Castle 8: High Heat - Unter Feuer - Richard Castle - E-Book

Castle 8: High Heat - Unter Feuer E-Book

Richard Castle

4,3

Beschreibung

Eine New Yorker Gruppe, die dem Islamischen Staat Treue geschworen hat, enthauptet einen Journalisten im ISIS-Stil. Der Mord wird für Captain Nikki Heat vom NYPD zu mehr als nur einem weiteren Fall, als die Täter ihr nächstes Ziel ankündigen: ihren Ehemann, den Zeitschriftenautor Jameson Rook. Unterdessen konnte Heat einen flüchtigen Blick auf eine Person erhaschen, von der sie schwört, dass es sich bei ihr um ihre Mutter handelt ... eine Frau, die seit fast zwanzig Jahren tot ist.

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RICHARDCASTLE

HIGH HEAT

UNTER FEUER

ÜBERSETZUNG

SUSANNE PICARD

Die deutsche Ausgabe von CASTLE 8: HIGH HEAT – UNTER FEUER wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern, Übersetzung: Susanne Picard; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Cover Artwork: Shubhani Sarkar; Printausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice.Printed in the Czech Republic.

Castle © ABC Studios. All rights reserved

Originally published in the United States and Canada as HIGH HEAT by Richard Castle.This translated edition published by arrangement with Kingswell, an imprint of Disney Book Group, LLC.

German translation copyright © 2016 ABC Studios.

Print ISBN: 978-3-86425-291-4 · E-Book ISBN 978-3-95981-259-7 (November 2016)

WWW.CROSS-CULT.DE

Inhalt

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

VIERUNDDREISSIG

Für K. B.Für immer und mehr.

EINS

Reykjavík. Schon bei dem Wort allein liefen Nikki Heat Schauer der Leidenschaft über den Rücken.

Reykjavík. Das war wie ein üppiges Fünf-Sterne-Menü, ein duftendes Schaumbad und ein Schluck des besten Tequila … und das alles gleichzeitig, sodass diese Genüsse sich gegenseitig unterstrichen und verstärkten.

Reykjavík. Wenn sie es laut aussprach, klang es wie Musik. Leise ausgesprochen … Nun, das Beste, was Reykjavík zu bieten hatte, war eher laut als leise.

Ja, Reykjavík. Für die, die es nicht besser wussten – und das schloss wahrscheinlich den gesamten Rest der Weltbevölkerung mit Ausnahme eines einzigen unglaublichen Mannes ein –, war es die Hauptstadt und der größte Fischereihafen der Inselnation Island, einem einsamen Stück Vulkanfelsen im Nordatlantik, knapp südlich des nördlichen Polarkreises.

Für Heat war es etwas ganz anderes. Etwas wesentlich weniger Einsames und viel Einladenderes.

Reykjavík war der Ort, an den ihr Ehemann, der auf eine bärige Weise gut aussehende und weltbekannte Boulevardjournalist Jameson Rook, sie zu ihrer gemeinsamen Hochzeitsreise gebracht hatte. Er hatte diesen Ort dem Namen nach gewählt, mit dem gleichen Hintergedanken, mit dem die ersten norwegischen Siedler ihn einst benannt hatten: Sie hatten ihre grüne, gemäßigt temperierte neue Heimat Snæland genannt (was buchstäblich »Schneeland« hieß), um die plündernden Wikinger abzuschrecken.

Rook wollte natürlich keine Wikinger verschrecken. Er machte sich viel mehr Sorgen um Us Weekly und die Klatschkolumne des New York Ledger, Publikationen, deren journalistische Sensibilität immerhin doch oft Assoziationen zu plündernden Seeräubern weckten.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, war Reykjavík nicht wirklich Reykjavík, und es war auch nicht nur ein einzelner Ort. Das Reykjavík der frisch Vermählten stellte sich als auf drei Kontinenten gelegen heraus, es lag in Metropolen und kleinen Städtchen, in den Tropen und der Tundra. Insgesamt betrachtet war ihre Reise wohl so etwas wie Jules Vernes In achtzig Tagen um die Welt, auch wenn sie letztendlich nicht so lang gewesen war. Jules Verne hatte sich schließlich auch nicht mit der Urlaubspolitik des New York Police Department auseinandersetzen müssen. Auf der anderen Seite hatte er allerdings auch keinen reichen Freund mit einem Privatjet besessen, wie es bei Rook der Fall war.

Ohne sich also um die Unbequemlichkeiten des kommerziellen Flugreiseverkehrs kümmern zu müssen, hatte Rook Nikki die schönsten versteckten Juwelen des internationalen Tourismus zeigen können, die er selbst während seiner Zeit als Auslandskorrespondent entdeckt hatte. Geheime Strände, Restaurants, die nur von Einheimischen frequentiert wurden, kleine Perlen der Architektur und Reisetipps, die man in keinem der offiziellen Reiseführer nachlesen konnte.

Sie hatten in den Alpen Picknicks mit Käse und Wein vor der Kulisse des Jungfraujochs genossen und dabei über alles und nichts gelacht. An der Amalfiküste hatten sie nackt in der Sonne gelegen, ganz und gar sicher in dem Wissen, dass Rook Flecken kannte, von denen die Paparazzi keine Ahnung hatten. Sie hatten in einer tibetischen Pagode meditiert und einen inneren Frieden erreicht, der unerreichbar war, solange sie ihrem hektischen Alltagsleben nachgingen.

Und sie hatten sich geliebt. Oh, und wie sie sich geliebt hatten! Rook hatte Heat mit seinem Durchhaltevermögen und seiner Kreativität erstaunt, und damit, wie er selbst jetzt, nachdem sie bereits Jahre miteinander verbracht hatten, neue und erfinderische Wege aus dem Hut gezaubert hatte, um sie immer neuen und immer schöneren Höhepunkten entgegenzuführen, Höhen, die den gewaltigen Himalaya zu einer sanften Hügellandschaft schrumpfen ließen. Und auch sie selbst hatte ein oder zwei Tricks entdeckt, die ihm gefielen. Die Formulierung »Lass uns nach Reykjavík gehen!« war in all ihren Varianten zu einem geflügelten Wort zwischen ihnen geworden.

Es muss wohl nicht hinzugefügt werden, dass das reale Reykjavík bekannt ist für seine ungewöhnlichen tektonischen Aktivitäten … genau wie ihrer beider Version davon.

Heat hatte nicht geglaubt, dass eine Hochzeit ihre Beziehung fundamental verändern könnte. Sie dachte, es gäbe eine tolle Party, eine wundervolle Reise und dann würden die Dinge so weitergehen, wie sie immer gelaufen waren.

Aber Captain Nikki Heat, deren detektivische Instinkte sie nur selten betrogen, hatte sich in dieser Einschätzung ihres Privatlebens gründlich geirrt. Verheiratet zu sein hatte die letzten Hindernisse zwischen ihnen beseitigt und eine Intimität hergestellt, die sie nie zuvor im Leben erfahren hatte. Heat hatte schon vor ihrer Hochzeit geglaubt, Rook zu lieben. Sie hatte erkannt, dass es, verglichen mit dem, was sie nun fühlte, nur eine, wenn auch verlängerte, Schwärmerei gewesen war.

Und als sie nun seufzend an einem frühen Dienstagmorgen im Oktober im Bett lag und mit dem Daumen die Fotos ihrer Hochzeitsreise durchging – über ein Jahr, nachdem sie aus Reykjavík zurückgekehrt waren –, lag das nicht daran, dass sie wieder einmal an den wundervollen Hintern ihres Ehemannes dachte. Es lag daran, dass der Mann, der sie zur glücklichsten Frau des Planeten gemacht hatte, nicht hier neben ihr lag und sie keinen schnellen Quickie vor einem langen Arbeitstag haben konnten.

Rook war schon seit Sonntag für einen Auftrag unterwegs. Der zweimalige Gewinner des Pulitzer-Preises schrieb für die First Press an einem Profil von Legs Kline, dem milliardenschweren Geschäftsmann, der unerwartet zu einem Kandidaten für die US-Präsidentschaft geworden war. Kline hatte von der allgemeinen Unzufriedenheit mit den von den großen Parteien aufgestellten Kandidaten profitiert. Die von den Demokraten nominierte Lindsy Gardner war eine Bibliothekarin, die sich zur Politikerin gemausert hatte und von der man behauptete, sie sei zu nett, um Präsidentin sein zu können. Der Favorit der Republikaner, Caleb Brown, war ein Abgeordneter, der über Leichen ging und den man für zu gemein hielt. Genau das hatte Legs Kline Aufschwung verliehen und nun hatte er offenbar gute Chancen, ins Weiße Haus einzuziehen.

Wer ist Legs Kline wirklich? Das war die Frage, die alle Wähler seither bewegte. Jameson Rook war der Journalist in Amerika, dem alle eine klare Antwort zutrauten.

Und nun, da es bis zur Wahl nur noch drei Wochen dauerte, wurde die Zeit knapp. Rook hatte, sehr zum Schaden von Heats Liebensleben, Tag und Nacht an dem Profil gearbeitet. Erst gestern Nacht hatte er aus irgendeinem Kaff im mittleren Westen angerufen, wo er ein Frackingunternehmen besucht hatte, das zu Kline Industries gehörte. Das nächste Ziel war irgendein Stahlwerk am Eriesee, dann eine Sägemühle in den Rocky Mountains. Oder war es doch ein Bohrunternehmen für Flüssiggas an der Golfküste gewesen?

Sie hatte den Überblick verloren. Rook hatte nicht genau gesagt, wann er wieder da sein würde. Alles, was sie wusste, war, dass er sich nach seiner Besichtigungstour der verschiedenen Kline-Unternehmen der Wahlkampagne des Präsidentschaftskandidaten anschließen würde, in der Hoffnung, ein Einzelinterview ergattern zu können. Und das konnte eine Weile dauern.

