Christine Bernard. Das Eisrosenkind - Michael E. Vieten - E-Book

Christine Bernard. Das Eisrosenkind E-Book

Michael E. Vieten

4,5

Beschreibung

Der Mensch glaubt, er hofft, und er irrt. Ein kalter Morgen im März. Eine gefrorene Kinderleiche am Moselufer. Eisige Farinade verziert das kleine Gesicht. Ist das die achtjährige Rosalia, nach der die Trierer Kriminalpolizei verzweifelt sucht? Ist sie im Nachtfrost erfroren oder verbirgt sich ein noch viel schrecklicheres Geheimnis hinter der Schönheit des Grauens? Nach seinem ersten Psychokrimi "Christine Bernard – Der Fall Siebenschön" veröffentlicht Michael E. Vieten nun einen weiteren mörderischen Fall, bei dem Kommissarin Bernard mit den dunkelsten und abgründigsten Seiten der Menschen konfrontiert wird. Ihre Ermittlungsarbeiten führen sie durch das winterliche Trier. Ein Thriller, der Gänsehaut verschafft – und das nicht nur aufgrund eisiger Temperaturen! Ein neuer spannender Fall voller Hoffnung, Glaube und Irrtum für Kommissarin Christine Bernard.

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Michael E. Vieten

Christine Bernard

Das Eisrosenkind

Vieten, Michael E.: Christine Bernard. Das Eisrosenkind, Hamburg, acabus Verlag 2016

Originalausgabe

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-414-4

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-415-1

Print-ISBN: 978-3-86282-413-7

Lektorat: Jasmin Meinke, Mona Kasten, acabus Verlag

Umschlaggestaltung: © Marta Czerwinski, acabus Verlag

Umschlagmotiv: Skellett: © stockdevil - fotolia.com; Eisrosen:

© travelguide - fotolia.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag

GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© acabus Verlag, Hamburg 2016

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Die Handlung in diesem Roman ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Totentanz

Festlich gekleidet und dicht gedrängt warteten die Konzertbesucher im Foyer der Europahalle Trier auf den Einlass. In erwartungsvoller Vorfreude wurde gegrüßt, gelacht und geplaudert.

Die Damen verbreiteten Parfümduft, die Anzüge einiger Herren den Geruch von nachlässig gelüfteten Kleiderschränken.

An der Getränkeausgabe klirrten Gläser. Die Garderobiers klapperten eifrig mit Kleiderbügeln.

Ein Sinfonie-Orchester aus dem Saarland gab an diesem Abend Camille Saint-Saëns vor ausverkauftem Haus.

Noch blieben die schweren Türen zum großen Saal verschlossen. Nur eine Angestellte des Hauses öffnete sie für einen kurzen Moment einen Spalt breit und schlüpfte hindurch.

Nervös stand eine junge Dame mit einem Glas alkoholfreiem Sekt in der Hand allein in der Nähe eines der großen Fenster. Hin und wieder führte sie die Sektflöte an ihre zurückhaltend geschminkten Lippen und nippte an dem ihr viel zu trockenen Getränk.

Nur in ein wadenlanges rotes Etuikleid gehüllt stand sie in schmuckloser Eleganz beinahe schüchtern da. Ihre dunkle Haut schimmerte matt. Ihre langen, fast schwarzen Haare waren an diesem Abend sorgfältig hochgesteckt und doch hatte sich eine Strähne hier und eine andere dort befreit.

Wieder hob sie ihr Glas an ihren Mund und blickte über dessen Rand hinweg in die anerkennenden Mienen von Männern und ertrug die neidvollen Blicke von deren Frauen.

Solche Auftritte waren ihr nicht vertraut. Für gewöhnlich trug sie Jeans und eine kurze Jacke, unter der sie ihre Dienstwaffe in einem Schulterholster verstecken konnte. Und sie trug einen Dienstausweis bei sich. Den brauchte sie nur vorzuzeigen und erntete in der Regel Respekt.

„Kommissarin Christine Bernard“ stand darauf gedruckt. „Kriminalpolizei Trier.“

Doch diese kleine Plastikkarte nützte ihr hier nichts. Jetzt stand sie beinahe nackt – zumindest fühlte sie sich so – in einem Kleid, welches einmal ihrer Mutter gehört hatte, umgeben von fremden Menschen da und war nur auf die Wirkung ihrer Person angewiesen. Sie fühlte sich ausgeliefert.

In Jeans und kurzer Jacke hätte sie zwar auch die Blicke auf sich gezogen. Allerdings nicht wegen atemberaubender Schönheit, sondern wegen der entgegen dem festlichen Anlass unangemessen Garderobe.

Der erste Gong erklang. Die Türen zum großen Saal wurden weit geöffnet. Die junge Kommissarin ließ ihr Sektglas halb gefüllt auf einem der Büffets stehen und rückte geduldig bis zu ihrem reservierten Platz vor.

Draußen vor den großen Fenstern des Foyers fiel der hoffentlich letzte Schneeregen dieses Frühjahrs auf den Asphalt.

Kommissarin Bernard nahm auf dem ersten Sessel am Mittelgang Platz. Ihre kleine schwarze Handtasche legte sie in ihren Schoß und hielt sie fest.

„Entschuldigen Sie. Sind Sie ohne Begleitung?“

Der ältere Herr neben ihr schaute sie sorgenvoll an.

„Eine so attraktive Frau wie Sie“, erinnerte er sich an ein Kompliment aus für ihn längst vergangener Zeit.

Der grau behaarte Kopf seiner Frau auf dem Sitz neben ihm drehte sich interessiert zu Christine Bernard. Die lächelte sanft.

„Meine Begleitung sitzt auf der Bühne“, antwortete sie höflich, nicht ohne Stolz.

Beruhigt und mild lächelnd tätschelte der alte Mann ihren Handrücken. Seine Frau nickte anerkennend.

Die Musiker liefen ein und nahmen auf der Bühne Platz. Kurzer Beifall. Notenblätter wurden studiert, Instrumente nachgestimmt. Nach zwei Minuten endeten die Vorbereitungen des Orchesters in erwartungsvoller Stille.

