Castle 4: Frozen Heat - Auf dünnem Eis - Richard Castle - E-Book + Hörbuch

Castle 4: Frozen Heat - Auf dünnem Eis E-Book und Hörbuch

Richard Castle

4,8

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Beschreibung

Auf Richard Castles Bestseller Heat Wave, Naked Heat und Heat Rises folgt nun der vierte Band seiner Nikki Heat-Reihe. In diesem rasanten Roman voller Intrigen, der sich als Richard Castles bisher spannendster Krimi erweisen könnte, bilden Nikki Heat und Jameson Rook einmal mehr ein Team. Die NYPD-Detective Nikki Heat bekommt es an ihrem neuesten Tatort mit einem größeren Geheimnis zu tun, als erwartet. Ein nicht identifizierte Leiche wurde gefunden. Die Frau wurde erstochen, in einen Koffer gestopft und darin auf einer Straße in Manhattan stehen gelassen. Aber nicht genug! Ein noch viel größerer Schock folgt, als sich herausstellt, dass dieser Fall mit dem ungelösten Mord an Detective Heats Mutter zusammenhängt. Die grausame Ermordung der Unbekannten treibt Heat in eine gefährliche und emotionale Ermittlung, bei der sie den alten Fall wieder aufrollt, der sie seit ihrem 19. Lebensjahr verfolgt. Zusammen mit ihrem Partner in romantischen und ermittlerischen Dingen, dem Starjournalisten Jameson Rook, arbeitet Heat daran, das Geheimnis um die Leiche im Koffer zu lösen, während sie gleichzeitig gezwungen ist, gegen ihren Willen in der Vergangenheit ihrer Mutter herumzustochern. Die Frage ist: Wird Nikki Heat nun, da der Fall ihrer Mutter unerwarteterweise wieder ans Licht gekommen ist, endlich in der Lage sein, das dunkle Geheimnis zu lösen, das sie seit zehn Jahren verfolgt?

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Seitenzahl: 646

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Zeit:14 Std. 37 min

Sprecher:David Nathan

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RICHARD

CASTLE

FROZEN HEAT

AUF DÜNNEM EIS

ÜBERSETZUNG

ANIKA KLÜVER

Die deutsche Ausgabe von CASTLE 4: FROZEN HEAT – AUF DÜNNEM EIS wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern, Übersetzung: Anika Klüver;

verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Sabine Elbers;

Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Cover Artwork: Shubhani Sarkar;

Printausgabe gedruckt von CPI Morvia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice. Printed in the Czech Republic.

Castle © ABC Studios. All rights reserved

Originally published in the United States and Canada as FROZEN HEAT by Richard Castle.

This translated edition published by arrangement with Hyperion, an imprint of Buena Vista Books, Inc.

German translation copyright © 2013 by Amigo Grafik GbR.

Print ISBN ISBN: 978-3-86425-010-1 (März 2013) · E-Book ISBN 978-3-86425-058-3 (März 2013)

WWW.CROSS-CULT.DE

Für all die bemerkenswerten, unerträglichen,herausfordernden, frustrierenden Menschen,die uns dazu inspirieren, großartige Dinge zu tun.

EINS

„Oh ja, genau so, Rook“, sagte Nikki Heat. „Ja, das will ich. Genau so.“ Ein Schweißtropfen rann an seinem Hals hinunter auf seine sich hebende und senkende Brust. Er stöhnte und biss sich auf die Zunge. „Hör noch nicht auf. Mach weiter. Ja.“ Sie schwebte über ihm und neigte ihr Gesicht ganz nah zu seinem herunter, damit sie flüstern konnte. „Ja. Genau so musst du es machen. Gut, ein ruhiger Rhythmus. So ist es gut. Wie fühlt es sich an?“ Jameson Rook starrte sie durchdringend an, bevor er die Augen zusammenkniff und erneut stöhnte. Dann erschlafften seine Muskeln, und er ließ den Kopf zurücksinken. Nikki runzelte die Stirn und richtete sich auf. „Das kannst du mir nicht antun. Ich kann nicht glauben, dass du eine Pause einlegst.“

Er ließ die Hanteln auf den schwarzen Gummiboden neben der Trainingsbank fallen und sagte: „Ich lege keine Pause ein.“ Er atmete tief ein und hustete. „Ich bin fertig.“

„Du bist nicht fertig.“

„Zehn Züge, ich hab zehn Züge gemacht.“

„So viele hab ich aber nicht gezählt.“

„Weil du mit den Gedanken ständig woanders bist. Außerdem soll mir diese Rehamaßnahme doch helfen. Warum sollte ich also schummeln?“

„Weil ich mich einmal umgedreht habe und du dachtest, ich würde nicht hinsehen.“

Er schnaubte und fragte dann: „… Hast du hingesehen?“

„Ja, und du hast nur acht Züge gemacht. Willst du, dass ich dir bei deinen Physiotherapieübungen helfe, oder soll ich sie für dich machen?“

„Ich schwöre, ich habe mindestens neun gemacht.“

Ein Mitglied von Rooks exklusivem Fitnessstudio zwängte sich hinter ihr vorbei, um an die freien Gewichte zu gelangen. Nikki drehte sich herum, um einzuschätzen, wie viel der Mann von ihrem und Rooks kindischem Austausch mitbekommen hatte. Der blechernen Musik nach zu urteilen, die aus seinen Kopfhörern schallte, hatte er jedoch nur die Black Eyed Peas gehört, die ihm mitteilten, dass es ein guter Abend werden würde, während er sich im Spiegel betrachtete. Heat konnte nicht beurteilen, was der Kerl mehr bewunderte, das Ergebnis seiner neuen Haartransplantation oder die strotzenden Brustmuskeln unter seinem Designermuskelshirt.