Sie setzte gerade zu einem weiteren sehnsüchtigen Seufzer an, als ihr Smartphone klingelte. Sie nahm es vom Nachttisch. Es war so laut gestellt, dass es sie selbst aus dem Tiefschlaf geholt hätte.

»Heat.«

»Captain.« Es war die Stimme von Miguel Ochoa, ihrem Stellvertreter in der Einheit. »Wir haben hier etwas auf der Wache, das Sie sich unbedingt ansehen sollten. Wie schnell können Sie hier sein?«

»Ich bin schon auf dem Weg«, sagte Heat, die Füße bereits auf dem Boden.

»Ist Rook bei Ihnen?«

»Nein.«

»Wo ist er?«

»Ich habe keine Ahnung. Vielleicht in Bismarck.«

»Das ist … das ist doch in Montana, oder?«

»In North Dakota, Sie Genie.«

»Okay. Auch gut.«

Sie wollte die Verbindung schon unterbrechen, als Ochoa noch hinzufügte: »Übrigens, haben Sie schon gefrühstückt?«

»Nein.«

»Gut. Dann belassen Sie’s besser dabei.«

Das Zwanzigste Revier des New York Police Departments bot keinen besonders aufregenden Anblick, es sei denn, man empfand unbearbeitete Papierstapel, abgenutzte Büromöbel aus Stahl oder alte, fleckige Teppichböden als visuell beeindruckend.

Trotzdem liebte Nikki Heat das Revier. Sie liebte die Geschäftigkeit während eines großen Falls. Sie liebte es, mit so vielen Leuten von großartigem Verstand und Elan zusammenzuarbeiten, die eigentlich einer viel lukrativeren Arbeit hätten nachgehen können und es stattdessen vorzogen, den Menschen von New York zu dienen und sie zu schützen. Sie liebte sogar den Geruch: billiges Aftershave gemischt mit lauwarmem Kaffee und Entschlossenheit.

Das Zwanzigste Revier war Nikki Heats Heimat, seit sie als totaler Grünschnabel frisch von der Akademie hier angefangen hatte, kaum dass die Tinte auf ihrer Abschlussurkunde getrocknet war.

Niemand hatte geglaubt, dass sie länger als ein Jahr durchhalten würde. Sie war nicht irgendein Arbeiterkind wie so viele andere Kollegen, die in ihrer Jugend auf Asphalt und Glasscherben abgehärtet worden waren. Alles an ihr, angefangen damit, dass sie nicht mit einem Brooklyn-Akzent sprach, bis hin zu ihrer tadellosen Haltung, zeugte von Stil und Klasse. Doch Polizeiarbeit war in der Regel alles andere als das.

Um ehrlich zu sein, war der einzige Grund, warum ihre Kollegen ihr anfangs überhaupt Beachtung geschenkt hatten, dass sie nur selten eine Brünette, die aussah wie ein Supermodel, in einer Polizeiuniform zu sehen bekamen.

Aber sie lernten schnell, Nikki Heat nicht zu unterschätzen. Sie brachte schnell die Prüfung zum Sergeant hinter sich und das war erst der Anfang. Heat war klug und arbeitete hart und hingebungsvoll. Diese Kombination hatte sie rasch zu einem der jüngsten Detectives des NYPD gemacht. Es dauerte nicht lange und sie war Leiterin einer Einheit und Lieutenant.

Ihre letzte Beförderung zum Captain hatte sie längere Zeit abgelehnt, weil Bürokratie sie anwiderte. Und ihre Erfahrung im letzten Jahr mit besagter Bürokratie ließ sie hoffen, dass ihre Karriere nun dort stagnieren würde.

Schließlich war es die Polizeiarbeit, die sie erfüllte, nicht der Papierkram. Doch ihre Verantwortlichkeiten wuchsen und drohten hin und wieder, sie zu überwältigen, und das Einzige, das ihren Job auch weiterhin so angenehm machte, war, dass sie nach wie vor an den Ermittlungen ihres Reviers teilnahm. Und aus diesem Grund brachte sie den Weg zum Revier und in das Großraumbüro ihrer Einheit schnell hinter sich. Ihre Detectives hatten sich bereits vor einem Computerbildschirm versammelt.

Sean Raley, der andere stellvertretende Leiter ihrer Ermittlungseinheit, saß vor der Tastatur. Ochoa stand direkt hinter ihm. Auch die Detectives Daniel Rhymer und Randall Feller fehlten nicht. Sie hatten Heat geholfen, einige ihrer schwierigsten Fälle zu knacken. Dann war da noch Detective Inez Aguinaldo, die immer noch als »die Neue« galt, obwohl sie bereits ein paar Jahre zum Team gehörte und ebenfalls schon ein paar wichtige Untersuchungen hinter sich hatte.

»Was haben Sie da, Roach?«, fragte Heat und benutzte den Spitznamen, der Raley und Ochoa gemeinsam bezeichnete.

»Das hier ist wirklich kranke Scheiße«, sagte Ochoa. Er wandte sich an Raley: »Sag du’s ihr, Kumpel. Ich bin nicht sicher, ob mein Magen das aushält.«

»Dieses Video wurde heute Morgen an die allgemeine Mailadresse des Reviers geschickt«, erklärte Raley. »Kam von einer IP-Adresse, die nicht zurückverfolgt werden kann. Ich versuche es schon seit einer halben Stunde, aber ich weiß jetzt schon, dass das nichts bringen wird. Wer auch immer dahintersteckt, muss das von irgendwelchen Kinderpornoringen gelernt haben. Er ist echt gut.«

»Hat der Account irgendeinen Namen?«, wollte Heat wissen.

»Ja«, erwiderte Raley. »Nennt sich offenbar ›Amerikanischer IS‹.«

Heat nahm sich einen Augenblick Zeit, um diese Information zu verarbeiten. Sie hatte an unzähligen Besprechungen teilgenommen, bei denen die Antiterrorismusexperten des NYPD vor der Bedrohung des »Islamischen Staats« und den Spinnern gewarnt hatten, die behaupteten, ihm anzugehören. Sie hatte sich auch mit muslimischen Klerikern, mit Lehrern und Geschäftsleuten getroffen, die die Lamettaträger des NYPD immer wieder daran erinnert hatten, dass die IS-Version des Islam eine engstirnige und verzerrte Perversion dieser Religion sei, die immerhin anderthalb Milliarden friedliche Anhänger auf dem Planeten hatte.

»Okay, dann lassen Sie mal sehen«, befahl Heat.

»Ich muss Sie warnen, es ist ziemlich grausam«, sagte Raley.

Heat, die bereits alle möglichen Verbrechen aufgeklärt hatte, in denen die Opfer in jedem nur erdenklichen Zustand und unter allen möglichen Temperaturen aufgefunden worden waren – angefangen von tiefgefroren im Koffer bis im Pizzaofen gebacken –, starrte Raley an, als wolle er sie auf den Arm nehmen.

»Okay, aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt«, antwortete er und hob dabei für eine Sekunde die Hände. Dann legte er die Finger wieder auf die Maus und klickte. »Es geht los.«

Das Video war körnig und von schlechter Qualität, von der Art, die nicht in ein Zeitalter zu gehören schien, in dem die meisten Leute Handykameras mit einer Auflösung von acht Megapixeln in der Hosentasche herumtrugen. Es zeigte zwei Männer, die in einem großen, offenen Raum standen, dessen einzige Struktur in einer Säule hier und da bestand, während der Boden mit Gebetsteppichen ausgelegt war.

Die Männer trugen Masken und Sonnenbrillen auf der Nase, die ihre Augen verdeckten. Jeder Zentimeter ihrer Haut war bedeckt. Sie trugen jeder einen sandfarbenen thawb und einen Turban sowie Handschuhe.

Vor ihnen kniete eine Frau. Eine junge Frau, deren Körper schlank und wohlgeformt war. Sie trug Jeans und ein Sweatshirt mit Reißverschluss. Über ihren Kopf hatte man eine Art Leinensack gezogen, der an einer Seite einen schwarzen Streifen hatte. Ein paar Strähnen blonden Haars quollen darunter hervor. Ihre Hände hatte man auf den Rücken gebunden, die Fesseln waren möglicherweise mit den ähnlich gefesselten Knöcheln verbunden. Ein weiteres Seil lief um ihre Brust, es wirkte nicht, als könne sie sich bewegen.

Die Männer schienen jemanden anzusehen, der direkt links neben der Kamera stand, er musste genickt oder sonst irgendein Zeichen gegeben haben, da nun einer der beiden zu sprechen begann.

»Wir sprechen zu euch im Namen Allahs, des Wahrhaftigen, dem, der alles hört und alles sieht, dem Wohltäter, von dem der Prophet Mohammed, Friede sei mit ihm, sagte, er sei der Einzige und Wahre Gott«, sagte der Linke. »Wir erklären, dass wir dem Islamischen Staat, dem Kalifat und dem großen Visionär Abu Bakr al-Baghdadi gegenüber loyal sind. Und wir erklären unsere Ergebenheit zu Allah. Möge alles, was wir tun, Ihm gefallen und Ihm dienen.«

»Allahu akbar«, bestätigte der auf der rechten Seite, der irgendetwas hinter seinem Rücken versteckte.

Die Stimmen der Männer waren verzerrt, sodass sie gedämpft und irgendwie mechanisch klangen, wie Darth Vader am Boden eines ausgetrockneten Brunnens.