Der Dirigent trat an sein Pult, nahm demütig den Applaus des Publikums entgegen und wusste, es war ein Vorschuss. Dann hob er seinen Taktstock.

Leise erklangen die ersten Töne. Symphonie Nummer drei von Camille Saint-Saëns. Erster Satz. Adagio.

Kommissarin Bernard ließ ihren Blick über die Musiker schweifen. Doch immer wieder blieben ihre braunen Augen minutenlang nur an ihm hängen. Seit er die Bühne betreten hatte, ließ sie ihn nicht mehr aus den Augen. Torben Heintz.

Der sanfte Mann spielte um sein Leben. Wusste er doch, wer da im Publikum saß. Seine Christine.

Sein Cello vibrierte. Er schwitzte. Bloß den Einsatz nicht verpassen. Das Tempo halten. Ein kurzer prüfender Blick zum Dirigenten. Alles in Ordnung.

Zweiter Satz. Allegro moderato. Auch den fehlerfrei gespielt. Pause. Tosender Beifall. Unauffällig dehnte Torben die Finger seiner Bogenhand.

Christine blieb sitzen, beobachtete Torben beim Verlassen der Bühne und lächelte ihm hinterher.

Der zweite Teil des Konzerts begann mit Camille Saint-Saëns’ Klavierkonzert Nummer zwei. Berauschend.

Kommissarin Bernard kannte die Werke dieses längst verstorbenen französischen Komponisten bis dahin nicht und liebte sie doch schon beim ersten Hören. Diese Musik hätte auch ihren Eltern gefallen. Vor allem Papa. Er liebte klassische Musik und wurde nie müde, sie seiner kleinen Tochter vorzuspielen. Sie verbot sich eine Träne.

Gegen Ende der Vorstellung spielte das Orchester Camille Saint-Saëns’ sinfonische Dichtung „Dance macabre“. Der Totentanz. Furios! Aufwühlend!

Die Streicher ließen den Sensenmann durch die Nacht toben. Gräber öffneten sich. Bleiche Gestalten kletterten heraus. Der große Tanz begann. Der Tod höchstpersönlich schien aufzuspielen. In seinem Gefolge klapperte das Xylofon vor den geistigen Augen der Konzertbesucher mit den Knochen der Skelette. Torbens Cello zischte als Klinge durch den Raum. Der nächtliche Friedhof wurde zum Ballsaal und das Publikum war mittendrin. Die Musiker gaben alles für das grandiose Finale zum Sonnenaufgang. Eine letzte, leise gezupfte Saite einer Geige im ersten Licht des Tages machte schließlich dem Spuk ein Ende.

Minutenlanger Beifall brandete auf. Das Publikum erhob sich von seinen Sitzen. Von Begeisterung gerötete Gesichter überall. Vergebliche Rufe nach Zugabe. Was für ein gelungener Abend.

Das Mobiltelefon in der kleinen schwarzen Handtasche auf ihrem Schoß vibrierte. Kommissarin Bernard nahm das Gespräch nicht an. Unter diesen Bedingungen hätte sie ohnehin nicht telefonieren können. Sie stand auf, verabschiedete sich kurz von ihren Sitznachbarn und verließ den Saal. An der Garderobe nahm sie ihren langen schwarzen Wollmantel entgegen, zog ihn über und trat vor die Europahalle. Feuchte, kalte Luft schlug ihr entgegen und griff sofort nach ihr. Mutters Kleid war kaum die richtige Kleidung für eine nasskalte Nacht so früh im Jahr. Fröstelnd zog sie den Mantel enger um sich.

Ein erneuter Schneeregenschauer warf halbgefrorene Flocken auf ihr Haar und ihre Schultern. Mit ihren schwarzen Pumps eilte sie durch eine dünne Schicht Schneematsch über den Parkplatz. Eisiges Wasser spritzte an ihren Beinen hoch.

Bevor sie im Wagen nach dem Mobiltelefon in ihrer Handtasche griff, startete sie den Motor ihres weißen Renault Mégane und schaltete die Heizung auf die höchste Stufe. Dann erst verband sie ihr Handy mit der Freisprechanlage und tippte auf „Rückruf“. Getauter Schneeregen tropfte ihr von den Haaren in den Nacken. Sie schüttelte sich schaudernd. Der Angerufene nahm das Gespräch an.

„Rottmann.“

„Was?“, fragte Kommissarin Bernard ohne Gruß.

„Bist du sauer?“

„Ihr habt mich aus Torbens Konzert geklingelt“, log sie.

„Wir haben einen Vermisstenfall. Ein Mädchen. Acht Jahre alt. Lebt bei der Mutter. Alleinerziehend.“

„Ihr wisst genau, dass ich heute einen Tag Urlaub habe.“

„Ja, klar. Aber der ist ja schon fast vorbei“, wiegelte ihr Kollege ab.

Sie wurde wütend. „Nein! Das ist er nicht. Ich treffe mich gleich mit Torben zum Essen.“

„Christine, bitte, ich steh auf diese Heulerei bei solchen Fällen nicht. Und Torsten hat schon was getrunken.“

„Ihr hockt also wieder vor dem Fernseher und glotzt Fußball.“

„Nein. Äh, ja.“

Kommissarin Bernard schnaubte. Im Hintergrund hörte sie Torsten Kluges Stimme, verstand aber nicht, was er sagte. Wenigstens schlug ihr endlich warme Luft aus den Lüftungsdüsen ihres Wagens entgegen. Sie schaltete das Gebläse nun auf die höchste Stufe.

„Ich bin in Pumps und Kleid. Ich kann doch so jetzt nicht dort hinfahren.“

„Die Kollegen von der Streife sind vor Ort. Du kannst dich vorher noch umziehen.“

Der Abend war gelaufen. So sehr sie sich auch wehrte, es bestand keine andere Möglichkeit.