Rook rappelte sich auf und stellte sich neben sie. „Hübsche Bruskeln, was?“

„Schh, er wird dich noch hören.“

„Das bezweifle ich. Außerdem, was glaubst du, wer mir das Wort beigebracht hat?“

Der Bruskelmann erhaschte ihren Blick im Spiegel und zwinkerte ihr zu. Er schien überrascht zu sein, dass sie nicht sofort weiche Knie bekam, legte seine Gewichte weg und machte sich auf den Weg zur Sonnenbank. Augenblicke wie diese waren haargenau der Grund, aus dem Heat ihr eigenes Fitnessstudio vorzog, eine altmodische Bude mit gestrichenen Betonwänden, klappernden Dampfrohren und Besuchern, die trainierten, anstatt sich vor dem Spiegel zu brüsten. Als sich Rooks Physiotherapeut – den er Gitmo Joe nannte – an diesem Morgen krank gemeldet und Nikki sich daher bereiterklärt hatte, seine Rehaübungen zu überwachen, war ihr in den Sinn gekommen, dafür in ihr Studio zu gehen. Doch das hatte auch seine Nachteile. Nun ja, einen. Nämlich Don, ihren ehemaligen Navy-SEAL-Nahkampftrainingspartner, mit dem sie auch hin und wieder im Bett und nicht nur auf der Sportmatte trainiert hatte. Dons Tage als Trainer mit Vorzügen waren gekommen und gegangen, doch Rook wusste nichts von ihm, und sie war der Meinung, dass es nichts bringen würde, eine unangenehme Begegnung zu erzwingen.

„Puh. Ich weiß ja nicht, wie es dir geht“, sagte Rook und trocknete sich mit einem Handtuch das Gesicht ab, „aber ich könnte jetzt eine Dusche und ein Frühstück gebrauchen.“

„Klingt toll.“ Sie hielt ihm die Hanteln hin. „Gleich nach deiner nächsten Übung.“

„Ich muss noch eine Übung machen?“ Er spielte solange es ging den Unschuldigen und nahm ihr dann schließlich doch die Hanteln ab. „Weißt du, Gitmo Joe mag vielleicht das Ergebnis einer unheiligen Verbindung zwischen dem Marquis de Sade und Darth Vader sein, aber er ist wenigstens hin und wieder mal nachsichtig mit mir. Und für ihn habe ich mir keine Kugel eingefangen, um sein Leben zu retten.“

„Eins“, war alles, was sie erwiderte.

Er hielt inne und machte sich dann stöhnend an seinen ersten Zug. „Eins.“

Jetzt scherzten sie darüber, doch in dieser Nacht vor zwei Monaten auf dem Pier der Stadtreinigung auf dem Hudson hatte sie gedacht, sie hätte ihn verloren. Der Notarzt versicherte ihr später, dass das tatsächlich beinahe der Fall gewesen war. Nur ein Sekundenbruchteil nachdem sie einen korrupten Polizisten in einem Abfallverschiffungslager unschädlich gemacht und entwaffnet hatte, war sein Partner erschienen und hatte aus dem Hinterhalt auf sie geschossen. Heat hatte nichts davon mitbekommen, doch Rook – dieser verdammte Rook –, der gar nicht hätte dort sein sollen, sprang auf sie zu und warf sie zur Seite, sodass die Kugel ihn traf. Im Laufe ihrer Karriere als Streifenpolizistin und Mordermittlerin beim NYPD hatte Nikki Heat viele Leichen gesehen und war Zeugin vieler Tode geworden. Doch als Rook in dieser Winternacht zusehends blasser geworden war und sie gefühlt hatte, wie das warme Blut aus seiner Brust über ihre Arme floss, brannte sich dieser Anblick für alle Zeiten in ihr Gedächtnis ein und überlagerte alles, was sie bisher mit angesehen hatte. Jameson Rook hatte ihr das Leben gerettet, und nun war sein eigenes Überleben nicht weniger als ein Wunder.

„Zwei“, sagte sie. „Rook, du bist armselig.“

Draußen auf dem Bürgersteig atmete er tief und übertrieben lange ein. „Ich liebe den Geruch von Tribeca am Morgen“, sagte er. „Es riecht nach … Diesel.“

Die Sonne war gerade weit genug über den Horizont gestiegen, um Nikki dazu zu bewegen, ihr Sweatshirt auszuziehen und die Aprilluft auf ihren nackten Armen zu genießen. Sie erwischte ihn dabei, wie er sie ansah, und warnte: „Vorsicht, du bist nur ein transplantiertes Haar davon entfernt, dich in den Bruskelmann zu verwandeln.“

Sie ging weiter, und er folgte ihr. „Ich kann nichts dafür. Du weißt doch, jeder Augenblick kann romantisch werden. Das hab ich in einem Werbespot im Fernsehen gesehen.“

„Sag Bescheid, wenn ich langsamer gehen soll.“

„Nein, schon gut.“ Heat warf ihm einen Seitenblick zu. Er hielt tatsächlich Schritt. „Erinnerst du dich noch an meine ersten schlurfenden Gehversuche durch diesen Krankenhausflur? Ich kam mir vor wie ein Zombie. Und jetzt sieh mich an. Endlich kann ich wieder marschieren wie ein Superheld.“ Er demonstrierte es und lief bis zur nächsten Ecke vor.

„Schön. Falls ich jemals Hilfe brauche und Batman oder Lone Vengeance gerade beschäftigt sind, weiß ich, wen ich anrufen werde.“ Als sie zu ihm aufholte, fragte sie: „Aber im Ernst, geht’s dir wirklich gut? Habe ich dich mit dem Training nicht zu sehr strapaziert?“

„Nein, mir geht’s blendend.“ Er legte die Spitze ihres Zeigefingers auf seine Rippen. „Manchmal schmerzt es noch ein wenig, wenn ich die Stelle aus Versehen berühre.“ Sie warteten darauf, dass die Ampel umsprang, und er fügte hinzu: „Da wir gerade vom Berühren sprechen.“

Nikki starrte ihn mit ihrem besten arglosen Gesichtsausdruck an. „Berühren? Tut mir leid, ich kann dir nicht folgen.“ Sie sahen sich unverwandt an, bis er eine Augenbraue hochzog und sie zum Lachen brachte.