»Der Teufel der Vereinigten Staaten von Amerika und sein teuflisches Militär haben unser Land und unser Volk viele Jahre lang angegriffen und einen modernen Feldzug gegen unsere gesegnete Religion und gegen alle, die den allmächtigen Allah anbeten, geführt«, sprach der Linke weiter. »Wir haben unter der Knute des imperialistischen Yankee-Abschaums lange genug gelitten. Wir haben gelitten, während ihr in eurer unersättlichen Gier nach unserem Öl unser Land vergewaltigt habt. Und heute sagen wir: Wir dulden es nicht länger!«

»Allahu akbar!«, bestätigte der Mann rechts wieder.

»Und nun setzen wir das Werk unseres großen Führers Osama bin Laden fort, der uns lehrte, dass wir den Kampf ins Herz unserer Feinde tragen müssen. Wir haben uns dem jihad angeschlossen, den er ausrief, aber unvollendet lassen musste, als er durch die Hand dieser Schweine, seiner Feinde, als Märtyrer gestorben ist. Und nun kehren wir an den Ort seines größten Triumphs zurück, hier in das vor Sünde schwarz gewordene Herz Amerikas.«

»Allahu akbar«, intonierte der Rechte.

»Es gibt keinen besseren Beweis für eure Ignoranz als eure lügenden Marionettenmedien, die nur existieren, um die verzerrte Propaganda eurer zionistischen Regierung zu verbreiten«, fuhr der Linke fort. »Und es gibt keine größere Sünde als die Art, in der euer Volk den Frauen erlaubt, ihre Körper schamlos zu entblößen und das zur Schau zu stellen, was nur ihre Ehemänner sehen sollten. Und so haben wir uns entschlossen, diese ungläubige Journalistin mit einem mächtigen Streich hinzurichten.«

Er packte das Seil, das man um die Brust der Frau gebunden hatte, für den Fall, dass sie sich im letzten Moment zur Seite wegrollen wollte.

»Allahu akbar«, sagte der Mann rechts, dann zog er eine glänzende Machete, die er hinter seinem Rücken versteckt hatte, hervor.

Er hielt sie hoch und schlug mit brutaler Kraft auf den Nacken der Frau.

Heat sog scharf die Luft ein, als die Klinge mit einem feuchten, fleischigen Geräusch in den Körper der Frau drang. Der Schlag war grausam gewesen – und war doch nicht mit genügend Kraft ausgeführt worden. Der menschliche Nacken ist voller Muskeln, Knochen und Sehnen und durch Jahrmillionen der Evolution dazu geschaffen, den Kopf auf den Schultern zu halten und fest mit dem restlichen Körper zu verbinden. Er lässt sich nicht so leicht durchtrennen.

Der »eine mächtige Streich« stellte sich als eine Reihe von verzweifelten Hieben heraus, die schließlich sogar in eine ungeschickte Sägebewegung mündeten. Das Opfer wäre zweifellos zusammengebrochen, hätte der Maskierte sie nicht von hinten festgehalten. Und sie hätte sicher geschrien, hätten die Hiebe ihr nicht die Stimmbänder durchtrennt.

Stattdessen säbelte der Rechte in einer unheimlichen Stille weiter an dem Kopf, als säge er mit einer Holzsäge an einem besonders sturen Ast herum, bis schließlich der Kopf der Frau vom Nacken purzelte. Heat sah mit Grauen, wie er mit einem dumpfen Laut auf dem Teppichboden landete und aus dem Sichtfeld der Kamera rollte.

In diesem Augenblick glaubte Heat, dass nichts schockierender hätte sein können als das, was sie gerade gesehen hatte.

Dann begann der Mann zur Linken wieder zu sprechen.

»Das ist nur der Anfang«, verkündete er. »Schon bald werden wir einen weiteren eurer Journalisten ergreifen. Es wird einer eurer beliebtesten Schreiberlinge sein, ein Mann, der die schlimmste Seite eurer imperialistischen Dekadenz repräsentiert.

Zu Allahs Gefallen. Unser nächstes Opfer wird Jameson Rook sein.«

ZWEI

Jeder Ermittler im Großraumbüro starrte nun den Captain an. Heat stand nur da und hoffte, dass ihr Gesicht nicht ihr klopfendes Herz und den Aufruhr verriet, in den die Worte des Vermummten sie gestürzt hatten.

Jameson Rook. Hatte dieser maskierte Verrückte da gerade wirklich den Namen ihres Mannes genannt?

Sie konnte plötzlich ihre Atmung nicht mehr kontrollieren. Heat hatte hingenommen, dass ihr Beruf durchaus ein Risiko war, und auch, dass diese Gefahr hin und wieder drohte, auf Rooks Leben überzugreifen. Umgekehrt hatte sie akzeptiert, dass Rooks Bekanntheitsgrad ihn zu einer Zielscheibe für gewisse widerliche Elemente machte.

Aber normalerweise hieß das, sich mit wilden Gerüchten in den Klatschkolumnen oder idiotischen Tweets von Internettrollen herumzuschlagen. Bisher waren säbelschwingende, maskierte Terroristen kein Thema gewesen.

Das übertraf alles, auf das sie sich gefühlsmäßig hätte vorbereiten können. Es lief auf etwas hinaus, das sie in all den Besprechungen über die Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung gelernt hatte: Der IS spielte nicht nach den gleichen Regeln wie alle anderen. Sie akzeptierten überhaupt keine Regeln. Sie machten Frauen zu Sexsklavinnen. Sie zerstörten zeitlose Meisterwerke der Kunst. Sie verbrannten Gefangene bei lebendigem Leib und hatten keinen Begriff von Menschenwürde. Sie respektierten das menschliche Leben nicht. Alles, was sie kannten, war Brutalität, Gewalt und Zerstörung.

Diese Männer – es mussten mindestens drei sein, denn irgendeiner stand hinter der Kamera –, würden alles tun, was nötig war, um Rook in die Finger zu bekommen, auch wenn das hieß, selbst den Märtyrertod zu sterben. Sie würden nicht ruhen, bis Rooks Kopf über den Boden davonrollte.

Unwillkürlich hob sie die Hand zu ihrer Kehle. Experten in Körpersprache hätten ihr sagen können, dass es sich dabei um eine klassische Geste der Verletzlichkeit handelte. In dem Augenblick, in dem sie erkannte, was sie tat, ließ sie die Hand sinken.

Doch es war zu spät.

»Deshalb habe ich gefragt, wo Rook ist«, sagte Ochoa leise. »Ich dachte mir, in Montana sei er sicher.«

»North Dakota«, korrigierte Heat geistesabwesend.

»Wo auch immer«, gab Ochoa zurück. »Aber machen Sie sich keine Sorgen, Captain. Diese Kerle kriegen ihn dort nicht. Ich glaube nicht einmal, dass die wissen, wo North Dakota liegt.«

Die anderen Detectives sagten kein Wort. Sie alle sahen zu Nikki Heat, um zu erfahren, wie sie auf diese Sache reagierte. Seit sie Captain geworden war, hatte Heat das Gefühl, ihr Leben bestünde aus einer Reihe von Tests. Und sie hatte das Gefühl, dass nicht nur sie selbst auf dem Prüfstand war, es ging um ihr gesamtes Geschlecht.

Sie war der erste weibliche Captain in der Geschichte des Zwanzigsten Reviers. Einige der Männer, die ihr auf dem Posten vorausgegangen waren, waren überaus kompetente Vorgesetzte gewesen, die die besten Eigenschaften repräsentierten, die die Polizei der Stadt ausmachten. Andere waren idiotische Streber gewesen, die die Karriereleiter in einer Mischung aus Glück und dem Peter-Prinzip hinaufgefallen waren.

Heat wusste, dass an sie ein anderer Maßstab angelegt wurde. Vielleicht hätte es jetzt, im zweiten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht so sein sollen, aber Heat verwechselte in der Regel nicht das, was war, mit dem, was hätte sein sollen.

In diesem Augenblick fragten sich ihre Detectives: Würde die Chefin cool bleiben, die Situation analysieren und die Einheit in Bewegung setzen? Wie ein Mann. Oder würde sie ausflippen und ihren Gefühlen nachgeben? Wie ein Mädchen.

Heat blinzelte zweimal. Dann setzte sie Prioritäten. Sie konnte sich gleich um den Fall sorgen. Jetzt kam erst einmal das Leben ihres Ehemanns.

»Ich muss telefonieren«, war alles, was sie sagen konnte. Dann stolperte sie in ihr Büro und schloss die Tür hinter sich.

Ihre Hand zitterte, als sie die Taste für die Kurzwahl auf ihrem Handy drückte, um Rook anzurufen.

»Komm schon«, flüsterte sie angespannt, als die Verbindung stand. »Heb ab.«

Es klingelte gar nicht erst. Der Anruf wurde direkt auf die Mailbox weitergeleitet.

»Sie haben das persönliche Handy von Jameson Rook angewählt«, sagte die melodische, sexy klingende Stimme ihres Mannes. »Drücken Sie die Eins, wenn Sie eine Nachricht bezüglich meines ersten Pulitzer-Preises hinterlassen möchten. Drücken Sie die Zwei, wenn …«

Heat hieb sofort auf die Taste, die sie auf das Band sprechen ließ, und wartete dann eine gefühlte Ewigkeit darauf, dass der Piepton erklang. Doch als er endete, wurde ihr plötzlich klar, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Ihre Gedanken wirbelten zu ungeordnet in ihrem Kopf herum, als dass sie einen zusammenhängenden Satz hätte formulieren können.

»Hey, ich bin’s«, sagte sie. Ihre Stimme war ungewöhnlich zittrig und klang unsicher. »Hör mal, es ist wirklich wichtig. Du musst mich bitte sofort anrufen, wenn du das hier abhörst, ja? Auf der Stelle!«

Heat machte eine Pause, um ihre Worte wirken zu lassen. Das war nicht gut genug. Sie musste ihm vermitteln, in welcher Gefahr er schwebte.