Jörg Rottmann war einer Mutter, die sich um ihr Kind sorgte, kaum zuzumuten. Der ruppige Hauptkommissar nahm es nötigenfalls zwar mit drei Schwerverbrechern gleichzeitig auf, aber eine in Tränen aufgelöste Frau stellte ihn vor unlösbare Probleme. Und einen angetrunkenen Torsten Kluge konnte man auch nicht auf die Bevölkerung loslassen. Also blieb nur Frau Kommissarin übrig.

So ein Mist.

„Christine?“

„Ja“, fauchte sie gegen den Bildschirm ihres Handys.

„Ich dachte, du hättest aufgelegt.“

„Mache ich auch gleich“, blaffte sie.

Keinesfalls wollte sie sich diesen Abend, auf den sie sich so lange gefreut hatte, ohne Widerstand verderben lassen.

„Kann ich dir schon mal die Adresse geben?“, murmelte ihr Kollege ungewohnt unterwürfig.

Am liebsten hätte sie „Nein“ geschrien. Aber unüberlegte pubertäre Reaktionen waren einer Kommissarin der Trierer Kriminalpolizei unwürdig. Also gab sie nach.

„Lass hören“, stöhnte sie.

Die Adresse war ihr bekannt. Nicht die Wohnung oder wer darin wohnte, aber die Straße. Sie lag im Trierer Norden in der Nähe des Fußballstadions.

Hauptkommissar Rottmann war erleichtert. „Hast einen gut bei uns.“

„Du mich auch“, protestierte sie ein letztes Mal, aber ihre Wut war bereits verflogen. Sie beendete das Gespräch und wählte Torben Heintz’ Nummer.

Wie Torben mit Enttäuschungen umging, konnte sie nicht wissen. So lange kannten sie sich noch nicht. Sein Vorgänger Frank jedenfalls hatte sich tagelang zurückgezogen und sie mit Liebesentzug gestraft. Kindisch, klar, aber es war nun mal einer seiner Wesenszüge gewesen.

Aus dieser Zeit stammte auch ihr Unbehagen, wenn sie ihrem Partner schlechte Nachrichten überbringen musste.

Nach drei Freizeichen hörte sie Torbens Stimme.

„Hallo, Christine. Hat dir das Konzert gefallen?“

Torben wirkte aufgekratzt, angeheitert. Bestimmt hatte er bereits ein Glas Sekt getrunken.

„Ja, natürlich. Ihr wart wunderbar. Eine fantastische Vorstellung.“

„Das freut mich. Ich habe aber auch gespielt als gäbe es kein Morgen mehr. Mein Gott, war ich nervös. Du im Publikum.“

„Torben …“

„Und dein rotes Kleid. Was für ein Anblick!“, unterbrach er sie.

„Torben, ich kann mich leider nicht mit dir zum Essen treffen. Ich muss absagen. Es tut mir so leid. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut. Ich …“

Wieder unterbrach Torben sie.

„Aber das ist doch nicht schlimm. Du wirst deine Gründe haben. Wir holen das nach.“

Verblüfft wusste Christine Bernard zunächst nicht, was sie nun sagen sollte. So ging das also auch. Keine Vorwürfe. Kein Betteln. Keine Drohungen. Stattdessen Verständnis.

„Ein junges Mädchen wird vermisst …“

Und noch einmal unterbrach Torben sie.

„Du bist bei der Polizei. Das weiß ich doch. Dafür musst du dich doch nicht entschuldigen. Ich ziehe mit den Kollegen los und melde mich, bevor ich nach Hause fahre.“

Erleichtert stimmte sie zu.

„Das ist eine gute Idee. Bis später.“

Dankbar für Torbens Güte und die warme Luft aus den Lüftungsdüsen setzte sie ihren Wagen rückwärts aus der Lücke heraus, verließ den Parkplatz und fuhr nach Hause.

Wenige Minuten später betrat sie ihre Wohnung, zog ihr Abendkleid aus und legte ihre Dienstkleidung an.

Rosalia

An den Anblick von Streifenwagen vor dem Haus waren die Bewohner der heruntergekommenen Siedlung gewöhnt.

Keiner der Mieter in den langen Wohnblöcken mit dem vergilbten, rissigen Putz und den vielen nachlässig montierten Satellitenschüsseln an der Fassade machte sich die Mühe, einen längeren Blick aus dem Fenster zu werfen. Für das Geschehen vor dem Gebäude gegenüber interessierte sich niemand.

Was sollte auch schon passiert sein? Sicher hatte irgendein missratener Sprössling aus der Nachbarschaft in einem Supermarkt wieder einmal zugegriffen. Jetzt wurde er wahrscheinlich abgeholt, vernommen und wieder heimgeschickt. In ein paar Wochen brummte man ihm ein paar Sozialstunden auf. Das war’s. Ein kurzer Blick aus dem Fenster auf dem Weg vom Fernsehsessel zum Kühlschrank musste an Aufmerksamkeit für die Nachbarn genügen. Den weißen Renault, der sich eine halbe Stunde später hinter den Streifenwagen schob, bemerkte niemand mehr.

Kommissarin Bernard klingelte bei „Lemke“ und drückte nach einem leisen Summen die Tür auf. Im Treppenhaus roch es nach feuchtem Keller und Küchendünsten.

Margit Lemke bewohnte mit ihrer Tochter das Hochparterre auf der rechten Seite. Eine junge Polizeimeisterin stand in der Tür, erwiderte Christine Bernards Gruß, nickte den ihr entgegengehaltenen Dienstausweis ab und stellte sich leise vor.

„Polizeimeisterin Röhm.“

Christine Bernard trat in den Flur der Wohnung und drückte die Wohnungstür hinter sich zu.

Zigarettenrauch stand in der Luft. Aus einem Raum am Ende des Flurs hörte sie ein Wimmern und die beruhigende Stimme eines Mannes.

„Mein Kollege“, erklärte Polizeimeisterin Röhm.

