektiven Herrschaft gehörte immer, über alles Neue informiert zu sein.

Beide beendeten sie ihr Mahl schweigend. Als der Junge sich verabschiedete und im Regen verschwand, sah Hamid Wong an.

»Die hiesige Gang?«

»Ebene 4 bis 12. Die oberen Ebenen … na ja, da gibt es Streit. Die Sicherheit regiert im Grunde nur die Ebenen 1 und 2. Was darunter passiert …« Wong ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen.

»Wie heißen sie?«

»Die Unglücklichen.«

»So nennen sie sich?«

Wong grinste freudlos, buchte von Hamids Karte ab, was dieser ihm schuldete.

»Hat etwas Poetisches, oder? Es ist zwar eher ihre Aufgabe, andere unglücklich zu machen, aber es gibt ihnen das gewisse Etwas.«

Hamid schüttelte den Kopf. Die Temperaturen sanken jetzt ab, wie immer etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang. Er kaufte dem Mann noch ein Sixpack Bier ab, das Zeug war gut. Dann ging er zurück zum Lift und vier Ebenen höher betrat er schließlich sein Apartment. Die Automatik hatte ein Bett, einen Stuhl und einen Tisch aus der Wand gefahren, fleckig, abgenutzt. Die Plastikmatratze war sicher sauber, wirkte aber wenig einladend. Hamid hatte mit nichts anderem gerechnet. Er öffnete seine Transportkiste und holte die Decke hervor. Echte Baumwolle. Sie gehörte zu seinen kostbarsten Besitztümern. Handgewebt, auf Trantor III. Ein schönes Muster, beruhigend, einladend. Ein Platz der Wärme und Geborgenheit.

Draußen trommelte der Regen sein Stakkato. Das Fenster zum Balkon war nass und Hamid überlegte sich kurz, die Rollläden herunterzulassen, entschied sich aber dagegen. Regen, das war neu. Er musste sich gewöhnen, den Klang schätzen lernen. Und er machte sich keine Sorgen.

Er würde gut schlafen.

Er schlief immer gut.

Progress 4

Das Knacken des sich entspannenden Materials weckte Holoban Kerr auf und er stellte zu seiner Überraschung fest, dass ihm gar nichts wehtat.

Damit hatte er so eigentlich nicht gerechnet.

Es war nicht diese Schmerzfreiheit, die Medikamente verursachten. Nicht dieses dumpfe Gefühl von »alles ist gut« mit der deutlichen Ahnung im Hintergrund, dass alles ganz und gar nicht gut war und man besser keinen Blick auf den Zustand seines Körpers warf. Er fühlte seine Knochen und es war eindeutig so, dass er keine richtigen Schmerzen verspürte, weil es dazu keinen Anlass gab.

Angesichts der Tatsache, dass die Friedbert gerade eine Bruchlandung auf einer Welt gebaut hatte, und das mit ihm im Pilotensitz, war das eine bemerkenswerte Erkenntnis.

Er lauschte noch einen Moment in sich hinein, die Augen geschlossen. Vielleicht mussten sich seine Nerven erst auf ein abgetrenntes Bein oder einen zerquetschten Brustkorb einstellen. Er holte tief Luft: nichts. Er bewegte Arme und Beine innerhalb des Anzugs, wackelte mit den Zehen: nichts. Er drehte den Hals, ein wenig nach rechts, dann nach links: Es knackte nicht einmal.

Kerr öffnete die Augen. Sein Helm war geschlossen, wie es sein sollte. Er lag in einem etwas seltsamen Winkel im Sessel, bis er merkte, dass es die Friedbert war, die den seltsamen Winkel einnahm, und die Schwerkraft, die er spürte, die des Planeten war. Er aktivierte die Mikros. Immer noch hörte er Geräusche und das hieß, es gab noch Atmosphäre in der Kanzel. Er schaute auf den Monitor. Ja, Druck normal. Ein kleines Wunder. Noch eines. Wunderbar!