»Wenn du mich aus irgendeinem Grund nicht erreichen kannst, geh bitte sofort zur nächsten Polizeistation, egal in welcher Stadt du gerade bist. Sag ihnen, dass du Schutz brauchst, weil es … weil es eine glaubwürdige Morddrohung gegen dich gibt. Und wenn du keine Polizei in der Nähe hast, finde wenigstens jemanden, der eine Waffe hat und dich schützen kann und der … Hör zu, ruf mich einfach an, ja? Ich liebe dich.«

Sie beendete den Anruf und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Dann drehte sie sich um und erkannte, dass sie die Jalousien ihrer Bürofenster offen gelassen hatte. Die gesamte Einheit sah ihr zu.

Sie musste sich zwingen, tief Luft zu holen. Dann noch einmal. Sie sah auf ihre Bluse hinab, die frisch gebügelt und gestärkt war und immer noch ordentlich in die auf den Hüften sitzende Hose gesteckt war. Dann hob sie das Kinn und richtete sich auf.

Sie öffnete die Tür und kehrte ins Großraumbüro zurück.

»Spielen Sie das Video noch mal ab«, forderte sie.

»Cap«, begann Raley. »Sind Sie sicher, dass Sie …«

»Na los, spielen Sie’s verdammt noch mal schon ab, Rales«, antwortete Heat.

Die Zeit blieb für einen Augenblick stehen. Nikki Heat fluchte beinahe nie und jeder im Revier wusste das. Sie bedachte ihre Leute mit einem stahlharten Blick und wandte sich mit erhobener Stimme, die ihre Entschlossenheit wiedergefunden hatte, an sie.

»Wir sollten der Sensationsgier des Videos nicht gestatten, uns abzulenken«, erklärte sie. »Das ist eine Mordermittlung, Leute. Mordermittlungen sind unsere Aufgabe.«

Sie wies auf den Bildschirm. »Dieses Video ist unser erstes Beweisstück. Es ist der erste Fehler unserer Mörder. Und ich bin sicher, dass sie noch weitere gemacht haben. Mir ist die nicht zurückverfolgbare IP-Adresse egal. Dieses Video gibt uns alles, was wir wissen müssen, und wir müssen den Spuren nur folgen, damit sie uns direkt zu diesen Drecksäcken bringt und wir sie festnehmen können. Denn das machen wir hier im Zwanzigsten Revier mit den bösen Jungs.«

»Teufel noch mal, ganz richtig!«, rief Feller.

»Wir kriegen sie, Cap«, sagte Rhymer.

Roach und Aguinaldo nickten zustimmend.

Das Video hatte Heat kalt erwischt. Aber dieser Zustand hatte nicht lange angehalten. Sie hatte wieder Boden unter den Füßen und ihr Team stand hinter ihr. Und es war eines der besten Teams im NYPD.

Diese Verrückten beim IS dachten, sie könnten sich einfach so Nikki Heats Ehemann schnappen.

Nicht, wenn sie sie zuerst schnappte.

Sie sahen sich das Video erneut an, diesmal auf eine Art, die Heat gern den »unvoreingenommenen Blick« nannte.

Es handelte sich dabei sowohl um eine ganz bestimmte Art zu denken, als auch um eine ganz bestimmte Art, die Beweise anzusehen. Heat hatte schon vor langer Zeit beobachtet, dass erfahrene Ermittlungsbeamte oft Scheuklappen trugen. Sie glaubten, alles schon gesehen zu haben, und vertrauten zu sehr ihrer Erfahrung darin, Verbrechen aufzuklären, als dass sie die kleinen Details bemerkt hätten, die einem nervösen Anfänger gerade deshalb auffielen, weil er nichts übersehen wollte.

Heat versuchte nun, sich das Video so »unvoreingenommen« wie möglich anzusehen. Sie betrachtete die Körpersprache des Opfers, das nicht um sein Leben gebettelt hatte. Sie war wohl zu stolz dafür gewesen. Ihr fiel auch auf, dass der Mann, der die Machete geschwungen hatte, es mit der linken Hand tat. Das war in der arabischen Kultur ungewöhnlich, die die Linke als unrein betrachtete und Kinder daher zwang, die Rechte zu benutzen. Sie dachte auch kurz über die Art und Weise nach, wie die Männer im Bild zu jemandem hinsahen, der sich außerhalb des Aufnahmefelds befand und der wahrscheinlich das Sagen hatte.

Als das Video endete, wies Heat Raley an, das letzte Bild einzufrieren, bevor der Bildschirm schwarz wurde. Die Drohung gegen Rook hatte sie in einer Schublade ihres Verstands weggeschlossen. Sich auf das Wesentliche zu konzentrieren war oft die einzige Art und Weise, in der ein Polizist seine Arbeit bewältigen konnte, und Nikki Heat war eine der Besten in dieser Technik.

»In Ordnung, zuerst müssen wir unser Opfer identifizieren«, begann Heat. »Wir wissen, sie ist Journalistin, aber in New York City gibt es viele davon.«

»Zu viele«, unkte Ochoa, doch er klappte den Mund auf der Stelle zu, als Heat ihm einen eisigen Blick zuwarf.

»Rales, können Sie die Größe des Opfers schätzen?«, fragte Heat.

Raley, der nicht umsonst als der König der Überwachungsmedien bekannt war, erwiderte: »Schon passiert.«

Er wies auf die Decke des Raums, in dem das Video gedreht worden war. Sie war aus weißer Korkpappe, an der Leuchtstoffröhren angebracht worden waren. »Das sind handelsübliche Leuchtstoffröhren, die sind in der Regel ein Meter zwanzig lang. Also musste ich nur diesen bekannten Faktor nehmen und daraus auf die Größe des Opfers schließen. Es war nicht ganz einfach, weil das Opfer kniet. Aber wenn man vom normalen Schenkel-Unterschenkel-Verhältnis ausgeht, ist sie zwischen ein Meter siebzig und ein Meter fünfundsiebzig groß.«

»Gute Arbeit«, lobte Heat.

Sie wandte sich an Detective Feller, einen gerissenen New Yorker. »Gehen Sie in die Vermisstenabteilung und schauen Sie nach, ob irgendjemand eine Weiße unter vierzig als vermisst gemeldet hat, die ungefähr einsfünfundsiebzig groß ist. Fangen Sie in den fünf großen Stadtbezirken an, aber weiten Sie es dann auch auf das Umland aus, besonders Maplewood, Montclair, Poughkeepsie. Sie wissen schon. Schließen Sie die Obdachlosen, die Ausreißer und die Drogenabhängigen aus und sehen Sie, was dann übrig bleibt.«

»Verstanden«, sagte Feller.

»Opie«, sprach Heat weiter und sah zu Rhymer hinüber, dessen adrettes blondes Haar und der leicht näselnde Akzent seine Herkunft aus Roanoke, Virginia, verrieten. »Rufen Sie alle großen Zeitungen und Magazine an. Sprechen Sie mit den Chefredakteuren und hören Sie, ob sie eine Mitarbeiterin haben, von der sie nicht wissen, wo sie ist. Vielleicht ist jemand nicht zur Arbeit gekommen oder beantwortet das Telefon nicht. Aber lassen Sie um Himmels willen nicht durchblicken, was los ist! Seien Sie so vage wie möglich.«

»Darauf können Sie wetten«, versicherte Rhymer.

»Oach«, fuhr sie fort und prompt trat der kleine, aber stämmig gebaute Miguel Ochoa vor. »Ich möchte, dass Sie sich mit Cooper McMains von der Abteilung für Terrorismusbekämpfung zusammensetzen. Erstellen Sie eine Liste aller bekannten Gruppen in der Stadt, die so etwas inszenieren könnten. Es ist möglich, dass wir es hier mit etwas Neuem zu tun haben. Aber wenn McMains denkt, dass es sich um einen seiner üblichen Verdächtigen handelt, der plötzlich ausflippt, dann sollten wir anfangen, Türen einzutreten und nach einer Videoausrüstung suchen.«

»Und nach Macheten«, ergänzte Ochoa.

»Ja, auch nach Macheten. … Rales.« Sie wandte sich an den adrett gekleideten Amerikaner mit irischem Stammbaum, der immer noch an seinem Computer saß. »Ich brauche einen Tatort. Es muss doch irgendetwas in diesem Video geben, das uns helfen kann, zu identifizieren, wo es gemacht wurde. Vielleicht ist irgendein Hinweis an der Wand, vielleicht gibt es ein auffälliges Gebäude, wenn man aus dem Fenster sieht. Arbeiten Sie solange, bis sie etwas finden. Wir müssen ein Wo haben, wenn wir eine Chance haben wollen, herauszufinden, wer es war.«

»Ja, Sir«, erwiderte Raley.

Inez Aguinaldo, die Einzige, der Heat noch keine Aufgabe zugewiesen hatte, trat von einem Bein aufs andere. Heat hatte die ehemalige Militärpolizistin persönlich aus dem Southampton Village Police Department draußen am anderen Ende von Long Island rekrutiert, weil sie Aguinaldos kühle Gelassenheit mochte. Alles an ihr war konservativ und professionell, ähnlich wie bei der Vorgesetzten, unter der sie nun diente.

»Aguinaldo, ich habe Sie nicht vergessen«, sagte Heat. »Ich hebe mir nur das Beste bis zum Schluss auf. Ich will, dass Sie das finden, was hier nicht passt. Die einzelne Socke.«

Wenn Heat diese Formulierung benutzte, dann bezog sich das auf das eine Indiz, das nicht zu den anderen zu passen schien.