Kommissarin Bernard nickte stumm. „Was ist passiert?“

„Margit Lemke vermisst ihre achtjährige Tochter Rosalia seit etwa 18:00 Uhr. Das Kind sollte von der Nachbarin aus dem Kinderhort abgeholt werden und dann den Abend bei der alten Dame verbringen, bis die Mutter von der Arbeit zurück ist. Frau Rosin ist im Ruhestand. Sie war Lehrerin an einer Grundschule. Sie wohnt in diesem Haus auf der gleichen Etage. Der Hort liegt keine hundert Meter von hier entfernt. Rosalia war nicht dort. Frau Rosin hat Frau Lemke verständigt, die konnte aber ihren Arbeitsplatz nicht verlassen. Sie hat sich vergeblich um eine Vertretung bemüht. Die Vermisstenmeldung ging um 20:45 Uhr bei uns ein. Wir haben Frau Lemke um 22:00 Uhr von ihrer Arbeitsstelle abgeholt und nach Hause gefahren. Sie hat ein paar Mal mit Nachbarn und Eltern anderer Kinder telefoniert, aber niemand hat Rosalia gesehen.“

„Der Vater?“

„Arbeitet hier in Trier in einer Zigarettenfabrik. Seine Spätschicht war um 22:00 Uhr beendet. Er geht aber nicht an sein Telefon.“

„Oma und Opa?“

„Wohnen in Rostock. Zu weit weg.“

„Onkel? Tanten?“

„Kein Kontakt.“

„Wurde die nähere Umgebung abgesucht? Keller? Dachboden? Spielplätze? Das Schulgelände? Versteckmöglichkeiten? Wurden Nachbarskinder schon befragt? Ist heute Abend ein Notruf eingegangen, der dem vermissten Kind zugeordnet werden könnte?“

Polizeimeisterin Röhm nickte mehrmals und schüttelte zum Schluss ihren Kopf.

„Fahndung eingeleitet?“

„Ja. Hat der KDD bereits gemacht. Personenfahndung, Öffentlichkeitsfahndung und zwei Personenspürhunde. Ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera ist unterwegs.“

„Mitfahndungsersuchen an das Technische Hilfswerk und die Feuerwehr für Beleuchtung in Parkanlagen und am Moselufer ist raus? Das Rote Kreuz für die Abfrage der Ärzte-Notdienste und der Krankenhäuser ist eingebunden?“

Polizeimeisterin Röhm nickte bestätigend.

Kommissarin Bernard atmete durch und betrat das Wohnzimmer.

Polizeimeisterin Röhms Kollege saß breitbeinig auf dem vorderen Rand der Sitzfläche eines Sessels und drehte nervös seine Dienstmütze mit den Händen zwischen seinen Knien.

Rosalias Mutter saß in Jeans und einem verwaschenen Sweatshirt gekleidet auf dem Sofa, zog ihre Nase hoch und wischte sich mit dem Handrücken Tränen aus dem Gesicht. Mit geröteten Augen schaute sie auf. Von der Zigarette zwischen den Fingern ihrer anderen Hand stieg Rauch in ihre langen, strähnigen Haare.

Christine Bernard schätzte die dunkelblonde Frau auf Ende zwanzig oder Anfang dreißig, obwohl sie deutlich älter aussah.

„Guten Abend, Frau Lemke. Ich bin Kommissarin Christine Bernard. Ich übernehme die Ermittlungen. Darf ich mich neben Sie setzen?“

Margit Lemke nickte und zog an ihrer Zigarette, während sie die junge Kommissarin misstrauisch dabei beobachtete, wie sie neben ihr Platz nahm. Sie war verzweifelt und zu ihrer Sorge um ihr Kind gesellte sich nun auch noch die Angst, dass man ihr Vorwürfe machte. Etwas anderes konnte man doch von so einer Frau wie dieser Kommissarin nicht erwarten, oder?

Sie waren beide etwa gleich alt. Nur war diese Kommissarin im Gegensatz zu ihr eine attraktive, selbstbewusste junge Frau, die jeden Tag ihrem wichtigen Beruf nachging. Durchsetzungsfähig. Hat Karriere gemacht. Und sie? Nicht einmal auf ihr Kind konnte sie aufpassen. Ihre Ehe war gescheitert, sie hatte einen schlecht bezahlten Job im Schichtdienst, der ihr keinen Spaß machte, und sie litt unter Schlafstörungen, die schleichend ihre Gesundheit ruinierten. Von ihrem mickrigen Einkommen konnte sie sich und ihre Tochter gerade so über Wasser halten. Vorausgesetzt, es verreckte nicht irgendein Haushaltsgerät. Denn ersetzen konnte sie es nicht. Dafür blieb von ihrem Gehalt nichts übrig. Oft genug ging sie mit den letzten fünf Euro in der Tasche zum Discounter und rechnete die Preise der Produkte in ihrem Einkaufswagen zusammen, bevor sie ihren Einkauf beendete. Weil sie die Peinlichkeit nicht ertragen konnte, an der Kasse womöglich ein paar Cent zu wenig zum Bezahlen dabeizuhaben. Nicht selten war an solchen Tagen der Monat noch lange nicht vorbei. Und selbst wenn der nächste Monat längst begonnen hatte und Zahlungen fällig wurden, ihr Chef überwies selten pünktlich. Dann stand sie jeden Tag in der Filiale ihrer Bank am Kontoauszugsdrucker und betete, dass ihr Gehalt endlich eingegangen war. Oft vergeblich. Also wieder vertrösten oder belügen. Ihre Tochter, den Vermieter oder die Telefongesellschaft. Lastschriften gingen zurück und wurden mit einem deftigen Aufschlag erneut abgebucht. Oft unnützer Kram wie Rundfunk-Gebühren. Von den monatlichen Beiträgen könnte sie für sich und ihre Tochter Lebensmittel für eine Woche kaufen. Aber von all diesen Dingen verstand so eine wie die da nichts. Da war sich Margit Lemke sicher.

„Frau Lemke?“

„Ja“, antwortete Rosalias Mutter mit einem scheuen Seitenblick.

„Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“

„Nur zu“, schniefte sie resigniert und drückte ihre Zigarette im Aschenbecher auf dem Tisch vor sich aus. Dann schob sie ihre beiden Hände zwischen ihre Oberschenkel. Gerötete Hände, mit kurzen Fingernägeln und rissiger Haut. Hände, die zupacken mussten. Jeden Tag.