Rook schlang seinen Arm um ihren, während sie die Straße überquerten. „Detective, ich glaube, wenn wir das Frühstück ausfallen lassen, könntest du es immer noch pünktlich zur Arbeit schaffen.“

„Bist du sicher, dass du bereit dafür bist? Im Ernst, ich kann warten. Ich bin die Königin des Belohnungsaufschubs.“

„Vertrau mir, wir haben lange genug gewartet.“

„Vielleicht solltest du lieber noch mal deinen Arzt kontaktieren, damit er feststellen kann, ob du fit genug für sexuelle Aktivitäten bist.“

„Oh“, erwiderte Rook. „Also hast du diese Werbung auch gesehen.“

Anstatt für einen Happen ins Kitchenette zu gehen, bogen sie an der Ecke scharf ab und gingen Arm in Arm in Richtung seines Lofts, wobei sie ihre Geschwindigkeit mit jedem Schritt erhöhten.

Im Fahrstuhl auf dem Weg nach oben küssten sie sich leidenschaftlich und drückten sich aneinander. Zuerst stand er mit dem Rücken zur Wand und dann plötzlich sie. Dann ließen sie voneinander ab, widerstanden dem Drang oder wollten den anderen necken, oder vielleicht ein wenig von beidem. Ihre Augen trafen sich, fixierten die des anderen und zuckten nur kurz zur Seite, um die Stockwerkanzeige im Blick zu behalten.

Im Inneren seiner Wohnung, direkt hinter der Eingangstür, versuchte er sie wieder zu küssen, doch sie wich ihm aus, lief durch die Küche, sprintete den Flur entlang und sprang wie ein Wrestler ins Bett, während sie lachend „Beeil dich“ rief und ihre Sportschuhe von sich wegschleuderte.

Er erschien splitternackt im Durchgang. Am Fußende des Betts nahm er eine königliche Pose ein. „Wenn ich schon sterben muss, so soll es auf diese Weise geschehen.“

Und dann packte sie ihn und zog ihn auf sich.

Die Hitze ließ sie jede Vorsicht und jede Verspieltheit vergessen. Verlorene Zeit, reine Emotionen und schmerzendes Verlangen vereinigten sich in einem stürmischen Wirbel aus Leidenschaft, der keinen Verstand, sondern nur Wildheit kannte. Innerhalb von Minuten bewegte sich der Raum selbst, nicht nur das Bett. Lampenschirme schwankten, Bücher fielen in den Regalen um, selbst der Stifteköcher auf Rooks Nachttisch kippte um, und ein Dutzend Bleistifte rollten auf den Boden.

Dann war es vorbei, und sie ließen sich keuchend und grinsend aufs Bett fallen. „Oh, du bist definitiv fit genug für Sex“, sagte Nikki.

Alles, was Rook hervorbrachte, war ein heiseres: „Das war … Wow.“ Und dann fügte er hinzu: „Die Erde hat sich bewegt.“

Nikki lachte. „Du bist ganz schön eingebildet.“

„Nein, ich glaube, sie hat sich im wahrsten Sinne des Wortes bewegt.“ Er stützte sich auf einen Ellbogen, um sich im Zimmer umzusehen. „Ich glaube, wir hatten gerade ein Erdbeben.“

Als sie sich die Haare getrocknet hatte und ins Wohnzimmer kam, hatte Rook die heruntergefallenen Gegenstände in seinem Loft wieder an ihre Plätze geräumt und sich vor den Fernseher gesetzt. „Kanal 7 behauptet, es war eine fünf Komma acht auf etwas, das sich Ramapo-Verwerfungs-Linie nennt. Das Epizentrum befand sich in Sloatsburg, New York.“

Nikki stellte ihre leere Tasse auf die Küchentheke und schaute auf ihr Handy. „Ich habe wieder ein Netz. Keine Nachrichten oder taktischen Notrufe, zumindest nicht für mich. Was für Auswirkungen hatte das Beben?“

„Das werten sie noch aus. Es gab keine Todesfälle, ein paar Verletzungen durch heruntergefallene Steine und so weiter, bisher aber nichts Ernstes. Die Flughäfen und ein paar U-Bahn-Linien wurden vorsichtshalber gesperrt. Oh, und ich muss den Orangensaft nicht mehr schütteln. Willst du welchen?“

Sie lehnte ab und schnallte sich ihre Waffe um. „Wer hätte das gedacht? Ein Erdbeben in New York City?“

Er legte seine Arme um sie. „Ich kann mich nicht über das Timing beschweren.“

„Das ist schwer zu toppen.“

„Schätze, wir müssen es wohl einfach versuchen“, meinte er, und sie küssten sich. Ihr Handy klingelte, und Heat wandte sich von ihm ab, um den Anruf entgegenzunehmen. Er reichte ihr ungefragt einen Bleistift und einen Notizblock, und sie schrieb eine Adresse auf. „Bin schon unterwegs.“

„Weißt du, was wir heute machen sollten?“

Nikki verstaute ihr Handy in der Tasche ihres Blazers. „Ja, das weiß ich. Doch so gerne ich das auch tun würde – und glaub mir, ich würde es wirklich gerne tun –, muss ich jetzt zur Arbeit.“

„Nach Hawaii fliegen.“

„Sehr witzig.“

„Ich meine es ernst. Lass uns einfach abhauen. Maui. Mmm, Maui.“

„Du weißt, dass ich das nicht tun kann.“

„Nenn mir einen guten Grund.“

„Ich muss einen Mord aufklären.“

„Nikki. Wenn ich während unserer gemeinsamen Zeit eins gelernt habe, dann, dass man sich von einem Mord niemals den Spaß verderben lassen sollte.“

„Ist mir aufgefallen. Und was ist mit deiner Arbeit? Musst du nicht irgendeinen Zeitschriftenartikel schreiben? Irgendeinen Enthüllungsbericht über Korruption in den dunklen Fluren der Weltbank? Eine Chronik darüber, wie du einen Jäger Osama bin Ladens begleitet hast? Oder etwas über dein Wochenende auf den Seychellen mit Johnny Depp oder Sting?“

Rook dachte darüber nach und sagte: „Wenn wir heute Nachmittag aufbrechen, könnten wir pünktlich zum Frühstück in Lahaina sein. Du solltest dich wirklich nicht schuldig fühlen. Nachdem du dich zwei Monate lang um mich gekümmert hast, hast du dir eine Auszeit verdient.“ Sie ignorierte ihn und befestigte ihre Dienstmarke an ihrem Hosenbund. „Komm schon, Nikki, wie viele Morde gibt es pro Jahr in dieser Stadt? Fünfhundert?“