»In diesem Fall könnte es irgendein Kleidungsstück sein, das – ohne die anwesenden Gentlemen hier beleidigen zu wollen – nicht jedem hier auffällt.« Heat wies mit dem Zeigefinger auf die untere linke Ecke des Bildschirms. »Rales, können Sie mir das hier näher heranholen?«

Raley gehorchte und vergrößerte einen Teil des Bodens, auf dem sich nichts weiter zu befinden schien.

»Können Sie das für mich etwas schärfer einstellen?«

Raley tippte etwa eine Minute auf der Tastatur und der Maus herum. Langsam war das, was zuvor nur ein leuchtender, verschwommener Farbfleck gewesen war, deutlicher zu sehen. Die Auflösung verbesserte sich.

»Lassen Sie mich das noch ein bisschen besser isolieren«, meinte Raley. »Ich habe da noch einen Filter, durch den ich das laufen lassen kann.«

Mit einem letzten, dramatischen Klick holte Raley den Fleck in den Fokus. Es war ein exquisiter Seidenschal, der überhaupt nicht auf den Boden eines geheimen Jihadistenunterschlupfs passen wollte.

»Machen Sie mir zwei Ausdrucke davon. Aguinaldo, ich möchte, dass Sie eines der Bilder in den Kaufhäusern und Boutiquen herumzeigen. Vielleicht kann uns jemand mehr darüber erzählen. Das sieht für mich nicht nach einem alltäglichen Schal aus. Wenn wir Glück haben, ist es ein limitiertes Designerstück, das nur von ein oder zwei Vertragshändlern geführt wird, und wir können herausfinden, wer es gekauft hat.«

»Fangen Sie bei Saks an«, empfahl Feller ungefragt. »Wenn Sie den Eingang Ecke Fifth und Fünfzigste Straße nehmen, sind die Schals im ersten Stock direkt neben den Rolltreppen, gleich bei der Damenoberbekleidung.«

Plötzlich starrte jeder im Büro erstaunt auf Feller.

»Was denn?«, verteidigte er sich. »Die haben wirklich schöne Sachen da.«

»Er geht in seiner Freizeit dorthin, um mit den niedlichen Verkäuferinnen zu flirten«, erklärte Rhymer.

»Man sollte eben nur da angeln, wo es auch Fische gibt«, grinste Feller. »Ich dachte, ihr Landeier wüsstet das.«

»In Ordnung, wir sollten uns konzentrieren«, sagte Heat und wandte sich wieder an Aguinaldo. »Wenn einer der Verkäufer Ihnen Schwierigkeiten macht, wegen Kundendaten und so, lassen Sie es mich wissen und wir kommen mit einem Durchsuchungsbefehl wieder. Ich bin sicher, dass Richter Simpson alles tun würde, um zu helfen, wenn er hört, dass sein Lieblingspokerkumpan Ärger hat.«

»Verstanden, Captain.«

Heat ging hinüber zu einer leeren Plastiktafel, griff nach einem Marker und malte ein großes Fragezeichen an die Stelle, an der sie sonst ein Foto des Opfers anbrachten. Dann pinnte sie ein Bild des Schals darunter.

Das Mordfallbrett, auf dem sie und ihre Ermittler die Spuren eintrugen und versuchten, Verbindungen zwischen den Beweisen herzustellen, die sie dort anbrachten, war eröffnet.

»In Ordnung. Ich möchte regelmäßige Berichte, Leute«, rief Heat, als die Ermittler ihre Aufgaben angingen. »Wenn Sie eine Spur haben, dann verheimlichen Sie sie um Himmels willen nicht. Ich glaube, ich muss Sie nicht daran erinnern, aber die Zeit arbeitet in diesem Fall nicht für uns.«

Sie musste sie ebenfalls nicht daran erinnern, was auf dem Spiel stand.

Heat kehrte in ihr Büro zurück, schloss die Tür hinter sich und versuchte wieder, Rook zu erreichen. Sofort wurde sie mit seiner Mailbox verbunden. »Sie haben das persönliche Handy von Jameson Rook erreicht. Drücken Sie die Eins, wenn …«

Sie unterbrach die Verbindung und hämmerte eine SMS in die Tastatur: RUF MICH AN! AUF DER STELLE!

Die Nachricht verschwand im Äther. Heat stand eine Sekunde lang einfach nur da und war unsicher, was sie als Nächstes tun sollte. Dann sah sie hinüber zu ihrem Schreibtisch, auf dem sich die Statistikberichte häuften, die Beschwerden über Polizisten, die unbescholtene Bürger grundlos auf der Straße anhielten und durchsuchten, Formulare, die unterschrieben werden wollten …

Nein, sie konnte sich jetzt nicht mit solchen Dingen auseinandersetzen. Heat war gut darin, Dinge zu versachlichen und Prioritäten zu setzen, aber so gut war sie dann auch wieder nicht. Der Fall. Das Video. Ihr Ehemann. Sie konnte an nichts anderes denken.

Sie brauchte einen klaren Kopf und etwas frische Luft. Oder wenigstens das Beste, was New York in dieser Richtung zu bieten hatte. Das würde ihr helfen, sich wieder mit dem Fall befassen zu können. Die Terroristen hatten ihnen nicht viele Spuren hinterlassen, aber sie wollte dennoch sichergehen, dass sie nichts übersah.

Bevor noch einmal jemand an ihre Tür klopfen und sie mit der Bitte um Überstundenausgleich belästigen konnte, floh sie in den Fahrstuhl, auf dessen Türen jeweils eine Hälfte des NYPD-Emblems zu sehen war, und schon nach kurzer Zeit stand sie auf der Zweiundachtzigsten Straße.

Die Frische eines Oktobermorgens umfing sie wie eine Begrüßung. Dann arbeitete sich einer der Müllwagen der Stadtwerke die Straße hinab, dessen Besatzung sich je einen oder zwei Müllbeutel schnappte und entsorgte und der eine Gestankfahne hinter sich herzog. Ein Imbissverkäufer zog seinen Karren hinter sich her in Richtung Columbus Avenue, wo mehr Fußgänger unterwegs waren. Das Laub einer Eiche, die in den Bürgersteig gepflanzt war und deren Blätter bereits orange und gelb waren, raschelte in einer frischen Brise.

Heat setzte sich auf die Treppe, die zum Eingang des Reviers hinaufführte. Eine Gruppe wie der IS stellte sogar für die beste Ermittlungskommission eine Herausforderung dar, weil viele der üblichen Arten, an Spuren zu kommen, nicht griffen. Bei zufälligen Serienkillern war es ähnlich: Hatten die Opfer überhaupt eine Warnung erhalten? Wer hätte ein Motiv gehabt, sie umzubringen? Gab es einen eifersüchtigen Ehemann, einen verärgerten Freund, einen durchgeknallten Nachbarn?

Und doch war es diesmal anders als bei einem Serienkiller, denn vom Täter konnte kein Profil erstellt werden. Es gab kein Muster, kein Handbuch und auch keinen Verhaltenspsychologen, den man hätte um Rat bitten können. Über die anachronistische Interpretation eines über tausendfünfhundert Jahre alten religiösen Texts hinaus gab es keine Erklärungen für den Mord. Selbst wenn es Rhymer und Feller gelang, das Opfer zu identifizieren, würde die Frage, warum die Terroristen ausgerechnet diese Journalistin geköpft hatten, zu nicht mehr Resultaten führen als die Frage, warum ein Hai nun ausgerechnet diesen einen Fisch zum Mittagessen verspeist hatte.

Ohne genau zu wissen, wohin sie eigentlich ging, lenkte Heat ihre Schritte in Richtung Columbus Avenue. Sie kam an dem Müllwagen vorbei, dessen Mannschaft ihrer Arbeit nachging, dann an einem Apartmentgebäude. Am Ende des Wohnblocks deutete ein Schild an einem Gerüst darauf hin, dass hier ein neues Hibachi-Restaurant entstand. Auf der anderen Straßenseite, in der sich überwiegend Wohnhäuser befanden, standen hauptsächlich Sandsteingebäude.

Alles Dinge, die sie schon tausendmal und öfter während ihrer Zeit im Zwanzigsten Revier gesehen hatte, so oft, dass sie sie schon gar nicht mehr bemerkte. Sie konnte sich selbst einen unvoreingenommenen Blick verordnen, während sie an einem Fall arbeitete, nicht aber, wenn sie die Zweiundachtzigste Straße hinabging.

Also achtete sie nicht im Geringsten auf ihre Umgebung, als sie plötzlich etwas sah, das sie auf der Stelle stehen bleiben ließ. Es war schockierend und wahrscheinlich der einzige Anblick auf der Welt, der sie von dem Fall ablenken konnte, der sich mittlerweile als der wichtigste ihres Lebens herausgestellt hatte.

Es war eine Obdachlose, eine Frau, die auf der Bank an einer Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite saß. Sie war vornübergebeugt und trug eine Strickmütze. Es machte den Eindruck, als trüge sie die meisten der Kleider, die sie besaß, am Körper: Zwei Jacken und eine unbestimmbare Menge von Pullis und Blusen darunter. Vor ihr stand ein kleiner Einkaufswagen, den sie wahrscheinlich in einem Supermarkt geklaut hatte und der ihre weltlichen Besitztümer enthielt.

Nichts an ihr hätte eigentlich bemerkenswert sein sollen, doch die Frau war von Heat höchstens dreißig Meter entfernt. Ihre Blicke begegneten sich für vielleicht eine halbe Sekunde.