‚Diese Frau weiß, was Arbeit ist‘, dachte Christine Bernard.

„Erzählen Sie mir bitte, was passiert ist.“

„Aber das haben Ihre Kollegen mich doch schon alles gefragt.“

„Ich weiß“, antwortete die junge Kommissarin beruhigend. „Aber ich möchte es noch einmal von Ihnen hören. Schaffen Sie das?“

Rosalias Mutter nickte und bestätigte die Aussage von Polizeimeisterin Röhm.

„Was ist mit dem Vater? Ihr Mann ist doch Rosalias Vater, oder?“

Margit Lemke nickte noch einmal.

„Können Sie sich vorstellen, warum wir ihn nicht erreichen können?“

„Weil er sich nie um uns gekümmert hat. Wir sind ihm völlig egal. Sogar die Vaterschaft von Rosalia hat er angezweifelt. Wahrscheinlich ist er mit seinen Kollegen einen saufen. Was weiß ich. Seit Rosalias Geburt stehe ich mit dem Kind alleine da. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe meine Tochter, aber manchmal fürchte ich, das alles nicht mehr zu schaffen. Frühschicht und Spätschicht im Wechsel. Überstunden, meistens unbezahlt. Ich sitze täglich zwei Stunden im Bus, um meine Arbeitsstelle zu erreichen und wieder nach Hause zu kommen. Ich sehe Rosalia kaum und bin ständig auf Hilfe angewiesen.“

„Wo arbeiten Sie?“

„In einer großen Bäckerei in Wittlich. Ich habe in Trier keinen vernünftigen Job gefunden.“

„Und ein Umzug?“

„Ich habe nur einen Zeitvertrag. Rosalia müsste die Schule wechseln. Sie verliert all ihre Freunde. Hier habe ich wenigstens Frau Rosin, die mir hilft. Ein Umzug lohnt sich nicht, die Kosten dafür kann ich ohnehin nicht aufbringen.“

„Das verstehe ich. Gibt es einen neuen Mann in Ihrem Leben?“

Margit Lemke schüttelte ihren Kopf.

„Nichts Festes.“

„Wann haben Sie Rosalia zuletzt gesehen?“

„Heute Morgen, ich habe sie zur Schule gebracht. Von dort geht sie nach dem Unterricht mit anderen Kindern zusammen in den Kinderhort. Ich bin um 12:15 Uhr in den Bus gestiegen und nach Wittlich gefahren.“

„Gab es einen Streit oder fällt Ihnen ein anderer Anlass ein, der Rosalia einen Grund dafür geben könnte, von ihrem Zuhause wegzubleiben? Erwartete Rosalia eine Bestrafung?“

„Nein. Wir haben uns nicht gestritten. Und Angst vor einer Strafe braucht Rosalia nicht zu haben. Sie ist ein liebes Kind.“

Kommissarin Bernard nickte kurz.

„Was hatte Rosalia heute an?“

„Turnschuhe, Jeans, einen rosa Pulli und eine rote Jacke.“

„Und der Schulranzen?“

„Leuchtend gelb und orange.“

„Haben Sie ein Foto von Rosalia für mich?“

Polizeimeisterin Röhm räusperte sich und reichte Christine Bernard ein Foto, bevor Margit Lemke antworten konnte. Die Kollegen hatten es offenbar bereits erhalten. Auf der Fotografie schaute ein Mädchen mit langen blonden Haaren schüchtern in die Kamera und lächelte. In der Hand hielt Rosalia eine Eiswaffel. Geschmolzene Eiscreme lief über ihre Finger.

Margit Lemke warf einen kurzen Blick auf das Foto. Plötzlich begann sich ihre Atmung zu beschleunigen. Immer heftiger holte sie Luft und stieß sie ruckartig wieder aus. Ihre Haltung verkrampfte sich. Mit jedem Atemzug pendelte ihr Oberkörper vor und zurück. Ein Anfall!

„Sie hyperventiliert“, rief Kommissarin Bernard und schaute sich suchend um.

Polizeimeisterin Röhm riss ihr Mobiltelefon aus ihrer Jackentasche und forderte einen Notarzt an.

Die Kommissarin entdeckte eine Plastiktüte neben dem Sofa, griff danach und schüttete den Inhalt auf den Boden. Zeitschriften fielen heraus. Margit Lemke begann zu zittern und riss ihre Augen weit auf. Immer heftiger atmend drohte ihr Bewusstlosigkeit. Kommissarin Bernard rückte dicht an sie heran, zog die Öffnung der Plastiktüte durch ihre hohle Hand und drückte sie ihr auf den Mund. Mit dem anderen Arm verhinderte sie, dass Margit Lemke die Tüte wegstoßen konnte.

„Atmen Sie in die Tüte, Frau Lemke! In die Tüte atmen!“

Heftige Atemstöße ließen die Tüte knisternd und raschelnd abwechselnd aufblähen und wieder zusammenfallen.

„Frau Lemke, schauen Sie mich an! Es ist alles gut. Sie haben eine Panikattacke. Die ist gleich vorbei. Atmen Sie ruhiger. Frau Lemke! Ruhig atmen. Beruhigen Sie sich bitte.“

Margit Lemke starrte Christine Bernard über die Plastiktüte hinweg an. Langsam beruhigte sie sich. Ihre Atemzüge wurden allmählich flacher. Ihre Abwehrbewegungen nahmen ab. Die junge Kommissarin strich ihr beinahe liebevoll eine Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht.

Jemand klingelte. Polizeimeisterin Röhm öffnete. Ein Notarzt und zwei Sanitäter betraten die Wohnung. Christine Bernard entfernte die Plastiktüte vor Margit Lemkes Gesicht. Speichelfäden hingen von ihren Lippen herab.

„Ich brauche ein Handtuch.“

Polizeimeisterin Röhm verschwand im Bad und kam mit einem Handtuch wieder. Sorgfältig tupfte Kommissarin Bernard der erschöpften Frau Speichel und Tränen aus dem Gesicht. Die ließ es widerstandslos geschehen.