„Eher fünfhundertdreißig.“

„Also gut, das sind immer noch weniger als zwei am Tag. Hör zu, wir verkrümeln uns heute unauffällig nach Maui und kommen in einer Woche wieder. Auf diese Weise würdest du vielleicht maximal zehn Morde verpassen. Und davon lägen ohnehin nicht alle in deinem Revier.“

„Du hast mir gerade etwas plausibel vor Augen geführt, Rook.“

Er sah sie an und wirkte leicht überrascht. „Tatsächlich?“

„Ja. Und zwar Folgendes: Es spielt überhaupt keine Rolle, wie viele Pulitzerpreise du gewonnen hast. Du denkst immer noch wie ein Sechzehnjähriger.“

„Ist das ein Ja?“

„Ich korrigiere: wie ein Fünfzehnjähriger.“ Nikki küsste ihn erneut und griff ihm kurz zwischen die Beine. „Übrigens, das Warten wird sich lohnen.“ Und dann ging sie zur Arbeit.

Der Tatort lag auf ihrem Weg zum Revier, also sparte Heat es sich, zuerst zum 20. zu fahren und sich einen Wagen zu besorgen, um dann damit zurückzufahren. Stattdessen stieg sie eine Haltestelle früher aus der U-Bahn, um von der Zweiundsiebzigsten Straße aus zu laufen. Das Bombenentschärfungskommando hatte vorsichtshalber die Columbus Avenue sperren lassen, und als Nikki die Treppe der U-Bahn-Station neben dem Dakota Building hochkam, wurde sie Zeugin eines albtraumhaften Verkehrsstillstands, der sich bis zum Central Park erstreckte. Je schneller sie ihre Ermittlung abschloss, desto eher würden die Autofahrer ihren Weg fortsetzen können, also legte sie einen Zahn zu. Das wirkte sich jedoch nicht auf die Gedanken aus, die sich für einen Moment in ihrem Kopf breitmachten.

Wie immer, wenn sie sich einer Leiche näherte, konzentrierte sich Detective Heat auf das Opfer. Sie brauchte Rook nicht, um sich daran zu erinnern, wie viele Morde es jedes Jahr in dieser Stadt gab. Aber sie hatte sich geschworen, niemals zuzulassen, dass auch nur ein einziges dieser verlorenen Leben von der schieren Masse entmenschlicht wurde. Oder dass sie die Routine gegen die Auswirkungen, die ein Mord auf Freunde und Verwandte des Opfers hatte, abhärten würde. Für sie war das kein Lippenbekenntnis und auch kein PR-Slogan. Nikki hatte sich diese Einstellung vor vielen Jahren ehrlich verdient, als ihre Mutter ermordet worden war. Heats Verlust bewegte sie nicht nur dazu, von ihrem Hauptfach auf dem College zur Strafverfolgung zu wechseln, sondern machte sie auch zu der Art von Polizistin, die sie zu sein geschworen hatte. Mehr als zehn Jahre später war der Mord an ihrer Mutter immer noch nicht aufgeklärt, doch Detective Heat trat weiterhin unbeugsam für jedes einzelne Opfer ein.

An der Ecke Zweiundsiebzigste Straße und Columbus Avenue bahnte sie sich ihren Weg durch die Traube aus Schaulustigen, die sich dort gebildet hatte. Viele hielten ihre Handys hoch und dokumentierten ihre Nähe zur Gefahr, um später auf ihren Facebook-Seiten damit angeben zu können. Sie griff nach unten, um ihren Blazer zurückzuschieben und dem Officer an der Absperrung ihre Marke zu zeigen, doch er kannte die Bewegung und nickte ihr zu, bevor sie die Marke vollständig freigelegt hatte. Blaulichter blitzten zwei Blocks vor ihr auf, während sie Richtung Süden ging. Nikki hätte über die leere Straße laufen können, blieb aber auf dem Bürgersteig. Eine Hauptverkehrsstraße in der Innenstadt zur morgendlichen Rushhour vollkommen stillgelegt zu sehen, verstörte selbst sie als erfahrene Polizistin. Die Bürgersteige waren ebenfalls verlassen, abgesehen von den Streifenpolizisten, die dafür sorgten, dass niemand Unbefugtes den Tatort betrat. Absperrungen blockierten die Einundsiebzigste Straße, und ein Stück weiter westlich wartete ein Krankenwagen vor einem Haus, dessen Ziegelfassade während des Erdbebens abgebröckelt war. Sie passierte eine der Eschen, die in den Pflanzkübeln auf dem Bürgersteig wuchsen, und sah durch die knospenden Äste zu einem Dutzend Gaffern hinauf, die sich aus Fenstern und über die Geländer der Feuerleitern lehnten. Auf der anderen Seite der Columbus Avenue war es genau das Gleiche. Als sie sich dem Tatort näherte, hallten Notrufe aus den Funkvorrichtungen der Notfallfahrzeuge, die von den steinernen Wohnhäusern zurückgeworfen wurden und sich in der Luft vermischten.

Das Bombenentschärfungskommando war mit seiner gepanzerten mobilen Einheit ausgerückt, die nun in der Mitte der Avenue geparkt war, nur für den Fall, das irgendetwas gesprengt werden musste. Doch schon aus zwanzig Metern Entfernung konnte Heat an der Körpersprache der Einsatzkräfte ablesen, dass das Entschärfungskommando bereits Entwarnung gegeben hatte. Über den Dächern der Notfallfahrzeuge und Streifenwagen erhaschte sie einen Blick auf ihre Freundin Lauren Parry, die in ihrem Gerichtsmedizineroverall im Inneren des Laderaums eines Lieferwagens herumlief. Dann bückte sie sich, und Nikki verlor sie aus den Augen.

Raley und Ochoa aus ihrem Team entfernten sich von einem Schwarzen mittleren Alters, der eine Rollmütze und einen grünen Parka trug. Sie hatten ihn neben einem Feuerwehrauto befragt und kamen nun auf sie zu. „Detective Heat.“

„Detective Roach“, erwiderte sie und benutzte den hauseigenen Spitznamen der beiden Partner, mit dem sich Raley und Ochoa zu einer praktischen Silbe verkürzen ließ.