Doch mehr brauchte Heat nicht. Menschen sind Mitglieder der Gattung homo, zweibeinige Primaten, die weder über scharfe Zähne, Klauen oder irgendeine Art von körperlichen Verteidigungsmerkmalen verfügen. Seit Millionen von Jahren haben sich Menschen auf soziale Interaktion verlassen, um zu überleben. Das hat das menschliche Gehirn mit einigen außergewöhnlich scharfen Fähigkeiten ausgerüstet, die für das Dekodieren und das gegenseitige Erkennen von Gesichtszügen verantwortlich sind, ein Talent, das wir unser ganzes Leben lang behalten, ohne es auch nur im Geringsten zu üben oder zu trainieren.

Sogar Alzheimerpatienten, deren kognitive Funktionen von einer dicken Schicht Plaque behindert werden, die sie sogar die Namen ihrer Kinder vergessen lässt, werden dennoch die Gesichter ihrer Lieben erkennen. Ihre Stimmung bessert sich auf der Stelle, fast könnte man sagen reflexartig, wenn sie sie sehen. Die Fähigkeit, bekannte Gesichter zu erkennen, ist fest in unserem Inneren verankert.

Und deshalb hatte Nikki Heat während dieser halben Sekunde auch nicht in den geringsten Zweifel, wen sie vor sich hatte. Sie wusste es, weil sich das Gesicht tief in ihren Verstand eingegraben hatte. Sie wusste es, weil es dem, das ihr jeden Morgen im Spiegel entgegenblickte, so unglaublich ähnlich war.

Diese Obdachlose auf der Bank war ihre Mutter.

Eine Frau, die seit siebzehn Jahren tot war.

DREI

Die Frau, oder Cynthia Heat, wie sie mit richtigem Namen hieß, wandte den Blick als Erste ab und richtete ihn wieder auf den Schoß, als sei sie nicht gerade aufgeflogen.

Denn immerhin war sie, noch bevor sie Nikkis Mutter geworden war, eine Spionin gewesen. Und das Erste, was man tut, wenn man glaubt, man sei aufgeflogen, ist vorzugeben, es sei nichts geschehen, in der Hoffnung, die Zielperson habe den Fehler nicht bemerkt.

Nikki starrte sie nur an. Sie war zu erstaunt, um sich zu rühren. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Es wäre nicht falsch gewesen, zu sagen, dass sie aussah, als hätte sie einen Geist gesehen, weil Cynthia Heat für Nikki genau das war.

Sie war in Nikkis Armen gestorben. Oder nicht?

Ihr Lebensblut war auf Nikkis Hemd geflossen. Das war es doch, oder nicht?

Nikki hatte das Messer gesehen, das in ihrem Rücken steckte. Das hatte sie doch, oder etwa nicht?

Der Müllwagen rumpelte an ihr vorbei, der Dieselmotor spie dunkle Wolken aus dem Auspuff, die Hydraulik zischte und kündigte den Halt des Lasters an, als er bremste. Der Krach holte Nikki aus ihrer Trance. Sie rannte die Zweiundachtzigste Straße hinauf, in Richtung der Bushaltestelle.

Sobald sie an dem Wagen vorbei war, lief sie auf die Straße und wurde dabei beinahe von einem Uber-Fahrer mit überhöhter Geschwindigkeit angefahren. Mit quietschenden Reifen kam das Fahrzeug nur Zentimeter von Nikkis Hüfte zum Stehen, der Fahrer schrie eine Flut von Schimpfworten in ihre Richtung.

Nikki kümmerte sich nicht darum. Sie wurde nicht einmal langsamer. Sie war wild entschlossen, diese Bushaltestelle zu erreichen.

Sie konnte ihre Mutter nicht mehr sehen. Die am Straßenrand geparkten Autos versperrten ihr die Sicht auf die Bank.

»Mom!«, schrie sie. »Mom!«

Zwei Autos, die so dicht aneinander standen, dass ihre Stoßstangen sich berührten, blockierten Nikkis Weg. Doch sie lief nicht um sie herum, sondern sprang darüber hinweg und benutzte die Stoßstangen wie eine Stufe.

Nachdem sie auf der anderen Seite gelandet war, hatte sie die Bushaltestelle direkt vor sich.

Die Bank war leer. Nikki rannte darauf zu. Ein Mann lehnte an dem Unterstand, sein Gesicht in den heutigen Ledger vergraben.

»Haben Sie hier eine Frau sitzen sehen?«, fragte Heat ihn aufgeregt.

»Lady, in dieser Stadt gibt’s acht Millionen Menschen und die Hälfte von ihnen sind Frauen. Obwohl … wenn sie so ausgesehen hätte wie Sie, dann vielleicht …«

Heat ignorierte den Rest. Sie sah die Zweiundachtzigste Straße hinab, doch dass ihre Mutter in der kurzen Zeit, die sie sie nicht gesehen hatte, den ganzen Block hinter sich gebracht haben konnte, war schier unmöglich.

Sie wandte sich der Columbus Avenue zu und sprintete zur Straßenkreuzung. Dabei hätte sie beinahe einen alten Mann umgerannt, der seinen Hund Gassi führte.

»He, passen Sie doch auf!«, schrie er. Doch seine Worte prallten förmlich von Nikkis Rücken ab.

Sie erreichte die Columbus und sah erst nach links, dann nach rechts. Eine geschäftige New Yorker Avenue, in einem vor Leben vibrierenden Wohnviertel der Stadt. Keine gebückte Obdachlose. Kein vollgepackter Einkaufswagen.

Keine Cynthia.

War es überhaupt möglich, dass sie verschwunden war? Nikki beging jedes Jahr den Geburtstag ihrer Mutter, ein Ritual, dass gewöhnlich damit endete, sich nach Strich und Faden volllaufen zu lassen, also wusste sie, dass ihre Mutter kürzlich sechsundsechzig geworden wäre. Es wäre bemerkenswert gewesen, hätte eine Frau in ihrem siebten Lebensjahrzehnt so schnell fliehen können, selbst wenn sie eine ehemalige Spionin war.

Nikki suchte den Block wieder und wieder ab. Sie sah sich mit ihrem unvoreingenommenen Blick um und mit dem eines Veteranen und auch mit allen möglichen anderen.

Aber es spielte keine Rolle.

Ihre Mutter, eine der besten Spioninnen, die die US-Regierung je die Ehre gehabt hatte, zu beschäftigen, war so plötzlich verschwunden, wie sie aufgetaucht war.

In den nächsten zwanzig Minuten suchte Nikki Heat zwei volle Blocks der Columbus Avenue ab. Sie überprüfte jede Nische, jeden Winkel und jedes mögliche Versteck. Dann überprüfte sie alles noch einmal.

Und doch brachten all diese Mühen kaum mehr Erkenntnisse, als sie auf den ersten Blick gewonnen hatte.

Schließlich ging sie erschöpft ins Zwanzigste Revier zurück. Ihre Gedanken rotierten.

Als ihr Blick auf diese Frau auf der Bank gefallen war, waren alle Neuronen und Synapsen, die auf die Aufbewahrung von Daten über ihre Mutter geeicht waren, in ein Feuerwerk hektischer Betriebsamkeit ausgebrochen. In diesen ersten paar Nanosekunden, in denen es nur ums Fühlen und nicht ums Denken ging, war Nikki absolut sicher gewesen, wen sie da erblickt hatte.

Jetzt begann sie, vernünftig darüber nachzudenken. Und das ließ sie an der ersten Selbstverständlichkeit des Anblicks zweifeln. Ihre Mutter. Am Leben. … Das war doch unmöglich, oder?

Bestimmt war es nur der Stress gewesen, dem sie im Augenblick ausgesetzt war, der Schock der Drohung gegen Rook. Ein traumatisiertes Gehirn kann einem alle möglichen Streiche spielen. Die Ureinwohner Amerikas hatten religiöse Rituale, bei denen sie über die totale Erschöpfung hinaus tanzten, was Halluzinationen auslöste. Erlebte sie gerade eine Form davon?

Oder vielleicht handelte es sich auch um einen Rückfall in die Stadien der Trauer, so als befände sie sich plötzlich wieder ganz am Anfang: dem Leugnen.

Vielleicht war es aber auch eine bizarre Form von Kompensation. Nun, da Rook, der Mann, der für sie das Wichtigste auf der Welt geworden war, in Gefahr geriet, konzentrierte sich ihr Verstand wieder auf ihre Mutter. Die Frau, die in Nikkis Kindheit ihre Welt gewesen war.

Vielleicht war es auch ganz anders …

Reiß dich zusammen, Heat!

Der Gedanke traf sie wie ein Blitz. Wenn sie nicht achtgab, würde sie in eine Art Parallelwelt geraten, in der ihre Mutter immer noch lebte, und sie nie wieder verlassen. Die Besessenheit, mit der sie den Mord an ihrer Mutter hatte aufklären wollen, hatte eine Zeitlang alle Bereiche ihres Lebens durchdrungen. Sie konnte sich nur zu leicht vorstellen, dass sie sich jetzt auf eine andere Fantasie konzentrierte.

Und das konnte sie nicht zulassen. Nicht, solange Rook sich in Gefahr befand.

Also schob sie diese Vision ihrer Mutter an einen abgelegenen Ort ihres Verstands, um sich später damit zu befassen. Oder überhaupt nicht mehr.

Sie ging schneller. Als sie wieder im Büro war, war Ochoa allein dort. Er stand vor dem Flachbildschirm, den man in eine Ecke geschoben hatte.

»Schlechte Nachrichten, Captain«, sagte er düster.

»Noch mehr?«, wollte Heat wissen.