Der Notarzt entblößte ihren rechten Unterarm.

„Wie heißt sie?“

„Margit“, antworte Christine Bernard.

„Margit, ich bin Arzt. Ich gebe Ihnen jetzt eine Spritze. Es ist ein Beruhigungsmittel. Danach messe ich Ihren Blutdruck. Haben Sie mich verstanden?“

Margit Lemke nickte und ließ die Erstversorgung über sich ergehen. Der Notarzt brachte die Manschette seines Blutdruckmessgerätes an ihrem Oberarm an und beobachtete seine Patientin während der Messung aufmerksam. Dann entfernte er die Manschette und steckte das Gerät in seinen Koffer.

„Schlechter Allgemeinzustand“, informierte er die Kommissarin. „Wir nehmen sie mit.“

„In welche Klinik?“

„Marienkrankenhaus. Trier-Ehrang.“

Dann wandte er sich an seine Patientin.

„Margit, ich möchte Sie mitnehmen ins Krankenhaus. Es ist besser so. Ihr Zustand gefällt mir gar nicht.“

Margit Lemke schüttelte heftig ihren Kopf.

„Ich muss hier bleiben. Rosalia …“

„Darum kümmere ich mich“, unterbrach Kommissarin Bernard sie. „Sie müssen sich erholen. Ich suche Rosalia. Und wenn ich sie gefunden habe, braucht sie eine gesunde Mama.“

Rosalias Mutter gab schließlich auf. Die beiden Sanitäter schnallten die schlanke Frau auf einer Trage fest und trugen sie hinunter in den Krankenwagen. Ein Schneeregenschauer bewarf sie mit halbgefrorenen Flocken.

Die Nachbarn interessierten sich nun doch für das Geschehen im zuckenden Blaulicht. Sie standen an den Fenstern und orakelten. Hatte wieder einer seine Alte verdroschen? Ein Herzinfarkt bei irgendeinem Opa? Vollrausch? Alkoholvergiftung? Drogen? Irgendetwas davon würde es sicher sein. Kein Grund sich aufzuregen. Alltag hier in der Siedlung.

Die alte Dame aus der Wohnung gegenüber hatte den Abtransport von Margit Lemke bemerkt und stand plötzlich in ihrem Morgenmantel, mit den Füßen in flauschigen Pantoffeln, im kalten Hausflur. Kommissarin Bernard sprach sie an.

„Guten Abend. Sie sind Frau Rosin?“

„Ja, was ist denn mit Frau Lemke?“

„Wir bringen sie in ein Krankenhaus. Es geht ihr nicht gut.“

„Das denke ich mir. Arme Frau. Haben Sie Rosalia gefunden?“

„Nein. Wollen wir hineingehen? Es ist kalt hier draußen.“

„Ja, natürlich. Kommen Sie nur.“

Frau Rosin schloss hinter Kommissarin Bernard die Wohnungstür.

„Haben wir Sie geweckt?“

„Oh, nein. Ich schaue abends immer lange Fern. Ich bin eine Nachteule“, gestand sie. „Das frühe Aufstehen in den Jahren meiner Berufstätigkeit war mir ein Gräuel.“

Kommissarin Bernard schmunzelte.

„Darf ich mich kurz umsehen?“

„Ja, machen Sie nur. Aber Rosalia ist nicht hier.“

Gerlinde Rosin war alt, aber nicht blöd. Natürlich wollte diese Polizistin die Gelegenheit nutzen und einen möglichen Aufenthaltsort von Rosalia ausschließen.

„Tut mir leid, aber ich muss das tun.“

„Ist schon gut. Sie machen nur Ihre Arbeit. Sind Sie gerne bei der Polizei?“

„Meistens. Nicht immer. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Christine Bernard, Kriminalkommissarin.“

Gerlinde Rosin schaute auf den Dienstausweis und tat zumindest so, als könnte sie ihn ohne ihre Brille lesen.

„Christin‘ Bernar‘“, wiederholte sie. „Ihr Name klingt so französisch. Ist Ihr Vater Franzose?“

„Papa war Luxemburger. Meine Eltern leben nicht mehr.“

„Das tut mir leid. So ein junges Ding und schon Kommissarin. Sie müssen tüchtig sein.“

„Ich tue, was ich kann.“

Gerlinde Rosin lächelte zufrieden und ließ sich in ihren Sessel plumpsen.

Christine Bernard blieb stehen. Viele Fragen hatte sie an die alte Dame ohnehin nicht.

Gerlinde Rosin hatte Rosalia kurz vor 18:00 Uhr vom Kinderhort abholen wollen, wie an jedem anderen Tag auch. Doch heute war Rosalia nicht dort gewesen, und niemandem war ihr Verschwinden aufgefallen.

„Ist Rosalia nach der Schule denn überhaupt im Hort eingetroffen?“

„Das habe ich vergessen zu fragen“, entschuldigte sich Gerlinde Rosin.

„Macht nichts. Dann mache ich das morgen früh.“

Margit Lemkes Nachbarin konnte zu den Ermittlungen nichts Neues beitragen. Ihr war kein möglicher Aufenthaltsort bekannt, den Margit Lemke an diesem Abend nicht schon abtelefoniert hatte.

Kommissarin Bernard legte ihre Visitenkarte auf den Couchtisch.

„Wenn Ihnen noch etwas einfällt oder Rosalia sich bei Ihnen meldet, rufen Sie mich bitte an.“

Die alte Dame stemmte sich aus ihrem Sessel und begleitete die Kommissarin zur Tür.

„Gute Nacht, Frau Rosin.“

„Gute Nacht. Ich bete für Margit und Rosalia.“

„Tun Sie das. Haben Sie einen Wohnungsschlüssel von Frau Lemke, falls ich später noch einmal in die Wohnung muss?“

Gerlinde Rosin nickte.

Kommissarin Bernard bedankte sich bei Polizeimeisterin Röhm und ihrem Kollegen für deren Einsatz, trat in den Flur von Margit Lemkes Wohnung und schloss die Wohnungstür. Dann schaute sie sich in den Räumen um.