„Sie hatten kein Problem, herzukommen“, sagte Raley, der nicht fragte, nicht erwartete, dass ausgerechnet sie je Probleme haben könnte.

„Nein, meine U-Bahn-Linie fährt. Ich hörte, die N und die R wurden vorerst stillgelegt, damit die Streckenabschnitte überprüft werden können, die unter dem Fluss entlangführen.“

„Das gilt auch für die Q-Linie, die aus Brooklyn kommt“, fügte Ochoa hinzu. „Ich habe es gerade noch rübergeschafft, bevor das Erdbeben losging. Aber ich sage Ihnen, an der Haltestelle am Times Square war die Hölle los. Da unten ging es zu wie in einem Godzilla-Film. Die Leute liefen schreiend umher.“

„Haben Sie es gespürt?“, wollte Raley wissen.

Sie ließ die Umstände, unter denen sie das Erdbeben erlebt hatte, noch einmal in ihrem Kopf ablaufen und sagte: „Oh ja“, wobei sie versuchte, locker zu klingen.

„Wo waren Sie, als es passierte?“

„Beim Training.“ Das war nicht vollkommen gelogen. Heat nickte in Richtung des gepanzerten Explosionscontainers. „Mit was haben wir es hier zu tun, dass die schweren Geschütze aufgefahren werden müssen?“

„Ein verdächtiges Gepäckstück hat Aufmerksamkeit erregt.“ Ochoa blätterte zur ersten Seite seines Notizblocks zurück. „Ein Lieferwagenfahrer für Gefrorenes – das ist der Kerl dort drüben …“

„… in der grünen Jacke …“, ergänzte sein Partner in ihrem üblichen Duett.

„… öffnete die hintere Tür seines Wagens, um ein paar Kisten mit Hähnchenbrüsten und Burgerfleisch für dieses Delikatessengeschäft hier auszuladen.“ Er hielt inne, damit Nikki einen Blick auf die Fassade des Restaurants werfen konnte, in dem drei Köche in karierten Hosen und Schürzen hinter dem Fenster herumlungerten und darauf warteten, dass der Laden wieder öffnen durfte. „Er schob einen Karton zur Seite und fand einen Koffer zwischen den Kisten.“

„Ich schätze, die allgemeinen Sicherheitshinweise an die Bevölkerung bezüglich verdächtiger Gegenstände haben Wirkung gezeigt“, sagte Raley und übernahm damit wieder. „Er verließ sofort den Laderaum und rief die Polizei.“

„Die Notfalleinheit rückte aus und schickte einen Roboter los, um den Koffer zu überprüfen.“ Detective Ochoa bedeutete ihr, mit ihm zu kommen, und führte sie an dem ferngesteuerten Roboter des Bombenentschärfungskommandos vorbei. „Der Roboter hat ein wenig an dem Koffer herumgeschnüffelt und ihn mit Röntgenstrahlen durchleuchtet. Er enthielt keinerlei explosive Elemente. Der Sprengstofftechniker wurde trotzdem in Sicherheitskleidung gesteckt – bei so was kann man nicht vorsichtig genug sein –, brach das Schloss auf und fand die Leiche im Koffer.“

Ein paar Meter hinter sich hörte Nikki Detective Feller. „Deswegen reise ich immer nur mit Handgepäck. Diese aufgegebenen Koffer sind echt mörderisch.“ Sie drehte ruckartig den Kopf herum und sah sein überraschtes Gesicht, während zwei Officers, die ihm als Publikum dienten, lachten. Er hatte sehr leise gesprochen, aber nicht leise genug. Fellers Wangen liefen rot an, als Heat Raley und Ochoa stehen ließ, um zu ihm zu gehen. Die Officers machten sich unauffällig aus dem Staub und ließen ihn mit ihr allein. „Hey, tut mir leid.“ Dann versuchte er, sich mit einem vorsorglichen Grinsen und einem verlegenen Kichern, das Nikki immer an John Candy erinnerte, aus der Affäre zu ziehen. „Das sollten Sie eigentlich gar nicht hören.“

„Das sollte niemand.“ Sie sprach so leise, so ruhig und so ausdruckslos, dass ein zufälliger Beobachter denken musste, dass sie einfach nur zwei Detectives waren, die Informationen austauschten. „Sehen Sie sich um, Randy. Ernsthafter wird es nicht. Wir befinden uns am Tatort eines Mordes. An meinem Tatort. Nicht beim Talentabend im Comedyclub.“

Er nickte. „Ja, ich weiß, dass das daneben war.“

„Schon wieder“, bemerkte sie. Randall Feller, der ewige Klassenclown, hatte die unangenehme Angewohnheit, sich an Tatorten daneben zu benehmen. Es war die einzige schlechte Angewohnheit eines verdammt guten Polizisten. Desselben Polizisten, der genau wie Rook eine Kugel kassiert hatte, um ihr Leben auf diesem Pier der Stadtreinigung zu retten. Fellers Galgenhumor mochte zu der Zeit gepasst haben, als er noch bei der Spezialeinheit gewesen und die ganze Nacht als Mitglied der Taxi-Einheit in getarnten Taxis durch die harte Machowelt New York Citys gefahren war, doch in ihrem Team war für so etwas kein Platz. Zumindest nicht in dem Bereich hinter dem Absperrband. Das war nicht die erste Unterhaltung dieser Art, die sie führten, seit er nach seiner Genesung zu ihrer Mordermittlungseinheit gewechselt war.

„Ich weiß, ich weiß, so was rutscht mir eben einfach so raus.“ Sie erkannte, dass er es ernst meinte, und es hatte keinen Sinn, noch länger darauf herumzureiten. „Beim nächsten Mal behalte ich es einfach für mich. Versprochen.“ Heat nickte kurz und machte sich zu dem Lieferwagen auf.

Von der Straße aus musste Nikki den Kopf zurücklegen, um in den Laderaum zu Lauren Parry hinaufsehen zu können, die im Inneren des Wagens auf dem Boden hockte. Die gestapelten Kartons weiter hinten waren voller Kondenswasser, und auf manchen von ihnen glitzerten sogar Eiskristalle, die sich an den Seiten gebildet hatten. Obwohl die Kühlvorrichtung abgeschaltet war, schlug Heat ein Schwall eisiger Luft entgegen. Vor Laurens Knien lag ein geöffneter blaugrauer Hartschalenkoffer, dessen Klappe so positioniert war, dass Nikki den Inhalt nicht sehen konnte. „Morgen, Dr. Parry“, sagte sie.