Ochoa wies mit dem Kinn auf den stummgeschalteten Fernseher. »Ich fürchte ja. Es sieht so aus, als sei das Video zu den Medien durchgesickert.«

Er zeigte auf das Nachrichtenband, das während der Lokalnachrichten durchlief. TERRORISTENGRUPPE MIT VERMUTETEM IS-HINTERGRUND ENTHAUPTET NYC-JOURNALISTIN IN BRUTALEM VIDEO … ZIEHEN SIE SICH WARM AN – ALTE BAUERNREGEL SAGT SCHNEEREICHEN WINTER FÜR DEN NORDOSTEN VORAUS … FINANZMÄRKTE REAGIEREN VERHALTEN …

Heat wandte sich wieder Ochoa zu. »Die haben das doch nicht tatsächlich gezeigt, oder?«

»Nein. Sie haben sich allerdings selbst für ihre Zurückhaltung gratuliert. Aber Ihnen ist doch klar, dass es bald im Internet zu sehen sein wird? Wenn es nicht schon längst auf Youtube ist.«

Heat schüttelte den Kopf. Das war eine zusätzliche Belastung für die Familie des Opfers. Sie hatte nicht nur eine Tochter oder Enkelin oder Nichte verloren, nun würde man ihre Hinrichtung für immer im Netz finden können … zur Unterhaltung der kranken Gemüter, die es auf diese Weise immer und immer wieder anklicken konnten.

Hinzukam, dass das auch eine negative Entwicklung für ihre Ermittlungen bedeutete. Wenn man erst problemlos auf das Video zugreifen konnte, bestand immer die Möglichkeit, dass ein Verrückter auf der Suche nach Aufmerksamkeit die Verantwortung für sich beanspruchen würde. Und wenn sie wichtige Informationen nicht mehr vor der Öffentlichkeit geheim halten konnten, würde es für ihre Leute schwieriger werden, herauszufinden, ob der besagte Verrückte sie nur benutzen wollte.

»Sollten Sie nicht schon längst bei McMains sein?«, versuchte Heat, abzulenken.

»Er sitzt in einer Besprechung«, erklärte Ochoa. »Aber ich bin gleich danach dran. Keine Sorge, Cap. Wir schaffen das. Ach, sehen Sie mal! Legs Kline!«

Ochoa griff nach der Fernbedienung, die mit Klettband an der Wand befestigt war, und drehte die Lautstärke auf. Auf dem Schirm konzentrierte sich das Bild nun auf den Mann, dessen Umfragewerte seit Kurzem unglaublich gestiegen waren und der sich nun anschickte, das Zwei-Parteien-System an der Nase herumzuführen.

»Sie denken doch wohl nicht wirklich daran, diesen Kerl auch noch zu wählen, oder, Oach? Ich glaube, wenn es nach ihm ginge, würde er eine Mauer bauen, die Ihre Familie daran hindern würde, hierherzukommen.«

»Ach, uns doch nicht. Er will doch, dass meine Leute kommen, wer sollte ihm sonst den Rasen mähen? … Außerdem, haben Sie das von seinem Privatjet gehört? Eine 737, mit einem überdimensionalen Bett darin! Wie cool ist das denn bitte? Das nenne ich mal ein Mitglied im Mile-High-Club mit Stil.«

»Und warum genau macht ihn das zu einem qualifizierten Kandidaten für das Amt des Präsidenten?«, wollte Heat wissen.

»Ach, ich weiß nicht. Ich werde wohl wahrscheinlich Lindsy Gardner wählen. Bei so einem knackigen Hintern!«

»Also wählen Sie sie, weil Ihnen ihr Hintern gefällt?«

»Wenn Sie es so sagen, klingt das so oberflächlich. Sagen wir einfach, ich mag ihre Innenpolitik.«

Heat schüttelte nur den Kopf.

»Egal, still jetzt, die Pressekonferenz«, sagte Ochoa. »Wenn ich kein solcher Fan von Lindsys … ähm, Innenpolitik wäre, dann würde ich aus Jux für diesen Kerl stimmen, um zu sehen, was passiert. Das ist, als würde man Wiederholungen von den Beverly Hillbillies sehen.«

Heat rollte mit den Augen. Jetzt konnte man auf dem durchlaufenden Band der Lokalnachrichten lesen: LEGS KLINE, UNABHÄNGIGER KANDIDAT FÜR DAS AMT DES PRÄSIDENTEN, BEFINDET SICH FÜR EINE KUNDGEBUNG AUF DEM UNION SQUARE IN NEW YORK.

»Ach du liebe Zeit, er ist hier?«, platzte sie heraus.

»Ach, das ist doch nicht unser Problem. Soll sich doch das Eins-Drei darum kümmern.«

Beinahe gegen ihren Willen verfolgte Heat das Geschehen im Fernseher nun genauer. Sie wusste, dass Rook irgendwo anders, weit weg vom Kandidaten sein und Klines Unternehmen besichtigen sollte. Aber sie hoffte doch, dass sich seine Pläne irgendwie geändert hatten und dass er dem Kandidaten nach New York gefolgt war. Vielleicht hatte er deshalb sein Handy ausgeschaltet, damit sein Chefredakteur ihn nicht erreichte.

Vielleicht sah sie ihn ja in der Menge. Dann konnte sie das Dreizehnte Revier anrufen und ihn zu seiner eigenen Sicherheit festnehmen lassen.

Die Kamera hatte nun einen großen, stämmigen Mann eingefangen, dessen Haltung ein wenig vornübergebeugt war, als wolle er so seine Größe verbergen. Michael Gregory Kline war schon in seinen Highschooljahren über ein Meter neunzig groß gewesen. Es hieß, dass er damals, als er versucht hatte, in die Footballmannschaft zu kommen, so mager gewesen sei, dass der Trainer ihn mit den Worten »Tut mir leid, Junge, aber du bestehst ja nur aus Beinen« abgelehnt hatte.

Der Name Legs, englisch für Beine, war aus dieser Zeit hängen geblieben. Die völlig unpräsidiale Volksnähe des Namens hätte in einem anderen Zeitalter vielleicht das Aus für Kline bedeutet, war aber in diesem Wahlkampf eine Trumpfkarte für einen Kandidaten, dessen Umfragewerte gerade bei den Amerikanern in die Höhe schossen, die es müde waren, ihre Stimme unauthentisch und elitär wirkenden Kandidaten zu geben.

Diese Amerikaner mochten auch seinen lässigen Texas-Charme und die Bescheidenheit eines Jungen vom Land, seine Geschichten darüber, wie er ein Sprühflugzeug geflogen hatte, um sich das College zu verdienen, auch wenn er kaum ins Cockpit gepasst hatte. Sie mochten die Anekdoten übers Rodeo und die Kaninchenjagd und die Art und Weise, wie er in seinen texanischen Slang verfiel, wenn er darüber berichtete.

Aber er war auch ganz sicher kein Narr. Nicht durch Zufall war der Sohn eines ums Überleben kämpfenden Ölsuchers zum Milliardär geworden. Er war reich geworden, indem er auf den Wellen der Konjunktur der Ölindustrie in Texas ritt, hatte sich dann aber entschlossen, dass es einen besseren Weg geben müsse. Mit Achtzehn-Stunden-Tagen über Jahre hinweg hatte er ein Wirtschaftsimperium aufgebaut, das die während des Ölbooms gemachten großen Gewinne in Geschäftsbereiche investiert hatte, die auch dann Geld machten, als die Konjunktur nicht besonders gut war.

Er erwies sich als äußerst geschäftstüchtig und reinvestierte nahezu jeden Penny, den er verdiente. Er gönnte sich kaum ein Gehalt und lebte in einem in den 1920ern gebauten Häuschen Marke Eigenbau außerhalb von Dallas, lange nachdem er bereits in ein größeres Haus in einer besseren Nachbarschaft hätte ziehen können. Er sprach oft über seinen meteorartigen Aufstieg und betonte, wie gut man seine einfache Art zu wirtschaften auf die Regierung anwenden könnte.

»Man gibt eben einfach kein Geld aus, das man nicht hat«, sagte er immer wieder.

Oder: »Wenn man in die Zukunft investiert, kann man die Früchte genießen, wenn es so weit ist.«

Er war ebenfalls allen anderen voraus, was Nachhaltigkeit anging. Schon Jahre vor dem Rest der Ölindustrie hatte er erkannt, was Naturschutzorganisationen wie der Sierra Club schon seit Jahren predigten: Rohstoffe abbauen, ohne sie auszubeuten, oder nach Methoden suchen, die weniger Energie verbrauchen und weniger Abfall produzieren. Das war nicht nur gut für die Umwelt, sondern auch insgesamt fürs Geschäft.

Kline war erstmals mit einem Buch ins öffentliche Bewusstsein getreten, seinen Geschäftsmemoiren, denen er den Titel Es ist gut, gut zu sein gegeben hatte. Lange bevor Google mit seiner »Wir wollen nicht die Bösen sein«-Firmenphilosophie die Pionierposition für sich beansprucht hatte, hatte Legs ähnliche Werte für Kline Industries vorgegeben: Die Idee, dass man Geld verdienen und gleichzeitig ein verantwortungsvoller Geschäftsmann und Bürger dieses Landes sein konnte. Es ging das Gerücht um, dass er auf seine Manager unglaublichen Druck ausübte, Profit zu machen, es aber gleichzeitig auf die richtige Weise zu tun.

Heat wusste, dass Rook versuchte, hinter die Kulissen der fantastischen Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichte Klines zu blicken. Hatte Legs eine eher kalkulierende, rücksichtslosere Seite, die ihn auf dem Weg an die Spitze der Forbes-Liste über Leichen hatte gehen oder die Ellbogen hatte benutzen lassen? Verbarg sich hinter der glänzenden Fassade vielleicht doch Fäulnis? Oder hatte Legs Kline es wirklich fertiggebracht, zu hobeln, ohne dass Späne fielen?