Ein kleines, fensterloses Bad. Zwei Zahnputzbecher. Zwei Zahnbürsten. Zwei Handtücher. Zwei Badetücher. Zwei Bademäntel. Die üblichen Kosmetika.

Eine nur wenig größere Küche. Ein gefüllter Kühlschrank. Gemüse, Brot, Wurst, Käse, Konfitüre, Margarine. Auch hier das Übliche. Säfte, Mineralwasser, Milch und eine angebrochene Flasche billiger Rotwein. Vier weitere davon noch verschlossen neben dem Kühlschrank. Sonst kein Alkohol.

Margit Lemkes Schlafzimmer. Ein Fenster. Gardinen geschlossen. Ein schmales Bett. Gemacht. Ein Roman auf dem Boden davor. Aufgeschlagen. Ein Wäschekorb. Leer. Eine Stehlampe. Ein Schrank. Türen geschlossen. Damenkleidung darin. Schuhe. Ganz oben in einem Fach ein Körbchen mit Medikamenten. Schmerzmittel. Pflaster. Mittel gegen Erkältungsbeschwerden und Durchfall. Eine normale Hausapotheke. Unauffällig.

Ein alter Rattan-Sessel. Abgelegte Kleidung darauf. Ein Weidenkorb, gefüllt mit Bügelwäsche.

Das Wohnzimmer. Ein alter Röhrenfernseher. Eine billige Stereo-Anlage. Sofa. Zwei Sessel. Schrankwand. Fotos von Margit Lemke und ihrer Tochter. Ein älteres Paar. Oma? Opa? Ein paar DVDs. Ein Player. Billiges Modell. Bilder an der Wand. Importware aus Fernost mit verträumten Motiven.

Vor dem Sofa lagen die Plastiktüte, die Zeitschriften und die Kunststoffverpackung der Beruhigungsspritze auf dem Boden. Christine Bernard sammelte die Zeitschriften ein und legte sie zusammen mit der Plastiktüte auf den Couchtisch. Dort sah sie Rosalias Foto liegen und steckte es ein. Die Verpackung der Spritze nahm sie mit in die Küche und warf sie in den Abfalleimer.

Margit Lemkes Wohnung wirkte aufgeräumt, geordnet. Die Einrichtung war alt, verschlissen und sicher nicht teuer gewesen. Aber so lebte ein Großteil der deutschen Bevölkerung, vor allem alleinerziehende Mütter. Immer am Rande des finanziellen Ruins mit Aussicht auf eine mickrige Rente nach dreißig, vierzig Jahren unterbezahlter Berufstätigkeit. Nichts Besonderes also. Deutschland im 21. Jahrhundert. Christine Bernard kannte nur wenige Menschen, denen sie die heruntergebeteten Erfolgsmeldungen der Regierung zuordnen konnte, die jeden Tag durch die Medien verbreitet wurden. Deutschland ginge es gut. Schon möglich. Aber sie sah und erlebte täglich das Gegenteil. Wo oder wer also war dieses geheimnisvolle Deutschland, dessen Wirtschaft angeblich vor Kraft nur so strotzte und die dennoch überwiegend mies bezahlte Jobs und Zeitarbeit anbot?

Sie betrat Rosalias Kinderzimmer. Der Lampenschirm warf Mond und Sterne an die Decke und die Wände. Ein gemachtes Bett. Ein Tisch. Ein Stuhl. Scheibengardinen am Fenster. Rote Vorhänge. Nicht zugezogen. Ein Kleiderschrank. Die Tür nur angelehnt. Kinderkleidung darin. Schuhe. An den Wänden zwei Poster. Prinzessin Fantaghirò und Pocahontas. Drumherum selbst gemalte Bilder. Kindliche Darstellungen von Bäumen, Wiesen, Kühen, der Sonne, vom Mond und von Sternen. Ein etwas mitgenommenes Puppenhaus. Schulsachen. Ein blauer Teppich auf dem Boden. Die Ecke an einer Seite war umgetreten. Billiges Spielzeug in einem halbhohen Regal. Bilderbücher. Malbücher. Ein CD-Player. Märchen-CDs. Ein Kinderzimmer, wie es sie zu Tausenden gab. Rosalia wuchs trotz der schwierigen beruflichen und finanziellen Situation ihrer Mutter offenbar behütet auf.

Kommissarin Bernard beendete ihren Streifzug durch Margit Lemkes Wohnung.

Eine Mutter kämpft sich mit ihrer Tochter durch ihr tägliches Leben. Mehr gab es hier nicht zu sehen. Kein Hinweis auf eine dritte Person. Keine Hinweise auf Hinwendungsorte der kleinen Rosalia oder eine erste Theorie, was passiert sein könnte.

Nach einem aus Angst vor irgendwas einfach weggelaufenen Kind sah es auf den ersten Blick auch nicht aus. Auch wenn der jungen Kommissarin diese Variante am liebsten gewesen wäre. Denn weggelaufene Kinder standen zu dieser Jahreszeit meist binnen 48 Stunden hungrig und frierend von alleine wieder vor der Tür.

Das Mobiltelefon in ihrer Jackentasche klingelte. Sie nahm das Gespräch an.

„Hallo Christine. Ich fahre nicht mehr heim. Ich nehme mir irgendwo ein Zimmer. Ich habe zu viel getrunken.“

„Nicht nötig, Torben. Du kannst bei mir übernachten. Ich bin hier fertig. Wo bist du? Ich hole dich ab.“

„Das brauchst du nicht. Von hier ist es nicht weit bis zu dir nach Hause. Ein kleiner Spaziergang wird mir guttun. Bis gleich.“

„Ja, ist gut. Bis gleich.“

Leise zog sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloss. Kurz überlegte sie, Frau Rosin um den Schlüssel zu bitten und die Tür zu verriegeln, unterließ es dann aber. Die alte Dame war sicher schon zu Bett gegangen.

Die Borduhr ihres Mégane zeigte ein Uhr. Wirklich Zeit nach Hause zu fahren. Sie freute sich auf Torben. Wie umgänglich er war. So ganz anders als Frank damals, dieser Macho.