Ihre Freundin drehte sich zu ihr herum und lächelte. „Hey, Detective Heat.“ Nikki konnte sehen, wie Laurens Atem kondensierte und kleine Wölkchen bildete. „Ich hab hier einen komplizierten Fall für dich.“

„Wann ist es denn mal nicht kompliziert?“

Die Gerichtsmedizinerin bewegte nachdenklich den Kopf hin und her und stimmte ihr schließlich zu. „Willst du die grundlegenden Fakten hören?“

„Das wäre ein guter Anfang.“ Nikki zückte ihren eigenen Notizblock, ein dünnes Exemplar mit Spiralbindung, das perfekt in ihre Blazertasche passte.

„Eine weibliche Unbekannte. Kein Ausweis, keine Handtasche, kein Portemonnaie, kein Schmuck. Ich schätze ihr Alter auf Anfang sechzig.“

„Todesursache?“, fragte Heat.

Lauren Parrys Augen lösten sich von ihrem Klemmbrett und richteten sich fest auf die ihrer Freundin. „Woher wusste ich nur, dass du mir diese Frage stellen würdest?“ Sie warf einen Blick ins Innere des Koffers und fuhr fort. „Ich kann es noch nicht sagen. Das Beste, womit ich dienen kann, ist eine vorläufige Vermutung.“

„Woher wusste ich nur, dass das deine Antwort sein würde?“, erwiderte Nikki im gleichen Tonfall wie Lauren.

Die Gerichtsmedizinerin lächelte erneut, und aus ihren Nasenlöchern strömten dünne Kondensstreifen. „Warum kommst du nicht hier rauf, dann kann ich dir zeigen, womit ich es zu tun habe.“

Detective Heat stieg die geriffelte Metallrampe hoch, die vom Bürgersteig in den Laderaum des Lieferwagens führte. Als sie das Fahrzeug betrat, blieb ihr Blick für einen Moment an dem Koffer hängen, woraufhin sie ein eisiger Schauer überkam, der ihre Zähne zum Klappern brachte. Sie schob es auf den plötzlichen Temperaturunterschied – immerhin war sie gerade aus dem milden Aprilmorgen in die Januarkälte im Inneren des Laderaums getreten – und riss sich zusammen.

Lauren stand auf, damit Nikki sich an ihr vorbeizwängen und einen Blick auf die Leiche werfen konnte. „Ich verstehe, was du meinst“, sagte Heat.

Die Leiche der Frau war tiefgefroren. Eiskristalle wie die, die auf den Kartons mit Rinderhack, Hähnchenfleisch und Fischstäbchen schimmerten, bedeckten ihr Gesicht. Sie trug einen hellgrauen Anzug und war in Embryonalstellung zusammengequetscht worden, damit sie in den Koffer passte, in dem sie nun auf der Seite lag. Lauren deutete mit der Kappe ihres Stifts auf den mit Frost überzogenen Blutfleck, der den Rücken des Anzugs bedeckte. „Das hier ist ganz offensichtlich der beste Hinweis auf die mögliche Todesursache. Es handelt sich um eine deutliche Stichwunde, die dem Opfer von hinten in den Brustkorb zugefügt wurde. Der Blutmenge nach zu urteilen, ist das Messer seitlich zwischen den Rippen eingetreten und hat das Herz getroffen.“ Heat verspürte das unangenehme Gefühl von Déjà-vu, das sie jedes Mal überkam, wenn sie eine dieser Wunden sah. Sie gab jedoch keinen Kommentar ab, sondern nickte nur und verschränkte die Arme, um die Gänsehaut zu bekämpfen, die trotz des Blazers zweifellos von der kalten Umgebung ausgelöst worden war. „Solange sie sich in diesem gefrorenen Zustand befindet, kann ich dir keine meiner üblichen vorläufigen Einschätzungen geben. Ich kann nicht einmal ihre Gliedmaßen bewegen, um herauszufinden, ob es noch andere Wunden, Verletzungen, Abwehrmale, Leichenflecke und so weiter gibt. Natürlich kann ich das später alles tun, aber jetzt eben noch nicht.“

Nikki hielt den Blick starr auf die Stichwunde gerichtet und sagte: „Ich vermute, selbst die Einschätzung des Todeszeitpunkts stellt eine Herausforderung dar.“

„Oh, sicher, aber keine Sorge. Wir dürften immer noch eine recht genaue Schätzung hinbekommen, sobald wir sie im Labor haben und mit den Untersuchungen beginnen können“, sagte die Gerichtsmedizinerin. Und dann fügte sie hinzu: „Vorausgesetzt, dass dort nach dem Erdbeben kein heilloses Durcheinander herrscht.“

„Soweit ich gehört habe, halten sich die Verletzungen in Grenzen, und bisher war nichts Ernstes dabei.“