»Ah, hallo, alle zusammen«, sagte Kline nun zu den Journalisten, die sich um ihn versammelt hatten, und lächelte sie beinahe an, als sei er überrascht, sie zu sehen.

»Sagen Sie Lise nichts, aber ich habe den größten Teil des Morgens in einem der berüchtigtsten Viertel New Yorks verbracht.«

Lise war Klines Ehefrau. Die Reporter um ihn herum schienen die Luft anzuhalten. Würde Legs Kline zugeben, dass er in einen Stripclub gegangen war? Eine Peepshow in einer Nebenstraße des Times Square?

Dann, nach einer Kunstpause, die ein Komiker nicht besser hätte setzen können, sagte er: »Bagel.«

Jeder lachte. »Ich hab drei zum Frühstück gegessen. Lise liegt mir wegen meines Gewichts in den Ohren, also nichts verraten, ja? Aber euch kann ich’s ja sagen, sie waren köstlich. Solche Bagel bekommt man in D. C. nicht, das ist mal sicher. Noch ein Grund, warum ich in Washington niemandem über den Weg traue.«

Noch mehr Gelächter. So verlief jede Pressekonferenz mit Legs Kline, aus dem Stegreif, informell, als improvisiere er oder habe die Themen erst in der letzten Sekunde in aller Hast zusammengestellt. Mit diesem Geplauder aus dem Nähkästchen schaffte Kline es immer wieder, nicht zu organisiert oder zu poliert zu erscheinen. Auch vermied er Bühnen oder Rednerpulte, die ihn optisch von seinem Publikum trennten. Es waren sehr subtile, aber geniale Dinge, für die seine Medienberater sorgten, damit ihr Kandidat absolut ungekünstelt wirkte.

»Mr. Kline, Ihre Gegnerin, Lindsy Gardner von den Demokraten, war letzte Woche hier«, rief ein junger Mann mit affig frisiertem Haar, dessen Mikrofon ihn als Journalist von Channel 3 auswies. »Sie behauptete, dass Sie nicht genügend Erfahrung hätten, um das Amt des Präsidenten auszufüllen, da Sie ja bisher noch nie ein gewähltes Amt bekleidet hätten. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?«

»Nun, ich möchte mich bestimmt nicht mit Lindsy, der Bibliothekarin, anlegen«, sagte Kline schmunzelnd. »Ich bin nicht sicher, ob ich mir die Überziehungsgebühren leisten kann.«

Wieder wogte Gelächter durch das Publikum. Mister Affig fragte weiter: »Und Ihr republikanischer Herausforderer Caleb Brown sagte, dass Ihre Pläne für die Wirtschaft nur zu höheren Steuern für die amerikanische Mittelklasse führen.«

»Nun, zunächst wollen wir mal festhalten, dass das nicht der Wahrheit entspricht«, stellte Kline fest. »Aber ich muss zugeben, ich bin überrascht, dass Mr. Brown überhaupt mein Wirtschaftskonzept gelesen hat. Ich dachte, er wäre zu sehr damit beschäftigt, gewöhnlichen Stubenfliegen die Flügel auszureißen.«

Wieder war Gekicher zu hören. Er würde die ganze Woche hier sein. Versuchen Sie den Lachs. Und vergessen Sie nicht, Ihren Kellnern und Kellnerinnen ein fettes Trinkgeld zu geben.

»Mr. Kline«, unterbrach eine Reporterin von CNN, bevor Mister Affig noch eine Frage stellen konnte. »Sie haben sicher schon von dem Video im IS-Stil gehört, das heute Morgen im Netz aufgetaucht ist.«

Kline wurde auf der Stelle ernst. »Ja, ich habe davon gehört«, erwiderte er. »Ich habe es allerdings noch nicht gesehen. Und ich glaube auch nicht, dass ich das möchte. Aber gehört habe ich davon.«

Die CNN-Reporterin ließ nicht locker. »Sie haben Ihren Standpunkt, was die Einwanderung aus muslimischen Ländern angeht, während Ihrer Kampagne sehr deutlich gemacht. Würden Sie …«

»Nun warten Sie mal, junge Dame. Einen Augenblick«, unterbrach er sie und schüttelte den Kopf.

»Sehen Sie, ich weiß, dass ich mich für ein öffentliches Amt bewerbe und dass die Leute glauben, ich müsse nun anfangen, mich in einer bestimmten Art und Weise zu benehmen. Und wäre ich ein normaler Washingtoner Politiker, bin ich sicher, dass man von mir erwarten würde, aus so einer Lage etwas zu schlagen, das die Experten wohl ›politisches Kapital‹ nennen würden. Denn Sie haben recht. Ich mache mir Sorgen darum, wie sicher Amerikaner in so einer gefährlichen Welt wie der unseren sein können und wie ich das erreichen könnte. Ich mache mir ständig Sorgen darum. Und es ist auch einer der wichtigsten Gründe, warum ich mich dazu entschlossen habe, für dieses Amt zu kandidieren.«

Er schluckte hart, was seinen auffälligen Adamsapfel sichtlich auf und ab hüpfen ließ.

»Aber ich muss Ihnen auch sagen, es gibt Zeiten und Orte, um solch politisches Kapital herauszuschlagen. Das hier ist keiner davon. Ich glaube, Sie wissen mittlerweile, dass ich kein typischer Washingtoner Politiker bin. Ich bin nur ein Landbursche aus Terrell in Texas. Und wenn wir in Terrell hören, dass eine Familie ein geliebtes Mitglied verloren hat, dann nehmen wir unseren Hut ab, senken den Kopf und sprechen ein kleines Gebet. Ich hoffe, dass ganz Amerika das gerade für diese arme Frau und ihre Familie tut.«

Als wollte er diesen Punkt besonders unterstreichen, senkte er tief seinen Kopf. Bei jedem anderen Kandidaten hätte das wie politisches Theater gewirkt. Doch bei Legs wirkte es ehrlich. Das machte ihn so unwiderstehlich für die Wähler, die sich keinen Deut um seinen Mangel an außenpolitischer Erfahrung scherten oder dass er nicht genau erklären konnte, wie aus einer Verordnung ein Gesetz wurde.

Die Kamera schwenkte nun über das gesamte Pressekorps, das sich um Legs herum versammelt hatte. Alle, auch Mister Affig, nahmen sich einen Augenblick Zeit für die Gedenkminute.

Heat betrachtete die Reportermenge aufmerksam. Als sie Rook nicht entdeckte, ließ sie Ochoa vor dem Bildschirm allein.

Sie würde für die Familie des Opfers beten, natürlich. Aber im Augenblick hatte sie selbst dringendere Gebete zu sprechen.

VIER

Nicht einmal zehn Minuten, nachdem Legs Klines Pressekonferenz beendet war, saß Heat in ihrem Büro und war so zappelig, als wären Dornen auf der Sitzfläche ihres Bürosessels.

Sie hatte noch dreimal versucht, Rook anzurufen. Immer noch antwortete er nicht.

Als das Festnetztelefon auf dem Schreibtisch klingelte, stürzte sie sich praktisch darauf und blickte nicht einmal auf die Telefonnummer des Anrufers, die auf dem kleinen Bildschirm zu sehen war.

»Heat.«

Sie bekam keine Begrüßung zu hören, kein »Hallo« oder »Hey, ich bin’s, So-und-so«. Sondern nur ein »Wir haben ein Problem.«

Zach Hamner, leitender Verwaltungsberater des NYPD im Dienste des Deputy Commissioners für Rechtsangelegenheiten, hielt sich nur selten mit Begrüßungen, Liebenswürdigkeiten oder höflichem Small Talk auf. Er war auch als »Der Hammer« bekannt, denn so wurde er meist von Leuten benutzt, die sich seiner bedienten. Er war nicht nur in der Lage, den Leitern egal welchen Reviers das Leben zur Hölle zu machen, sondern schien das auch zu genießen. Heat hatte Gerüchte gehört, dass der Hammer die Wärme und das Mitgefühl einer Seegurke hatte, aber sie hielt den Vergleich für unfair. Den Seegurken gegenüber.

Um ehrlich zu sein, hätte Heat es ohne Hamner nicht geschafft, Captain zu werden. Er war es gewesen, der hinter den Kulissen des Police Plaza One die Fäden gezogen hatte. Er war ihr Förderer gewesen. Das einzige Problem war, dass seine Vorstellungen eines Mentors wohl direkt von Niccolò Macchiavelli selbst stammten.

»Was ist los, Zach?«

»Was los ist? Die Hölle ist los«, sagte Hamner in einem Tonfall, der für seine Verhältnisse als humorvoll gelten konnte.

Er machte eine Pause, als warte er darauf, dass Heat lachte. Als sie das nicht tat, kam er gleich zur Sache und begann mit seiner Lieblingsankündigung. »Ich komme gerade aus dem Büro des Polizeidirektors.«

»Und?«

»Er hat das Enthauptungsvideo gesehen.«

»Okay.«

»Er hat auch den mitreißenden Auftritt des Präsidentschaftskandidaten Legs Kline gesehen. Sie nicht zufällig auch?«

»Ich habe ihn bis zu der Stelle verfolgt, als er die Reporter zu einem Gebetszirkel aufgerufen hat, dann bin ich weggegangen. Was habe ich verpasst?«

»Nachdem er Gott und Jesus Christus beschworen hat, hat er die irdischen Kräfte angerufen. Sprich: Das NYPD.«

»Ach ja?«

»Er hat den Ball in unser Feld gespielt, indem er sagte, dass es die Tragödie nur verschlimmern würde, wenn die Ermittler dieser schönen Stadt das Problem nicht lösen könnten.«

»Glauben Sie mir, das …«