Torben und sie waren seit Kurzem ein Paar. Bei diesem Gedanken wurde sie unsicher. Waren sie ernsthaft schon ein Paar? Nun ja. Sie gingen hin und wieder gemeinsam aus, sie hatten miteinander geschlafen und schickten sich ab und zu gegenseitig SMS.

„Was machst du gerade?“

„Ich vermisse dich.“

„War schön gestern.“

Schwülstiges Zeug halt, wie Kollege Rottmann genervt feststellte, nachdem an einem verregneten Vormittag im Büro ein halbes Dutzend Mal der Klingelton für Kurznachrichten erklang und seine Kollegin immer wieder neugierig nach ihrem Handy griff.

Sie beschloss, Torben direkt danach zu fragen. ‚Sind wir ein richtiges Paar oder was ist das hier mit uns beiden?‘, doch der Gedanke daran verunsicherte sie wieder. Vielleicht war es noch zu früh, Torben mit ihrer Konsequenz zu konfrontieren? Ein gemeinsamer Urlaub wäre schön. Der böte ausreichend Gelegenheit, die Gefühle füreinander zu prüfen und ihr Bedürfnis nach klaren Verhältnissen zu befriedigen.

Die Heizungswärme ihres Wagens machte sie träge. Gähnend parkte sie den Renault und öffnete die Wagentür. Augenblicklich schlug ihr die feuchtkalte Nachtluft entgegen. Nun war sie wieder wach.

Kein Torben erwartete sie vor dem Haus. Sie beeilte sich, in ihre geheizte Wohnung zu kommen.

Während sie ihre Kleidung auszog und sich in ihren Bademantel einwickelte, klingelte es.

Torben schnaufte die Treppe herauf und nahm sie in den Arm. Ein kurzer Kuss. Er roch nach Kneipe.

„Ich bin fix und fertig.“

Sie lachte.

„Ist ein Konzert für Musiker so anstrengend?“

„Nur wenn du im Publikum sitzt und ich danach mit den Kollegen losziehe.“

„Möchtest du noch etwas essen?“

„Nein. Ich will nur noch ins Bett“, bettelte er.

„So müde?“

Torben nickte und zog seinen Mantel aus.

„Zu müde?“, fragte sie etwas schlüpfrig.

Torben blickte bedauernd drein und nickte erneut. Sie lachte.

„Keine Sorge, war nicht ernst gemeint.“

Eine viertel Stunde später löschte Christine Bernard im Bad das Licht und betrat ihr Schlafzimmer.

„Was hältst du davon, wenn wir einen gemeinsamen Urlaub machen?“

Torben Heintz lag in ihrem Bett auf dem Bauch und bewegte sich nicht.

„Torben?“

Gleichmäßige Atemzüge verrieten ihr, dass sie die Antwort auf ihre Frage in dieser Nacht nicht mehr erhalten würde.

Das Eisrosenkind

Im Morgenmantel, mit einer Tasse Kaffee in ihrer Hand, stand Christine Bernard in der Küche am Fenster und schaute hinaus.

Reif hatte sich über die Stadt gelegt. Ein leichter Wind drückte den Rauch aus den Kaminen auf den Dächern der Häuser nach Westen. Müde knabberte sie an einer Scheibe Toast. Die Nacht war zu kurz gewesen. Der Morgen kalt, aber sonnig. Sie ließ Torben schlafen. Leise kleidete sie sich an, zog die Wohnungstür hinter sich zu und stieg die Stufen im Treppenhaus hinab.

Der hoffentlich letzte Nachtfrost in diesem Frühjahr hatte die Scheiben ihres Wagens zufrieren lassen. Herabgerutschter Schneematsch war in dicken Klumpen an den Scheibenwischern angefroren. Sie ließ den Motor an und schaltete die Heckscheibenheizung und das Heizungsgebläse zum Entfrosten der Windschutzscheibe ein. Dann begann sie, mit einem kleinen Plastikschaber die Scheiben freizukratzen. Ohne Handschuhe. Die lagen oben in ihrer Wohnung auf der Garderobe. Nach wenigen Sekunden spürte sie ihre Fingerkuppen nicht mehr. Sie begann zu fluchen, hauchte auf ihre angefrorenen Finger und rieb ihre Hände aneinander. Grinsend ging ein gut gekleideter Mann mit Aktenkoffer an ihr vorbei.

‚Ja, lach du nur, du Depp‘, dachte sie wütend. Wenigstens kam sie ungehindert durch den Berufsverkehr. Eine freie Parklücke vor der Kriminaldirektion Trier besänftigte sie vollends.

‚Wegen welcher Nichtigkeiten man in Rage geraten kann‘, belächelte sie sich selbst.

Amüsiert stieg sie aus ihrem Wagen und warf die Tür zu. Mit einem kurzen Druck auf die Fernbedienung verriegelte sie ihn und überquerte den Parkplatz.

Plötzlich schoss ein dunkelgrauer Wagen heran und stoppte dicht neben ihr. Die Seitenscheibe auf der Fahrerseite wurde heruntergelassen. Hauptkommissar Kluges Gesicht erschien.

„Morgen. Die Dienstbesprechung wurde verschoben. Wir haben einen Einsatz. Steig ein.“

Noch während Kommissarin Bernard nach dem Sicherheitsgurt angelte, setzte ihr Kollege den schweren Audi kraftvoll zurück und fädelte sich in den morgendlichen Verkehr ein.

„Dein Mädchen aus der Fahndung, Rosalia Lemke, ich glaube, wir haben sie gefunden.“

Christine Bernard musterte das Profil ihres Kollegen. Sein Gesichtsausdruck passte nicht zu einer guten Nachricht.

„Wo?“

Sie fürchtete sich plötzlich vor der Antwort.

„Am Moselufer. Der Mantrailer von einem unserer Hundeführer hat sie gefunden.“

Ihr Magen zog sich zusammen. Sie biss sich auf die Unterlippe, nickte stumm und bekam feuchte Augen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Schnell schaute sie aus dem Seitenfenster.