„Das ist gut.“ Lauren betrachtete sie eingehend. „Bist du in Ordnung?“

„Ja. Ich wusste nur nicht, dass ich heute einen Pullover brauchen würde.“

„Ich schätze, ich bin eher an die Kälte gewöhnt, was?“ Sie zog die Kappe von ihrem Stift. „Ich gehe einfach mal ein Stück zur Seite und mache mir ein paar Notizen, während du dein übliches Ritual durchführst.“ Parry und Heat hatten schon oft genug zusammengearbeitet, um die Vorgehensweisen und Bedürfnisse der anderen zu kennen. So wusste Lauren zum Beispiel, dass sich Nikki an jedem Tatort zuallererst immer einen Gesamteindruck der Situation verschaffte, indem sie alles absolut unvoreingenommen aus jedem möglichen Blickwinkel betrachtete. Selbst die besten erfahrenen Ermittler hatten Heats Meinung nach oft das Problem, dass sie nach der jahrelangen Arbeit an zahllosen Mordfällen durch die Gewohnheit abstumpften. Erfahrung überlagerte Intuition, wodurch ihre Fähigkeit der unvoreingenommenen Beobachtung beeinträchtigt wurde. Wenn man einen Raffineriearbeiter fragen würde, wie er mit dem Gestank klarkomme, würde er antworten: „Welcher Gestank?“ Doch Detective Heat erinnerte sich immer noch daran, wie sich ihre ersten Mordfälle angefühlt hatten. Wie sie alles gesehen und dann nach mehr gesucht hatte. Wie jede noch so unscheinbare Kleinigkeit eine potenzielle Bedeutung haben konnte. Nichts durfte übersehen werden. Genauso wie die Erfahrung des Mordes an ihrer Mutter für ihre einfühlsame Herangehensweise an die Untersuchung eines Tatorts sorgte, half ihr der Glaube daran, stets unvoreingenommen zu bleiben, dabei, nicht in eine Routine abzurutschen und möglicherweise etwas Wichtiges zu übersehen. Sie erinnerte ihr Team oft daran, dass es stets darum ging, im richtigen Augenblick aufmerksam zu sein und die Dinge, die man bemerkte, auch richtig wahrzunehmen.

Detective Heats Augen verrieten ihr, dass dieser Lieferwagen vermutlich nicht der Tatort des Mordes war. Sie lief durch den beengten Bereich des Frachtraums, leuchtete mit ihrer kleinen Taschenlampe auf den Boden und die Wände zwischen den Kisten und entdeckte keinerlei Blutspritzer. Später, nachdem die Leiche weggebracht worden war, würde die Beweissicherungseinheit sämtliche Kartons ausladen und sie einer gründlichen Untersuchung unterziehen, doch Nikki war sich ziemlich sicher, dass der Koffer mit dem vermutlich bereits toten Opfer darin in den Lieferwagen gebracht worden war. Der Zeitpunkt des Todes und eine Zeitlinie der Be- und Entladung des Fahrzeugs würden helfen, diese Theorie zu bestätigen. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Opfer.

Parrys Einschätzung des Alters auf Anfang sechzig schien zu stimmen. Ihr Haar war recht kurz, und die geschäftsmäßige Frisur passte zu einer Frau dieses Alters. An den Haarwurzeln zeigte sich ein wenig Grau und Dunkelbraun, während der Rest honigblond gefärbt war und von leichten karamellfarbenen Strähnen durchzogen wurde. Das deutete auf zwei Dinge hin. Zum einen war sie offenbar eine wohlhabende Frau, der ihr Haar wichtig genug war, um sich einen teuren Schnitt und einen fähigen Koloristen zu leisten. Und zum anderen war sie trotz dieser Tatsache länger nicht beim Frisör gewesen. „Was hat sie davon abgehalten?“, schrieb Nikki auf ihren Notizblock. Die Kleidung war ähnlich geschmackvoll. Eine kleine Größe. Zwar von der Stange, aber eindeutig aus einer der gehobeneren Abteilungen des Kaufhauses. Die Bluse stammte aus einer aktuellen Kollektion, und der graue Anzug bestand aus leichter Wolle und wirkte zweckmäßig. Heat gewann den Eindruck, dass nicht so sehr der hohe Preis, sondern eher die gute Qualität eine Rolle beim Kauf gespielt hatte. Das war nicht die Arbeitskleidung einer Frau, die sich einfach nur mit jemandem zum Mittagessen traf, sondern auch während des Mittagessens arbeitete. Nikki ging in die Hocke, um sich die eine Hand anzuschauen, die zu sehen war. Sie war teilweise zusammengedrückt und steckte unter dem Kinn der Leiche, sodass sie sie nicht vollständig betrachten konnte, doch das, was zu sehen war, erzählte eine Geschichte. Dies waren geschäftige Hände, wohl definiert, ohne dabei jedoch muskulös oder von schwerer Arbeit beeinträchtigt zu sein. Die schlanken Finger besaßen die Art von Stärke, die man normalerweise bei Tennisspielern oder Fitnessfanatikern sah. Nikki bemerkte eine kleine Narbe an der Seite des Handgelenks, die so aussah, als wäre wie schon viele Jahre oder sogar Jahrzehnte alt. Der Körper passte zu einer Läuferin oder einer Radfahrerin. Nikki machte sich eine weitere Notiz, um sich daran zu erinnern, das Bild des Opfers in Fitnessstudios, Laufvereinen und Fahrradgeschäften herumzeigen zu lassen. Dann hockte sie sich wieder hin, um den schmierigen, dunkelbraunen Schmutzfleck auf dem Kniebereich der Hose der Frau zu untersuchen, der etwas über ihre letzten Minuten aussagen mochte. Sie machte sich eine Notiz darüber und rutschte herum, um sich die Stichwunde genauer anzusehen. Der gefrorene Blutfleck hatte sich weit ausgebreitet, was Heats Vermutung unterstützte, dass das Opfer getötet worden war, bevor es in den Lieferwagen verfrachtet wurde. Es sah so aus, als wäre die Frau in Bauchlage ausgeblutet. Die Breite des Flecks deutete auf großen Blutverlust hin, doch auf dem Innenfutter des Koffers befanden sich lediglich ein paar Abriebschlieren. Nikki leuchtete mit ihrer Taschenlampe auf die Stelle, an der der Rücken des Opfers das Innenscharnier des Koffers berührt hatte, und fand dort ebenfalls nur leichte Blutspuren vor. Es gab keinerlei Hinweise auf eine größere Blutmenge. Auch hier würde sich bei späteren Untersuchungen möglicherweise mehr ergeben, doch Heat war sich nun ziemlich sicher, dass der Mord nicht nur außerhalb des Lieferwagens, sondern auch außerhalb des Koffers stattgefunden hatte.

Einen weiteren Hinweis würde ein genauerer Blick auf das Äußere des Gepäckstücks bieten, an dessen Scharnieren oder Nähten sich möglicherweise große Mengen Blut gesammelt hatten. Nikki legte eine Hand auf den Boden des Laderaums und ließ sich vorsichtig auf beide Knie herunter, wobei sie darauf achtete, den Koffer nicht zu bewegen. Dann senkte sie ihren Kopf und lehnte sich so weit vor, dass ihre Stirn fast den Boden berührte. Langsam und methodisch ließ sie den Strahl der Taschenlampe am unteren Rand der Verschalung entlang von rechts nach links gleiten.

Als das Licht die linke Ecke des Koffers erreichte, keuchte Nikki auf. Ihr wurde schwarz vor Augen, und ein Schwindelgefühl überkam sie. Die Taschenlampe glitt ihr aus der Hand, und sie fiel taumelnd auf die Seite.

„Nikki, geht’s dir gut?“, rief Lauren.

Sie konnte in diesem Augenblick nichts richtig erkennen. Hände griffen nach ihr. Lauren Parry hob ihren Kopf vom Boden hoch. Zwei Sanitäter kamen die Rampe hinauf, doch Nikki hatte sich bereits genug erholt, um sich aufzusetzen und sie abzuwimmeln. „Nein, nein, es geht mir gut. Schon in Ordnung.“ Lauren hockte neben ihr und untersuchte sie. „Es geht mir wirklich gut“, versicherte Nikki.

Doch ihre Freundin konnte in ihrem Gesicht ablesen, dass das Gegenteil der Fall war. „Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Nik. Ich dachte schon, du wärst durch ein Nachbeben umgeworfen worden oder so was.“

Heat schwenkte ihre Beine über den Rand der Laderampe und ließ sie in der Luft baumeln. Raley und Ochoa kamen auf sie zu, und Feller folgte ihnen. „Was ist los, Detective?“, fragte Ochoa. „Sie wirken so, als hätten Sie einen Geist gesehen.“

Nikki zitterte. Doch dieses Mal lag es nicht an der Kühlvorrichtung. Sie drehte sich herum, um noch einmal den Koffer anzusehen, und wandte sich dann langsam wieder zu den anderen um.

„Nikki“, sagte Lauren, „was ist los?“

„Der Koffer.“ Sie schluckte heftig. „Meine Initialen stehen darauf.“

Die Detectives und die Gerichtsmedizinerin warfen sich verwirrte Blicke zu. Schließlich sagte Raley: „Ich kapier’s nicht. Warum sollten Ihre Initialen auf diesem Koffer stehen?“

„Weil ich sie hineingeritzt habe, als ich ein Kind war.“ Sie konnte sehen, wie die anderen diese Information verarbeiteten, aber sie brauchten zu lange, also sagte sie: „Dieser Koffer gehörte meiner Mutter.“ Und dann fügte sie hinzu: „Ihr Mörder hat ihn in der Nacht gestohlen, in der er sie umbrachte.“

ZWEI

Nikki Heat marschierte mit zackigen Schritten auf den Hauptraum des 20. Reviers zu. Ihr Tempo überzeugte die anderen Detectives, die versuchten, mit ihr Schritt zu halten, restlos davon, dass sie sich mittlerweile vollständig von dem Schock ihrer Entdeckung erholt hatte. „Besprechung in zehn Minuten“, rief sie ihrem Team zu, als sie durch die Tür trat. Auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch sagte sie: „Detective Ochoa, leiten Sie das Foto der Unbekannten an die Abteilung für Vermisstenmeldungen weiter. Einschließlich der Kollegen in Westchester, Long Island, New Jersey und Fairfield County, wenn Sie schon mal dabei sind. Detective Raley, wischen Sie das Mordfallbrett sauber und rollen Sie das zweite daneben, damit wir an beiden gleichzeitig arbeiten können.“ Heat schob den morgendlichen Stapel Nachrichten zur Seite und fegte ein paar Krümel der Deckenplatten zur Seite, die durch das Erdbeben wie Schneeflocken auf ihren Schreibtisch gerieselt waren. Dann setzte sie sich an ihren Computer und schrieb eine E-Mail an Lauren Parry in der Gerichtsmedizin. Es war dieselbe Botschaft, die sie ihr vor fünfzehn Minuten mündlich am Tatort mitgeteilt hatte: dass sie sich sofort bei ihr melden sollte, sobald sie irgendwelche Informationen hatte, egal wie unbedeutend.

Sie drückte auf Senden, und auf ihrer Schreibtischunterlage erschien ein Pappbecher mit Kaffee. Nikki drehte sich mit ihrem Stuhl herum und entdeckte Detective Feller. „Bitte akzeptieren Sie diesen Entschuldigungskaffee anstelle von Blumen für meine große Klappe heute Morgen. Ein Haselnussmocca mit drei Schuss Sirup in tall, wenn ich mir recht entsinne. Richtig?“

Eigentlich war ihr bevorzugtes Getränk ein entrahmter Latte mit zwei Schuss zuckerfreiem Vanillesirup in grande, aber sie sagte nur: „Passt schon.“ Er versuchte, seinen Fehler wiedergutzumachen, doch sie hatte momentan andere Dinge im Kopf als Kaffeegeschmacksrichtungen. „Danke. Haken wir das einfach ab, okay?“

„Wird nicht wieder vorkommen.“

Sobald Feller sich entfernt hatte, stellte sie den lauwarmen Becher ans andere Ende ihres Schreibtischs hinter die ungelesenen Nachrichten und fing an, eine Erledigungsliste zu schreiben. Als die Seite bereits zu einem Drittel gefüllt war, schrieb sie „zusätzliche Einsatzkräfte“ auf und hielt inne. Dafür würde sie die Genehmigung des Revierleiters benötigen, und das war eine Hürde, auf deren Überwindung Heat sich nicht gerade freute. Sie schaute durch den Raum in das gläserne Büro des Revierleiters, aus dem man das Team stets im Blick hatte. Die Glasscheiben ermöglichten es dem Team ebenso, in das Büro hineinzusehen, was den Effekt hatte, dass ein lebensgroßes Diorama aus dem Film Nachts im Museum entstand. Captain Irons befand sich in diesem Ausstellungskasten und hängte seine Jacke an den hölzernen Kleiderständer. Heat wusste, dass er sich als Nächstes seinem Ritual widmen würde, am Stoff seines weißen Uniformhemds herumzuzupfen, und genau das tat er – es war Teil seiner ständigen Bemühung, Knopfabdrücke auf seinem ausladenden Bauch zu vermeiden, der über seinen tiefsitzenden Gürtel hing.

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